Julia Ärzte zum Verlieben Band 113

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DR. VALENTINOS DUNKLES GEHEIMNIS von RUTTAN, AMY
Sie kennt sein dunkles Geheimnis! Dr. Alejandro Valentino ist entsetzt, als er die neue Ärztin trifft: Kiri ist Teil einer Vergangenheit, die er vergessen will. Warum muss er mit ihr arbeiten? Mit der Frau, die seine Karriere beenden könnte. Und der er vor Jahren verfallen ist …

EIN CHIRURG LERNT DIE LIEBE von CARLISLE, SUSAN
Ehe ja - aber bitte keine Gefühle! Chirurg Tanner Locke hat eine genaue Vorstellung von seiner künftigen Frau. Sie soll ihn auf seinem beruflichen Weg unterstützen - und sein Herz in Ruhe lassen. Doch Whitney bringt diesen Vorsatz auf höchst erotische Art ins Wanken …

ERSTE HILFE FÜR MEIN HERZ von ROBERTS, ALISON
Er ist ein Teufel in attraktiver Menschengestalt: Summer muss sich klarmachen, dass Dr. Zac Mitchell nicht so charmant ist, wie er scheint. Der Notarzt hat das Leben ihrer Freundin zerstört - und versucht, sie zu töten! Es darf nicht sein, dass Summer ihr Herz an Zac verliert!


  • Erscheinungstag 01.06.2018
  • Bandnummer 0113
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711450
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amy Ruttan, Susan Carlisle, Alison Roberts

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 113

AMY RUTTAN

Dr. Valentinos dunkles Geheimnis

Stunden der atemlosen Leidenschaft in seinen Armen: Kiri kann Alejandro nicht vergessen. Fünf Jahre ist es her – und plötzlich steht er wieder vor ihr. Diesmal nicht als feuriger Liebhaber einer Nacht, sondern in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitet. Dr. Alejandro Valentino ist ihr neuer Kollege. Und offensichtlich entsetzt, sie zu sehen …

SUSAN CARLISLE

Ein Chirurg lernt die Liebe

Attraktiv, erfolgreich, charmant – eine Frau für Tanner Locke zu finden sollte einfach sein! Doch der Chirurg stellt Heiratsver-mittlerin Whitney vor Probleme: Tanner will keine Liebe, er will ein geschäftliches Arrangement. Und noch während sie ihn vom Gegenteil zu überzeugen versucht, stellt Whitney fest, dass sie nur noch an seine Lippen auf den ihren denken kann …

ALISON ROBERTS

Erste Hilfe für mein Herz

Schon bei ihrem ersten Notfall kämpfen die Sanitäterin und der Arzt Hand in Hand um das Leben ihres Patienten. Und Dr. Zac Mitchell um die Sympathien der süßen Summer! Aber ganz egal, was der Mediziner auch sagt oder tut: Summer ist überaus kratzbürstig und unfreundlich zu ihm. Zac will unbedingt herausfinden, warum sie ihn so sehr hasst …

PROLOG

Las Vegas, Nevada

Kiri trat auf die Terrasse der Privatvilla, die ihre Freundinnen in einem der luxuriösesten Fünf-Sterne-Resorts von Las Vegas gemietet hatten. Drinnen wurde es immer verrückter. Der Alkohol floss, und ein sehr versauter Kuchen wurde aufgetischt, der ihrer naanii die Röte ins Gesicht getrieben hätte. Und nicht nur ihr.

Sie hörte ihre Freundinnen kreischen, als die Braut ein weiteres fragwürdiges Geschenk öffnete. Kiri lachte und rief durch das offene Fenster: „Ihr seid Ärztinnen, ihr habt das doch alles schon mal gesehen!“

Ihre Freundinnen kicherten. Kiri ließ sich seufzend auf einer der Liegen nieder, die neben dem Pool standen. Der Garten war durch eine Mauer vor Blicken geschützt. Sandy, die Braut, war von allen die Verrückteste und hatte Kiri bereits beschuldigt, die Spielverderberin auf diesem Junggesellinnenabschied zu sein. Aber sie musste schließlich auch an ihre letzte Prüfung denken, mit der sie ihr praktisches Jahr abschließen würde.

Außerdem war sie ein klitzekleines bisschen neidisch. Sandy hatte alles, was man sich nur wünschen konnte. Sie heiratete, sie machte Karriere, und Kiri wusste, dass Sandy und Tony sofort versuchen würden, Kinder zu bekommen.

Kiri gelang es nicht einmal, den Richtigen zu finden.

Stattdessen kniete sie sich in ihre Arbeit. Wenn sie schon keinen Mann und keine Kinder haben konnte, hatte sie zumindest ihre Karriere.

„Du bist meine Brautjungfer, Kiri. Du kommst mit nach Vegas, ob du willst oder nicht.“

„Professor Vaughan ist superstreng, Sandy. Er sucht sich nur die Allerbesten aus. Ich wünsche euch viel Spaß, aber ich muss lernen.“

„Ohne dich fahren wir nicht. Es ist schlimm genug, dass du die letzten drei Männer, mit denen du aus warst, abserviert hast, weil du angeblich lernen musstest. Du brauchst von uns allen am meisten Erholung.“

Also war Kiri mit nach Vegas gefahren. Aber sie hatte ihre Bücher eingepackt. Wie Schmuggelware hatte sie sie tief unten in den Koffer gelegt. Sie zog ein Notizbuch hervor und blätterte zu der Stelle, an der sie aufgehört hatte zu lernen. Mit der Taschenlampen-App ihres Smartphones beleuchtete sie den Text und versuchte, sich weiteres Wissen ins Hirn zu stopfen.

Nur dass die Musik im Hintergrund störte. Sie steckte sich die Finger in die Ohren und hielt die Seiten mit den Ellbogen geöffnet. Die Brille rutschte ihr von der Nase.

So konnte sie nicht lernen!

Ihre Freundinnen waren mit ihren Prüfungen schon längst durch und wussten, wo sie in Zukunft als Chirurginnen arbeiten würden. Die Prüfungen für die Kinderchirurgie waren aber erst nächste Woche. Kiri hätte in New York bleiben und lernen sollen. Natürlich hatte sie als Brautjungfer Sandy gegenüber Verpflichtungen, aber glücklicherweise hatte Sandys Schwester einige ihrer Aufgaben übernommen und zum Beispiel dieses Wochenende organisiert.

Verdammte Sandy und ihr Tony, warum mussten sie so kurz vor den Prüfungen heiraten? Wer tat denn so was?

Tony war ebenfalls Chirurg und genoss das Wochenende in Florida beim Golfen. Dort war es bestimmt wärmer als hier. Sie schloss das Buch. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

„Ich dachte, in Vegas wäre es heiß“, murmelte sie und trank einen Schluck von ihrem Bellini. Nicht die beste Wahl, wenn ihr ohnehin schon kalt war.

„Wir sind in der Wüste. Da wird es nachts ziemlich kalt.“

Kiri wirbelte herum, um herauszufinden, wer da so einen schweren spanischen Akzent hatte, der ihr eine ganz andere Art von Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ. Ihr blieb der Mund offen stehen. Dort lehnte ganz lässig ein großer, muskulöser, lateinamerikanischer Gott an der Terrassentür. Als er sie angrinste, sah sie ein Grübchen in seiner Wange und perfekte weiße Zähne. Seine dunklen Augen funkelten im Licht, das aus dem Haus nach außen drang, und versprachen sündige Versuchungen.

„W…was?“, fragte Kiri und schob ihre Brille mit dem dunklen Gestell nach oben. Sie war schon wieder heruntergerutscht und begann zu beschlagen. Kiri fluchte innerlich, dass sie ihre Kontaktlinsen in New York vergessen hatte.

„Wir sind in der Wüste. Am Tag ist es heiß, aber nachts ist es muy frio. Sehr kalt.“

„Wer bist du denn?“

Er grinste entspannt. „Deine Freundinnen haben mich zu dir geschickt, um dich aufzuheitern. Sie meinen, du bist eine Spaßbremse und musst lockerer werden.“

Oh Gott.

Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass ein Dutzend solcher bronzefarbener, muskulöser Götter zur Musik tanzten, während die Frauen sie anfeuerten. Das war also die „Unterhaltung“, von der Sandy gesprochen hatte. Männliche Stripper der exotischen Art.

Sie fühlte, wie sie rot anlief, als er einen Schritt auf sie zu kam. Er nahm ihre Hand und führte sie in das Zimmer, setzte sie auf die Couch.

„Lehn dich einfach zurück, mi tesoro“, flüsterte er ihr mit dieser honigsanften Stimme ins Ohr und ließ sie vergessen, dass sie sich Männern gegenüber immer ein wenig tollpatschig vorkam. „Ich kümmere mich um dich.“

„Ähm …“ Ihr schossen eine Million Gedanken durch den Kopf, aber als er sie in die Kissen drückte, schien auch ihr Hirn von Honig durchtränkt zu werden und zu verkleben.

Aus den Lautsprechern kam ein Song, den sie in ihrer Jugend unzählige Male gehört haben musste, einer dieser Songs, zu denen sie und ihre Highschool-Freundinnen gekichert hatten, die aber niemals bei schulischen Tanzveranstaltungen gespielt wurden.

Sandy und ihre Freundinnen kreischten auf, als die Tänzer ihren einstudierten Tanz begannen. Und sobald dieser Latino-Gott sich mit ausladenden Hüftbewegungen zur Musik bewegte, verstand sie plötzlich, warum der Song auf Schulveranstaltungen nicht gespielt wurde. Warum ihre Eltern ihn so gehasst hatten. Nun saß sie hier auf der Couch, die anderen Frauen schrien vor Vergnügen, und dieses Prachtexemplar von Mann blickte sie mit seinen dunklen Augen an und grinste, als ob er wüsste, wie sehr er sie erregte.

Er zog sein Shirt aus, unter dem auf einer muskulösen Brust ein Tattoo zum Vorschein kam. Schlagartig verstand sie, was ihr gefehlt hatte. Wann war sie eigentlich das letzte Mal mit einem Mann zusammen gewesen?

Kiris Beine hüpften unruhig auf und ab, wie sie es schon früher getan hatten, als Kiri die pummelige Streberin gewesen war, der niemand Beachtung schenkte.

Er kam auf sie zu und legte ihr eine starke Hand auf ein Bein, sodass es innehielt. Seine Berührung durchfuhr sie wie Feuer, und ihr Körper reagierte instinktiv auf den Sexappeal, den er ausströmte.

Aus irgendeinem Grund achtete er nur auf sie.

Doch dafür wurde er schließlich bezahlt. So versuchte sie sich jedenfalls zu beruhigen, als er noch näher kam und sie erneut in die Kissen drückte. Er tanzte nur für sie. Er nahm ihre Hände und legte sie sich auf die schmalen Hüften, bewegte sich über ihr.

„Ähm …“ Sie war wie in Trance. Natürlich wusste sie, dass er nur schauspielerte, aber trotzdem sah sie nur noch diesen Mann und seine dunklen Augen. Irgendetwas an ihm zog sie magisch an.

Als der Song endete, drehte er ihr den Rücken zu. Sie war wie gelähmt. In ihrem Bellini, den er ihr abgenommen und auf den Tisch gestellt hatte, war das Eis komplett geschmolzen. Ihr Herz raste.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so von einem Mann gefesselt gewesen war. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie zum letzten Mal Sex gehabt hatte. Während ihres Praktikums mit Chad wahrscheinlich, aber das hatte sie wirklich schon fast vergessen. Sie sah nur noch diesen wunderbaren Mann vor sich.

Die letzten Jahre hatte sie sich darauf konzentriert, Kinderchirurgin zu werden und als Beste ihres Jahrgangs abzuschließen, damit Dr. Vaughan sich zu ihrem Mentor erklären würde. Dabei hatte sie komplett vergessen, wie sehr es ihr fehlte, mit einem Mann zusammen zu sein.

Berührt zu werden.

Geküsst zu werden.

Und mehr.

Die Tänzer standen nun alle um Sandy herum. Gut so. Kiri ließ ihr lauwarmes Glas Bellini auf dem Tisch stehen und schlich aus dem Haus, um sich möglichst schnell von diesem Junggesellinnenabschied zu entfernen. Bevor sie etwas tat, das sie später nur bereuen würde.

„Gute Show, oder, Alejandro?“

„Was?“, fragte Alejandro. Er hatte Fernando, einem der Tänzer aus der Truppe, nicht richtig zugehört. Sie saßen in der Lounge des Hotels und unterhielten noch immer die Frauen vom Junggesellinnenabschied. Er dachte nur an diese eine, wunderschöne Frau, für die er zu Beginn privat getanzt hatte. Als er ihr kurz den Rücken zugedreht hatte, war sie wieder nach draußen verschwunden.

Nun saß sie allein an der Bar und umklammerte ein Glas Wein. Alejandro konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Sie hatte Kurven an genau den richtigen Stellen, und obwohl sie klein war, hatte sie lange Beine, die sie gerade elegant übereinandergeschlagen hatte. Ihr Fuß wippte.

Vielleicht war es das enge schwarze Kleid oder die Stilettos … Jedenfalls konnte er nicht anders, als ihr auf die Beine zu starren.

Yo, Alejandro. Aufwachen!“ Fernando fuchtelte mit einer Hand von seinem Gesicht herum.

„Was?“, fragte Alejandro erneut.

„Ich hab dich gefragt, ob du auch mit unserer Show zufrieden warst. Ich war ja schon überrascht, dass Ricky uns von Miami nach Las Vegas geflogen hat. Aber jetzt noch das Geld von der Party und die geilen Zimmer – da werde ich seine Entscheidungen bestimmt nicht mehr anzweifeln.“

„Klar.“ Alejandro stand auf. „Ich glaube, ich geh heut nicht mehr aus, ich bleibe lieber im Hotel.“

„Bist du sicher, Alter?“, fragte einer der anderen Tänzer.

Alejandro nickte. „Ich bin müde.“

Er wollte seinen wirklich beträchtlichen Anteil des frisch verdienten Geldes nicht gleich wieder für Glücksspiele und Alkohol ausgeben. Es war gerade genug, um endlich seinen Studienkredit ganz abzubezahlen. Endlich würde er nicht mehr als Tänzer arbeiten müssen.

Er hatte das ganze Medizinstudium hinter sich gebracht, ohne dass seine Brüder herausgefunden hatten, was er tat. Er erinnerte sich noch an ihr Angebot, ihn finanziell zu unterstützen, aber sie hatten schon so viel für ihn geopfert, dass ihm nur die Ausrede eingefallen war, er arbeite unten am Hafen und nehme Fische aus. Sie mussten nicht wissen, dass er zuerst als Tänzer in einer schäbigen Samba-Bar getanzt hatte, bis Ricky ihn entdeckt und in seine eigene Bar geholt hatte. Nächste Woche würde er mit seinem Praktikum in der Transplantationschirurgie in Miami beginnen – in der Pädiatrieabteilung des Buena Vista Hospital. Und mit dem Tanzen war es endgültig vorbei.

Allerdings störte ihn, dass gerade bei seinem letzten Tanz die Frau vor ihm geflüchtet war. Das war ihm noch nie passiert.

Als seine Freunde die Bar verließen, um sich ins Nachtleben zu stürzen, nahm Alejandro allen Mut zusammen, um zu ihr hinüberzugehen. Hoffentlich würde er sie nicht verärgern.

Er war genervt gewesen, als sie ihn geschickt hatten, das Mauerblümchen von der Terrasse hereinzuholen. Doch ihre Schönheit hatte seinen Ärger gleich verpuffen lassen. Ihr langes, dunkles Haar hatte im Mondlicht geschimmert, und die großen, dunklen Augen hatten ihn fast dahinschmelzen lassen.

In den vielen Jahren, die er schon als Tänzer arbeitete, hatte er viele schöne Frauen gesehen. Aber keine war wie diese hier. Es war rein sexuelle Anziehung, wie eine elektrische Ladung. Er wollte ihr mit den Händen über den Körper fahren, ihre Lippen schmecken, ihr seidiges Haar spüren. Allerdings war es schon gegen die Regeln, dass er sie nur ansprechen wollte. Doch er musste einfach wissen, warum er sie offenbar so angewidert hatte.

„Ein Mineralwasser mit Zitrone bitte“, sagte er zu dem Barkeeper und setzte sich auf den Stuhl neben ihr. Er spürte sein Herz gegen die Rippen schlagen. So nervös hatte ihn noch keine Frau gemacht.

„Geht klar.“ Der Barkeeper entfernte sich, und die Frau warf Alejandro einen Blick zu. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Röte stieg ihr in die karamellfarbenen Wangen, und Alejandro verstand, dass sie ihn erkannte, es aber nicht zugeben wollte.

„Du bist einfach verschwunden“, sagte er und sah sie dabei nicht an. Er starrte auf die aufgereihten Flaschen hinter der Bar.

„Verzeihung?“, fragte sie mit leicht zittriger Stimme.

Er wandte sich ihr zu. „Du bist während der Show einfach verschwunden.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ Sie drehte das Weinglas am Stiel hin und her.

Er beugte sich vor und roch den Kokosnussduft ihres Haares. Er atmete vorsichtig ein. „Natürlich weißt du das, mi tesoro“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Der Barkeeper brachte das Wasser, und Alejandro bezahlte. Er nahm das hohe Glas und trank einen Schluck, während sie neben ihm hin und her rutschte. Er schien sie unruhig zu machen.

„Na ja“, sagte er schließlich, „vielleicht habe ich mich vertan. Noch einen schönen Abend.“

„Warum würde dich das interessieren?“, fragte sie.

Er drehte sich wieder zu ihr um. „Warum würde mich was interessieren?“

„Dass ich gegangen bin.“

„Ist mir eben aufgefallen“, erwiderte er.

„Wahrscheinlich verschwinden bei dir …“ Sie räusperte sich. „Wahrscheinlich verschwinden bei eurer Show jede Menge Frauen.“

Alejandro setzte sich wieder. „Nicht bei meiner Show.“

Sie schnaufte. „Du bist ganz schön arrogant.“

„Das kann ich auch sein. Ich bin nun mal gut.“ Er zwinkerte ihr zu und lächelte. Langsam schien er die Mauer zu durchbrechen, mit der sie sich umgab. Er hatte schon beim Tanzen registriert, dass sie in sich verschlossen war.

„Das heißt, du merkst in deinem Club, wenn die Leute kommen und gehen?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Doch, hast du.“ Sie ahmte ihn nach: „Nicht bei meiner Show.“

Er lachte. Es war sexy, wie sie versuchte, seine tiefe Stimme hinzubekommen. „Eine sehr gute Imitation.“

Sie wurde erneut rot. „Also hast du es gesagt.“

„Schon. Aber ich tanze nicht in Clubs, wenn du damit Stripclubs meinst.“

Sie strich eine Strähne ihres tintenschwarzen Haars hinter das Ohr. „Ja, Stripclubs.“

„Da trete ich nicht auf. Eine Weile habe ich in einer Samba-Bar getanzt, aber da behält man die Klamotten an. Jetzt werde ich hauptsächlich zu privaten Zwecken gebucht, wie heute Nacht. Weil ich so gut bin. Die Frauen zahlen meinem Agenten alles, was ich fordere.“

Sie verdrehte die Augen. „Jetzt mach mal halblang. So gut ist niemand.“

„Ich schon. Ich bin stolz auf meine Arbeit. Bist du nicht stolz auf deine Arbeit?“

„Doch, bin ich. Ich bin auch eine der Besten.“

Er hob eine Augenbraue. „Ach, wirklich?“

„Ja. Deswegen bin ich auch so früh gegangen. Meine Arbeit ist mir wichtig. Ich musste mir noch etwas anschauen.“

„Wann entspannst du denn dann mal, wenn schon nicht auf einer Party?“

„Entspannen? Ist das diese mysteriöse Sache, von der ich schon so viel gehört habe?“, flachste sie.

Alejandro musste lachen. Seine älteren Brüder zogen ihn oft damit auf, dass er zu viel arbeitete und nie Pause machte.

„Du hast wohl recht. Wir, die wir uns voll und ganz in unsere Arbeit stürzen, brauchen keine Entspannung. Und deswegen kann ich mich auch erst zurücklehnen, wenn alle auf der Party vollkommen mit meiner Leistung zufrieden sind. Ich bin eben Perfektionist. Und mir scheint, du warst mit meiner Leistung nicht zufrieden.“

Erneut stieg ihr die Röte ins Gesicht. „Tut mir leid, dass ich verschwunden bin.“

„Ich würde dir gern zeigen, was du verpasst hast.“ Was machte er da?

„Was?“, sagte sie mit piepsiger Stimme. „Ich habe … Ich weiß nicht einmal, wie du heißt. Ich werde nicht einfach mit einem Fremden …“

Alejandro griff in seine Jackentasche und überreichte ihr eine Visitenkarte. „Ich bin Alejandro. Hier sind all meine geschäftlichen Daten. Ich bin registriert und nehme meine Arbeit ernst. Ich tanze. Das ist alles. Ich bin kein Gigolo, und es würde nichts in der anderen Hinsicht passieren. Die Hände bleiben, wo sie sind. Und alles andere auch.“

Sie nahm die Karte entgegen. „Warum soll ich dann mit dir kommen?“

„Wie gesagt, ich will nicht, dass meine Kundinnen unzufrieden sind.“ Er hielt ihr die Hand hin. „Deine Freundin hat mich bezahlt, damit ich auf ihrer Party eine gute Show hinlege. Die will ich noch beenden.“

Er war noch nie von selbst auf eine Kundin zugegangen, aber es ärgerte ihn wirklich, dass sie einfach abgehauen war. Möglicherweise lag es auch daran, dass sie einfach die schönste Frau der Welt war? Er wartete mit angehaltenem Atem auf ihre Antwort und rechnete schon mit einem Nein.

Sie trank den letzten Schluck Wein. „Wahrscheinlich bin ich verrückt, aber ich bin schließlich in Vegas. Und was in Vegas passiert, bleibt in Vegas, oder?“

Er spürte seinen Puls zwischen den Ohren donnern, als er ihre schmale, zarte Hand in seine nahm. „Absolut.“

1. KAPITEL

Fünf Jahre später. Miami, Frühling.

„Dir ist klar, dass du den hässlichen Bruder geheiratet hast, oder?“

Alejandro konnte nicht anders, als seine neue Schwägerin noch an ihrem Hochzeitstag aufzuziehen. Saoirse Murphy, eine wilde irische Schönheit, hatte gerade seinem Bruder Santiago das Ja-wort gegeben.

Santiago verdrehte die Augen. „Ihr seid schuld!“, rief er und zeigte auf die Zwillinge Dante und Rafe. „Ihr seid die Ältesten. Ihr solltet schon längst verheiratet sein! Dann würde sich dieses Baby hier nicht über mich lustig machen.“

Alejandro lachte. Dante und Rafe wurden nicht gern als „die Ältesten“ bezeichnet, aber Santiago und er hatten sie hinter ihrem Rücken schon immer so genannt.

Die Ältesten waren für ihn wie Ersatzväter – so wie auch Santiago, bevor er zur Army gegangen war, damals nach dem Raubüberfall in der Bodega, die auch den zehnjährigen Alejandro fast das Leben gekostet hatte. Er war in die Schusslinie geraten und hatte eine Kugel in die Brust bekommen.

Wenn ihn das Herz seines Vaters nicht gerettet hätte, wäre auch er gestorben. Doch nun trug er immer einen Teil seines Vaters in sich – eine große Verantwortung, die er jedoch mit Stolz schulterte. Deswegen war er heute auch einer der besten Transplantationschirurgen für Kinder im Buena Vista Hospital.

Apropos …

„Tut mir leid, aber ich muss ins Krankenhaus. Die neue Kinderchirurgin hat heute ihren ersten Tag. Ich habe gehört, sie ist ein ziemlicher culo duro.“

„Culo duro?“, fragte Saoirse an Santiago gewandt.

„Ein harter Hund“, sagt er zu seiner frischgebackenen Ehefrau. Dann drehte er sich zu Alejandro. „Warte mal ab, kleiner Bruder. Vielleicht ist sie nicht so schlimm, wie die Gerüchte sie machen.“

Alejandro biss die Zähne zusammen. Er hasste es, wenn Santiago ihn „kleiner Bruder“ nannte. Aber gut – er nannte Rafe und Dante „die Ältesten“, und es war alles liebevoll gemeint. So konnte er sich an Santiago wieder rächen und ihn den „hässlichen Bruder“ nennen.

Doch statt zurückzubeißen, küsste Alejandro galant Saoirses Hand. „Entschuldige bitte, dass ich schon wieder gehen muss. Aber felicitaciones les deseamos a ambos toda la felicidad del mundo.“

Saoirse runzelte die Stirn. „Glückwunsch … Wünsche euch beiden …“

„Alles Glück der Erde.“ Alejandro küsste ihr erneut die Hand.

„Suficiente idiota!“, sagte Santiago und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Au, ich bin kein Idiot.“ Alejandro zwinkerte Saoirse zu, die lachte und die Albereien zwischen den Brüdern offensichtlich genoss.

Rafe verdrehte die Augen, während Alejandro Santiago angrinste, der imaginäre Pfeile auf ihn abschoss.

„Tja, wir sollten froh sein, dass er auch nach Mamás und Papás Tod weiter Spanisch gesprochen hat“, seufzte Dante. „Aber muss er so viel besser sein als wir?“

Alejandro blinzelte Dante zu. „Immer, alter Mann, immer.“

Er verließ die Bodega seiner Familie, bevor seine älteren Brüder noch mit einer Rauferei begannen. Er winkte Carmelita zu, die die Weinschänke führte, seit er elf Jahre alt war. Sie winkte kurz zurück, in ihre Arbeit versunken.

Ihm schlug die Hitze entgegen. Seltsam für einen Frühlingstag. In Miami war es zwar immer warm, aber heute fühlte es sich an wie Sommer – eine feuchte, drückende Hitze. Die Palmen, die die Straße des alten Stadtviertels säumten, wiegten sich leicht im schwachen Wind. Im Süden braute sich ein Sturm zusammen.

Wie passend, dass Dr. Bhardwajs Ankunft durch ein Unwetter angekündigt wurde. Es gab schließlich Leute, die sie als die „Böse Hexe des Ostens“ bezeichneten.

Auf dem Weg zu seinem Motorrad flog ein Ball auf ihn zu. Er kickte ihn zurück und winkte der Gruppe Jungen und Mädchen zu, die auf der Straße Fußball spielten. Die meisten davon kannte er, weil er mit ihren Eltern zur Schule gegangen war. Sie hatten das Viertel nie verlassen und bildeten eine enge Gemeinschaft. Sie stammten alle von der kleinen karibischen Insel Heliconia. Er selbst war nie dort gewesen. Seine Eltern waren schon viele Jahre, bevor er geboren wurde, geflohen, um den furchtbaren Lebensbedingungen zu entkommen.

Alle in diesem Viertel blieben zusammen wie eine große Familie.

Nur er war gegangen.

Seine Wohnung lag in South Beach. Er hatte irgendwann nicht mehr bleiben können, weil dieses Viertel ihn immer so sehr daran erinnerte, wie seine Eltern gestorben waren und seine Brüder einen großen Teil ihrer Jugend für ihn geopfert hatten.

Hier war er auch Ricky begegnet, in einer schäbigen Samba-Bar, wo er mit einsamen Frauen getanzt hatte. Ricky hatte sich als Agent für Stripteasetänzer einen Namen gemacht und suchte Männer.

Doch das war alles vorbei, und er durfte sich nicht von seinen Erinnerungen ablenken lassen. Er hatte hart gearbeitet, um im Buena Vista Hospital zum Oberarzt für Transplantationschirurgie bei Kindern zu werden. Er würde es nicht hinnehmen, von einer neuen Ärztin hinausgedrängt zu werden.

Normalerweise würde er sich nicht solche Sorgen machen, aber offensichtlich wollte Dr. Bhardwaj einige Änderungen vornehmen, und das bedeutete letzten Endes immer Einsparungen. Alejandro war sich sicher, dass die Ankunft von Dr. Bhardwaj mit Mr. Snyder zu tun hatte, dem derzeitigen Vorstandsvorsitzenden. Seit Snyder diesen Job übernommen hatte, war nur zu klar geworden, dass er in jeder Abteilung versuchte, die Gelder zu kürzen.

Von Little Heliconia zum Buena Vista war es auf dem Motorrad nicht weit. Die dunklen Wolken zogen ihm hinterher.

„Wo warst du?“, fragte Dr. Raul Micha, als Alejandro den Umkleideraum betrat.

„Mein Bruder hat geheiratet“, antwortete Alejandro kurz angebunden. Er hatte keine Lust, mit seinem Kollegen zu sprechen.

„Masel tov“, sagte Dr. Micha sarkastisch. „Die Hexe sitzt übrigens schon auf ihrem Besen.“

Alejandro zog die Augenbrauen hoch. „Ach ja?“

Üblicherweise ignorierte er Dr. Michas Klatsch und Tratsch. Der Mann war geradezu paranoid, arbeitete aber zum Glück in der pädiatrischen Dermatologie, in die Alejandro sich selten verirrte. Trotzdem dachte Dr. Micha aus irgendeinem Grund, dass er und Alejandro allerbeste Freunde wären.

„In meiner Abteilung hat sie gleich Gelder gestrichen.“ Dr. Micha schüttelte den Kopf. „Kannst du dir das vorstellen? Dahinter steckt bestimmt der Snyder. Er ist mit Dr. Bhardwajs Mentor oben in New York befreundet, Dr. Vaughan.“

Alejandro war beeindruckt. Dr. Vaughan war ein Kinderchirurg von Weltruhm. Das hieß, Dr. Bhardwaj wusste zumindest, was sie tat. Dennoch …

„Gelder gestrichen?“, wiederholte er.

„Ja, all meine Projekte wurden eingestampft.“

„Das Buena Vista ist aber doch ein reiches Krankenhaus. Nicht wie das Seaside. Warum muss man da sparen?“

„Das Buena Vista war mal reich“, sagte Raul höhnisch. Dann blickte er in den Flur. „Oh, Mann, da kommt sie. Ich hau ab.“

Alejandro schüttelte verärgert den Kopf, als Raul aus dem Umkleideraum eilte. Er zog seine Alltagsgarderobe aus und holte die Krankenhauskleidung aus dem Spind. Bevor er das Hemd überziehen konnte, öffnete sich die Tür. Alejandro warf einen kurzen Blick über die Schulter und zuckte zusammen, als er der Frau in die Augen blickte, die dort stand. Es war die Frau, die verschwunden war.

Kiri.

Sein einziger One-Night-Stand aus seiner Zeit als Stripper stand direkt vor ihm. Vor fünf Jahren hatte er seinen privaten Tanz tatsächlich noch beendet, und dann hatte sie ihn geküsst. Alejandro hätte sie wegschieben sollen, aber dazu war er nicht in der Lage gewesen.

„Denk bitte nichts Falsches“, flüsterte sie. „So was habe ich noch nie gemacht. Mit einem Mann geschlafen, den ich gerade erst kennengelernt habe.“

„Ich mache so was auch nicht.“ Er fuhr ihr durch die Haare. „Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe.“

Er verdrängte die Erinnerung. Ihr Mund stand offen, und sie starrte ihn durch die Brille an, die sie damals schon getragen hatte. Sie hatte ihn erkannt. Das war nicht gut.

„Was …? Ich …“ Sie bekam keinen Satz heraus.

„Tut mir leid.“ Er zog sich sein Hemd über und streckte die Hand aus. „Dr. Bhardwaj?“

Er würde so tun, als würde er sie nicht erkennen.

Was für eine Lüge. Er erkannte jeden Zentimeter. Auch noch nach fünf Jahren. Er wusste noch, wie ihre Haut schmeckte, wie sie roch und wie sie geseufzt hatte, als er ihr direkt unter dem Ohr am Hals geknabbert hatte.

„Ähm. Ja.“ Sie starrte ihn an, als wäre er ein Geist. Ein unerwünschter Geist. Sie nahm seine Hand und schüttelte sie kurz. „Ja, ich bin Dr. Bhardwaj.“

Er nickte. „Ich bin Dr. Valentino. Oberarzt im Team für pädiatrische Transplantationen.“

Dr. Valentino? Kiri hatte den Nachnamen ihres Latino-Gottes nie erfahren. Natürlich hatte sie ihn nach ihrer einmaligen Indiskretion in Las Vegas auch nicht danach gefragt.

Eine heimliche, leidenschaftliche Nacht, die zu einer Schwangerschaft geführt hatte, trotz Kondom. In der dreiundzwanzigsten Woche dann die Fehlgeburt, die ihr auch heute noch große seelische Schmerzen bereitete. Als sie nun dem Vater ihres ungeborenen Babys ins Gesicht starrte, dachte sie daran, was alles hätte sein können.

Natürlich war die Schwangerschaft ein Unfall gewesen, aber sie hatte sich trotzdem auf das Kind gefreut. Sie hatte es sich zwar anders vorgestellt, eine Familie zu gründen, aber sie wollte unbedingt Mutter werden. Tatsächlich versuchte sie sogar, Alejandro zu finden, aber als sie die Nummer auf seiner Karte anrief, erfuhr sie, dass er gekündigt hatte, und der Agent, Ricky, weigerte sich, ihr zu sagen, wo sie ihn finden konnte.

Nun stand Alejandro wieder vor ihr, und sie spürte den Schmerz, das Kind verloren zu haben, wie damals. Dass er sich anscheinend nicht an sie erinnerte, half nicht unbedingt.

Aber was hatte sie auch erwartet, wenn sie mit einem Stripper schlief?

„Hallo, Dr. Valentino“, sagte sie steif. „Schön, Sie kennenzulernen.“

Alejandro lächelte dieses charmante, sexy Lächeln, das sie vor fünf Jahren zum Schmelzen gebracht hatte.

„Ebenfalls. Aber entschuldigen Sie mich, Dr. Bhardwaj, ich muss zu einer Konsultation.“

Er wollte sich wohl allein fertig umziehen.

„Natürlich. Vielleicht können wir danach ein Treffen vereinbaren, um über die Erwartungen Ihrer Abteilung zu sprechen.“

„Sehr gern.“

„Ich will dich“, flüsterte sie. „Ich habe noch nie einen Mann so gewollt. Bitte nimm mich.“

„Sehr gern.“ Er fuhr ihr mit den Lippen über den ganzen Körper und küsste sie an Stellen, an denen sie noch nie geküsst worden war.

Kiri drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Umkleideraum, so schnell sie konnte. Sie war wütend auf sich selbst. Warum rannte sie weg? Als sie die Fehlgeburt hatte, hatte sie sich geschworen, niemals vor dem Vater davonzurennen, sollte sie ihn jemals wiedersehen.

Sie musste ihm alles sagen, was sie dachte. All diese dunklen Gedanken, die ihr in den Wochen nach dem Verlust ihres Babys durch den Kopf geschwirrt waren. Sie drehte sich um.

Alejandro kam aus dem Umkleideraum. In Krankenhauskleidung und weißem Kittel sah er ganz anders aus. Wenn sie vor fünf Jahren ihren One-Night-Stand hatten und er heute als Oberarzt für Transplantationen in der Pädiatrie arbeitete – und das in einem Krankenhaus von Weltklasse –, dann musste er auch damals schon Arzt gewesen sein.

Warum hatte er dann getanzt und sich selbst lächerlich gemacht?

„Dr. Valentino. Einen Augenblick bitte noch.“

Er drehte sich zu ihr um.

Ha! So schnell wurde er sie nicht los. „Ich würde gerne mit zu Ihrer Konsultation kommen.“

Er runzelte die Stirn. „Warum?“

„Warum nicht? Ich habe selbst noch keine Patienten und würde gern sehen, wie Sie arbeiten. Mr. Snyder meinte, Sie sind der große Star, wenn es um Transplantationen bei Kindern geht.“

Außerdem wollte sie ihn irritieren.

Als sie nach ihrer Ankunft in Miami die Finanzen der Abteilung durchgegangen war, hatte sie gleich gesehen, dass Alejandros Abteilung viele Pro-bono-Fälle annahm. Das war zwar bewundernswert, aber der Vorstand hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass solche Wohltätigkeiten aufhören mussten. Der Vorstand wollte das Buena Vista Hospital zum Krankenhaus für die Elite von Miami machen – für die Reichen und Schönen. All die, die sich das Buena Vista nicht leisten konnten, mussten ins Seaside oder County.

Das war schade, aber sie verstand, dass das Buena Vista im Gesundheitswesen ganz vorne mitmischen wollte, und das war auch ihr Ziel.

Wenn sie das erreicht hatten, könnte Kiri den Vorstand vielleicht überzeugen, erneut einige Pro-bono-Fälle zu übernehmen. Aber erst einmal hatte Snyder sich deutlich ausgedrückt. Sie fragte sich manchmal, warum sie diesen Job angenommen hatte. Von Beginn an war ihr die Zusammenarbeit mit dem Vorstand ein Gräuel – vor allem mit Snyder.

Doch wenn sie die Stelle nicht angenommen hätte, wäre sie sich ihrem Mentor gegenüber undankbar vorgekommen. Er hatte sie schließlich für diesen Job vorgeschlagen.

„Kiri, das ist eine einmalige Gelegenheit. Du bist so jung, du würdest hier in Manhattan niemals so eine Stelle bekommen. Das Buena Vista ist eine erstklassige Klinik. Nimm den Job. Darauf hast du hingearbeitet. Snyder ist ein Freund, und ich weiß, dass er sein Krankenhaus gut leitet.“

Es hatte sich schon zu gut angehört, um wahr zu sein.

„Klar. Sie können gern mit zu meinem Patienten“, sagte Alejandro.

Sie folgte ihm den Korridor hinunter. Es war fast unerträglich, neben ihm herzugehen und so zu tun, als ob sie sich nicht kannten. Natürlich kannten sie einander auch nicht wirklich, aber Kiri wusste noch ganz genau, wie er nackt aussah. Wie er schmeckte und wie es sich anfühlte, als sie sich so nahe gewesen waren. Und jetzt tat er, als wären sie Fremde.

Wahrscheinlich war sie einfach nicht besonders erinnerungswürdig gewesen. So ging es ihr immer mit Männern. Männer erinnerten sich nicht an sie.

Alejandro nahm die Patientenakte von der Theke und lächelte den Krankenschwestern dahinter zu. Kiri sah, was er damit anrichtete: Die Frauen blickten ihm träumerisch nach. Als er an einem Krankenpfleger vorbeiging, grüßten sie sich, indem sie die Fäuste aneinanderstießen.

Er war furchtbar charmant, und alle fielen darauf herein. So wie sie damals.

„Mein Patient ist einer der Pro-bono-Fälle, die wir aus Little Heliconia bekommen. Ein fünfjähriger Junge mit Mukoviszidose. Die Familie spricht nur Spanisch. Können Sie Spanisch?“

„Nur ein bisschen.“

Alejandro runzelte die Stirn. „Dann erkläre ich Ihnen erst einmal, wie es ihm geht und was ich den Eltern erklären werde. So muss ich nicht dolmetschen.“ Er klang, als wäre es unpraktisch, sie dabeizuhaben, aber er würde es nicht schaffen, sie zu vergraulen.

Sie nickte. „Okay.“

„José Agadores hat Leberversagen im Endstadium. Eine intrahepatische Gallenobstruktion hat zum Abbau des Lebergewebes geführt. Als das County ihn endlich ins Buena Vista geschickt hat, konnten wir für seine Leber nichts mehr tun. Ich habe ihn auf die UNOS-Spenderliste gesetzt. Heute berichte ich seiner Familie, wie es ihm momentan geht.“

„Aber es hat sich noch keine Leber gefunden?“, fragte Kiri und machte sich Notizen. Snyder wollte Notizen zu allen aktuellen Pro-bono-Fällen. Alle anderen Abteilungsleiter im Krankenhaus machten das Gleiche.

Alejandro schüttelte den Kopf. „Nein. Und dem Jungen geht es nicht gut. Das letzte Blutbild zeigt einen Aszites und einen Bilirubinwert von drei Komma eins.“

Kiri öffnete die Akte, um sich die Laborwerte anzusehen. Sie seufzte. Das sah nicht vielversprechend aus. Je länger sie auf eine neue Leber warteten, desto mehr litt ein Körper und desto geringer war die Chance, dass er die Operation überstand. „Hat er die Kardiovaskulär- und Atemtests bestanden?“

Alejandro nickte. „Er wartet nur noch. Wie so viele andere.“

Kiri folgte Alejandro in das Patientenzimmer. Der kleine Junge sah gelblich aus und schlief. Eine Nasenkanüle half ihm beim Atmen. Kiri verspürte Mitleid mit den Eltern, die auf der Couch im Zimmer zusammensaßen, dunkle Ringe unter den Augen. Sie sprangen auf, als Alejandro neben das Bett trat. Hoffnung sprach aus ihren Gesichtern. Kiri beachteten sie gar nicht.

„Buenos días, Señor y Señora Agadore, cómo está haciendo José esta mañana?, fragte Alejandro.

„Tan bueno como se puede esperar“, antwortete Mr. Agadore. Dann entdeckte er Kiri. Sie lächelte freundlich, aber es war klar, dass die beiden ihr nicht vertrauten. Was ja auch kein Wunder war. Sie hatten Angst, waren müde und sprachen ihre Sprache nicht.

„So gut, wie man es erwarten kann“, hatte der Vater gesagt. Das hatte Kiri verstanden. Denselben Satz hatte sie schon von zahllosen Eltern gehört, deren Kinder um ihr Leben kämpften. Alle hatten denselben gequälten Gesichtsausdruck.

Alejandro drehte sich in ihre Richtung. „Permitame presente Dr. Bhardwaj. Ella es el jefe de cirugía pediátrica.“

Die Agadores lächelten höflich und nickten. „Hola.“

Kiri hörte nur halb zu und verstand einige Worte von dem, was Alejandro den verängstigten Eltern erzählte.

Dann schüttelte er ihnen die Hände, und sie wandten sich zu Kiri, um auch sie zu verabschieden. Kiri folgte Alejandro zurück zur Schwesternstation, wo er Josés Akte abgab.

Sein charmantes, fröhliches Lächeln war verschwunden. Wie sie wusste er nur zu genau, dass José nicht mehr viel Zeit hatte.

„Wie lange noch?“, fragte Kiri.

„Ein paar Tage. Ich habe mein Telefon die ganze Zeit an und warte auf den Anruf.“

„Hoffentlich melden sie sich bald. Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben. Wir sprechen uns bald wieder.“ Sie wollte gehen, aber Alejandro hielt sie auf.

„Sie können hier keine Einsparungen vornehmen.“

„Wie bitte?“, fragte sie verblüfft.

„Ich weiß, dass Sie schon Gelder gestrichen haben“, flüsterte Alejandro. „Sie können das Transplantationsprogramm nicht beschneiden. Keinen Teil davon.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Darüber kann ich hier und jetzt nicht sprechen, Dr. Valentino.“

Er nahm sie am Arm und führte sie nach draußen in eine schmale Gasse. In der Entfernung grummelte der Donner, und sie blickten nach oben in die dunklen Wolken. Die Hitze war immer noch drückend.

„Was soll das?“

„Sie können keine Gelder streichen“, wiederholte er.

„Ich bin Abteilungsleiterin, und ich entscheide, was gestrichen wird“, blaffte sie ihn an.

„Wenn Sie Gelder streichen, können Sie sich auf was gefasst machen“, sagte er durch zusammengebissene Zähne. Seine Augen waren so dunkel und wild wie das aufziehende Gewitter.

„Drohen Sie mir etwa?“

„Nein. Ich sage Ihnen nur, wie es ist.“

„Ich habe überhaupt nicht vor, Ihre Gelder zu streichen, Dr. Valentino.“ Dann seufzte sie. „Ich streiche allerdings Gelder für die Pro-bono-Fälle. Der kleine Junge ist der letzte Pro-bono-Patient, den Sie behandeln.“

„Was?“ Alejandro war entgeistert. „Das können Sie nicht machen.“

„Der Vorstand hat sich so entschieden. Sie wollen ein Krankenhaus von Weltklasse, fördern Forschungsprojekte und zahlen für neue Geräte. Sogar für neue Mitarbeiter. Aber Pro-bono-Fälle müssen Sie in Zukunft ans County überweisen.“

„Fälle wie Josés lassen sich nicht ans County überweisen. Das County hat nicht die richtige Ausrüstung, um Kinder wie ihn zu behandeln. Wenn ich ihn ins County schicke, stirbt er. Sie haben ihn schließlich von dort an uns überwiesen, weil wir die besten sind.“

„Mir sind die Hände gebunden. Nur diejenigen, die sich das Buena Vista leisten können, werden hier behandelt.“ Bevor sie sich zurückhalten konnte, fügte sie hinzu: „Sie wissen doch genau, wie es ist, sich um die Reichen zu kümmern, oder etwa nicht?“

Seine dunklen Donneraugen wurden schmal. „Du erinnerst dich also doch an mich.“

„Und du dich an mich. Was warst du damals? Arzt im Praktikum?“

Alejandro fluchte leise. „Ja.“

„Und weiß der Vorstand, was ihr genialer Dr. Valentino gemacht hat, bevor er in einem so renommierten Krankenhaus zum Oberarzt ernannt wurde?“

„Drohst du mir etwa?“, fragte Alejandro wütend.

„Nein.“ Vor fünf Jahren, als sie die Fehlgeburt hatte und niemand da gewesen war, um ihre Hand zu halten – da hätte sie ihm gern gedroht. Sie wollte ihm wehtun, wollte, dass er den gleichen Schmerz spürte wie sie.

„Ich habe getanzt, um meinen Studienkredit abzuzahlen. Das war alles. Als ich genug Geld hatte, habe ich aufgehört.“

„Ist mir egal“, sagte Kiri. „Ich will nur den Ruf des Krankenhauses schützen.“

„Ich mache das seit fünf Jahren nicht mehr. Das in Vegas war meine letzte Show.“

Kiri fühlte die Wärme ins Gesicht steigen. Plötzlich fühlte sie sich an diesen Abend zurückversetzt. „Warum hast du so getan, als ob du mich nicht erkennst?“

„Du doch auch“, gab er zurück.

„Ich war überrascht, einen Stripper als Chirurgen zu sehen.“ Sie bereute ihre Worte sofort.

„Ich bin kein Stripper. Nie gewesen. Und heute bin ich Chirurg. Sonst nichts. Auch wenn es schwierig ist, als Chirurg zu arbeiten, wenn einem die Gelder gestrichen werden.“

„Deine Gelder werden nicht gestrichen. Nur die für die Pro-bono-Fälle. Du hast genug Arbeit mit den Patienten und Patientinnen, die bezahlen können.“

Alejandro öffnete den Mund, um zu antworten. Da hörten sie einen dünnen, lang gezogenen Jammerton, der von hinter einem Müllcontainer zu kommen schien.

„War das ein Baby?“, fragte Kiri.

„Ja.“ Alejandro drehte sich langsam im Kreis und versuchte, über den Verkehr und den Donner erneut das Weinen zu hören.

Da war es wieder. Schwächer.

Alejandro eilte zu einem der Container. Dahinter stand ein fettiger Karton, in dem Zeitungen lagen. Kiri kniete sich neben ihn und schrie leise auf, als Alejandro das Papier anhob und ein kleines, blaugraues Baby zum Vorschein kam. Winzig war es und offensichtlich neu geboren. Die Nabelschnur war noch frisch und unsauber abgeschnitten.

„Oh mein Gott“, flüsterte Kiri voller Entsetzen. „Es ist wirklich ein Baby.“

„Solche Idioten“, fluchte Alejandro. „Wer macht denn so was?“

Kiri konnte nicht widersprechen. Irgendjemand hatte diesen Winzling nicht gewollt, aber musste man ihn deswegen in der Hitze neben dem Müll ablegen?

Alejandro zog seinen Kittel aus, hob den Jungen vorsichtig an und wickelte ihn darin ein. „Wir nehmen ihn mit rein. Hier draußen ist es viel zu heiß. Und das Gewitter ist auch bald da.“

Kiri nickte. Sie öffnete die Tür und eilte Alejandro nach, der mit seinen langen Beinen vorauslief. Er rief nach Schwestern, Ärzten und Maschinen. Sie legten das Baby auf ein Bett. Dort sah es noch viel kleiner aus.

Alejandro beeilte sich und verabreichte ihm Sauerstoff. Er hielt ihm die Maske vor das Gesichtchen, während sie auf einen Inkubator warteten.

„Wer macht so was nur?“, fragte Kiri sich laut.

Alejandro schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Aber es ist gut, dass wir ihn gefunden haben. Da draußen hätte er nicht lange überlebt. Seine Werte sind ziemlich schlecht. Ein Wunder, dass er es überhaupt so lange geschafft hat.“

Der Inkubator kam, und ein Arzt übernahm die Beatmung. Über die Nabelschnur bekam der Kleine Flüssigkeit. Kiri streichelte ihm das Händchen und nahm es zwischen ihre Finger. Wie winzig es war. Ihr Herz zog sich vor Zärtlichkeit und Trauer zusammen.

Sie würde so etwas wahrscheinlich nie haben. Ihre Frauenärztin hatte sie gewarnt, dass sie vermutlich nie wieder schwanger werden oder ein Kind würde austragen können.

„Was meinst du, wie alt er ist?“, fragte Alejandro und unterbrach ihre Gedanken.

„Vielleicht dreißigste Woche. Oder achtundzwanzigste“, flüsterte sie, während das Baby intubiert und in den Inkubator gelegt wurde. Sie hatte ihren Sohn mit dreiundzwanzig Wochen verloren. Er war nur wenig kleiner gewesen als dieses Kind.

Alejandro nickte. „Wahrscheinlich haben wir die Mutter gerade so verpasst. Ich sage der Notaufnahme Bescheid, dass sie nach ihr Ausschau halten.“

Kiri nickte. Die Ärzte schoben das Baby aus dem Raum. „Gute Idee. Ich nehme den Kleinen mit nach oben und kümmere mich um die Überweisung ins County.“

„County?“, fragte Alejandro verblüfft.

„Ja. Ich habe dir doch gesagt, dass das Krankenhaus keine Pro-bono-Fälle mehr annimmt.“

Alejandro runzelte die Stirn und kreuzte die Arme vor der Brust. „Die Fahrt ins County überlebt er nicht. Außerdem hat das County nicht die richtige Ausrüstung.“

„Dann das Seaside“, bot sie an. „Er kann jedenfalls nicht hierbleiben.“

Er schüttelte den Kopf. „Wir haben die beste Neonatal-Intensivstation hier im Buena Vista. Der Kleine muss hierbleiben.“

Kiri wollte ihn auch nicht ins County schicken, aber sie hatte keine Wahl. „Und wer bezahlt für ihn? Er hat keine Familie.“

Ein merkwürdiger Ausdruck zeigte sich auf Alejandros Gesicht. „Ich bezahle. Ich übernehme die Verantwortung für ihn.“

2. KAPITEL

„Was hast du gesagt?“ Kiri traute ihren Ohren nicht.

„Dass ich für das Kind bezahle“, fauchte Alejandro. „Du schickst es nicht ins County.“

Bevor sie etwas erwidern konnte, stürmte er aus dem Zimmer. Kiri blieb verblüfft stehen.

Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Sie hatte überlegt, wie sie Alejandro von ihrem gemeinsamen Baby erzählen sollte, und hatte erwartet, dass er wütend und entrüstet sein würde, so wie Männer es wohl typischerweise waren, wenn sie nach einem One-Night-Stand Vater wurden.

Vielleicht hatte sie ihn falsch eingeschätzt, wenn er sich entschied, ein krankes Kind wie sein eigenes zu behandeln.

Sie eilte ihm nach. „Du willst den Jungen adoptieren?“

Alejandro blieb stehen und wirbelte herum. „Was? Nein, ich habe gesagt, ich will für ihn bezahlen. Aber doch nicht, dass ich ihn adoptieren will.“

„Wenn jemand die finanzielle Verantwortung für ein Kind übernimmt, bedeutet das normalerweise, dass er es auch adoptiert.“

Alejandro runzelte die Stirn. „Daran habe ich kein Interesse, aber ich werde alles dafür tun, dass er eine gute Familie findet. Jemanden, der ihn wirklich will.“

Das war wie eine kalte Dusche. Also wollte er keine Kinder. Das hatte sie sich doch gleich gedacht. Damit wies er praktisch auch ihr eigenes Baby zurück.

„Dann solltest du dir besser einen Anwalt besorgen“, zischte sie.

„Warum?“

„Damit du nachweisen kannst, dass du die Verantwortung übernehmen kannst. Wenn du das versuchst und der Vorstand davon erfährt, werde ich dir bestimmt nicht den Rücken stärken.“

Sie wollte gehen, aber er griff erneut nach ihrem Arm und wirbelte sie herum. In seinen dunklen Augen sah sie wieder dieses gefährliche Glitzern.

„Drohst du mir etwa schon wieder?“

„Nein, ich sage nur, wie es ist.“ Sie riss ihren Arm los. „Sie sind einer meiner Chirurgen, Dr. Valentino. Ich habe nur Ihr Bestes im Sinn.“

„Mein Bestes? Am besten wäre es, wenn du den Vorstand davon abhalten würdest, die Pro-bono-Fälle nicht zu beschneiden.“

Kiri merkte, dass sie beobachtet wurden. Wie sie jetzt reagierte, würde sich darauf auswirken, wie sie als neue Abteilungsleiterin anerkannt werden würde.

„Dr. Valentino, wenn Sie Ihre Stelle hier im Buena Vista zu schätzen wissen, würde ich vorschlagen, dass wir uns privat über Ihre Einwände unterhalten, die Sie in Bezug auf die Entscheidungen des Vorstands haben. Wenn Sie weiterhin vertrauliche Informationen in aller Öffentlichkeit breittreten möchten, werde ich Ihnen eine Abmahnung schreiben müssen. Ist das klar?“

Innerlich zitterte sie. Sie hatte noch nie jemandem so Paroli geboten und war sich nicht ganz sicher, ob er nicht einfach kündigen würde. Wodurch sie sich ziemlich ins Abseits manövrieren würde, denn Dr. Valentino war ein hochgeschätzter pädiatrischer Chirurg und brachte viel Geld ein.

„Glasklar“, sagte er. Dann drehte er sich um und stürmte den Flur entlang.

Kiri verschränkte die Arme und starrte alle an, die sie beobachteten. Schnell blickten sie weg. Als sie sich sicher war, dass sie lange genug ihre Machtposition verdeutlicht hatte, verschwand sie so schnell wie möglich, bevor das Adrenalin nachließ und sie anfing zu weinen.

„Bist du verrückt geworden?“

Alejandro stöhnte, als sein Kumpel und Rechtsbeistand Emilio Guardia ihn am anderen Ende der Leitung anfuhr.

„Wahrscheinlich. Aber ist es möglich?“

Er hörte ein Seufzen. „Normalerweise erlaubt der Staat Florida es Angestellten im Gesundheitswesen nicht, Vormund von Staatsmündeln zu werden. Wir müssten beweisen, dass es keinen Interessenkonflikt gibt.“

„Den gibt es nicht. Ich habe doch nichts davon, wenn ich das Baby finanziell unterstütze.“

Das war die Wahrheit. Kiri hatte ihm sogar klargemacht, dass er viel riskierte. Glasklar hatte sie es gemacht. Aber wenn das Baby ins County geschickt wurde, würde es sterben.

„Kannst du mir die Patientenakte rüberschicken? Dann kann ich eine einstweilige Verfügung als Notfall beantragen. Dann kriegst du die Vormundschaft für den Jungen hoffentlich, falls die Familie in den nächsten achtundvierzig Stunden nicht ausfindig gemacht werden kann.“

„Danke, Emilio.“ Alejandro war erleichtert. „Ich schicke dir die Informationen so bald wie möglich.“

Alejandro legte auf und fuhr sich durch die Haare. Er hatte gestern kaum glauben können, dass hinter dem Müllcontainer ein Baby weinte.

Er war so wütend gewesen, dass der Vorstand die Pro-bono-Fälle streichen wollte, und dann war da plötzlich dieses kleine Wesen, ein Frühchen, das in der prallen Sonne um sein Leben kämpfte.

Niemand setzte sich für es ein. Dr. Bhardwaj hatte deutlich gemacht, dass er mit ihrer Unterstützung nicht rechnen konnte. Letzte Nacht hatte er sich hin und her gewälzt. Warum hatte Kiri sich nur so aufgeregt, weil er sich um den Jungen kümmern, ihn aber nicht adoptieren wollte? Er hatte keine Familienpläne. Nicht bei einer so unsicheren Zukunft. Sein Herz – das Herz seines Vaters, das in ihm schlug – konnte versagen. Die durchschnittliche Überlebensrate für Patienten, die im Kindesalter ein Organ transplantiert bekamen, betrug zweiundzwanzig Jahre. Das hatte er bald erreicht. Wenn er Probleme bekam, müsste er erneut auf die UNOS-Liste gesetzt werden und auf ein Herz warten, das er vielleicht niemals bekommen würde.

Er liebte Kinder, aber er wusste, wie sehr es schmerzte, seine Eltern zu verlieren. Das wünschte er niemandem. Am besten wäre es, wenn er den Jungen ins County schicken würde, statt sich selbst so für ihn einzusetzen. Aber dann würde der Kleine im System verloren gehen.

Er würde sterben, wenn sie sich nicht um ihn kümmerten. Das war so sicher, dass Alejandro wusste, dass er für den Jungen kämpfen musste.

So wie Dante, Rafe und Santiago für ihn gekämpft hatten. Als er nach dem Überfall im Koma lag, hatten seine Brüder die Entscheidung getroffen, die Maschinen für ihren hirntoten Vater abzuschalten und sein Herz dem kleinen Bruder zu spenden. Ohne es wäre Alejandro in dieser Nacht vermutlich auch gestorben.

Damals hatte Alejandro ganz oben auf der Liste gestanden. Zum Glück war er groß genug gewesen, denn erst ab sechs Jahren konnte Kindern das Herz eines Erwachsenen eingepflanzt werden. Es war leider noch viel schwieriger, das Herz eines Säuglings oder Kleinkinds zu finden.

Das Herz von Alejandros Vater hatte für den Sohn perfekt gepasst.

Seine Brüder hatten ihm eine zweite Chance gegeben, und er lebte noch. Dafür hatten sie so viel geopfert. Dieser kleine Junge hingegen hatte niemanden, und Alejandro bezweifelte stark, dass sie seine Familie finden würden.

Er war genauso einsam, wie Alejandro es bis heute war, aber damit hatte er sich abgefunden, als er alt genug war, um zu verstehen, welche Folgen eine Transplantation hatte. Jegliche Chance auf ein solches Glück wie jenes, das Santiago gerade genoss, war mit dieser Operation verloren gegangen.

Es klopfte an der Bürotür. „Herein.“

Es war Snyder. „Auf ein Wort, Dr. Valentino.“

Die Neuigkeit hatte sich wohl schon herumgesprochen.

Alejandro knirschte mit den Zähnen. „Gern. Bitte.“

Snyder setzte sich, strich die Aufschläge seines Designeranzugs glatt und räusperte sich. „Ich wollte gestern Abend noch mit Ihnen sprechen, aber Sie waren schon weg.“

„Meine Schicht war vorbei“, sagte Alejandro. „Also bin ich gegangen.“

„Sind Sie sicher, dass Sie nicht wegen dieser kleinen Auseinandersetzung geflüchtet sind?“ Snyders Augen konnten ein sarkastisches Funkeln nicht verbergen.

Alejandro widerstand der Versuchung, ihn aus seinem Büro zu werfen. „Ich habe viel zu tun. Wie kann ich Ihnen helfen, Mr. Snyder?“

„Uns ist zu Ohren gekommen, dass Sie das ausgesetzte Baby behalten möchten.“

„Ja. Und?“

„Ich bin überrascht, dass Sie das versuchen. Hat Dr. Bhardwaj Ihnen nicht gesagt, dass wir keine Pro-bono-Fälle mehr annehmen, bis der Vorstand neu strukturiert ist?“

„Doch.“

Snyder grinste spöttisch. „Dr. Valentino, widersetzen Sie sich also willentlich der Entscheidung des Vorstands?“

„Nein. Das Baby ist kein Pro-bono-Fall.“

„Seine Eltern sind noch nicht aufgetaucht, und soweit ich weiß, ist das Kind Mündel des Staates Florida.“

„Nicht mehr lange, Mr. Snyder.“ Er musste sich zusammenreißen, dem Kerl keine zu scheuern. Er kannte solche Männer. Kaum hatten sie ein bisschen Macht an sich gerissen, dachten sie gleich, sie beherrschten die ganze Welt. Es war nicht zu übersehen, wie sehr Snyder das hier genoss.

Er war ein arroganter Mistkerl.

„Wie meinen Sie das?“

„Ich bin in Kontakt mit meinem Anwalt und werde bald zum Vormund des Kindes ernannt. Dadurch bin ich finanziell verantwortlich und bezahle die Rechnungen.“

„Warum denn das?“

„Weil ich mit meinem Geld machen kann, was ich will.“

Snyder schüttelte den Kopf und stand auf. „Das kann nur schiefgehen. Das Kind sollte ins County geschickt werden, wie alle Staatsmündel.“

„Das wird es aber nicht. Und wenn wir hier fertig sind, muss ich mit meiner Arbeit weitermachen. Zahlende Patienten, ganz wie Sie es verlangen.“ Alejandros Lächeln fiel etwas zu strahlend aus, sodass Snyder beleidigt das Büro verließ.

Alejandro raufte sich erneut die Haare.

So hatte er die Woche im Buena Vista nicht beginnen wollen. Der Vorstandsvorsitzende saß ihm im Nacken, und die neue Leiterin der pädiatrischen Chirurgie war sein One-Night-Stand – der einzige, den er jemals gehabt hatte – und wusste von seiner Vergangenheit.

Es klopfte schon wieder, und Alejandro fluchte leise. Ob Snyder noch ein bisschen Gift versprühen wollte?

„Herein.“

Es war Kiri. Sein Puls beschleunigte sich, als er sie sah.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie.

„Natürlich. Wieso nicht?“ Er versuchte, sie nicht anzusehen.

„Ihnen ist klar, dass ich Sie gestern zur Ordnung rufen musste.“

„Ja.“ Er seufzte. „Ich entschuldige mich bei Ihnen, Dr. Bhardwaj. Ich war wütend.“

„Das verstehe ich. Aber, Dr. Valentino, Sie können nicht die Verantwortung für das Kind übernehmen.“

„Das muss ich. Er hat doch keine Chance, wenn wir ihn in ein anderes Krankenhaus schicken.“

„Sie wissen, dass ich das auch nicht will, aber der Vorstand …“

Alejandro hob die Hand. „Das müssen Sie mir gar nicht erklären. Snyder war gerade hier.“

„Oje“, sagte sie zerknirscht und blickte dann besorgt. „Ich habe ihm eigentlich gesagt, dass ich mich darum kümmere.“

„Um Ihren Job müssen Sie sich bestimmt keine Gedanken machen. Er mag mich nicht. Das war schon immer so. Wahrscheinlich, weil ich ihm nicht in den Hintern krieche.“

„Ich auch nicht“, verteidigte Kiri sich.

„Und was ist mit Dr. Vaughan?“

„Was soll mit ihm sein?“, fragte sie verwirrt.

„Ach, kommen Sie. Da wurde doch bestimmt gekuschelt.“

„Ich sollte dir eine runterhauen“, zischte sie. „Ich habe hart gearbeitet, und Dr. Vaughan hat mich für die Stelle empfohlen.“

Alejandro fühlte sein schlechtes Gewissen. „Tut mir leid. Snyder regt mich nur so auf.“

„Das sehe ich. Darf ich mich setzen?“, fragte sie. „Ich stehe ungern in der Tür.“

Er mochte wütend auf den Vorstand sein, aber deswegen musste er sich wirklich nicht so idiotisch benehmen. Besonders in Anwesenheit einer Dame. Carmelita hatte ihm in seiner Jugend öfters einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben, wenn er sich dem schönen Geschlecht gegenüber unhöflich verhalten hatte.

„Eres todo un caballero. Comportarse como tal.“

Du bist ein Gentleman. Verhalte dich auch so.

„Natürlich.“ Alejandro stand auf, zog einen Stuhl für sie heran und setzte sich wieder. „Mein Anwalt besorgt mir eine einstweilige Verfügung. Ich hoffe, dass du auf deiner Seite als Abteilungsleiterin die Sache noch ein paar Stunden hinauszögern kannst.“

Sie nickte. „Aber wenn die Verfügung bis heute Abend nicht da ist, muss ich ihn ins County schicken.“

„Ich meine es wirklich ernst, dass ich für den Jungen bezahle.“

Ein seltsamer Ausdruck zog kurz über ihr Gesicht und war wieder verschwunden. „Warum machst du das?“

Alejandro zuckte mit den Schultern. „Würdest du das nicht auch machen, wenn du könntest?“

„Ist das deinen Job wert?“

„Der Junge muss medizinisch versorgt werden, und die beste Versorgung gibt es nun einmal hier im Buena Vista. Wir müssen ihm die Chance geben. Und ich kann ihm helfen, wenn auch nur finanziell.“

Wieder dieser seltsame Ausdruck. „Wie edel von dir.“

„Was soll der Sarkasmus?“

„Das war kein Sarkasmus.“

Er runzelte die Stirn. „Warum macht dich das so wütend?“

„Hör mal, ich will auch nur das Beste für das Baby. Aber so spuckst du mir geradezu ins Gesicht. Oder dem Vorstand. Du sagst praktisch, dass die neuen Regeln, die du von deiner Chefin oder aus der Führungsetage übermittelt bekommst, dir vollkommen egal sind. Du machst einfach, was du willst.“

„Darum geht es doch gar nicht. Ich will dem Kind nur das Leben retten.“

Sie konnte nicht glauben, dass sie versuchte, es ihm auszureden. So war sie doch gar nicht. Wann hatte sie sich eigentlich so verändert? Als sie sich entschieden hatte, Kinderchirurgin zu werden, hatte sie auch alle Kinder retten wollen. Ihre Gefühle spielten verrückt. Zu sehen, wie er sich so für das kleine Baby einsetzte, rührte ihr Herz, aber erinnerte sie auch daran, dass er nicht da gewesen war, um ihr eigenes Baby zu retten.

Nicht dass er etwas hätte tun können, das wusste sie, aber er war nicht da gewesen, und als sie das kleine Baby in dem schmutzigen Karton gesehen hatte, mit Zeitungen bedeckt und weggeworfen, hatte es sie mitten ins Herz getroffen. Seitdem war sie vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht.

Sie beneidete Alejandro ein wenig um seinen Mut.

„Hör mal …“ Sein Telefon klingelte.

„Hallo? Ja, Dr. Valentino hier.“ Er lauschte. „Wo ist sie? Okay. Ich bin gleich da.“

„Alles in Ordnung?“, fragte sie, als er auflegte.

„Ich muss los.“ Er stand auf. „Eine Leber für José. Sie ist in New Orleans. Wir bekommen einen Teil davon. Ich muss sie abholen.“

Sie war schockiert. „Machst du die Entnahme immer selbst? Warum schickst du nicht einen deiner Ärzte?“

Alejandro schüttelte den Kopf. „Ich muss sicherstellen, dass alles richtig gemacht wird. José hat nur diese eine Chance.“

Kiri nickte. „Ich rufe beim Flughafen an und reserviere ein Flugzeug.“

„Danke.“

Kiri stand auf. „Kann ich mitkommen?“

Er blickte überrascht. „Mitkommen? Wieso?“

„Ich will sehen, wie du arbeitest“, sagte sie. „Ich wollte sowieso bei der Operation zuschauen, sobald du ein Organ gefunden hast.“

„Mir wäre es lieber, wenn du hierbleibst“, sagte Alejandro. „Um sicherzugehen, dass sie das Baby nicht ins County abschieben.“

Kiri lächelte ihn an. „Dem habe ich bereits einen Riegel vorgeschoben. Das Baby wird noch untersucht, und außerdem bin ich diejenige, die die Überweisung unterschreiben muss.“

Er überlegte. Dabei fuhr er sich mit einer Hand durch die dunklen Locken, die wild zu allen Seiten abstanden.

„Ich kann gar nicht fahren“, rief er plötzlich.

„Warum nicht?“

„Weil keiner der anderen hier Spanisch spricht. Ich muss José doch vorbereiten und mit seinen Eltern reden. Ich muss die Entnahme wohl doch einem Team in New Orleans überlassen.“ Er fluchte. „Das ist mir gar nicht recht.“

„Dann fahre ich. Du bleibst hier und bereitest José vor.“

„Kannst du das?“, fragte Alejandro. „Hast du schon mal ein Organ entnommen?“

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, und er lachte. „Was rede ich denn da? Natürlich kannst du das.“

„Ich hätte es dir sonst auch nicht angeboten. Bereite du José vor, und ich melde mich, sobald ich die Leber habe. Und ruf du den Flughafen an. Ich will so bald wie möglich los.“

Alejandro nickte. „Wir sehen uns in fünfzehn Minuten bei den Krankenwagen.“

„Okay.“ Kiri stand auf und verließ den Raum. Sie würde ein Vorstandstreffen verpassen, aber das war jetzt nicht wichtig. Das hier war ihre Aufgabe. Dem kleinen José zu helfen.

Kiri zog sich Krankenhauskleidung an. Sie griff nach ihrem neuen Ausweis und einer Jacke mit Buena-Vista-Aufdruck, sodass das Parish Hospital in New Orleans wusste, wo sie herkam.

Alejandro stand schon bei den Krankenwagen, als sie eine Viertelstunde später dort ankam. Er hatte eine Kühlbox dabei, in die Josés neue Leber gelegt werden würde.

„Danke, dass du das machst.“

„Kein Problem. Hör mal, ich weiß, dass ich dir das Leben schwer mache und dir gestern ganz schön schlimme Nachrichten überbracht habe. Und dann noch der öffentliche Streit. Aber mir als Leiterin der pädiatrischen Chirurgie ist es ganz wichtig, dass wir im Buena Vista als Team zusammenarbeiten.“

Er nickte. „Das hört sich gut an. Aber jetzt beeil dich besser. Ruf mich an, sobald ihr die Leber habt.“

„Mache ich.“

Kiri drehte sich noch einmal um. Alejandro stand dort und sah zu, wie sie in den Krankenwagen stieg. Er verzog keine Miene. Aber sie verstand diesen Blick. Er wollte die Entnahme selbst machen und würde so lange unruhig hin und her rennen, bis sie ihn anrief, um zu sagen, dass alles in Ordnung war. Ihr würde es nicht anders gehen.

„Bereit, Dr. Bhardwaj?“, fragte der Sanitäter.

„Ja, los geht’s.“

Sie hasste es zu fliegen, aber nach New Orleans war es nicht weit, und der kleine José wartete. Ihr Baby hatte sie nicht retten können und viele andere Patienten auch nicht, doch diesem Jungen würde sie nun helfen.

3. KAPITEL

Diesen Teil ihres Jobs mochte Kiri ganz und gar nicht, und sie hoffte, dass niemand sah, wie sie zitterte, als sie an den Operationstisch trat, um die Leber zu entnehmen. Damit beendete sie schließlich ein Leben.

Das Parish Hospital hatte ihr einen Chirurgen zur Seite gestellt, der ihr helfen sollte. Gerade war ein anderes Team dabei, eine Niere zu entfernen.

Sie hatten entschieden, dass Kiri die ganze Leber entnehmen und einer der Ärzte hier, der als Spezialist galt, sie aufteilen würde. Einen Teil für José und den anderen für einen anderen Patienten. Die Leber war ein faszinierendes Organ, das sich selbst regenerieren konnte.

Leider kamen in Josés Fall beide Eltern nicht für eine Spende infrage, sodass er auf die Liste gesetzt worden war. Aber nun war sie ja hier. Sie hatte schon einige Organe selbst entnommen, doch seit sie in New York Oberärztin geworden war, hatte sie nur noch ihre Studenten und Studentinnen beaufsichtigt.

An dieser Entnahme hing viel, das war ihr klar. Alejandro hatte gesagt, dass José nur die eine Chance hatte, und es war besser, dass Alejandro in Miami geblieben war. Wenn sie die Mutter des Jungen wäre und die Sprache nicht könnte, hätte sie auch gewollt, dass der Chirurg blieb, den sie schon kannte.

Nur dass sie selbst nie Mutter sein würde.

Kiri blickte auf die Leber und entschied, wo sie mit der Resektion beginnen würde. Ihr gegenüber stand eine weitere Ärztin, und eine Schwester wartete auf Anweisungen.

„Skalpell.“ Kiri hielt die Hand auf, und die Schwester legte ihr ein Zehner mit dem Griff zuerst hinein. Sie entfernte das Organ routiniert aus dem Spenderpatienten und legte es in eine stählerne Schale mit eiskalter Konservierungslösung, damit der Kollege vom Parish Hospital sie teilen konnte.

José sollte das linke Stück bekommen. Es würde für ihn reichen, da er noch ein Kind war.

Zum Glück war die Leber nicht beschädigt und blutete nicht, zeigte keine Flecken oder Zysten. Genau solch ein Organ brauchte man für eine Transplantation. Bevor sie sie José einpflanzten, würden sie sie sich aber noch einmal ganz genau ansehen.

Kiri zog die Handschuhe aus und holte die Kühlbox für den Transport.

Sobald die Teilung erfolgreich abgelaufen war und sie im Krankenwagen saß, würde sie Alejandro anrufen. Der hatte dann noch genug Zeit, José in Narkose zu versetzen und in den Operationssaal zu bringen.

Es musste alles genau aufeinander abgestimmt sein wie bei einem Tanz, und Kiri war beeindruckt, dass ein Mann wie Alejandro sich auf solch einen schwierigen Bereich spezialisiert hatte, insbesondere mit seinem Hintergrund. Machte er sich keine Sorgen, dass es jemand herausfinden konnte?

Während sie überlegte, wie sie diese Geschichte dem Vorstand erklären würde, tauchte langsam eine Erinnerung an ihn auf und an das Tattoo des großen Adlers auf seiner Brust.

Sie erinnerte sich, wie sie mit den Fingern darübergefahren war und dem feinen Muster der Tinte nachgespürt hatte.

„Ein interessantes Motiv für ein Tattoo“, flüsterte sie, während er ihr über den Rücken strich.

„Es verdeckt eine Narbe“, sagte er und küsste ihren Hals.

„Das muss aber eine große Narbe sein.“

Er nickte. „Die habe ich, seit ich ein Kind bin. Als Erwachsener wollte ich sie mit einem Motiv verdecken, das mir etwas bedeutet.“

„Ein Adler?“

„Sí.“

„Warum?“

„Genug gefragt.“

Er grinste und küsste sie so, dass sie alle Fragen vergaß und ihr Blut sich anfühlte wie Feuer.

„Dr. Bhardwaj?“

Kiri schüttelte den Kopf, um die Gedanken an Alejandro loszuwerden. Sie trat vor und öffnete die Kühlbox, die ebenfalls mit kalter Konservierungslösung gefüllt war. Der Chirurg legte das Leberstück vorsichtig hinein.

Als sie sicher waren, dass die Leber sicher lag und die Zweige der Arterie und des Gallengangs nicht beschädigt waren, schloss Kiri den Deckel und trat aus dem Operationssaal. Sie zog die Operationskleidung aus und folgte der Schwester hinaus zu den Krankenwagen.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte die frisch einprogrammierte Nummer, um Alejandro anzurufen.

Er meldete sich sofort.

„Kiri hier. Die Leber ist lebensfähig, und ich bin unterwegs. In ein paar Stunden sollte ich da sein.“

„Ich bereite ihn vor.“ Alejandro legte auf. Sie kletterte mit der wertvollen Fracht hinten in einen der Krankenwagen. Der Sanitäter, der mit ihr dort saß, schnallte sie an. Sie selbst würde ihre Augen nicht von der Box lassen, wie es im Buena Vista das Protokoll vorschrieb. Sie war für das Organ verantwortlich. Sie nickte, die Sirene begann zu heulen, und der Krankenwagen raste los.

Es war schon Feierabend, und sie mussten durch das French Quarter, in dem es vor Feierwütigen, Kutschen und Touristen nur so wimmelte. Da half auch die Sirene kaum.

Der Fahrer fluchte leise.

Kiri blickte aus dem Fenster. Die Leute strömten hinter ihnen gleich wieder zusammen. Endlich wurde der Weg frei, und sie fuhren hinaus auf die Canal Street und die Schnellstraße, über die sie auf den Highway kamen und bis zum Flughafen.

„Parish Hospital ist nicht gerade gut gelegen“, sagte der Sanitäter ihr gegenüber. „Das French Quarter ist um diese Zeit wirklich schlimm.“

„Das ist nichts im Vergleich zu New York während der Rushhour“, sagte Kiri und lächelte ihn an. Mehr sprachen sie nicht.

Sie alle wussten, dass sie nur hier waren, weil gerade ein Mensch gestorben war. Der Spender war zwar erwachsen gewesen, aber trotzdem hatte ihn seine Familie bestimmt geliebt.

Wenn sie im Flugzeug saß, würde sie sich besser fühlen. Endgültig zufrieden würde sie allerdings erst sein, wenn José seine neue Leber hatte und es ihm besser ging.

Alejandro blickte auf José, der vor ihm auf dem Tisch lag. Er hatte einen venovenösen Bypass, und Alejandro hatte die beschädigte Leber schon fast ganz entfernt. Er wollte nur sichergehen, dass er die Gefäße lang genug ließ, damit die Reanastomose problemlos vonstattenging.

Transplantationen waren der schwerste Teil seiner Arbeit, auch nach all der Zeit. Denn einmal hatte er selbst auf so einem Tisch gelegen, während sein Vater direkt neben ihm von der Herz-Lungen-Maschine genommen wurde.

Jede einzelne Operation rief diese Erinnerungen in ihm wach, aber er wollte sie auch nicht missen. Als er Monate später das Grab besuchte – zur Beerdigung der Eltern hatte er nicht gehen können, weil er noch auf der Intensivstation lag –, hatte er seinem Vater versprochen, dass er anderen das Leben retten würde.

Die Tür zum Operationssaal wurde geöffnet, und Kiri kam herein, mit einer Maske vor dem Gesicht und der Kühlbox in der Hand.

„Wurde Zeit“, sagte er rasch und sah kaum auf, während er sich weiter um José kümmerte.

„Ich hatte keinen Einfluss darauf, wie schnell das Flugzeug fliegt“, sagte Kiri. Sie übergab die Box an Alejandros Kollegen Dr. Page, der schon frische Lösung vorbereitet hatte.

„Ziehst du dich um und hilfst?“, fragte Alejandro. Er konnte es ihr gleich anbieten, weil sie sowieso bleiben würde.

„Kannst du Gedanken lesen?“

Er grinste in sich hinein und sah ihr nach, als sie in den Nebenraum ging, um sich steril anzuziehen.

Schon kam sie zurück und stellte sich auf die andere Seite des Tisches. Eine Schwester übergab ihr den Retraktor.

„Die Trennung des Gallengangs ist dir gut gelungen“, sagte sie. „Hast du auch die Gallenblase entfernt?“

„Ja, damit es später keine Probleme gibt. Und vielen Dank für das Lob, Dr. Bhardwaj.“

„Gern geschehen.“

„Ich habe mich auch noch nicht richtig bedankt, dass du nach New Orleans geflogen bist. Es war gut für die Familie, dass ich hiergeblieben bin.“

„Das dachte ich mir. Sie waren bestimmt erleichtert.“

„Ja, und furchtbar verängstigt.“

„Kein Wunder. Wenn er mein Sohn wäre …“ Sie ließ den Satz unvollendet und räusperte sich. „Jetzt war ich wenigstens auch mal in New Orleans. Obwohl ich natürlich nicht viel von der Stadt gesehen habe.“

„Schade. Es ist eine schöne Stadt“, sagte Alejandro. „Im Café du Monde gibt es köstlichen Café au Lait und Beignets.“

„Beignets?“

„Eine Art Schmalzgebäck mit Zuckerglasur. Köstlich, aber gefährlich.“ Er zwinkerte ihr zu.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich mag Gebäck nicht so gern.“

„Was?“

„Ich mag lieber Herzhaftes. Pommes zum Beispiel.“

„Das ist aber nicht unbedingt typisch New Orleans.“

„Habe ich ja auch nicht gesagt“, erwiderte Kiri. „Bevor meine Eltern nach New York gezogen sind, haben sie bei Verwandten in London gelebt. Und wenn wir dort später auf dem Weg nach Mumbai zwischenlandeten, gab es immer die besten Fish and Chips, die wir am Ufer der Themse gegessen haben.“

„Bist du in Mumbai geboren?“

„Nein. New York City. Manhattan, um genau zu sein. Wo bist du geboren? Du sprichst fließend Spanisch.“

„Wie sieht die Leber aus, Dr. Page?“, fragte Alejandro, um ihre Frage nicht zu beantworten. Er war in Miami geboren, aber er wollte gerade nicht über Heliconia sprechen, wo seine Eltern herkamen. Er wollte nicht daran denken, wie sie erschossen worden waren.

Seine Narbe auf der Brust zwickte, und sein Herz hüpfte kurz, um sich ebenfalls bemerkbar zu machen.

„Sieht gut aus, Dr. Valentino. Ich wäre soweit“, sagte Dr. Page.

„Ich auch.“

„Dann bringe ich jetzt die Leber“, kündigte Dr. Page an. Kiri stellte sich neben ihn. Alejandro legte seine Instrumente weg und griff vorsichtig in die Schale, um das Organ herauszuholen. Alles andere wurde unscharf, und er hörte nur noch den Puls in seinen Ohren, als er tief durchatmete und die Leber langsam dort einsetzte, wo sie in Josés Körper hingehörte.

Der Junge würde ein Leben voller Immunsuppressiva führen und ständig auf sich aufpassen müssen, aber das war ein Preis, den man gern zahlte.

„Du bist wach.“

Alejandro blinzelte und sah, dass Dante und Rafe sich über ihn beugten. Santiago schmollte in einer Ecke. Seine Augen waren rot.

Er wollte sprechen, schaffte es aber nicht. Sein Hals tat weh und alles andere auch.

„Nicht sprechen“, sagte Dante. „Du hattest eine Operation, weil sie dir ein neues Herz eingesetzt haben. Jetzt haben sie dir gerade den Schlauch aus dem Hals genommen.“

Er blickte Dante an. Seine Augen waren auch rot.

„Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“

Alejandro nickte und zuckte zusammen, als ihm Tränen in die Augen stiegen. Der Knall der Schüsse schien ihm immer noch in den Ohren zu schrillen.

„Die Polizei kommt demnächst vorbei, damit du dir Bilder angucken kannst. Erinnerst du dich noch an die Männer?“

Alejandro nickte. Er würde diese Furcht einflößenden Kerle mit ihren Gewehren nie vergessen. Er zog eine Grimasse.

„Du wurdest angeschossen. Erinnerst du dich?“, wiederholte Dante. „Nicht bewegen. Du musst dich erst erholen.“

Und dann suchte Alejandro nach Santiagos Blick, stumm fragend, wo Mamá und Papá waren. Alejandro sehnte sich nach seinen Eltern.

Santiagos Augen waren dunkel und leer. „Mamá und Papá sind tot. Du hast Papás Herz bekommen.“

Er hörte sich selbst schreien, doch das war nur in seinem Kopf. Dann hörte er nur noch das Schrillen der Monitore und das Brüllen seiner Brüder, die um Hilfe riefen, weil er einen Krampfanfall hatte.

„Gut gemacht“, sagte Alejandro und versuchte, seine Erinnerungen loszuwerden. Er begann damit, die Venen zu verbinden. Normalerweise würde er die Rekonstruktion anders angehen, aber Josés untere Hohlvene war komplett zerstört, sodass er die des Spenders nutzte.

„Ich war das nicht“, sagte Kiri.

„Immerhin sind alle Arterien intakt. Eine schöne Leber.“

Kiri nickte. „Damit hat er eine gute Chance.“

„Das ist das Beste an diesem Job“, sagte Alejandro und grinste sie an.

„J… ja, na… natürlich“, stotterte sie, als ob sie versuchte, Traurigkeit hinunterzuschlucken.

Hatte Kiri jemanden verloren? Ein Kind, das sie nicht losließ? Als sie in sein Büro gekommen war, hatte er gesehen, dass sie keinen Ring trug, aber das hieß ja nichts.

Nicht dass er nach einem One-Night-Stand vor über fünf Jahren ein Recht hätte, sich über so etwas Gedanken zu machen.

Seit damals hatte er keine richtige Beziehung mehr gehabt. Er hatte sich in die Arbeit gestürzt, aber manchmal dachte er daran, wie sie ihn berührt hatte, wie sie geduftet und geschmeckt hatte. Dass ein anderer Mann sie so erlebte, daran wollte er nicht denken.

„Was hat deine Familie dazu gesagt, dass du New York verlassen hast und hierhergezogen bist?“

Autor

Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
Mehr erfahren
Amy Ruttan
Amy Ruttan ist am Stadtrand von Toronto in Kanada aufgewachsen. Sich in einen Jungen vom Land zu verlieben, war für sie aber Grund genug, der großen Stadt den Rücken zu kehren. Sie heiratete ihn und gemeinsam gründeten die beiden eine Familie, inzwischen haben sie drei wundervolle Kinder. Trotzdem hat Amy...
Mehr erfahren
Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
Mehr erfahren
Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
Mehr erfahren