Julia Ärzte zum Verlieben Band 134

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RETTE MEIN LEBEN, RETTE MEIN HERZ! von ALISON ROBERTS
Sich in einen Arzt verlieben? Das passiert Evie kein zweites Mal! Auch wenn es zwischen ihr und Dr. Ryan Walker noch so heiß knistert: Ihr Platz ist auf der Intensivstation und nicht im Bett des Herzspezialisten. Doch als sexy Ryan mit ihr tanzt, macht Evie einen Fehler …

EINE NACHT MIT DIR, EIN JA FÜR IMMER von MARION LENNOX
In den Armen von Dr. Noah McPherson fühlt Addie etwas, wonach sie sich immer gesehnt hat: begehrt zu werden! Dabei ahnt die Ärztin, eine Zukunft mit ihm bleibt nur ein Traum! Doch als ihre Liebesnacht süße Folgen hat, überrascht Noah sie mit einem unglaublichen Angebot …

ZWEI IN WEISS - WIE FEUER UND EIS von AMY RUTTAN
Als Dr. Sturlusson sie auf Island empfängt, fühlt die Chirurgin Betty einen eisigen Schauer. Ein Notarzt, der aussieht wie ein Wikinger und sie auch so behandelt? Klar, dass sie ihm gegenüber patzig wird. Doch warum lässt sie dann zu, dass der Macho sie besitzergreifend küsst?


  • Erscheinungstag 10.01.2020
  • Bandnummer 134
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715519
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alison Roberts, Marion Lennox, Amy Ruttan

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 134

ALISON ROBERTS

Rette mein Leben, rette mein Herz!

Seite an Seite kämpfen Dr. Ryan Walker und die schöne Evie um das Leben eines kleinen Mädchens. Noch nie fühlte der Playboy-Doc sich einer Frau so nah, denn Evie macht die Kinderstation zu einem Ort der Hoffnung. Für Ryan steht fest, er will nicht nur ihr Talent fördern, sondern sie auch mit heißen Küssen verwöhnen. Aber warum geht Evie plötzlich auf Distanz?

MARION LENNOX

Eine Nacht mit dir, ein Ja für immer

Obwohl er Ärztin Adeline Blair das Leben rettet, plagt Dr. Noah McPherson das schlechte Gewissen. Schließlich hat er einst ihre Hochzeit gesprengt! Doch seine scheue Kollegin von damals hat sich in eine hinreißende Frau verwandelt. Und als Addie ihn am Strand sehnsüchtig küsst, fühlt der attraktive Single-Chirurg plötzlich keine Schuld, sondern pures Verlangen …

AMY RUTTAN

Zwei in Weiß - wie Feuer und Eis

Seit einem Unglück hat der attraktive Dr. Sturlusson sich jede Freude versagt. Kein Wunder, dass ihm nicht danach ist, für die kratzbürstige Betty Jacinth den Entertainer zu spielen! Mit der Ärztin arbeiten? Eine Explosion aus Feuer und Eis! Erst als ihr Ex-Freund auftaucht, will der stolze Arzt sie plötzlich nicht nur beschützen, sondern auch besitzen …

1. KAPITEL

An manchen Tagen wünschte Evie Cooper, sie könnte sich klonen, und heute war definitiv so ein Tag.

Und als reichte es nicht, dass sie sich für den Erfolg der Gala, mit der das Hope-Kinderkrankenhaus an diesem Abend eröffnet werden sollte, verantwortlich fühlte, wurde sie von zu Hause mit scheinbar dringenden Textnachrichten bombardiert.

Hast du die neuen Teststreifen für mein Blutzuckermessgerät besorgt?

Sie schrieb ihrem Vater zurück:

Ja. Aber ich werde heute erst spät zurück sein. Hast du noch welche?

Ich glaube, einen habe ich noch.

Kurz überlegte Evie, ihm zu schreiben, dass es das nächste Mal vielleicht eine gute Idee wäre, ihr eher Bescheid zu geben, aber sie wurde von ihrer Kollegin Michelle abgelenkt.

„Die Caterer sind da und fragen nach dir.“

„Sag ihnen, sie sollen im Konferenzraum aufbauen. Ich komme, wenn ich Zeit habe.“

Ihr Telefon piepte erneut.

Wo ist meine Skinny-Jeans?

Sie antwortete:

Keine Ahnung.

Ich hab sie VOR TAGEN zur Wäsche gelegt! Ich brauche sie heute Abend für die Schuldisco!!

Darauf antwortete Evie nicht. Denn ängstlich aussehende Leute näherten sich ihrem Empfangstisch.

„Willkommen auf der Intensivstation.“ Sie lächelte. „Sie sind bestimmt Mr. und Mrs. Taylor? Die Großeltern von Baby Cameron?“ Sie war gewarnt worden, dass sie auftauchen könnten.

Der Mann nickte. „Wir machen uns solche Sorgen und haben gehofft, den Kleinen sehen zu können.“

„Ich verstehe.“ Evie nickte mitfühlend. „Ihre Tochter ist natürlich gerade bei ihm, aber es hängt davon ab, wie gut es ihm geht, ob noch weitere Besucher dazukommen dürfen.“

„Aber wir sind seine Großeltern.“ Die Frau presste ein Taschentuch an ihre Nase. „Wir müssen ihn sehen.“

„Ich weiß.“ Evie lächelte weiter. „Aber wir haben viele kranke Babys auf unserer Neugeborenen-Intensivstation, und wir müssen dafür sorgen, dass unser Pflegepersonal nicht von seiner Arbeit abgelenkt wird. Bitte nehmen Sie im Wartebereich Platz. Ich spreche mit dem zuständigen Arzt.“

Als es erneut in ihrer Tasche piepte, stellte Evie ihr Telefon lautlos. Ihre Schwester war vierzehn, nicht mehr fünf … wie zu dem Zeitpunkt, als ihre Mutter gestorben war. Und damit war Stella alt genug, um ihre Wäsche selbst zu sortieren.

Es brauchte etwas Diplomatie, um die Taylors zu beschwichtigen. Dann hatte Evie die Idee, dass Camerons Mutter ein Foto ihres Frühchens machen und in den Wartebereich kommen könnte, um ein paar Minuten mit ihren Eltern zu sprechen.

Bestimmt blieb es jetzt zumindest so lange ruhig, dass Evie in den anderen Krankenhausflügel flitzen konnte? Als Vorsitzende des Komitees, das die Gala heute Abend organisierte, wollte sie sichergehen, dass die Dekorationen im Konferenzraum vollständig waren und alles funktionierte.

Aber ihre Kollegin Michelle sah sie mit großen Augen an, und ihr war sofort klar, dass irgendetwas Ungewöhnliches los war.

„Es sind Leute von Chat Zone hier“, flüsterte Michelle.

Evie runzelte die Stirn. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

„Das ist dieses Gesellschaftsmagazin, das im Privatleben aller berühmten Leute rumschnüffelt. Sie berichten über die Gala heute Abend. Jemand hat sie zu dir geschickt.“

„Warum das denn?“

„Keine Ahnung.“ Michelle grinste. „Vielleicht, weil du dich hier so gut auskennst? Kannst du mit ihnen reden?“

„Ich habe keine Zeit. Wir erwarten jede Minute den neuen Kinderherzchirurgen. Den Australier?“

„Ryan Walker.“ Michelle nickte. „Um ihn kann ich mich kümmern. Und auch um den Empfangsbereich der Intensivstation. Geh ruhig, es wird nur ein paar Minuten dauern … und der Fotograf ist niedlich. Und wir wollen doch nicht, dass das Krankenhaus eine schlechte Presse bekommt, oder?“

Vielleicht konnte Evie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wenn sie die Journalistin und ihren Fotografen in den Konferenzraum brachte, konnte sie die Dekorationen und alles andere überprüfen, während die Presseleute aufbauten, um über einen der glamourösesten Abende, die dieses Jahr in Cambridge stattfinden würden, zu berichten.

Aber darauf war das Paar nicht aus.

„Wir haben genug Zeit für das eigentliche Event“, versicherte ihr die hübsche Blondine, die sich als Pippa vorgestellt hatte. „Was wir wollen, ist mehr Hintergrundinformation. Besonders zu den interessanten Teilen des Krankenhauses wie der Neugeborenen-Intensivstation.“ Die beiden schienen nicht älter zu sein als ihr Bruder Peter, der im letzten Schuljahr war. Plötzlich fühlte sich Evie deutlich älter als ihre achtundzwanzig Jahre. Sie wollte schon anmerken, dass sie ihre Hausaufgaben rechtzeitig hätten erledigen sollen, stattdessen holte sie tief Luft und lächelte.

„Ich habe nicht viel Zeit“, sagte sie. „Aber ich werde tun, was ich kann, um zu helfen.“

Denn das wurde von ihr erwartet, oder? Weil sie das immer tat. Immer getan hatte und wahrscheinlich immer tun würde.

„Kann ich eine Aufnahme auf der Station machen?“, fragte Jason, der Fotograf. „Ich habe gehört, dass sie Weltklasse ist.“

„Die Intensivstation besteht eigentlich aus zwei Abteilungen“, erklärte Evie. „Der Pädiatrie-Intensivstation auf der einen Seite und der Neugeborenen-Intensivstation auf der anderen. Sie teilen sich den Stationsdienst und alle Arbeitsbereiche. Auf jeden Fall gibt es noch Raum für Wachstum, wenn zukünftig nötig.“

Sie brachte sie bis zu den Glastüren mit Zugangskontrolle, damit Jason einige Bilder von den Überwachungsgeräten, den durchsichtigen, ovalen Betten und den Inkubatoren machen konnte. Die Ärzte hier trugen hellblaue Arztkittel, die Schwestern und das Hilfspersonal Kleidung mit Teddybärmuster. Alle waren auf ihre kleinen Patienten konzentriert.

„Jedes Detail wurde von unserem Geschäftsführer Theo Hawkwood persönlich ausgewählt.“ Evie war so stolz auf diese Abteilungen. „Selbst winzige Kleinigkeiten müssen den höchsten Standards gerecht werden. Wie all diese Fenster, die natürliches Licht zulassen, und die Deckenunterseiten und Schallwände, die den Schall reduzieren. Die Wandfarbe? Sie würden nicht glauben, wie lange es gedauert hat, eine zu finden, die die Hautfarbe optisch nicht verändert.“

„Ich liebe diesen Fußboden“, staunte Pippa. „Diese Holzintarsien wirken wie Sonnenstrahlen.“

„Der Bodenbelag ist ebenfalls topmodern. Er muss Geräusche absorbieren und ebenso der Infektionskontrolle und Pflege gerecht werden sowie Geräten, die bewegt werden müssen. Die Intarsien wirken tatsächlich wie eine große Sonne, oder?“

„Nur in einem Privatkrankenhaus mit großer finanzieller Ausstattung ist so etwas möglich.“ Pippa nickte. „Mr. Hawkwood hat sein Privatvermögen zum Bau des Hope-Krankenhauses eingesetzt, richtig?“

„Es ist die Verwirklichung eines Traumes“, wich Evie geschickt aus. Auf keinen Fall würde sie die Privatangelegenheiten ihres Chefs diskutieren. „Aber wir nehmen nicht nur Privatpatienten auf. Das Krankenhaus übernimmt auch wohltätige Fälle und unterstützt innovative pädiatrisch-medizinische Forschung, die allen zugutekommt. Wir verfügen ebenfalls über herausragende Konferenzeinrichtungen, die Spezialisten aus aller Welt zur Zusammenarbeit anregen werden.“

„Seine Frau ist gestorben, richtig?“ Es überraschte Evie nicht, dass Pippa eher am Privatleben interessiert war. „Ich habe gelesen, dass sie vor etwa fünf Jahren von einem betrunkenen Autofahrer getötet wurde, als sie mit ihrer Tochter spazieren war. Deswegen der Name Hope, stimmt das?“

Evie lächelte. „Ein wundervoller Name für ein Kinderkrankenhaus, oder? Wenn Sie mit einem schwerkranken Kind hierherkommen, ist Hoffnung das größte Geschenk, was wir Ihnen machen können. Mr. Hawkwood war nicht nur in jedes Detail beim Bau dieses erstaunlichen Krankenhauses involviert – er sucht auch das Personal persönlich aus. Von überall auf der Welt kommen Menschen, um sich unserem Team anzuschließen. Heute erwarten wir zum Beispiel einen neuen Kinderherzchirurgen aus Australien. Was mich daran erinnert …“ Evie sah auf ihre Uhr. „Ich muss wirklich nachsehen, ob er schon da ist, und ins Konferenzzentrum hinüber.“

„Wir begleiten Sie.“ Pippa lächelte. „Aber lassen Sie uns schnell noch ein Bild von Ihnen am Empfangstisch machen.“

„Nein …“ Heftig schüttelte Evie den Kopf. „Keine Fotos von mir bitte …“

Du liebe Güte! Ein Bild von ihr, in ihrem einfachen Arbeitsoutfit, das neben all den Cocktailkleidern und Smokings auf der Gala veröffentlicht wurde? Was sie erneut daran erinnerte, dass sie noch ihr Kleid und ihre Schuhe vom Parkplatz holen und sich etwas herrichten musste, damit sie selbst an der Gala teilnehmen konnte.

Michelle dagegen schien sich gern fotografieren zu lassen. Sie lächelte noch immer, als sie Evie eine Handvoll Notizzettel reichte.

„Es gab viele Anrufe“, berichtete sie. „Scheint so, als wirst du im Konferenzraum gebraucht. Mr. Hawkwood ist bereits dort, glaube ich.“

„Ich bin schon auf dem Weg dorthin. Ist Mr. Walker inzwischen angekommen?“

„Nein. Kein Zeichen von ihm. Auch keine Nachricht.“ Michelle wirkte nicht begeistert, als sie auf die Wanduhr schaute. „Es wird spät. Hey … Musst du dich nicht auch bald umziehen? Du kannst die Gala nicht verpassen.“

„Ja … Das schaffe ich schon noch.“

Das Hope-Kinderkrankenhaus bestand aus einem runden Hauptgebäude, von dem zwei Flügel abgingen, inspiriert von Cambridges berühmter runder Kirche aus dem zwölften Jahrhundert, und war so angelegt, dass natürliches Licht durch die unzähligen Fenster hereinkam und die oberen Etagen den wundervollen Ausblick über Cambridge genießen konnten. Die Intensivstationen befanden sich in der obersten Etage des rechten Flügels, und der größte Konferenzraum lag auf derselben Höhe des linken Flügels.

Es war bereits dunkel, als Evie ihre Gäste über die oberste Etage führte, ihnen kurz beschrieb, wo die Operationssäle, die Labore und Forschungsbereiche zu finden waren, aber sie wirkten abgelenkt.

„Diese Aussicht“, hauchte Pippa. „Man sieht fast ganz Cambridge.“

„Warten Sie, bis Sie erst den Veranstaltungsort sehen.“

Der Blick aus der Fensterfront des riesigen Konferenzraumes war atemberaubend. Die funkelnden Lichter der Stadt unter ihnen bildeten den perfekten Hintergrund für das Event an diesem Abend.

Aber als sie ankamen, interessierte sich Pippa nicht für den Ausblick. „Das ist Mr. Hawkwood, richtig?“ Sie wirkte begeistert. „Meinen Sie, er hat Zeit für ein kurzes Interview?“

„Ich frage nach. Warten Sie einen Moment hier.“ Evie musterte die langen Tische, auf denen frische, weiße Decken lagen, während sie an ihnen vorbeiging. Auf einem Tisch standen Champagnerflöten, die im Licht funkelten, auf einem anderen Silbertabletts mit köstlich aussehenden Appetithäppchen.

„Evie …“ Theo Hawkwood kam auf sie zu. Groß und charismatisch und so voller Leidenschaft für das Hope-Krankenhaus, dass man leicht vergessen konnte, wie jung der ehemalige Kinderchirurg trotz seines renommierten Postens war. „Gut, dass du da bist. Ich wollte dir persönlich danken. Wie ich hörte, verdanken wir es hauptsächlich dir, dass alles hier so perfekt klappt.“

„Das war Teamarbeit, Theo.“ Evie fühlte sich ausgesprochen unwohl, wenn sie im Mittelpunkt stand. „Alle haben hart daran gearbeitet.“

„Ich weiß nicht, wie du das machst.“ Theo lächelte. „Neben deiner Arbeit und den Extraschichten …“

Evie verkniff sich die Frage, woher er von den „Extraschichten“ wusste. Das war sein Krankenhaus, und Theo hatte alles im Blick, seit sich die Türen vor einigen Monaten geöffnet hatten.

„Ich hatte ein gutes Training. Meine Geschwister waren alle noch sehr jung, als Mum starb, also musste ich lernen, mit dem Chaos umzugehen.“

Beim Gedanken an ihre Mutter berührte sie automatisch ihre Halskette. Ein Geschenk zu einem Hochzeitstag. Den Topas hatte ihr Vater ausgesucht, weil er ihn an die Augenfarbe ihrer Mutter erinnerte. Die haselnussbraunen Augen, die Evie geerbt hatte. Herzförmig und filigran war der Stein in einem antiken Stil in Gold gefasst. Seit dem Tod ihrer Mutter trug Evie die Kette jeden Tag, sie war zu ihrem Talisman geworden, während sie versuchte, ihre Familie zusammenzuhalten.

Auch wenn sie dafür einige Opfer gebracht hatte. Vielleicht übernahm sie deshalb so viele Extraaufgaben, weil sie so einige Dinge verdrängen konnte – wie das Bedauern, dass sie ihren Traum, Krankenschwester zu werden, hatte aufgeben müssen. Immerhin konnte sie in einem Krankenhaus arbeiten, das war genug. In diesem Krankenhaus zu arbeiten, war ein wahr gewordener Traum, und sie musste Theo für diese Möglichkeit danken. Das aufblitzende Mitgefühl in seinen Augen erinnerte sie daran, dass sie beide Tragödien in ihrem Leben zu verkraften hatten, aber er musste an diesem Abend mit mehr Erinnerungen fertigwerden als sie.

„Es ist jemand vom Chat Zone da“, warnte sie ihn. „Das Magazin?“

Er nickte. „Ich habe davon gehört.“

„Sie möchten gern mit dir reden, aber – nur als kleine Warnung – es könnte sein, dass sie Persönliches ansprechen.“

„Alles, was das Krankenhaus betrifft, ist für mich persönlich“, murmelte Theo. „Ich rede mit ihnen. Kurz … denn unsere Gäste treffen bereits ein.“ Er wandte sich ab. „Ich sehe dich dann später.“ Mit einem Blick über die Schulter musterte er ihr Outfit. „Du kommst doch, oder?“

„Ich muss nur noch ein paar Kleinigkeiten erledigen“, versicherte Evie ihm mit einem reumütigen Lächeln. „Dazu gehört, mein Kleid zu finden.“

Sie wich der Gruppe aus, der zur Begrüßung ein Glas Champagner angeboten wurde. Sie erkannte Marco, einen ihrer Chirurgen, und seine Vorgesetzte, Alice, die in ihrem funkelnden blauen Kleid atemberaubend aussah. Naomi, eine Physiotherapeutin, war direkt hinter ihnen, und die helle Seide ihres Kleides auf ihrer dunklen Haut war so ein Blickfang, dass es kein Wunder war, dass Jason bereits die Kamera auf sie gerichtet hatte. Schnell lief Evie zu dem Ausgang, der in den Küchenbereich führte, bevor noch jemandem auffiel, dass sie nicht annähernd passend gekleidet war, um dazuzugehören.

Eine Weile später bot sich endlich die Gelegenheit, etwas dagegen zu unternehmen. Statt auf den Aufzug zu warten, eilte sie die Treppe hinunter, durch den Hauptempfangsbereich und in den kühlen Herbstabend hinaus. Dann ging sie zur Rückseite des Gebäudes, vorbei an der Parkbucht für die Krankenwagen auf den Parkplatz, wo ihr praktischer kleiner Kombi fast am Ende der ersten Reihe stand.

Im Licht der Laternen fiel ihr ein Paar auf, das offensichtlich zu der Gala wollte, denn der Mann trug einen Smoking, und die Dame an seinem Arm funkelte in einem silbernen Etuikleid mit tiefem Ausschnitt. Dazu trug sie passende silberne Stilettos. Kurz beneidete Evie jeden, der in solchen Schuhen laufen konnte. Als Teenager hatte sie es versucht … Verständlich bei ihrer Körpergröße von gerade einmal eins achtundfünfzig. Aber es hatte sich so lächerlich angefühlt, als würde sie versuchen, auf Stelzen zu laufen.

Als sie näher kam, hörte sie die Frau kichern, die unsicher auf den Beinen zu sein schien. Lag es an den Schuhen, oder hatte das Paar schon vor der Gala irgendwo etwas getrunken? Ihr Blick wanderte zu dem Mann. Kannte sie ihn? Dann traf es sie wie ein Blitz.

Sie kannte ihn nicht, aber er war der attraktivste Mann, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Trotz der hohen Schuhe seiner Partnerin war er noch gut einige Zentimeter größer als sie, und das Laternenlicht hinter ihm ließ seine Haare wie einen verwuschelten, goldenen Heiligenschein erscheinen.

Er bemerkte Evie nicht. Warum auch mit einem Supermodel an seiner Seite? Jetzt war das Paar so nah, dass Evie das Parfüm der Frau riechen und ihre atemlose Forderung nach einem Kuss hören konnte.

„Wir sind schon spät genug, Tiffany.“ Die Stimme des Mannes klang leicht ungeduldig, und seinen Akzent konnte sie nicht richtig einordnen.

„Nein …“ Die Frau versuchte, vor ihn zu treten, und wackelte auf ihren hohen Absätzen. Hastig streckte sie einen Arm aus und rettete sich, indem sie sich an Evie, die gerade in Reichweite kam, abstieß. So war es Evie, die hart auf dem kalten Asphalt landete.

„Ups … Mein Fehler …“

Die Frau kicherte erneut, als Evie sich hochstemmte und auf ihren Ellbogen stützte. Ja, die Frau hatte definitiv schon etwas getrunken.

„Das tut mir so leid. Alles in Ordnung?“

Doch es war kein weiblicher Duft, den sie jetzt wahrnahm. Sondern etwas sehr, sehr Männliches. Dezent und gleichzeitig kraftvoll wie seine Hand, mit der er ihren Arm umfasste und ihr auf die Beine half. Dieser Mann hatte die Kontrolle. Außerdem war er … verärgert? Kein Wunder. Jetzt kam er noch später zu der Gala.

„Danke“, murmelte Evie und löste sich aus seinem Griff. „Es geht mir gut.“

Aber er ließ ihren Arm nicht sofort los. Sein Blick musterte ihr Gesicht. „Sind Sie sicher? Das war ein heftiger Sturz.“

Es musste am Schreck liegen, dass ihr Herz so schnell schlug, nicht daran, dass ein unglaublich gutaussehender Mann sie festhielt und ansah, als … als durchschaue er ihren Versuch, diesen peinlichen Moment zu überspielen. Bestimmt hatte sie wie eine Vollidiotin ausgesehen, wie sie vor dem glitzernden Paar, das gleich die medizinische Elite des Landes treffen würde, auf dem Boden lag.

Und sie trug nicht nur ihre langweiligen Arbeitsklamotten, sondern war jetzt auch noch schmutzig, ihre Haare hatten sich aus den Nadeln gelöst, die sie in einem ordentlichen Knoten festgestellt hatte, und sie wusste, dass ihr Rock bei dem Sturz aufgerissen war, weil sie das Geräusch eben deutlich gehört hatte. Sie fühlte sich wie Cinderella, während die Möchtegernprinzessin verärgerter wirkte als ihr Prinz. Denn sie zog an der anderen Hand des Mannes.

„Wir sind spät dran, Liebling“, erinnerte sie ihn. „Und ich möchte mehr Champagner.“

Doch der Mann musterte Evie weiterhin, ohne auf die Forderungen seiner Begleiterin einzugehen, und das war plötzlich mehr als peinlich. Evie spürte, wie sie errötete, und entriss ihm ihren Arm.

„Es geht mir gut“, wiederholte sie. „Genießen Sie den Abend.“

Es war nicht weit bis zu ihrem Wagen. Evie öffnete die Tür, um die Tasche herauszuholen, in der sie ihr Kleid und die Schuhe aufbewahrte, doch plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Auto neben ihrem gefesselt.

Protzig. Ein anderes Wort gab es nicht für den tiefliegenden, knallroten Sportwagen, und sie wusste sofort, wer in diesem Auto gekommen war. Sie konnte die Frau im silbernen Kleid förmlich auf dem Beifahrersitz sehen, wahrscheinlich mit der Hand auf dem Knie des Fahrers, während sie ihr Bestes tat, um den Mann mit dem intensiven Blick abzulenken, der sich zweifellos ganz auf die Straße konzentrierte.

Sie würden auf der Gala sein, zusammen mit den anderen eleganten, erfolgreichen Menschen, die mit dem Hope-Krankenhaus zu tun hatten. Selbst wenn sie sich umzog und ihre Haare in Ordnung brachte, würde sich Evie noch immer fehl am Platz fühlen. Eine Cinderella mit einer leicht inkompetenten guten Fee?

Seufzend ließ sie die Tasche wieder ins Auto fallen.

Jetzt war ihr die Lust auf die Gala vergangen.

Aber sie wurde auch erst spät zu Hause erwartet, und das verschaffte ihr ein unverhofftes Zeitfenster an Freiheit.

Langsam wandte sich Evie wieder zum Krankenhausgebäude um. Sie wusste genau, wo sie jetzt sein wollte.

Und bei wem.

2. KAPITEL

Vielleicht war es der Jetlag.

Oder es lag daran, dass sein neues Leben nicht ganz so reibungslos begann, wie er sich das gewünscht hätte.

Ryan Walker kam allein zur Eröffnungsgala des Hope-Kinderkrankenhauses. Seine Begleitung für den Abend hatte sich unwohl gefühlt, sobald sie das Hauptgebäude des Krankenhauses betreten hatten. Ryan hatte ihr angeboten, sie zu ihrem Hotel zurückzufahren, aber Tiffany war inzwischen wieder so nüchtern, dass ihr ihr Benehmen peinlich war, und sie hatte darauf bestanden, einen Freund anzurufen, der sie abholte. Erleichtert seufzend fuhr Ryan mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage. Mit einer betrunkenen Frau am Arm hätte er seine neuen Kollegen auch nicht kennenlernen wollen. Es war peinlich genug, dass sie die niedliche, kleine Blondine auf dem Parkplatz umgeworfen hatte.

Hoffentlich ging es der Fremden wirklich gut. Seltsamerweise dachte er noch immer an sie, als er einen Moment stehen blieb, um die überfüllte Veranstaltung zu beobachten. Vielleicht war es ihre geringe Körpergröße, die ihm das Gefühl gab, dass sie Hilfe brauchte. Oder es war die Art gewesen, wie sie so schnell wie möglich von ihm wegwollte, zumal Ryan es ganz und gar nicht gewöhnt war, dass Frauen so auf seine Aufmerksamkeit reagierten. Er hatte sich noch einmal umgedreht, als er den Parkplatz verließ, nur um zu sehen, wie sie in das Auto neben seinem Mietwagen stieg. Ein Personalparkplatz. Also sah er sie vielleicht irgendwo wieder und konnte sich noch einmal entschuldigen.

Er hoffte es. In der Zwischenzeit war er hier, um sich so vielen Menschen wie möglich vorzustellen, und ein guter Startpunkt war offensichtlich der Mann, der das Sagen hatte. Zum Glück erkannte er Theo Hawkwood nach den Videoanrufen, die sie geführt hatten, ganz leicht. Es war äußerst schmeichelhaft gewesen, für dieses fabelhafte neue Zentrum abgeworben zu werden, das gerade vor nicht allzu langer Zeit eröffnet hatte.

„Theo …“ Ryan streckte seine Hand aus. „Ich freue mich, dich endlich persönlich kennenzulernen.“

„Ryan … Schön, dass du es geschafft hast. Ich hatte gehofft, heute einen Rundgang mit dir machen zu können, aber aufgrund dieser Veranstaltung müssen wir das leider verschieben.“

„Kein Problem! Mein Flug wurde in Singapur aufgehalten, darum konnte ich nicht eher hier sein. Dann freue ich mich morgen auf einen Rundgang. Ich habe doch noch ein oder zwei Tage vor meiner ersten OP, oder?“

„Natürlich. Komm gleich morgens zu mir. In der Zwischenzeit lass mich dir einige Leute vorstellen.“ Theo wandte sich an den Mann neben ihm. „Beginnen wir mit Marco Ricci, einem unserer Kinderchirurgen. Marco, das ist Ryan Walker, unser neuer Kinderherzchirurg.“

„Sehr erfreut.“ Marco schüttelte seine Hand. „Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen?“

Doch Ryan schüttelte den Kopf. Er war noch immer verärgert über Tiffanys Benehmen vorhin. Wer hätte gedacht, dass sich Flugbegleiterinnen an einem freien Abend so gehen ließen? Und damit wurde er wieder an die Frau erinnert, die ihretwegen gestürzt war. Nicht wirklich blond … eher rotblond. Anders …

Weil Theo sehr gefragt war, fand sich Ryan mit Marco allein wieder.

„Das ist Alice Baxter.“ Marco deutete auf eine schlanke Frau mit auffallend hellblonden Haaren. „Meine Chefin.“

Etwas in seinem Tonfall ließ Ryan seine Augenbrauen hochziehen. „Ach?“ Gute Güte, das Krankenhaus arbeitete doch erst seit Kurzem. Liefen etwa bereits die üblichen Machtspielchen?

„Sie ist herrisch.“ Aber Marcos Lächeln war charmant genug, um zu vermuten, dass das nicht als Kritik gemeint war. „Ich bin gespannt, ob sie nach einem Glas Champagner etwas lockerer wird.“

„Wer ist noch hier aus dem Chirurgieteam?“

„Hmm …“ Marco sah sich um. „Finn Morgan sollte hier sein, aber es würde mich auch nicht wundern, wenn nicht. Ich habe ihn noch nie auf einem gesellschaftlichen Ereignis gesehen.“

„Gibt es viele davon?“

„Nicht wirklich. Aber je näher Weihnachten rückt, desto mehr werden es. Also, was möchten Sie über das Hope-Krankenhaus wissen?“

„Erzählen Sie mir von der Intensivstation“, sagte Ryan. „Ich kann im OP mein Bestes geben, aber die Betreuung danach ist extrem wichtig für einen erfolgreichen Ausgang.“

„Oh, Sie werden beeindruckt sein. Kommen Sie mit, dann stelle ich Sie der Chefin der Abteilung vor. Sie wird Sie auch kennenlernen wollen. Ich glaube, ich habe sie vor einer Weile auf der anderen Seite der Tanzfläche gesehen.“

Ryan folgte Marco, lächelte Menschen zu, während sie sich durch die Menge bewegten. Durch seine Wohltätigkeitsarbeit mit Kindern war dies eine vertraute Umgebung für ihn, und zweifellos würde er einige dieser Menschen bald schon wiedersehen. Er hatte bereits Karten für einen Wohltätigkeitsball in einigen Wochen in London.

So gern er seine neue Stelle mit einer Party begann, so sehr freute er sich auf die Ruhe und Stille eines OPs, in der er sich darauf konzentrieren konnte, was er am besten konnte.

Kaputte kleine Herzen reparieren.

Sofort umgab sie ein wunderbarer Frieden.

Der Empfangsbereich der Intensivstation war um diese Uhrzeit nicht besetzt, daher war Evies normaler Arbeitsplatz verlassen und dunkel.

Aber dort wollte sie auch nicht hin. Hinter dem Empfangsbereich lag ein Flur, der zum Personalraum führte, zur Stationsbibliothek, den Schlafräumen, den Umkleideräumen und den Duschen. Mit ihrer Schlüsselkarte betrat sie die Umkleideräume der Frauen. Aus den Regalen gleich an der Tür nahm sie eine Hose mit Teddybärenaufdruck und ein Oberteil in ihrer Größe. Als sie sich umzog, fiel ihr auf, wie groß der Riss in ihrem Rock war. Am besten fragte sie Janine, die Oberschwester, ob sie heute in der Dienstkleidung nach Hause fahren konnte.

Dann trat Evie vor die Spiegel, zog ihre Haarbürste aus ihrer Tasche und kümmerte sich um ihre wüsten Haare, kämmte sie glatt und flocht sie zu einem einfachen Zopf, der ihr auf den Rücken fiel. Erst als sie das Gummiband um das Zopfende schlang, erstarrte sie vor Schreck.

Wo war ihre Kette?

Verzweifelt überlegte Evie, wo sie sie verloren haben könnte. Es konnte noch nicht lange her sein, denn sie erinnerte sich daran, dass sie sie beim Gespräch mit Theo unter ihren Fingern gespürt hatte.

Jetzt ruhten ihre Hände auf nackter Haut, das Bild von Theo in seinem Smoking vor Augen. Dann erinnerte sie sich an eine andere Person in einem Smoking. Die ihr aufhalf. Bei dem Sturz war offensichtlich mehr als nur ihr Rock gerissen.

Langsam atmete Evie aus, widerstand dem Drang, sich wieder umzuziehen und sofort nach ihrer Kette zu suchen. Es war ein Personalparkplatz, und die Kette besaß nur einen sentimentalen Wert. Wenn sie also jemand fand, würde derjenige sie bestimmt am Empfang im Hauptgebäude abgeben, oder? Und wenn sie im Dunkeln niemandem aufgefallen war, was wahrscheinlicher war, lag sie noch dort, wenn sie zu ihrem Auto zurückging.

Diese Zeit war kostbar, weil es Evies Lieblingsbeschäftigung war, und sie wusste, dass die anderen ihren Einsatz zu schätzen wussten.

Außerdem war sie gut darin.

Als sie die Intensivstation betrat, schenkte Janine ihr zur Begrüßung ein Lächeln, bei dem sie sich besonders fühlte.

„Unsere Babyflüsterin. Ich habe gerade gesagt, dass es zu schade ist, dass du heute auf der Gala beschäftigt bist.“

„Ich habe beschlossen, dass ich lieber etwas kuschle. Ist das okay?“

„Machst du Witze? Du musst geahnt haben, dass du gebraucht wirst. Baby Alfies Mum musste nach Hause zu ihren anderen Kindern, und er will sich einfach nicht beruhigen. Komm gleich hier lang …“

Neben jedem ovalen Bettchen oder Inkubator stand ein bequemer Stuhl mit einer gepolsterten Sitzfläche und Lehne im Design eines altmodischen Schaukelstuhls. Die gestressten Eltern, die hier Zeit mit ihren Babys verbrachten, liebten diese Kleinigkeiten. Das Personal hatte selten die Zeit, sich lange hinzusetzen, um die winzigen Patienten zu trösten, deren Eltern nicht hier sein konnten, und Alfie war das beste Beispiel dafür. Er war so früh geboren, dass seine Atmung sorgsam überwacht werden musste, aber größere Unterstützung brauchte er nicht, nur im Moment jemanden zum Kuscheln.

Evie setzte sich auf den Stuhl, und Janine nahm das winzige Bündel, eingewickelt in eine Decke mit einer Wollmütze auf dem Kopf, und legte es in Evies Arme.

„Er wurde gefüttert und vor Kurzem gewickelt, also muss er einfach nur schlafen“, flüsterte Janine. „Lass deine Magie wirken, Evie.“

Die Magie muss heute Abend in beide Richtungen strahlen, dachte Evie und strich sanft mit dem Finger über das winzige Gesicht.

„Sch … sch … sch … Alles ist gut, Alfie … Alles ist gut …“

Sie drückte das Baby an sich, wiegte langsam mit dem Stuhl und sprach leise und beruhigend mit dem Winzling.

Um sie herum arbeiteten die Schwestern still mit den ernsteren Fällen in ihrer Obhut. Ein Arzt kam, und Evie sah, wie ein Inkubator weggefahren wurde, wahrscheinlich zu den Behandlungsräumen. Stumm schickte sie gute Wünsche hinterher.

Das Piepen der Geräte war gedämpft und das Licht so weit gedimmt, dass das Personal noch arbeiten konnte. Alfie wimmerte schon nicht mehr, schniefte und fiepste nur noch gelegentlich, und Evie schloss die Augen, nahm nichts mehr wahr außer dem Gewicht und der Wärme dieses kostbaren Bündels.

Es war eine Art Meditation, und sie konnte spüren, wie ihr Herzschlag und ihre Atmung langsamer wurden. Alles fiel von ihr ab – der Stress eines übermäßig anstrengenden Tages, der nicht endende Druck ihrer Familie, selbst der Schreck des Sturzes auf dem Parkplatz und das unangenehme Starren des Fremden.

Das war Evies Zeit.

Aber wie alle guten Dinge endete auch sie. Und Janine kehrte schließlich zurück. Alfie schlief schon lange, aber Evie wäre auch noch länger geblieben.

„Du solltest nach Hause.“ Janine lächelte. „Du musst morgen arbeiten, erinnerst du dich? Und Alfie muss auf seiner Matratze gegen Atemstillstand schlafen. Nur zur Sicherheit.“

„Natürlich.“ Evies Arme fühlten sich leer an, als Janine das Baby hochnahm. „Muss sonst noch jemand gekuschelt werden?“

Janine schüttelte den Kopf. „Nächstes Mal.“

Evie sah zu, wie Alfie in den Inkubator gelegt wurde und die Monitore überprüft wurden, dann folgte sie Janine zurück in die Hauptstation.

„Wäre es in Ordnung, wenn ich die Sachen morgen zurückbringe? Ich hatte einen kleinen Unfall mit meinem Rock, und er ist nicht mehr wirklich tragbar.“

„Sicher. Kein Problem. Und danke, Evie. Du warst heute Abend eine große Hilfe. Ich hoffe, du bedauerst nicht, dass du nicht zur Gala gegangen bist.“

Evie schüttelte den Kopf. „Solche Veranstaltungen sind nicht wirklich mein Ding, weißt du? Dazu bin ich zu häuslich.“

„Du bist ein Schatz“, versicherte Janine ihr. „Fahr nach Hause und schlaf gut.“

Die wunderbare Erdung, die ihr das Babykuscheln verschafft hatte, bekam eine Delle, als Evie in die kalte Nachtluft hinausging. Ihren Mantel über der geborgten OP-Kleidung, ihre Arbeitssachen in ihre Schultertasche gestopft, betrat sie mit gesenktem Kopf den Parkplatz, suchte nach einem metallischen Glitzern auf dem Asphalt.

Wie sollte sie ihrem Dad beichten, dass sie das kostbare Andenken verloren hatte? Oh … Hatte sie die Packung Blutzuckerteststreifen eingesteckt? Evie blieb kurz stehen und tastete unter den zusammengeknüllten Sachen nach der Schachtel in ihrer Tasche. Sofort begann ihr Hirn zu rattern. War Stella schon von der Schuldisco zu Hause? Hatte Bobby seine Hausaufgaben gemacht? Hatte irgendjemand das Geschirr abgewaschen?

Die Schachtel war da. Seufzend ging Evie weiter, aber sie wusste, die Suche war sinnlos. Sie war bereits an der Stelle vorbei, wo sie gestürzt war. Eigentlich schon beinahe an ihrem Auto. Als sie endlich den Kopf hob, fielen ihr zwei Dinge auf.

Zuerst, dass das protzige, rote Auto noch immer neben ihrem parkte.

Und dann, was weitaus alarmierender war, dass der Mann, dem das Auto vermutlich gehörte, dagegenlehnte. Sie beobachtete.

Auf sie wartete?

Und dann keuchte Evie auf, als ihr eine dritte Sache auffiel. Er hielt etwas in der Hand. Eine goldene Kette. Eine goldene Kette mit einem herzförmigen Topas.

„Ich denke, das könnte Ihre sein?“

Er lächelte sie an, aber das breite Lächeln seiner Lippen passte nicht zu seinem intensiven Starren, darum konnte Evie es nicht erwidern.

Wer war dieser Mann?

Ein völlig Fremder, aber etwas an ihm erkannte sie.

Nein. Es war etwas, das sie an sich selbst erkannte. Himmel … War es schon so lange her, dass sie sich körperlich zu jemandem hingezogen gefühlt hatte? So lange, dass sie das seltsame Gefühl, das sich von ihrem Bauch wie ein Flächenbrand über ihre Adern ausbreitete, nicht gleich erkannte?

So hatte sie sich schon einmal gefühlt, oder? Und sie wusste, wie das ausgegangen war. Seitdem hatte sie sich abgeschottet, und das würde sie auch jetzt tun.

„Sie gehört tatsächlich mir“, antwortete sie kurz angebunden. „Sie muss gerissen sein, als ich … ähm … gefallen bin.“

„Als Sie umgeworfen wurden, meinen Sie wohl. Ich muss mich erneut entschuldigen. Meine … äh … Begleiterin hatte zu viel getrunken.“

„Hm …“ Evie würde das Verhalten der Frau nicht entschuldigen. Wo war sie überhaupt? Ein schneller Seitenblick zeigte ihr, dass niemand im Wagen saß und auf ihn wartete.

„Das Mindeste, was ich tun kann, ist, das für Sie zu reparieren.“

„Nein.“ Evie trat vor, die Hand ausgestreckt. „Das ist wirklich nicht nötig. Aber danke für das Angebot.“

Er zögerte, die Kette loszulassen, darum wollte Evie sie ihm aus der Hand nehmen. Doch in dem Moment, als sich ihre Finger berührten, war der Kontakt von Haut auf Haut so elektrisierend, dass sie ihre Hand instinktiv zurückzog.

Wow … Jetzt erinnerte sie sich daran, wie sein Griff um ihren Arm angefangen hatte zu brennen, und das mit einer Schicht Kleidung zwischen ihnen. Diese Berührung war … war wie nichts gewesen, das sie jemals erlebt hatte.

Es war so schnell gegangen, beinahe nur ein kurzes Zögern, aber wenn sie es nicht genauso schnell überspielte, würde es peinlich werden.

Gut … Das war es bereits und hatte dabei nur eine Sekunde gedauert. Hatte er das auch gespürt oder nur mitbekommen, dass sie es gespürt hatte? Warum streckte er nicht selbst den Arm aus und gab ihr die verdammte Kette?

Evie traute sich nicht, den Kopf zu heben und seinem Blick zu begegnen. Weil sie wusste, dass er sie anstarrte und sehen könnte, warum sie ihre Hand zurückgezogen hatte.

Er sagte nicht einmal etwas, um die seltsame Spannung, die plötzlich da war, aufzulösen.

Es war nur ein kurzer Moment gewesen. Nur genug Zeit für einen Atemzug, aber die Stille fühlte sich geladen an.

Und dann wurde sie unterbrochen.

Weder von dem Mann. Noch von Evie. Auch nicht von Schritten. Sondern von einem anderen Geräusch. Schrill und zittrig. Wie von einem mauzenden Kätzchen.

Nur hatte Evie genug Zeit mit Babys verbracht, um zu wissen, dass es wahrscheinlich kein Kätzchen war.

„Haben Sie das gehört?“ Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war – zu der Reihe Mülltonnen, die außer Sichtweite auf der Rückseite des Krankenhauses standen. Die Tonne am Ende war aus Maschendraht, in der gefaltete Kartons zum Recycling gesammelt wurden. Aber irgendjemand hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen der Kartons klein zu machen und in die Tonne zu gegeben. Er steckte zwischen der Recyclingtonne und einer anderen Tonne, schaute aber so weit heraus, dass er leicht auffiel.

Ein weiteres klägliches Mauzen erklang, und Evie drehte sich um, hatte ihre Kette komplett vergessen. Ihr war bewusst, dass der Fremde ihr folgte, als sie auf den Karton zurannte, aber das war nicht wichtig. Jede Spannung zwischen ihnen war vergessen, zusammen mit der Kette.

Seufzend stopfte Ryan die Kette in seine Tasche, als er der plötzlich ziemlich irritierenden kleinen Frau folgte.

Er wollte in sein Bett und seinen Jetlag ausschlafen, damit er morgen für seinen ersten Tag im neuen Job fit war. Als er das funkelnde Schmuckstück auf dem Weg zu seinem Auto bemerkt hatte, wusste er sofort, dass es ihr gehörte. Weil das Auto noch dort stand, hatte er gewartet und überlegt, was er tun sollte. Die Kette zum Empfang bringen? Sie behalten in der Hoffnung, sie irgendwo im Krankenhaus zu treffen? Auf jeden Fall würde er sie leicht erkennen. Gerade wollte er sie unter die Scheibenwischer ihres Autos klemmen, als er sie auf den Parkplatz kommen sah, den Kopf gesenkt, offensichtlich auf der Suche nach ihrem verlorenen Eigentum.

Warum hatte er nichts gesagt? Oder war auf sie zugegangen? Woher kam dieser seltsame Drang, sie einfach zu beobachten, wie sie auf ihn zukam? Die Erwartung wachsen zu lassen, bis sie ihn bemerkte und seinem Blick begegnete?

Und was zur Hölle erklärte diesen wirklich seltsamen Moment, als sie bei der Berührung seiner Hand zurückgezuckt war, als hätte sie glühende Kohlen gestreift? Er hatte die Hitze ebenfalls gespürt.

Sie war schneller, darum erreichte sie den Karton zuerst, hockte sich daneben. Weil sie Pflegekleidung unter ihrem Mantel trug, nahm er an, dass sie eine Schwester im Hope-Krankenhaus war, und der Gedanke gefiel ihm. Bestimmt würde er sie wiedersehen, dann …

„Oh, mein Gott …“ Sie spähte in den Karton. „Ich wusste es …“

„Was?“ Ryan hockte sich neben sie. „Meine Güte … ein Baby?“ Er hob den Karton hoch, brachte ihn ins Licht der nächstgelegenen Lampe. Die Gesichtsfarbe des Babys gefiel ihm nicht, und es litt offensichtlich unter Atemnot, denn es hatte kaum die Kraft zu schreien. Sofort ging er mit dem Karton zum Hintereingang des Krankenhauses.

„Wohin gehen Sie?“ Sie musste beinahe rennen, um mit ihm Schritt zu halten.

„Ich muss dieses Baby genauer untersuchen. Es geht ihm nicht gut.“

Sie müssen es untersuchen?“

„Ich bin hier Arzt. Oder werde es morgen sein.“ Er ging weiter. „Mein Name ist Ryan Walker.“

„Oh … Sie sind der neue Chirurg? Der Australier?“

„Jepp.“ Ryan hatte die Tür erreicht. Anders als beim Haupteingang benötigte man für diese Tür einen Sicherheitsausweis, um sie von außen zu öffnen.

„Warten Sie. Ich habe eine Karte.“ Sie lehnte sich an ihm vorbei. „Ich bin Evie Cooper. Ich arbeite hier.“

„Wo ist die Notaufnahme? Oh, ich schätze, es gibt keine, da das ein Privatkrankenhaus ist?“

„Ich arbeite auf der Intensivstation“, erzählte Evie. „Bringen wir es dorthin.“

Ryan nickte, als er ihr hineinfolgte. „Gehen Sie vor. Und beeilen wir uns.“

3. KAPITEL

Janine wirkte verständlicherweise geschockt, als Evie mit einem Mann im Smoking, der einen Karton trug, auf die Neugeborenen-Intensivstation stürmte. Einer der Intensivschwestern, Susie, die neben Janine im Eingangsbereich saß, blieb ebenfalls der Mund offen stehen.

„Auf dem Parkplatz wurde ein Baby ausgesetzt“, erklärte Evie. „Ein Frühchen.“

„Ich übernehme es.“ Susie sprang auf.

„Behandlungsraum?“, fragte Janine.

„Ich möchte es gern selbst untersuchen“, erwiderte Ryan. „Ich fürchte, dem Baby geht es nicht gut. Und ich glaube nicht, dass es nur eine Unterkühlung ist.“

Beide Frauen starrten ihn an.

„Das ist Ryan Walker“, erklärte Evie. „Unser neuer Kinderherzchirurg?“

„Oh …“ Susie blinzelte. „Schön, Sie kennenzulernen. Ich schätze, Sie waren auf der Gala.“

„Ja.“ Ryans Lächeln wirkte angespannt. Offensichtlich wollte er keine Zeit verschwenden. „Wo ist der Behandlungsraum?“

„Hier entlang.“ Janine hatte ihre übliche ruhige Effizienz bei Notfällen wiedergefunden.

Für Evie gab es eigentlich keinen Grund, ihnen zu folgen, aber es hielt sie niemand auf, und sie dachte auch gar nicht darüber nach. Sie hatte das Kind gefunden. Sie war bereits involviert. Verbunden. Krank vor Sorge.

„Ich schalte die Heizkörper ein“, sagte Janine, als sie den Raum betraten, der mit allem ausgestattet war, was sie eventuell brauchen konnten, inklusive Beatmungsgerät und einem hochmodernen Inkubator. „Wo habt ihr es gefunden? Mitten auf dem Parkplatz?“

„Nein, etwas versteckt zwischen den Tonnen in der Nähe der Rettungswagenbucht“, erzählte Evie, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Ryan stellte den Karton ab, dann griff er hinein und hob das Baby vorsichtig heraus. Anstelle einer Decke war es in ein Kleidungsstück gewickelt. Einen ausgeleierten Hoodie.

„Es ist ein Mädchen“, murmelte Susie. „Und erst kürzlich geboren. Innerhalb der letzten ein oder zwei Stunden, würde ich sagen. Meine Güte … Ist das ein Haargummi um die Nabelschnur?“

„Was meinst du, wie lange war sie in dem Karton?“ Janine hatte die Deckenheizkörper und die beheizbare Matratze eingeschaltet. „Es ist eiskalt draußen.“

„Länger als eine halbe Stunde“, sagte Ryan, zog sein Jackett aus und warf es in eine Ecke des Raumes. Er begann, seine Hemdsärmel hochzurollen, dann ging er zum Waschbecken, um seine Hände zu waschen. „Ungefähr so lange stand ich nicht allzu weit entfernt, und ich hätte gesehen, wenn jemand den Karton abgestellt hätte.“

Er drehte sich um und warf Evie einen Blick zu, bei dem sie blinzelte und sich dann auf die Unterlippe biss. Er hatte wenigstens eine halbe Stunde auf dem Parkplatz gestanden? Auf sie gewartet, damit er ihr die Kette zurückgeben konnte?

Wow …

Sie fühlte sich … besonders?

Mehr als das … Es ließ das Gefühl in ihrem Bauch wieder aufflammen und erinnerte sie verstörend an den Moment, als ihre Fingerspitzen seine Hand berührt hatten. Das musste aufhören, sofort. Dieser Ryan war Arzt und damit in einer völlig anderen Liga, selbst wenn sie in Betracht ziehen würde, jemandem näherzukommen. Diese Lektion hatte sie vor langer Zeit gelernt. Und außerdem hatte sie kein Interesse daran, irgendwem näherzukommen. So war es viel sicherer.

Aber sie konnte trotz aller Anstrengungen den Blick nicht von ihm abwenden. Zum ersten Mal sah sie ihn in hellem Licht, und es raubte ihr den Atem. Seine gebräunte Haut auf muskulösen Unterarmen war mit goldenen Härchen bedeckt, die zu den blonden Haaren auf seinem Kopf passten. Er sah aus wie jemand, der seine gesamte Freizeit am Strand verbrachte. Nicht ganz unwahrscheinlich, wenn man bedachte, dass er aus Australien kam. Surfen war dort wahrscheinlich ein ganz normales Hobby. Er hatte blaue Augen, fiel ihr auf, als er sich wieder zum Tisch umdrehte. Sehr blaue Augen …

Mit einem Ruck löste sie ihren Blick von ihm. Dafür blieb er an dem leeren Karton hängen, der der einzige Schutz des Babys in der kalten Herbstnacht gewesen war. Nur … war er nicht ganz leer, oder?

„Da liegt ein Zettel im Karton“, sagte Evie.

Nur Janine sah in ihre Richtung. Ryan und Susie waren voll und ganz auf das Baby konzentriert, untersuchten es von Kopf bis Fuß.

„Was steht drauf?“

„Bitte helft meinem Baby. Findet eine Mum für sie, die sich um sie kümmern kann, weil ich es nicht kann.“ Evie versagte die Stimme. „Das sieht aus, als wäre es von einem Kind geschrieben worden … Oh, ich hoffe, es geht ihr gut …“

„Sie werden sie finden“, versicherte Janine ihr. „Oder vielleicht kommt sie zurück.“

„Ich weiß nicht.“ Evie schluckte. „Wie verzweifelt muss man sein, um sein Baby zurückzulassen und wegzulaufen?“

Sie legte den Zettel zurück in den Karton zu dem Hoodie – die einzigen Sachen, die vielleicht einen Hinweis auf die Identität der Mutter und ihren Verbleib geben konnten. Wo hatte die Geburt stattgefunden? Und war sie ganz allein gewesen? Wie beängstigend musste das gewesen sein?

Dann trat Evie näher an den Tisch, auf dem das Baby untersucht wurde. Es war so winzig. Nackt und verletzlich.

„Ich kann keine größeren offensichtlichen Auffälligkeiten entdecken“, sagte Susie. „Aber ich würde ihr nur einen Apgar-Wert von sechs geben. Höchstens sieben. Ihre Atemanstrengung ist gering, und ihre Hautfarbe ist schlecht. Schaut euch ihre Beine an.“

Während der Oberkörper des Babys rosa war, waren seine Beine sehr blass und die winzigen Zehen bläulich verfärbt.

„Differenzielle Zyanose.“ Ryan nickte. „Überprüfen wir den peripheren Puls.“

Seine Hände wirkten riesig vor dem winzigen Körper unter der Wärme der Lampen. Dabei wirken sie sehr kompetent, dachte Evie, und ganz sanft, als er nach den verschiedenen Pulsstellen tastete. Brachialispuls am Ellbogen, Radialispuls an den Handgelenken und Femoralispuls an der Leiste.

Janine, die neben Evie stand, atmete seufzend aus. „Armes kleines Mäuschen“, murmelte sie. „Oh … Ich rufe besser die Polizei, oder? Und das Sozialamt?“

„Das kann noch etwas warten. Ich will wissen, was hier los ist.“ Ryan verzog konzentriert das Gesicht, dann runzelte er die Stirn. Er legte seine Finger auf die Brust des Babys, sehr sanft, und schloss für einen Moment die Augen. Erfühlte er das Herz?

Abrupt öffneten sich seine Augen. „Stethoskop?“

Susie zog ihres von ihrem Hals und reichte es ihm. Evie bemerkte den Blick, den sie Janine zuwarf, der vermuten ließ, dass sie Glück hatten, einen Herzspezialisten dabeizuhaben.

„Der Femoralispuls fehlt“, sagte Ryan, als er das Bruststück in der Hand anwärmte. „Und der Radialispuls ist schwach.“

Es konnte nicht leicht sein, irgendwelche Herztöne zu hören, während das Baby weinte. Vielleicht umfasste Ryan deshalb den kleinen Kopf mit einer Hand und strich mit dem Daumen über die Kringel dunkler Haare. Ihn dabei zu beobachten, ließ etwas tief in Evie schmelzen, vielleicht, weil es so zart war und eine Besorgnis anzeigte, die über das rein Professionelle hinausging. Dann nickte er einmal und richtete sich auf.

„Systolisches Herzgeräusch“, sagte er.

„Angeborener Herzfehler.“ Susie nickte. „Was vermuten Sie? Ein ventrikulärer Septumdefekt vielleicht?“

„Möglich. Oder ein hypoplastisches Linksherzsyndrom. Oder eine Verengung der Aorta. Wir brauchen ein EKG und einen Ultraschall.“ Er sah auf das Baby hinunter, und sein Mund verzog sich zu einem zärtlichen Lächeln, das Evies Herz kurz aussetzen ließ, noch zusätzlich zu dem warmen Gefühl.

„Du hast einen holprigen Start in dieses Leben, oder, Süße?“

„Sie braucht einen Namen“, sagte Janine. „Auch wenn es nur ein vorübergehender ist.“

„Grace …“

Alle Köpfe drehten sich zu ihr, und Evie errötete. Der Name war einfach herausgeplatzt, bevor sie überlegen konnte.

„Das war der Name meiner Mum“, fügte sie hinzu. Und sie hatte doch an ihre Mutter gedacht, kurz bevor sie das Baby gefunden hatte, oder? An ihre Kette zumindest.

„Gefällt mir“, sagte Susie. „Dann Grace.“

„Kann sie hierbleiben?“, fragte Ryan. „Wie ist das Protokoll für die Behandlung von ausgesetzten Babys?“

„Ich habe keine Ahnung. Damit rechnet man auch nicht unbedingt, oder?“ Janine schüttelte den Kopf. „Ich suche besser Theo und informiere ihn. Er ist vielleicht noch auf der Gala, und es wäre besser, wenn er die Sache mit der Polizei, den Medien und so weiter regelt.“

„Ich kann das übernehmen“, bot Evie an.

„Oh, bitte“, antwortete Janine. „Du kennst alle Nummern, die wichtig sind. Aber musst du nicht nach Hause zu den Kindern?“

„Ich rufe an, ob alles in Ordnung ist. Und dann bleibe ich, so lange ich kann.“ Evie warf noch einen Blick auf das Baby. Sie wollte nicht gehen.

Eigentlich wollte sie es in den Arm nehmen und kuscheln – mehr als bei jedem anderen Baby hier.

Sie hatte dieses hier gefunden. Und ihm einen Namen gegeben.

Das Gefühl der Verbindung wuchs schnell.

Ryan schien ihr Zögern zu spüren. „Keine Sorge“, sagte er leise. „Wir kümmern uns solange gut um sie.“

Als wollte er sein Versprechen unterstreichen, berührte er Graces Hand mit dem Zeigefinger, und sie sah, wie die winzigen Finger ihn umfassten. Mit diesem Bild ging sie in den Empfangsbereich zu den Telefonen, die sie benutzen musste.

Es gab viel zu tun, um den Zustand des Babys zu stabilisieren. Einen Nabelschnurkatheter einzuführen, war immer eine Herausforderung, aber heikle Eingriffe bei so kleinen Gefäßen waren genau das, worin Ryan Walker so gut war.

„Ich nehme eine Blutprobe. Können wir die Blutgaswerte sofort bekommen?“

„Ja.“ Susie nahm die Spritze mit der winzigen Menge Blut. „Wir haben hier ein kleines Labor, und das kann ich selbst machen. Wenn wir sonst noch etwas brauchen, ist ein Laborant die ganze Nacht auf Abruf.“

„Ich möchte auch noch einen Blasenkatheter legen, um die Nierenperfusion und die Harnmenge zu überwachen. Gibt es ein tragbares Ultraschallgerät?“

„Ja. Soll ich einen Ultraschallassistenten rufen?“

„Nein, das mache ich selbst.“

„Müssen wir Grace an ein Beatmungsgerät anschließen?“

„Noch nicht. Aber wir behalten ihre Sauerstoffsättigung genau im Auge. Für weitere invasive Eingriffe brauchen wir eine Erlaubnis, oder?“

„Theo ist auf dem Weg“, berichtete Janine. „Er spricht im Moment mit der Polizei. Und mit dem Sicherheitsteam. Sie schauen sich die Videobänder der Überwachungsanlage an.“

Theo Hawkwood kam hinzu, als Ryan gerade die Ultraschalluntersuchung beendete.

„Geht es?“, fragte er Ryan. „Mit dem Start hat keiner gerechnet, oder? Was macht der Jetlag?“

„Kein Problem“, versicherte Ryan ihm. Eigentlich hatte er vergessen, dass er überhaupt erschöpft gewesen war, kein Wunder bei dem Adrenalinrausch.

„Womit haben wir es zu tun?“

„Sieht aus wie eine starke Verengung der Aorta. Neben einem angeborenen Herzfehler, obwohl ich nicht denke, dass der wesentlich ist.“

„Wird sie operiert werden müssen?“

„Wahrscheinlich. Wir beginnen mit der Medikamentengabe, und ich würde gern so schnell wie möglich eine Angiografie machen, wenn wir ein vollständiges Team für das Katheterlabor zur Verfügung haben. Ich könnte auch eine Ballonangioplastik durchführen, als Überbrückung, wenn sie allein nicht reicht. Es sei denn …“ Ryan sah auf und begegnete Theos Blick. „Können wir sie hier behandeln, oder müssen wir sie in ein öffentliches Krankenhaus verlegen?“

Doch Theo schüttelte den Kopf. „Jemand hat sie in unsere Obhut übergeben, und ich möchte, dass das Hope-Krankenhaus alles tut, was möglich ist, um zu helfen.“

„Was hat die Polizei gesagt?“

„Sie haben die Videobänder. Das Gesicht des Mädchens ist nicht gut zu sehen, aber es ist ein Anfang. Und sie glauben, dass es Menschen gibt, die etwas wissen. Sie kann sie doch nicht ganz allein auf die Welt gebracht haben, oder?“

„Das ist nicht ganz unwahrscheinlich“, mischte sich Janine ein. „Besonders, wenn das Mädchen seine Schwangerschaft verheimlicht hat. Armes Ding“, fügte sie hinzu. „Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen.“

„Die Polizei wartet im Wartebereich. Sie wollen den Karton und alle anderen Beweisstücke, die helfen könnten. Wie ich hörte, gibt es eine Nachricht?“

„Ja, aber darin steht nicht viel. Nur, dass die Mutter sich nicht um das Baby kümmern kann.“

Theo nickte. „Jemand vom Sozialamt kommt ebenfalls. Sie kümmern sich darum, dass das Baby registriert wird, und überlassen sie für den Moment uns.“

„Wir haben ihr einen Namen gegeben“, erzählte Janine ihm. „Grace.“

Er lächelte. „Hübsch. Gefällt mir. Ein Name mit Bedeutung. Wie meine Hope.“

„Ihre Hope?“ Ryan zog eine Augenbraue hoch. „Du meinst dieses Krankenhaus?“

„So hieß meine Frau“, erklärte Theo leise. „Und dieses Krankenhaus war unser beider Traum.“

„Grace war Evies Wahl“, sagte Susie. „So hieß ihre Mum.“

Ryan musterte Graces EKG-Ausschläge auf dem Monitor. Evie hatte nicht gezögert, den Namen für das Baby anzubieten. Die Erinnerung an ihre Mutter musste sehr stark sein. Ihm war auch aufgefallen, wie sie das Baby während der Untersuchung beobachtet hatte. Ging sie mit ihren Patienten immer eine so enge Verbindung ein? Oder lag es daran, dass sie selbst Mutter war? Hatte nicht irgendjemand was von Kindern zu Hause gesagt?

Sie hatte den Raum auch nicht verlassen wollen. Seltsamerweise hatte er ihre Abwesenheit sofort bemerkt. Auf jeden Fall hatte sie etwas an sich, das anders war. Und das war nicht nur ihre ungewöhnliche Haarfarbe. Etwas, das ihn interessierte. Aber sie war tabu. Diese Bemerkung, dass sie Kinder zu Hause hatte, war eine rote Flagge gewesen. Eigentlich ein ganzer Ring roter Flaggen, mit ihr in der Mitte. Frauen, die Kinder wollten, waren problematisch genug. Eine, die bereits welche hatte, lebte auf einem Planeten, den Ryan nie und nimmer besuchen würde.

Irgendwie wunderte es ihn nicht, sie im Empfangsbereich zu finden, als sie Baby Grace schließlich in einem Bett untergebracht hatten, wo sie unter ständiger Beobachtung war, bis das Katheterlabor zur Verfügung stand. Ihm war einer der Schlafräume angeboten worden, und auf der Suche danach musste er am Empfang vorbei.

„Sie sind noch hier“, sagte er zu Evie. „Sie haben nicht eigentlich Dienst, oder? Waren Sie nicht auf dem Heimweg, als ich Sie auf dem Parkplatz getroffen habe?“

Sie nickte. „Ich habe nur gewartet, weil ich wissen wollte, wie es Grace geht.“

Die verdrängte Erschöpfung kam jetzt mit aller Gewalt zurück, aber Ryan schob sie beiseite, zog sich einen Stuhl heraus und setzte sich neben Evie.

Er hatte schon viele Gesichter wie dieses gesehen, aber bei Eltern, die auf Neuigkeiten von ihren kranken Babys warteten. Verzweifelte Gesichter, die es einem sehr schwer machten, professionellen Abstand zu wahren, aber das war eine von Ryans Fertigkeiten, und er wusste genau, wie er damit umzugehen hatte. Indem er alle Informationen gab, die er konnte, und in seinen Meinungen ehrlich war, ohne Gefühle die Oberhand gewinnen zu lassen.

„Grace hat eine Koarktation der Aorta.“ Er konnte sehen, dass seine Worte kaum mehr als oberflächliches Verstehen auslösten. War Evie vielleicht noch in der Ausbildung zur Krankenschwester? „Das ist eine Verengung des Hauptblutgefäßes, das vom Herzen kommt“, fügte er hinzu.

„Klingt ernst.“ Evies Blick verdunkelte sich.

Haselnussbraune Augen, wie ihm auffiel, die perfekt eingerahmt wurden von diesem dunkelblonden Haar mit seiner einzigartigen rostroten Tönung. Sehr ausdrucksstarke Augen.

„Das ist ein ziemlich verbreiteter Herzfehler“, erklärte er ihr. Aus einem unerfindlichen Grund wollte er sie beruhigen, ja sogar trösten. „Und wir haben einige Möglichkeiten, um das zu behandeln. Sie bleibt hier, also übernehme ich ihren Fall. Ich werde alles tun, um ihr zu helfen.“

„Was zum Beispiel?“

„Wir haben mit Medikamenten angefangen. Prostaglandin, das kurzzeitig den Ductus arteriosus offen halten kann. Wissen Sie, was das ist?“

Ihr Nicken wirkte nachdenklich. „Das ist ein kleines Gefäß, in dem das Blut die Lunge umgeht, bis das Baby geboren ist, oder? Und dann sollte es sich schließen. Das ist meist der Zeitpunkt, wenn angeborene Herzprobleme offensichtlich werden, stimmt’s?“

„Ja. Oder sie können sich plötzlich rapide verschlechtern, weswegen wir versuchen, es offen zu halten. Und morgen früh, nachdem ich etwas geschlafen habe, bringen wir Grace ins Katheterlabor. Ich kann die verengte Region der Aorta vielleicht mit einem Ballon öffnen. Sie muss zwar wahrscheinlich operiert werden, aber ich möchte dafür sorgen, dass sie ganz stabil ist, bevor es so weit ist.“

Evie nickte erneut. Und dann lächelte sie ihn an. „Klingt, als wüssten Sie, was Sie tun, Mr. Walker.“

Wow … Was für ein Lächeln …

„Ryan, bitte.“

„Ich bin froh, dass du da bist.“

Jetzt konnte er in ihren Augen noch etwas anderes als Angst sehen. Hoffnung. Zusammen mit Vertrauen. Das gefiel ihm. Und er sorgte besser dafür, dass das nicht verblasste.

„Ich auch.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Nicht jede neue Stelle fängt mit so einer Achterbahnfahrt an. Eine glamouröse Party, ein ausgesetztes Baby … Eine Partnerin bei der Rettung.“ Er stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen. „Es war schön, dich kennenzulernen, Evie. Eigentlich unvergesslich.“

Sie zögerte einen Moment, doch dann ergriff sie seine Hand. Er drückte und schüttelte sie leicht. Vielleicht wollte er testen, ob diese seltsame Hitze noch immer da war, wenn seine Hand ihre berührte.

Und das war sie …

Sofort ließ er sie los, das Meer roter Flaggen wedelte in seinem peripheren Blickfeld. „Ich gehe besser schlafen, wenn ich morgen topfit sein will. Die Schlafräume sind dort entlang, oder?“

„Ja.“ Evie stand auf. „Ich fahre auch besser nach Hause. Ich sehe dich morgen … Ryan.“

Er sah ihr nach, als sie zu den Aufzügen ging. Und wieder lächelte er, wie ihm auffiel. Wegen des außergewöhnlichen Abends?

Oder weil er Evie Cooper morgen wiedersehen würde?

Oh Mann … Er war einfach übermüdet. Er brauchte Schlaf, und das sofort.

„Hey, Evie … Arbeitest du nicht dort?“

„Schalt den Fernseher aus, Bobby. Und such deine Schuhe. Stella bringt dich heute zur Schule.“ Evie ging an ihrem jüngsten Bruder vorbei, um seine Brotdose in seine Schultasche zu stecken. Doch dann blieb sie stehen, als sie eine Stimme hörte, die sie wiedererkannte.

Theo Hawkwood. Er stand draußen, unter dem Schild mit der Aufschrift Hope-Krankenhaus.

„Ja“, sagte er. „Wir kümmern uns um dieses Baby, das von unserem Personal den Namen Grace bekommen hat, aber wir möchten wirklich seine Mum finden. Wir machen uns Sorgen, dass sie vielleicht selbst ärztliche Hilfe braucht.“

Die Kamera schwenkte auf den Mann neben Theo, und Evie stockte der Atem.

Ryan Walker …

Er schaute direkt in die Kamera. „Wenn du zuhörst“, sagte er, als würde er direkt mit Graces Mutter sprechen, „du sollst wissen, dass es Leute gibt, die helfen wollen. Wir verstehen, dass die Umstände im Moment unmöglich erscheinen mögen, aber bitte komm und sprich mit uns. Du bekommst keine Probleme. Wir wollen nur sichergehen, dass es dir gutgeht.“

Wie könnte irgendjemand diesem Flehen widerstehen? Und diesem Lächeln …?

Es hatte Evie verfolgt, als sie letzte Nacht endlich im Bett lag, und dass er jetzt praktisch im Wohnzimmer ihres Hauses war, so früh am Morgen, war ein ziemlicher Schock. Er trug OP-Kleidung und sah wie der medizinische Spezialist aus, der er war. Seltsam, dass formlose Kleidung wie diese – das komplette Gegenteil zu dem maßgeschneiderten Smoking, in dem sie ihn zuerst gesehen hatte – jemanden noch attraktiver erscheinen lassen konnte.

Beunruhigend war das.

Jetzt sprach ein Polizist. „Jemand hat vielleicht bei dieser Geburt geholfen, oder jemandem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Wer auch immer etwas weiß, kann die vertrauliche Nummer anrufen, die jetzt auf dem Bildschirm eingeblendet wird …“

Evie wandte sich von der Nachrichtensendung ab und ging zur Treppe.

„Stella? Bist du aufgestanden? Du hast fünfzehn Minuten. Du bringst Bobby heute zur Schule, oder hast du das vergessen?“

Ihre Schwester erschien oben an der Treppe. „Du brauchst nicht zu schreien“, murrte sie. „Ich bin dran.“

„Wo ist Peter?“

„Schläft noch. Er war immer noch auf seiner Bandprobe, als ich gestern von der Disco zurückgekommen bin.“

„Klopf an seine Tür. Er bekommt Ärger, wenn er wieder zu spät kommt.“

Der zehnjährige Bobby zupfte an Evies Ärmel. „Hast du meine Schuhe gesehen?“ Dann entdeckte er seine ältere Schwester. „Hey, Stella … Sie haben gestern Abend bei Evies Krankenhaus ein Baby in einem Karton gefunden.“

„Wirklich?“

„Eigentlich habe ich es gefunden“, erzählte Evie ihnen. „Sie. Wir brauchten einen Namen, also habe ich ihr Mums gegeben … Grace.“

„Wow …“ Bobby schaute sie mit großen Augen an. „Warte, bis ich das den Kindern in der Schule erzähle. Du wirst berühmt.“

„Glaub ich nicht.“

„Wo kam sie her?“ Stella war die Treppe heruntergekommen. „Wo ist die Mutter?“

„Wir wissen es nicht. Wir glauben, dass sie ziemlich jung ist und wahrscheinlich zu viel Angst hat, jemandem von dem Baby zu erzählen.“

„Das ist wirklich traurig“, antwortete Stella. „Hey … Du magst Babys. Vielleicht könntest du dich darum kümmern? So, wie du dich um uns gekümmert hast, als wir noch klein waren.“

„Ich kümmere mich immer noch um euch.“ Evie schüttelte den Kopf, plötzlich erschöpft, und das nicht nur, weil sie letzte Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte. Würde ihre Familie sie immer so sehen? Als jemanden, der nur existierte, um sich um andere zu kümmern? Es war selbstverständlich gewesen, dass sie sich nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter um ihre jüngeren Geschwister kümmerte, aber wie es schien, hatte sie mit ihrer Mum nicht nur ihre Karriereträume verloren – sondern auch ein Leben, in dem sie um ihrer selbst willen wichtig war und nicht nur, um für andere zu sorgen.

„Wie gut, dass ich euch so sehr liebe“, fügte sie mit einem kleinen Seufzen hinzu. „Geh frühstücken, Stella. Und erinnere Dad daran, dass er seinen Blutzucker überprüft. Ich muss los. Wenn ich es schaffe, will ich bei Grace vorbeischauen, bevor ich mit der Arbeit anfange.“

Susie war im Umkleideraum, als Evie kam, um die Sachen, in denen sie gestern nach Hause gefahren war, in den Wäschesack zu legen.

„Wie geht es Grace?“

„Sie hält sich tapfer“, antwortete Susie. „Sie werden im Katheterlabor bald für sie bereit sein. Willst du mitkommen und sie erst noch besuchen?“

„Ich muss gleich an meinem Tisch sein. Ich habe keine Zeit, mich umzuziehen.“

„Zieh einfach einen Kittel über deine Straßensachen. Und Überzieher über deine Schuhe.“ Susie lächelte. „Irgendwie ist sie dein Baby, Evie. Du hast ihr gestern Nacht wahrscheinlich das Leben gerettet, also denke ich, du solltest sie sehen.“

Mehr Ermutigung brauchte Evie nicht. Sie zog einen Wegwerfkittel über und betrat die Neugeborenen-Intensivstation. Dann ging sie an Alfies Platz vorbei zu einem Bereich, an dem noch viel mehr Geräte um den Inkubator herumstanden. Auf dem Namensschild las sie „Baby Grace“, und da war sie. Nackt bis auf eine winzige Windel, lag sie auf dem Bauch inmitten des Gewirrs aus Schläuchen und Kabeln.

„Ohh …“ Evie beugte sich über den Inkubator, berührte die Plastikwände, die die Temperatur und das Sauerstoffniveau konstant hielten.

Janine ging mit einem anderen Baby im Arm an ihr vorbei und lächelte Evie an.

„Du kannst sie anfassen“, sagte sie. „Durch die Luke. Halt doch ihre Hand und sag ihr, dass alles gut wird. Vielleicht erinnert sie sich an deine Stimme von gestern Abend.“

Evie reinigte ihre Hände mit einem Gel aus dem Spender in der Nähe, bevor sie ihre Hand vorsichtig durch die Luke steckte. Sie berührte die winzige Hand, die auf der blütenweißen Matratze so pink aussah, und sie musste Tränen wegblinzeln, als sie spürte, wie die kleinen Finger reagierten und ihren Zeigefinger umfassten. So wie gestern Nacht bei Ryan.

Es fühlte sich wie Vertrauen an.

Als würden diese winzigen Finger ihr Herz berühren.

Es fühlte sich an wie Liebe …

Evie war so verzaubert, dass sie kaum mitbekam, dass sich jemand Graces Inkubator näherte, aber sie wusste, wer es war. Die Luft um sie herum war wie statisch aufgeladen.

„Wie geht es unserem Baby heute Morgen?“, fragte Ryan.

Evie musste lächeln. Unser Baby. Aber es klang nicht albern. Sie hatten Grace gemeinsam gefunden, und das verband sie. Es fühlte sich an, als würde sie diesen Mann bereits kennen.

Mehr als das. Als wäre da eine echte Verbindung zwischen ihnen.

Sie konnte seinen Blick nur kurz erwidern. Es war schon ein Schock gewesen, ihn heute Morgen im Fernsehen zu sehen. So nah neben ihm zu stehen, dass sie die Wärme seines Körpers spürte, war beinahe überwältigend.

Daher beobachtete sie ihn aus dem Augenwinkel, als er die verschiedenen Monitore überprüfte, an die das Baby angeschlossen war. Vielleicht hatte er das Hautkribbeln auch gefühlt. Evie war nicht entgangen, wie schnell er das Händeschütteln gestern Abend beendet hatte. Und es hatte sie auch nicht gewundert. Um Himmels willen, er hatte eine Freundin, die wie ein Supermodel aussah, aber wahrscheinlich Hirnchirurgin oder so war.

Menschen brauchten jemanden, mit dem sie sich identifizieren konnten, oder? Der junge Arzt, in den sie sich so heftig während ihrer Ausbildung verliebt hatte, hatte sie sitzen lassen, als sich eine Kollegin für ihn interessierte. Jetzt war sie nur eine Empfangsdame. Daran war sie schmerzlich erinnert worden, als Ryan erwartet hatte, dass sie wusste, was eine Koarktation der Aorta war. Zum Glück konnte sie sich noch daran erinnern, was ein Ductus arteriosus war, so hatte sie nicht wie eine Vollidiotin dagestanden.

„Ich denke, wir können los“, sagte Ryan und warf Evie einen Blick zu. „Willst du mitkommen und zusehen?“

Die Einladung war ein Schock. Als wäre sie eine echte Kollegin. Gleichgestellt.

„Ah … Nein, ich kann nicht. Auf mich wartet Arbeit.“

„Kein Problem. Ich sage dir Bescheid, wie es gelaufen ist, wenn du möchtest.“

„Ja, bitte.“ Diesmal begegnete sie seinem Blick, und plötzlich fiel es ihr schwer wegzusehen.

Unglaublich blaue Augen. Und darin Wärme. Und Selbstvertrauen.

Erst da fiel Evie ein, dass er gestern Abend allein an seinem Auto gewesen war. Ohne die auffällige Freundin.

Und er hatte auf sie gewartet …

Gleichzeitig erinnerte sie sich an ihre Kette, aber jetzt war nicht die Zeit, ihn danach zu fragen. Ryan war damit beschäftigt, einige der Monitore auszuhängen. Ein Alarm ertönte, und sofort war Janine da.

„Bereit? Ich komme mit.“

Evie sah ihnen nach, wie sie den Inkubator vor sich herschoben.

Ryan hatte sie eingeladen, sie zu begleiten. Dem Eingriff zuzusehen, dem sich Grace unterziehen musste. Das war sogar noch erstaunlicher, als hätte er ihr deutlich gezeigt, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte.

Erstaunlich. Und verstörend.

Sie wollte nicht, dass er sie für eine gleichgestellte Kollegin hielt. Oder sie attraktiv fand. Oder dass zwischen ihnen mehr passierte, als schon passiert war.

Dann schlossen sich die Türen hinter ihm. Es war an der Zeit, Kittel und Überzieher auszuziehen und an die Arbeit zu gehen, für die sie bezahlt wurde. Nach der Gala gestern gab es Extraarbeit. Sie musste dafür sorgen, dass der Konferenzbereich in tadellosem Zustand verlassen worden war, denn in einigen Tagen sollte dort ein internationales Meeting stattfinden.

Als sie die Abteilung verließ, war von Ryan nichts mehr zu sehen, aber Evie ertappte sich dabei, wie sie in den Wartebereich starrte, als ob sie ihn sehen könnte.

Oh Mann … Sie machte sich selbst etwas vor, wenn sie dachte, dass sie auf keinen Fall wollte, dass zwischen ihnen etwas passierte, oder?

Dazu war es doch längst zu spät …

4. KAPITEL

Theo Hawkwood wartete auf Ryan, als er aus dem Katheterlabor kam.

„Wie ist es gelaufen?“

„Sie ist stabil. Ich habe die Verengung geweitet, aber wir werden abwarten müssen, ob das reicht.“

„Hast du versucht, den VSD zu schließen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist klein genug, dass er keine Probleme macht, und könnte sich auch von allein schließen. Wir behalten sie im Auge, aber jetzt gibt es keine Indikation für einen invasiven Eingriff. Das wird oft auch erst später in der Kindheit durchgeführt.“

„Wo ist sie jetzt?“

„Zurück auf der Intensivstation. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Möchtest du mitkommen?“

„Nein. Ich schaue später vorbei. Die Polizei will gleich ein Update von mir, und dann habe ich pausenlos Besprechungen.“

„Hat die Fernsehausstrahlung heute Morgen etwas gebracht?“

„Viele Anrufe von Leuten, die dachten, sie hätten jemanden schreien gehört oder irgendwo Blutspuren bemerkt. Scheinbar haben gestern Nacht viele Leute Kartons durch die Stadt getragen. Sie verfolgen mögliche Spuren, aber die Mutter hat sich nicht gemeldet.“

Gemeinsam gingen sie zu den Aufzügen.

„Wie findest du die Einrichtung im Katheterlabor?“, fragte Theo. „Und das Team?“

„Ich könnte nicht zufriedener sein“, antwortete Ryan. „Es ist so gut, wie du versprochen hast.“

„Und deine Wohnung? Ich war sehr froh, dass sie das Penthouse in dem neuen Gebäudekomplex in der Nähe bekommen haben. Ich hoffe, es ist nicht übertrieben, aber du hast gesagt, du hättest gern etwas Hochwertiges.“

„Ich habe sie nur kurz gesehen“, erzählte Ryan ihm, „als ich meine Taschen abgestellt und mich für die Gala umgezogen habe, aber sie sieht perfekt aus. Letzte Nacht bin ich hiergeblieben, für den Notfall.“ Er grinste. „Die Personalschlafräume für die Intensivstation sind ziemlich exklusiv. In Sydney hatte ich so was jedenfalls nicht. Sogar mit eigenem Bad.“

„Wir wollen das beste Personal der Welt hier“, erklärte Theo. „Also müssen wir uns auch etwas Mühe geben. Ich hoffe, du nimmst dir den Nachmittag frei, um richtig in deiner Wohnung anzukommen.“

„Ja. Ich muss etwas anderes als meinen Smoking aus meinen Koffern holen. Und mich um ein Auto kümmern. Ich brauche etwas Solideres als den Mietwagen. Ich fahre manchmal gern raus und gehe in den Bergen wandern.“

„Sag mir Bescheid, wenn wir beim Einleben irgendwie behilflich sein können.“

„Danke. Ich könnte etwas Anleitung für örtliche Dinge brauchen. Du weißt nicht zufällig, ob es hier einen Rugby-Club gibt, der einen Neuen aufnimmt?“

„Frag Evie“, antwortete Theo. „Sie ist für mich diejenige für alles, was getan oder gefunden werden muss.“ Er drückte den Knopf für den Aufzug. „Ich muss meiner Sekretärin sagen, dass sie ihr Blumen bestellt. Schließlich war sie hauptsächlich für den Erfolg der Gala gestern verantwortlich.“ Er seufzte, als sie die Kabine betraten. „Wie schade, dass sie sie selbst nicht genießen konnte.“

„Hat sie nicht gearbeitet?“

Theo schaute überrascht. „Nicht offiziell, aber sie leistet viele inoffizielle Überstunden. Wenn sie gebraucht wird, ist sie da.“ Er lächelte. „Sie ist etwas Besonderes, unsere Evie.“

Das war sie absolut.

Ryan war verwirrt, sie auf dem Weg zur Pädiatrie-Intensivstation hinter dem Empfangstisch zu sehen. Hatte sie bei allen Arbeiten, die hier anfielen, die Hände im Spiel? Jetzt trug sie eine einfache Bluse und einen dunklen Rock, der ihre zierliche Figur betonte und sie … zart aussehen ließ. Wie eine Balletttänzerin. So anders als alle Frauen, zu denen er sich normalerweise hingezogen fühlte, aber die Anziehung war definitiv da.

Er blieb am Tisch stehen. „Was machst du hier draußen?“

Evie zog die Augenbrauen hoch. „Das ist mein Arbeitsplatz. Am Empfang.“

„Aber ich dachte, du wärst Krankenschwester. Gestern Abend hast du Pflegekleidung getragen. Und auf der Station heute Morgen.“

Sie errötete. „Ich darf manchmal aushelfen. Bei den Babys.“

Dahinter steckte eine Geschichte. Der Ausdruck in ihren Augen verriet ihm, dass Evie etwas passiert war. Etwas Trauriges. Sogar Schmerzvolles.

Und er wollte wissen, was das war.

„Hast du Grace gesehen, seit sie zurückgekommen ist?“

„Ja …“ Evies Gesicht hellte sich auf. „Sie sieht besser aus. Janine hat gemeint, dass ich vielleicht später mit ihr kuscheln darf.“

Er blieb stehen. Wollte mehr hören.

Doch Evie wandte den Blick ab. „Ich wäre beinahe Kinderkrankenschwester geworden“, erzählte sie leise. „Aber ich musste meine Ausbildung abbrechen aufgrund … aufgrund von familiären Umständen.“

„Ah …“ Ryan zählte eins und eins zusammen. Sie musste während ihrer Ausbildung schwanger geworden sein und hatte dann beschlossen, ihre Karriere aufzugeben. „Ja, Janine hat gestern deine Kinder erwähnt.“

„Sie sind nicht direkt meine Kinder.“ Evie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, schüttelte dann aber den Kopf. Im selben Moment klingelte das Telefon auf ihrem Tisch, und sie griff danach.

„Intensivstation, Evie Cooper am Apparat … Ja, natürlich, kein Problem … Ich finde das gleich für Sie …“ Sie klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und tippte auf ihre Computertastatur. „Es ist eine lange Geschichte“, flüsterte sie Ryan zu und entschuldigte sich. „Ein anderes Mal …“

Ryan beugte sich über den Tresen. „Ich verlass mich darauf“, murmelte er. „Ich mag lange Geschichten …“

Innerlich schimpfte er mit sich.

Was dachte er sich nur? Er hatte eben praktisch mit Evie Cooper geflirtet, und sie war so gar nicht sein Typ.

Es war offensichtlich, dass alle hier sehr viel von Evie hielten. Nach außen hin war sie vielleicht nur eine Rezeptionistin, aber Ryan war sich ziemlich sicher, dass hinter Evie mehr steckte als eine Verwaltungsangestellte.

Für Theo Hawkwood war sie so toll, dass er ihr Blumen schickte. Niemand hatte auch nur geblinzelt, als Evie mit dem Team in den Behandlungsraum gegangen war, nachdem sie das Baby gestern gefunden hatten. Sie hatte OP-Kleidung getragen, als wäre das für sie ganz normal. Heute Morgen hatte sie neben Graces Inkubator gesessen, die Hand des Babys gehalten und tiefe Verbundenheit ausgestrahlt, die er auch wahrgenommen hatte, als sie gestern so lange gewartet hatte, um zu hören, wie es Grace ging.

Keine Frau, mit der er jemals ernsthaft geflirtet hatte, würde zu einem Baby so eine Beziehung aufbauen. Und wenn doch, wäre er sofort verschwunden. Ryan Walker hatte kein Interesse daran, sich in etwas zu verfangen, das vielleicht in Richtung Ehe ging. Oder Familie. Oder irgendwas, das mit dem kollidierte, was für ihn im Leben am wichtigsten war.

An erster Stelle seine Arbeit.

Autor

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