Julia Ärzte zum Verlieben Band 25

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EIN PLAYBOY FÜR HANNAH? von ROBERTS, ALISON
Hannah ist mehr als genervt von dem attraktiven Dr. Ryan Fisher. Immer einen Scherz auf den Lippen, wickelt er alle Frauen um den kleinen Finger. Und mit einem Playboy will Hannah wirklich nichts zu tun haben. Bis sie plötzlich selbst Schmetterlinge im Bauch spürt …

SO KÜSST NUR DR. BOWMAN von METCALFE, JOSIE
Das ist doch … Dr. Amy Willmotts Herz beginnt heftig zu schlagen, als sie auf ihren neuen Kollegen im Krankenhaus trifft: Zach Bowman, ihr großer Schwarm aus Schulzeiten. Aber sie stammt aus wohlhabenden, er aus armen Verhältnissen. Hat ihre Liebe dennoch eine Chance?

NIE MEHR SOLLST DU EINSAM SEIN von KINGSLEY, MAGGIE
Das hat ihm gerade noch gefehlt! Als sich herausstellt, dass die neue Praxisvertretung eine Frau ist, reagiert Hugh äußerst ungehalten. Noch immer hat der Arzt den Tod seiner Frau nicht überwunden. Kann ihn vielleicht die lebenslustige Alex aus seiner Einsamkeit reißen?


  • Erscheinungstag 02.09.2009
  • Bandnummer 25
  • ISBN / Artikelnummer 9783862956760
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maggie Kingsley, Josie Metcalfe, Alison Roberts

Julia präsentiert Ärzte zum Verlieben, Band 25

MAGGIE KINGSLEY

Nie mehr sollst du einsam sein

Nie wieder wird sich Hugh verlieben können – das hat sich der unglückliche Arzt geschworen. Nach dem Tod seiner geliebten Frau weist er jeden von sich. Doch dann übernimmt die junge Alex in seiner Praxis die Vertretung. Nur widerwillig arbeitet er mit ihr zusammen, bis er längst begraben geglaubte Gefühle verspürt. Doch kann er seine Frau wirklich vergessen?

JOSIE METCALFE

So küsst nur Dr. Bowman

Dr. Amy Willmotts Herz entflammt erneut für den attraktiven Zach Bowman, als sie ihn nach vielen Jahren wiedersieht. Streng behütet aufgewachsen, kann sich Amy schnell für Zachs lockeren Lebensstil begeistern. Sie spürt, dass auch er sie nicht vergessen hat, und will ihrer Liebe eine Chance geben. Doch ihren Eltern ist Zach ein Dorn im Auge …

ALISON ROBERTS

Ein Playboy für Hannah?

Dr. Hannah Jackson hat genug von attraktiven, dafür aber äußerst unzuverlässigen Männern. Und ausgerechnet ihr gut aussehender Kollege Ryan, von dem sie sich unglaublich angezogen fühlt, scheint die Frauen reihenweise zu verführen. Bei einem gemeinsamen Rettungseinsatz kommen sich die beiden schließlich näher. Kann Hannah ihm wirklich vertrauen?

Maggie Kingsley

Nie mehr sollst
du einsam sein

1. KAPITEL

Mit wachsendem Unmut betrachtete Dr. Scott die mollige Frau mittleren Alters, die ihm gegenübersaß. Als er sich vor vierzehn Jahren dazu entschieden hatte, Allgemeinmediziner zu werden, musste er wohl von allen guten Geistern verlassen gewesen sein.

Ich hätte Facharzt werden sollen oder noch besser Anästhesist, dachte er, während Sybil Gordon ihm ihr Leid klagte. Da redeten die Patienten überhaupt nicht. Aber er wollte ja unbedingt eine Hausarzt-Praxis eröffnen, und was hatte er nun davon? Die schlimmste Hypochonderin des ganzen Universums.

„Mrs. Gordon“, unterbrach er ihren Redeschwall energisch. „Es ist völlig ausgeschlossen, dass Sie das Dengue-Fieber haben. Diese Krankheit tritt nur in subtropischen Gegenden auf, und der Norden Schottlands gehört definitiv nicht dazu.“

„Aber meine Knochen tun weh, Herr Doktor“, beharrte sie. „Außerdem habe ich Halsschmerzen, und meine Nase läuft.“

„Weil Sie eine ganz normale Erkältung haben“, erklärte er, wobei er sich nur mühsam beherrschte. „Gehen Sie nach Hause, und nehmen Sie eine Schmerztablette. Und vor allem, verbrennen Sie endlich Ihr medizinisches Sachbuch!“

„Aber ich schwitze, Herr Doktor“, protestierte sie. „Und ich bin sicher, dass meine Augäpfel gelb aussehen. Finden Sie nicht, dass sie gelb sind?“

Hugh war nachts dreimal angerufen worden, hatte am Vormittag eine lange, anstrengende Sprechstunde hinter sich gebracht, und die Abendsprechstunde versprach genauso zu werden. Da konnte er jemanden wie Sybil Gordon wirklich nicht gebrauchen. Außerdem sollte jeden Augenblick die neue Praxisvertretung eintreffen.

„Nein, Ihre Augen sind nicht gelb, sondern völlig normal, gesund und weiß“, gab er schroff zurück.

„Sind Sie sicher, Herr Doktor?“ Sybil Gordon ließ nicht locker. „Als ich sie vorhin im Spiegel angeschaut habe, sahen sie jedenfalls gelb aus. Und die Haut an meinem Kinn fängt an zu jucken. Das ist doch auch ein Zeichen für Dengue-Fieber, oder?“

Da riss Hugh der Geduldsfaden endgültig. „Raus, Mrs. Gordon.“ Mit langen Schritten ging er durch das Sprechzimmer und öffnete die Tür.

„Wie bitte?“ Fassungslos sah sie ihn an.

„Mrs. Gordon, Sie haben kein Dengue-Fieber. Sie haben überhaupt kein Fieber. Das Einzige, was mit Ihnen nicht stimmt, ist die Tatsache, dass Sie viel zu viel Zeit haben.“

„Aber …“

„Tun Sie uns beiden einen Gefallen“, meinte er mit erhobener Stimme. „Suchen Sie sich einen Job oder ein Hobby. Denn ich schwöre, wenn ich Sie noch einmal mit irgendeiner haarsträubenden Erkrankung aus irgendeinem Buch in meiner Praxis sehe, komme ich zu Ihnen nach Hause und verbrenne das verdammte Ding höchstpersönlich!“

Er ließ ihr keine Gelegenheit zu einer Antwort, sondern drängte sie aus dem Zimmer. Dabei fiel sein Blick auf die schockierte Miene der Sprechstundenhilfe. Doch Hugh knallte nur die Tür zu und ging verärgert an seinen Schreibtisch zurück.

Dengue-Fieber! Die weitesten Fahrten, die Sybil Gordon mit ihren achtundfünfzig Jahren je unternommen hatte, waren gelegentliche Ausflüge ins Nachbardorf. Ein waschechtes Kilbreckan-Urgestein, wie Jenny immer zu sagen pflegte. Eine Frau, die schon Heimweh bekam, wenn sie mehr als eine Meile von zu Hause entfernt war.

Er lachte leise. Wie Jenny sich darüber amüsieren würde, wenn er ihr davon erzählte! Doch dann durchfuhr ihn ein plötzlicher Schmerz. Nein, Jenny würde nicht lachen, weil es sie nicht mehr gab. Heiße Tränen schossen ihm in die Augen, und er musste sich auf die Lippen beißen, um sie zurückzuhalten.

Zwei Jahre war es her, dass Jenny mit ihrem Wagen auf Glatteis ins Schleudern geraten und frontal mit einem Lastwagen zusammengestoßen war. Zwei Jahre, in denen Hugh sich in die Arbeit gestürzt hatte, um nicht nachzudenken, um seine Erinnerungen zu verdrängen. Aber dann passierte irgendetwas, was er gerne mit ihr geteilt hätte. Und sobald er sich bewusst wurde, dass es nicht möglich war, traf ihn der Schmerz über seinen Verlust genauso heftig und unerträglich wie am Tag des Unfalls.

„So, das Ding hier kriegst du erst zurück, wenn du wieder normal mit unseren Patienten reden kannst, ohne ihnen den Kopf abzureißen“, erklärte Malcolm MacIntyre, sein Praxis-Partner, der gerade hereinkam. Er nahm Hughs Namensschild ab und steckte es in seine Tasche. „Bis dahin beschränkst du dich auf den Papierkram.“

„Ich habe einfach mal die Beherrschung verloren, na und?“, fuhr Hugh auf. „Das ist doch keine große Sache. Ich geh morgen vorbei und entschuldige mich bei ihr.“

„So wie du dich letzten Monat bei George Hunter und davor bei Peggie Fraser entschuldigen musstest?“, fragte Malcolm kopfschüttelnd. „Hugh, seitdem Jenny gestorben ist …“

„Das hat nichts mit meiner Frau zu tun!“

„Du schuftest dich zu Tode, um deinen Kummer mit Arbeit zu betäuben“, fuhr Malcolm entschlossen fort. „Aber deine Laune wird immer schlechter. Die Leute in Kilbreckan mögen dich. Schon seit du vor zehn Jahren die Praxis übernommen hast. Aber Sympathie hat ihre Grenzen. Und wenn du so weitermachst, gibt es bald keine Praxis mehr.“

„Willst du etwa behaupten, dass ich der Arbeit nicht gewachsen bin?“

Malcolm stöhnte entnervt. „Ich sage nur, dass ich mir deinetwegen Sorgen mache, Hugh. Chrissie und ich sind deine Freunde, wahrscheinlich die einzigen, die noch übrig sind, nachdem du alle anderen nach Jennys Tod weggestoßen hast. Du warst unser Trauzeuge, du bist der Pate unserer Kinder, und wir …“

Verlegen rieb Malcolm sich über den Nacken. „Verdammt noch mal, wir lieben dich, du großer Hornochse. Aber du musst die Vergangenheit hinter dir lassen und wieder zu leben anfangen. Sonst macht Jennys Tod dich noch kaputt.“

Ein kalter Blick trat in Hughs graue Augen. „Ich werde nie wieder heiraten.“

„Wer hat denn was von Heiraten gesagt?“ Malcolm setzte sich auf einen Stuhl. „Ich spreche davon, dass du mit jemandem reden musst. Vielleicht mit einem Psychologen oder mit irgendjemandem, dem du vertraust, um deine Gefühle rauszulassen.“

„Ich war noch nie bei einer Gruppentherapie, und ich habe auch nicht vor, jetzt damit anzufangen“, erklärte Hugh abweisend.

„Na gut, dann vergiss den Psychologen“, erwiderte Malcolm. „Aber nimm dir wenigstens die Zeit, dich an irgendwelchen Rosen zu erfreuen – oder in deinem Fall wohl eher am Heidekraut. Hugh, du bist gerade mal neununddreißig!“

„Wir haben viel zu viel zu tun, als dass ich durchs Heidekraut stampfen könnte“, widersprach Hugh ärgerlich.

Malcolm nickte. „Deshalb brauchen wir auch einen neuen Partner in der Praxis. Ich weiß, ich weiß“, fuhr er fort, als Hugh die Augen verdrehte. „Es ist die alte Leier, aber es stimmt trotzdem.“

„Was glaubst du wohl, warum ich damit einverstanden war, all diese Vertreter in den letzten anderthalb Jahren einzustellen?“, fragt Hugh. „Ich weiß, dass wir noch einen Arzt brauchen. Aber es ist schließlich nicht meine Schuld, dass keiner der Vertreter gut genug war, um ihm eine Partnerschaft anzubieten.“

„Hugh, sie hätten alle eine Mischung aus Marie Curie und Albert Schweitzer sein können, und du hättest immer noch behauptet, dass sie nicht gut genug sind. Denn letztendlich willst du Jenny gar nicht ersetzen. Du meinst, es wäre ihrem Andenken gegenüber illoyal, das zu tun.“

„Blödsinn.“

„Ach, wirklich?“ Malcolm beugte sich vor und sah ihn forschend an. „Hugh, niemand kann oder wird Jenny jemals ersetzen. Sie war ein ganz besonderer, einzigartiger Mensch. Aber das heißt nicht, dass kein anderer Arzt ihren Platz in der Praxis einnehmen könnte. So kann es nicht weitergehen. Wir sind beide völlig erschöpft. Und als Chrissie sich vor drei Jahren bereiterklärt hat, unsere Sprechstundenhilfe zu werden, hat sie nicht damit gerechnet, dass sie rund um die Uhr arbeiten muss. Irgendwann wird es zu einem Zusammenbruch kommen, und es hat schon angefangen.“

Malcolm hatte recht, das wusste Hugh. Wenn er nicht aufpasste, würde er alles verlieren, was er sich in Kilbreckan aufgebaut hatte. Doch wie sollte er seinem besten Freund erklären, dass er nicht wusste, wie er von der Vergangenheit loskommen oder wie er ohne Jenny weiterleben sollte? Er konnte es sich nicht einmal vorstellen.

„Malcolm, ich weiß, dass es in letzter Zeit schwierig gewesen ist, mit mir zusammenzuarbeiten. Okay, okay“, fuhr er fort, als sein Freund den Kopf schüttelte. „Ich war einfach unmöglich, und das tut mir leid. Ich werde mir Mühe geben, mich zu bessern. Und ich verspreche …“

Er atmete tief durch. „Wenn dieser Alec Lorimer auch nur halbwegs vernünftig ist, bieten wir ihm am Ende seines Dreimonatsvertrages eine Partnerschaft an. Du hast doch gesagt, dass er erstklassige Referenzen hat, oder?“

Ein Hauch von Röte erschien auf Malcolms runden Wangen. „Dr. Lorimers Referenzen sind fantastisch, wirklich außergewöhnlich, aber …“ Er hielt inne, als die Tür geöffnet wurde und eine füllige blonde Frau erschien. „Chrissie, was können wir für dich tun?“

„Es ist schon nach sieben, und im Wartezimmer ist keiner mehr“, antwortete sie. „Soll ich abschließen?“

„Ist Alec Lorimer noch nicht da?“, fragte Hugh. Als Chrissie verneinte, zog er die Brauen zusammen. „Nicht gerade ein guter Anfang, wenn er eigentlich um sechs hätte hier sein sollen.“

„Hugh.“

„Entschuldige, Chrissie“, sagte er schnell, als er den Blick sah, den sie ihrem Mann zuwarf. „Ich sollte diesem Neuen gegenüber ein bisschen entgegenkommender sein. Warum geht ihr zwei nicht schon mal nach Hause?“ Er ordnete seine Patientenakten. „Dr. Lorimer erwartet bestimmt nicht, dass wir alle drei auf ihn warten.“

Chrissie warf ihrem Mann erneut einen betonten Blick zu, und Malcolm räusperte sich unbehaglich. „Hugh, wegen Dr. Lorimer …“

„Ich werde lammfromm und zuckersüß zu ihm sein, keine Sorge.“ Gefolgt von Chrissie und Malcolm, ging Hugh ins Wartezimmer.

„Das ist es nicht“, fing Malcolm an. „Na ja, natürlich will ich nicht, dass du Dr. Lorimer bei eurer ersten Begegnung gleich runterputzt, aber …“

„Was denn?“, wollte Hugh wissen.

Malcolm machte den Mund auf, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nichts.“

Chrissie sah ihren Mann böse an, aber dieser zuckte nur reumütig die Achseln. Vielleicht hatten sie einen Streit gehabt oder Sorgen mit einem ihrer Kinder. Als Patenonkel der Zwillinge hätte Hugh eigentlich davon wissen sollen. Doch er hatte die Kinder seit Monaten nicht mehr gesehen.

„Wie geht’s den Kindern, Chrissie?“ Er legte die Akten auf den Tresen der Anmeldung. „Gehen sie immer noch gern zur Schule?“

„Laurie ja, aber Tom möchte am liebsten wieder weg. Er findet, sie haben ihm dort schon alles beigebracht, was sie draufhaben.“

Hugh lächelte ein wenig. „Wer weiß? Für einen Zehnjährigen ist er ziemlich clever.“

Chrissie lachte. „So schlau nun auch wieder nicht. Komm doch demnächst mal wieder zum Essen vorbei. Tom und Laurie reden ständig von dir.“

„Mach ich.“

„Wann?“, fragte sie, während ihr Mann zum Fenster ging und hinausschaute. „Du sagst nämlich immer, dass du kommst, aber du tust es nie.“

„Doch, ich komme bald. Versprochen“, erwiderte Hugh und wechselte dann bewusst das Thema. „Übrigens, Ellie Dickson ist heute Abend nicht zum Blutdruckmessen erschienen.“

„Ich habe ihr gesagt, dass sie jetzt, da sie im sechsten Monat schwanger ist, unbedingt regelmäßig zur Kontrolle kommen muss“, meinte Chrissie. Ihr Blick zeigte ihm, dass sie seine Absicht durchschaut hatte.

„Aber wie immer ist es zum einen Ohr rein und zum andern wieder raus.“ Hugh nickte. „Ich fahr morgen bei ihr vorbei, um sie noch mal daran zu erinnern.“

„Hey, Hugh“, rief Malcolm plötzlich aus. „Komm her, und schau dir das an!“

Hugh ging zum Fenster und war verblüfft, als er sah, was sein Freund anstarrte.

Es handelte sich um ein Motorrad, das neben Hughs Range Rover geparkt war. Aber nicht irgendein Motorrad, sondern eine in Rot und Chrom glänzende Ducati Sport.

„Wer in unserer Gegend fährt denn eine solche Schönheit?“, fragte Malcolm. Der Neid in seiner Stimme war unüberhörbar.

Hugh schüttelte den Kopf. „Keiner von hier. Sonst hätte sich die Neuigkeit schon längst wie ein Lauffeuer verbreitet.“

„Nicht unbedingt.“ Chrissie schaute ebenfalls hinaus. „Ist ja schließlich bloß ein Motorrad, oder?“

Hugh und Malcolm wechselten einen Blick.

„Chrissie, das ist nicht bloß ein Motorrad“, protestierte Malcolm. „Dies ist ein Kunstwerk, perfekte Ingenieursarbeit, Poesie in Bewegung, der Traum eines jeden Motorradfahrers.“

„Ein Männerspielzeug.“ Sie schnaubte, und er bedachte sie mit einem vernichtenden Blick.

„Eher eine Maschine nach dem höchsten technischen Standard. Ob der Besitzer mich wohl mal ’ne Runde darauf drehen lassen würde?“

„Keine Chance.“ Eine gedämpfte weibliche Stimme lachte leise. Beide Männer wandten sich um und sahen eine kleine, schlanke Gestalt mit Helm und schwarzer Lederkleidung in der Tür zum Wartezimmer stehen. „Niemand fährt mein Baby außer mir.“

„Und Sie sind?“, fragte Hugh.

Sie nahm den Helm ab. „Ich bin Alex“, antwortete sie und streckte die Hand aus. „Alex Lorimer.“

Automatisch schüttelte Hugh ihr die Hand. Er nahm ein Paar strahlend grüner Augen wahr und einen Schopf kurzer, abstehender roter Haare. Erst dann erfasste er ihre Worte.

„Sie sind eine Frau.“ Abrupt ließ er ihre Hand fallen.

Sie lachte. „Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war ich’s zumindest noch.“

„Aber Ihr Name.“ Er blickte zu Malcolm hinüber, der plötzlich ein ungewöhnlich großes Interesse an den Postern am schwarzen Brett zu haben schien. „Man hat mir gesagt, dass er Alec wäre. Alec Lorimer.“

Alex, nicht Alec“, verbesserte die junge Frau. „Die Abkürzung von Alexandra. Das haben Sie doch sicher auf meinem Lebenslauf gesehen?“

Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Bewerbungsunterlagen zu lesen. Für ihn handelte es sich lediglich um einen weiteren Vertreter, den Malcolm eingestellt hatte.

Malcolm und Chrissie sind mir auf jeden Fall eine Erklärung schuldig, dachte Hugh grimmig, während sein Partner sich hastig vorstellte. Chrissie säuselte geradezu ein herzliches Willkommen, wobei sie Hugh besorgt im Auge behielt.

„Und Sie müssen Dr. Scott sein.“ Alex Lorimer drehte sich zu ihm um. „Der Seniorpartner der Praxis.“

„Das dachte ich bisher auch“, erklärte er gepresst und packte Malcolm am Ellbogen. „Könnte ich kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Dr. MacIntyre?“

„Ich wollte Alex gerade die Praxis zeigen“, begann Malcolm, seufzte jedoch, als er Hughs Gesichtsausdruck sah. „In deinem Sprechzimmer?“

Hugh nickte kurz. Sobald er Malcolm hineingeschoben und die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fuhr er ihn heftig an. „Was, zum Teufel, soll das?! Du wusstest, dass sie eine Frau ist. Du hast mich nie korrigiert, wenn ich seinen … ihren … Namen gesagt habe!“

„Weil ich wusste, dass du genau so reagieren würdest“, verteidigte sich sein Freund. „Okay, sie ist eine Frau, na und?“

„Ich hatte es zur Bedingung gemacht, dass wir ausschließlich männliche Bewerber einstellen“, entgegnete Hugh aufgebracht. „Verdammt noch mal, du weißt doch genau, wie es bei uns ist. Die Straßen hier sind katastrophal. Wir müssen weite Strecken fahren, und die Bauern kommen nicht mal in die Nähe der Praxis, wenn wir sie nicht dazu zwingen. Wie soll eine Frau wie sie damit klarkommen? Sie sieht aus wie ein Schulmädchen im Berufspraktikum.“

„Sie ist dreißig.“

„Und warum arbeitet sie dann immer noch als Vertretung?“, wollte Hugh wissen. „Wenn sie überhaupt zu etwas zu gebrauchen ist, sollte sie mittlerweile eine eigene Praxis haben. Irgendwas stimmt also offensichtlich nicht mit ihr.“

„Mit ihr ist alles in Ordnung“, widersprach Malcolm. „Es ist nur eine Überreaktion deinerseits, dass du …“

„Und wo soll sie wohnen?“, fiel Hugh ihm ins Wort.

„In deinem Haus, so wie all die anderen Vertreter auch.“

„Nein.“ Hughs graue Augen blitzten. „Kommt nicht infrage. Was sollen denn die Leute sagen? Dr. Scott lebt mit einer Frau zusammen …“

„Keiner wird so was sagen“, unterbrach Malcolm ihn. „Alle wissen, dass es eine abgeschlossene Einliegerwohnung ist.“

„Sie geht wieder, Malcolm, basta. Ruf in der Agentur an, und sag ihnen, sie sollen einen anderen schicken.“

„Es gibt niemand anderen“, gab dieser zurück. „Entweder Alex oder keiner.“

„Dann müssen wir eben warten, bis sie jemand anders finden.“

„Vielleicht bist du ja bereit zu warten, aber ich nicht!“ Malcolms Gesicht war jetzt ebenso gerötet wie das von Hugh. „Hör auf mit all diesen Ausreden. Du willst sie doch bloß deshalb nicht, weil du den Gedanken nicht ertragen kannst, dass eine andere Frau in Jennys Sprechzimmer sitzt und dich an sie erinnert.“

„Quatsch.“

„Ach ja? Hugh, wir sind auf sie angewiesen. Auch wenn wir sie nur für drei Monate behalten, wir brauchen sie.“

„Sie bleibt auf gar keinen Fall.“

„Gut. Schick sie zurück. Aber dann kündige ich auch.“

„Malcolm.“

„Entweder Alex bleibt, oder Chrissie und ich sind weg, Hugh. Es ist ganz allein deine Entscheidung.“

Hugh merkte, dass sein Freund es ernst meinte. Es dauerte lange, bis Malcolm die Geduld verlor. Aber wenn er erst einmal auf stur schaltete, ließ er sich nicht mehr umstimmen.

Immerhin ist es ja nur für drei Monate, sagte sich Hugh. Aber die Frau sah nicht mal aus wie eine Ärztin. Zu klein und zierlich, und dann ihr Haar. Jenny hatte wundervolles Haar gehabt, lang, dicht und weizenblond. Er hatte es geliebt, seine Finger hindurchgleiten zu lassen. Nicht, dass er sich vorstellen konnte, jemals mit den Händen durch Alex Lorimers Haare zu fahren. Aber welche Frau entschied sich freiwillig dazu, so auszusehen wie ein frecher Kobold?

„Hugh, bitte.“ Malcolms Stimme klang sanft und eindringlich.

Hugh wollte ablehnen, aber er konnte es sich nicht leisten, Malcolm zu verlieren. Nicht nur, weil er ein ausgezeichneter Arzt war. Sondern weil sie seit über zwanzig Jahren befreundet waren und Malcolm mit ihm gute und schlechte Zeiten durchgestanden hatte.

„Na schön, du hast gewonnen“, sagte er widerstrebend. „Aber sie macht auf keinen Fall ihre Hausbesuche mit dem Motorrad. Abgesehen von dem Sicherheitsrisiko, kannst du dir vorstellen, wie unsere Patienten reagieren, wenn sie mit dem Ding angebraust kommt? Lady Soutar würde einen Anfall kriegen.“

„Wahrscheinlich.“ Malcolm lachte vor sich hin. „Okay, ich frage Neil von der Werkstatt, ob er uns einen seiner Mietwagen ausleiht.“

„Irgendwas Solides mit Vierrad-Antrieb.“

„In Ordnung. Soll ich Alex hereinbitten?“ Als Hugh nickte, eilte Malcolm zur Tür, hielt dann jedoch inne. „Ich weiß, dass sie nicht das ist, was du wolltest. Aber urteile ausnahmsweise mal nicht nach deinem ersten Eindruck. Vielleicht ist sie ja genau diejenige, die wir brauchen.“

Kurz darauf kam Malcolm mit Alex Lorimer zurück.

„Und? Wer hat gewonnen?“, fragte sie, als sie Platz nahm.

„Wie bitte?“, meinte Hugh.

Ein Grübchen erschien in ihrer Wange. „Ich gehe davon aus, dass sie beide gerade einen Mordsstreit meinetwegen hatten. Also, soll ich meinen Helm aufhängen oder wieder abhauen?“

„Meine Unterhaltung mit Dr. MacIntyre hatte absolut nichts mit Ihnen zu tun“, erklärte Hugh. Doch an dem Funkeln ihrer grünen Augen konnte er erkennen, dass sie sich von ihm nichts vormachen ließ. „Ich weiß nicht, was Ihnen die Agentur über unsere Praxis erzählt hat“, fuhr er fort.

„Nur, wo sie ist und dass Sie eine Vertretung für drei Monate wollen“, antwortete sie. „Also, wen von Ihnen soll ich vertreten?“

„Keinen von beiden.“ Er presste die Lippen zusammen. „Ursprünglich war dies eine Gemeinschaftspraxis von drei Ärzten, und wir überbrücken die Zeit mit Vertretungen, bis wir jemanden finden, der auf Dauer zu uns passt. Ich werde Ihnen einen Dienstplan für morgen zusammenstellen, und Malcolm wird Sie zur Werkstatt im Dorf mitnehmen, wo Sie ein Auto zur Verfügung gestellt bekommen.“

„Ich brauche kein Auto. Mein Motorrad fährt überall. Vermutlich sogar besser als jedes Auto.“

„Mag sein, aber es macht kaum einen guten Eindruck, wenn unsere Praxisvertretung in Lederklamotten durch die Gegend rast.“

„Das ist ein Scherz, oder?“ Alex fing an zu lachen, hörte jedoch auf, als sie seine Miene sah. „Okay, kein Scherz. Tja, tut mir leid, wenn Sie was gegen mein Bike haben …“

„Hugh hat nichts gegen Bikes“, unterbrach Malcolm sie schnell. „Als Studenten sind wir sogar beide Motorrad gefahren. Ich hatte eine alte Honda und Hugh eine Harley.“

„Sie hatten eine Harley?“ Interessiert sah sie Hugh an. „Welches Modell?“

„Eine Sportster FXST“, erwiderte er. „Aber ich denke nicht, dass …“

„Antrieb?“

„Chrom, Fünf-Gang-Harley. Aber darum geht’s jetzt nicht. Kilbreckan ist ein höchst konservatives Dorf, und für die Leute von außerhalb gilt das noch mehr. Sie erwarten, dass ein Arzt bei einem Hausbesuch auch aussieht wie ein Arzt.“

„Ich bitte Sie, Ihren Patienten wäre es vermutlich völlig egal, ob ich auf einem Kamel angeritten komme oder als Osterhäschen verkleidet bin, solange ich weiß, was zu tun ist, wenn ich sie behandle“, protestierte Alex. „Und ob es Ihnen passt oder nicht, mein Bike muss bleiben, weil ich nicht Auto fahren kann.“

„Jeder kann Auto fahren“, entgegnete er ungläubig.

„Tja, da habe ich Neuigkeiten für Sie, Dr. Scott. Ich nämlich nicht. Ich hab’s nie gelernt. Aber wenn Sie was gegen meine Ledermontur haben, könnte ich sie ja ausziehen, sobald ich bei einem Hausbesuch bin. Leider trage ich darunter normalerweise nur einen Lycra-Ganzkörper-Anzug, sodass Ihre Patienten vielleicht das Gefühl haben, dass sie mehr von mir zu sehen kriegen, als ihnen lieb ist. Aber wenn Sie das so wollen …“

Fasziniert sah Malcolm sie an, doch Alex’ Blick war auf Hugh gerichtet. Der herausfordernde Ausdruck in ihren Augen war unmissverständlich. Alex Lorimer wirkte vielleicht so, als ob jeder Windstoß sie umpusten könnte. Aber sie besaß Charakter, und zwar einen Charakter, der Hugh ganz und gar nicht gefiel.

„Dann werden Sie wohl Ihr Motorrad benutzen müssen“, gab er scharf zurück. „Aber dürfte ich Sie darum bitten …“

„Bei Hausbesuchen meine Lederklamotten anzulassen?“, ergänzte sie. Ihre grünen Augen blitzten belustigt, und er biss die Zähne zusammen.

„Ich wollte Sie dringend darum bitten, auf unseren Straßen vorsichtig zu fahren“, sagte er. „Bei uns gibt es zwar wenig Verkehr, aber eine Menge Idioten. Außerdem haben wir September, und das bedeutet, dass bald die Brunftzeit anfängt und die Rehe von den Bergen runterkommen. Falls Sie mit hoher Geschwindigkeit mit einem von denen zusammenstoßen, wird von Ihnen oder Ihrem Bike nicht mehr viel übrig bleiben.“

Wegwerfend meinte sie: „Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.“

Abrupt stand er auf. „Malcolm, könnt ihr zwei bitte abschließen? Dann zeige ich Dr. Lorimer ihre Unterkunft.“

Malcolm nickte. Als Hugh seine neue Kollegin aus der Praxis begleitete, bemerkte er jedoch, dass Malcolm und Chrissie ihn vom Fenster im Wartezimmer aus beobachteten.

Hugh fragte sich verärgert, was die beiden denn noch von ihm wollten. Immerhin war er einverstanden gewesen, dass Alex Lorimer blieb. Aber ein bisschen mehr Höflichkeit konnte wohl nicht schaden.

„Sind Sie heute von weit hergekommen, Dr. Lorimer?“, erkundigte er sich.

„Nur aus Edinburgh“, antwortete sie. „Ich war ein paar Tage bei meiner Mutter. Dann hörte ich von der Agentur, dass Sie mich brauchen.“

„Eine ziemlich weite Strecke“, meinte er.

Sie zuckte die Achseln. „Ich habe nur etwas über vier Stunden gebraucht. Normalerweise wäre ich früher da gewesen, aber auf der A 9 gab es mehrere Baustellen.“

„Sie müssen die ganze Zeit mit Höchstgeschwindigkeit gefahren sein.“ Hugh war einerseits beeindruckt, andererseits jedoch auch erschrocken darüber, mit welchem Tempo sie unterwegs gewesen sein musste.

„Sie ist ziemlich schnell“, erwiderte Alex und tätschelte ihr Motorrad liebevoll. „Aber sie hat ja auch einen Zweizylindermotor mit 992 ccm und elektronischer Benzineinspritzung.“

„Beeindruckend“, murmelte Hugh.

Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Die technischen Daten der Maschine oder dass ich was von Motoren verstehe?“

„Beides“, gab er zu. „Woher wissen Sie so viel über Motoren?“

„Mein Vater hatte früher eine Werkstatt, und ich habe den Mechanikern von klein an gerne zugeschaut. Mich haben immer nur die Motorräder interessiert, nie die Autos.“

„Deshalb haben Sie auch keinen Auto-Führerschein.“

„Ja. Mit siebzehn hatte ich mein erstes Bike, und mit achtzehn konnte ich es vollständig auseinandernehmen und wieder zusammenbauen. Meine Mutter war entsetzt. Sie wollte, dass ich hübsche Kleider anziehe und auf Partys gehe. Aber ich war nur dann glücklich, wenn ich in Arbeitshose und mit einem Schraubenschlüssel in der Hand unter einem Motorrad lag.“

„Also ein echter Lausejunge“, stellte er fest.

Strafend sah Alex ihn an. „Seien Sie froh, dass ich keine Erzfeministin bin, Dr. Scott. Sonst würden Sie für diese Bemerkung ernsthafte Probleme bekommen.“

Unwillkürlich spielte ein Lächeln um seine Lippen. Wenn man mal von ihren Haaren absah, war sie eine hübsche junge Frau. Große grüne Augen, umrahmt von erstaunlich dunklen Wimpern. Eine porzellanfarbene Haut, die so durchscheinend war, dass man eine kleine blaue Ader auf ihrer Stirn erkennen konnte. Und ein breiter, sanft geschwungener Mund, der zum Lachen wie geschaffen war.

Eine Wassernixe, dachte Hugh, während er auf sie hinunterblickte. Kein Kobold, sondern eine Wassernixe. Was mochte ihr Freund wohl davon halten, dass sie ständig ihren Arbeitsplatz wechselte? Denn sie hatte bestimmt einen Freund. Hugh hätte es jedenfalls nicht gefallen. Er hätte sie bei sich haben wollen.

Aber was sollte das, fragte er sich, als er sah, wie sie sein Lächeln erwiderte. Er wollte gar nichts über diese Frau wissen. Sie war nur eine weitere Praxis-Vertretung, die in drei Monaten wieder verschwunden sein würde.

„Ich hoffe, Sie haben ein gutes Schloss für Ihr Bike“, erklärte er kühl. „Kilbreckan sieht vielleicht aus wie ein verschlafenes Fischernest, aber in der Saison haben wir hier viele Touristen. Und Ihr Motorrad ist die reinste Versuchung.“

„Es ist polizeilich registriert, und ich schließe es immer ab, wenn ich nicht fahre.“ Alex setzte ihren Helm auf. „Falls Sie oder Dr. MacIntyre also jemals in Versuchung geraten sollten, werden Sie nicht weit kommen.“

„Weder Dr. MacIntyre noch ich würden jemals im Traum daran denken, ohne Erlaubnis mit Ihrem Motorrad …“, begann Hugh, schluckte den Rest aber herunter, als er merkte, wie ihre Augen erneut amüsiert blitzten. „Ihre Wohnung ist nicht weit von hier.“ Er riss die Tür seines Wagens heftiger auf als nötig. „Sie liegt am Dorfrand. Ich fahre voraus, und Sie folgen mir.“

„Ich glaube, das werde ich wohl gerade noch so schaffen.“ Ehe er antworten konnte, klappte sie ihr Visier herunter. Es war offensichtlich, dass sie sich über ihn lustig machte.

Er hatte sich also eine Wassernixe mit abstehenden Haaren und einem losen Mundwerk an Land gezogen. Grimmig setzte Hugh seinen Wagen zurück. Dann fuhr er die Hauptstraße von Kilbreckan entlang, vorbei am Hafen mit seinen Booten, die auf dem Wasser schaukelten. Am Laden an der Ecke bog er links ab, wobei er sich im Rückspiegel vergewisserte, dass Alex Lorimer ihm folgte.

Allerdings war auch sie nicht gerade gut gelaunt. „So viel zur hoch gelobten Gastfreundschaft im schottischen Hochland und dass die Leute einen Fremden hier immer willkommen heißen“, murmelte sie vor sich hin. „Der Kerl wollte eine Vertretung. Er hat eine gekriegt, und trotzdem behandelt er mich, als hätte ich die Beulenpest.“

Außerdem ist er groß, dachte sie gereizt. In ihren Augen war das ein weiterer Minuspunkt. Da sie selbst nur knapp über einsfünfzig maß, war sie sich ihrer zierlichen Gestalt nur allzu bewusst. Sie hasste es, wenn man auf sie herabschaute, ob real oder im übertragenen Sinne. Und innerhalb kürzester Zeit hatte Hugh Scott bereits beides getan.

Aber er sieht gut aus, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Innern. Doch Alex schüttelte energisch den Kopf. Auch wenn der Mann dichtes schwarzes Haar besaß, ein markantes schmales Gesicht und quecksilberfarbene Augen – er war arrogant, aufgeblasen und …

„Oh, Mann!“, rief sie genervt aus und bremste scharf ab, als Hughs Bremslichter aufleuchteten. „Was ist denn jetzt schon wieder?“

Mit einem gedämpften Fluch schob sie ihr Visier hoch und wartete, bis Hugh zu ihr kam. „Gibt es ein Problem?“, fragte sie.

„Wir sind da.“

Sie sah erst ihn an, dann das imposante zweistöckige viktorianische Haus, neben dem sie angehalten hatten. „Hier wohne ich?“, meinte sie verblüfft.

„In einem Teil davon“, antwortete er. „Als meine Frau und ich es vor fünf Jahren kauften, war es in zwei getrennte Wohnungen umgewandelt worden. Wir hatten immer vor, wieder ein Einfamilienhaus daraus zu machen, aber …“ Er wandte den Blick ab. „Wir haben eine gemeinsame Eingangstür und Diele. Ansonsten ist Ihre Wohnung völlig abgeschlossen. Sie besteht aus drei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer, einer Küche und einem Bad.“

Wie deprimierend, dachte Alex, nachdem er ihr alles gezeigt hatte. Sie hatte schon in einigen sehr einfachen Unterkünften gewohnt. Aber normalerweise hatte irgendjemand zumindest eine Vase mit Blumen auf einen Tisch gestellt, um das Ganze etwas freundlicher zu machen. Meistens hingen auch ein paar Bilder an den Wänden. Aber dieses Apartment war äußerst sparsam eingerichtet.

„Man hat hier eine sehr schöne Aussicht aufs Dorf“, sagte Hugh, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Und die Wohnung lässt sich gut beheizen.“

„Ah ja.“

„Chrissie besorgt immer ein paar Lebensmittel für unsere Vertretungsärzte. Fleisch, Gemüse und so“, fuhr er fort. „Damit Sie nicht gleich am ersten Abend einkaufen gehen müssen.“

„Okay.“ Sie überlegte, warum nicht seine Frau die Einkäufe erledigt hatte.

„Falls es irgendwelche Probleme geben sollte, ich bin unten. Aber wie gesagt, es müsste eigentlich alles Nötige da sein.“

„Sodass ich Sie nicht belästigen muss“, ergänzte Alex.

Ein Anflug von Röte auf seinen Wangen, als er den Rückzug antrat, bestätigte ihr, dass sie richtig geraten hatte.

Sobald er fort war, ging sie zum Wohnzimmerfenster und schaute hinaus. Laut Aussage der Agentur war Kilbreckan einst ein florierender Hafen gewesen. Ein Ort mit mehr als einem Dutzend Geschäften, wo man alles kaufen konnte, von der Nähnadel bis zum Traktor. Aber das Aufkommen von Autos und der Bau neuer Straßen hatten zu seinem Niedergang geführt.

Doch Alex hatte nichts gegen ruhige Orte. Sie hatte in Großstädten, Kleinstädten und auf dem Land gearbeitet und kannte sich aus. In den Städten konnte man beinahe anonym sein. In einer Landarztpraxis waren die Patienten jedoch enttäuscht, wenn sie nicht innerhalb einer Woche alles über einen wussten. Nun, die Einwohner von Kilbreckan würde Alex wohl enttäuschen müssen, da sie selbst bestimmte, wie viel sie von sich preisgab.

Sie wandte sich vom Fenster ab und verzog die Miene, als ihr Blick wieder auf die kahlen Wohnzimmerwände und funktionalen Möbel fiel. Gemütlich war es hier sicher nicht, aber sie blieb ja nur für drei Monate. Entschlossen öffnete sie ihren Rucksack und nahm ein silbergerahmtes Foto heraus. Sobald dies auf dem Kamin stand, würde sie sich gleich mehr zu Hause fühlen und nicht so einsam und verloren.

„Komm schon, Alex“, ermunterte sie sich selbst. „So ein Anfall von Melancholie sieht dir doch gar nicht ähnlich.“

Sie hatte sich darauf trainiert, immer gut gelaunt und positiv zu sein, aber heute Abend war es irgendwie anders. Als sie die lächelnden Gesichter ihrer Eltern betrachtete und sich selbst, so jung und optimistisch damals, da dachte sie unwillkürlich an den Mann, der auch einmal auf dem Foto gewesen war. Wenn man genau hinschaute, sah man sogar noch den Rand seiner Jacke neben der Schulter ihres Vaters.

„Du wirst wohl nie ganz verschwinden, Jonathan, oder?“, meinte sie leise. „Auch wenn ich noch mehr von meinem Vater abschneide, du bist immer da.“

Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen, und ärgerlich stellte sie das Bild hin.

Dieser blöde Hugh Scott. Er war schuld an ihrer düsteren Stimmung. Alex hatte sicher kein Willkommensbuffet oder eine Dudelsackband erwartet, aber wenigstens das Gefühl, erwünscht zu sein. Was ihn anging, war das offenbar nicht der Fall.

Seltsam. Schließlich war er der Seniorpartner der Praxis. Er musste ihrer Einstellung also zugestimmt haben.

„Vielleicht hatte er einen schlechten Tag“, überlegte sie laut. „Das kommt vor.“

Aber vielleicht ist er auch bloß ein arroganter Mistkerl, ging es ihr durch den Kopf. Sie biss sich auf die Lippen. Hoffentlich nicht. Denn dann könnten das drei sehr lange Monate werden. Weglaufen würde sie nämlich auf gar keinen Fall. Sie brauchte das Geld für ihre Zukunftspläne, und so leicht gab sie nicht auf.

„Sei einfach nett und freundlich wie immer.“ Sie ging in die Küche, um nachzusehen, was Chrissie an Lebensmitteln eingekauft hatte. „Nur lächeln, dann wird’s schon klappen.“

2. KAPITEL

Alex schaute aus dem Fenster ihres Sprechzimmers auf die grauen Steinhäuser von Kilbreckan und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Schieferdächer glänzten im spätsommerlichen Sonnenschein. Bis auf ein altes, rostiges Fischerboot war der Hafen heute Vormittag leer, da der Rest der Fischereiflotte aufs Meer gefahren war. Es war ein schönes Fleckchen Erde, und die Dorfbewohner hatten Alex herzlich aufgenommen. Doch nach zwei Wochen hielt nur noch ihr trotziger Stolz sie davon ab, ihre Sachen zu packen und zu gehen.

Da hörte sie ein diskretes Hüsteln und drehte sich um.

Chrissie stand an der Tür und hielt ihr einen Becher Kaffee hin. „Anstrengende Sprechstunde?“, erkundigte sie sich mitfühlend.

Alex zuckte die Achseln. „Nein, die war ganz okay. Es ist bloß …“

„Hugh.“ Chrissie nickte, als Alex ihr den Kaffee abnahm. „Alex, ich weiß, dass er schwierig ist.“

„Schwierig?“, entgegnete Alex. „‚Absolut unmöglich‘ trifft es wohl eher. Chrissie, ich weiß, dass er immer noch um seine Frau trauert. Und als du mir erzählt hast, wie sie gestorben ist …“ Sie schüttelte den Kopf. „Er muss am Boden zerstört gewesen sein. Aber er muss auch irgendwann mal loslassen, sein Leben weiterleben. Seine Trauer an allen anderen auszulassen, nur weil sie am Leben sind und seine Frau nicht mehr, das tut ihm nicht gut. Und der Praxis schon gar nicht.“

„Ich weiß. Und das Schlimmste daran ist, dass er eigentlich ein sehr netter Mensch ist“, meinte Chrissie. „Für seine Patienten würde er alles tun, und er ist ein großartiger Freund. Als er die Praxis vor zehn Jahren übernommen hat, hätte er jeden fragen können. Aber da er wusste, wie sehr Malcolm und ich uns wünschten, aus Edinburgh rauszukommen, hat er ihn gebeten, sein Partner zu werden. Aber wenn es um Jenny geht, glaubt er, jeder Vertretungsarzt würde versuchen, ihren Platz einzunehmen.“

„Ich will den Platz seiner Frau doch gar nicht einnehmen“, erklärte Alex. „Ich bin nur eine vorübergehende Aushilfe. In zweieinhalb Monaten bin ich wieder weg. Trotzdem bringt er es nicht einmal fertig, mich Alex zu nennen. Es heißt immer: Dr. Lorimer dies, Dr. Lorimer jenes …“

„Du nennst ihn ja auch nicht Hugh“, bemerkte Chrissie.

„Bin ich lebensmüde?“, gab Alex zurück. „Er hat mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass er mich für eine komplette Idiotin hält, obwohl ich schon seit vier Jahren als Ärztin arbeite.“

„Tut er nicht.“

„Oh, doch“, beharrte Alex. „Zum Beispiel heue Morgen. Eigentlich ist heute sein freier Tag. Aber er ist hier, angeblich um Papierkram zu erledigen. Was so viel heißt, dass er mich im Auge behalten will.“

„Weil du neu bist“, sagte Chrissie unsicher. „Er kennt dich ja nicht.“

„Und er wird mich auch nicht kennenlernen, wenn er nie mit mir redet“, entgegnete Alex. „Sobald ich bei unseren Nachbesprechungen auch nur den Mund aufmache, kriegt er schon diesen gequälten Ausdruck. Und offenbar schwebt er jeden Morgen aus dem Haus, denn ich habe ihn noch kein einziges Mal im Flur getroffen.“

„Vielleicht steht er früher auf als du.“

„Ja, klar!“, rief Alex aus. „Chrissie, er geht mir aus dem Weg. Und wenn er mir begegnet, verhält er sich absolut unausstehlich. Wie alt ist er? Neununddreißig? Wohl eher knapp unter sechzig. So ein eingebildeter, aufgeblasener Blödmann ist mir noch nie untergekommen.“

„Nachbesprechung in fünf Minuten in meinem Zimmer, Dr. Lorimer.“

Totenstille senkte sich auf Alex’ Sprechzimmer, als Hughs Kopf hinter der Tür verschwand.

Bestürzt sah Alex Chrissie an. „Meinst du wirklich, er hat mich gehört?“

Chrissie zog die Brauen hoch. „Was denkst du denn?“

„Oh, nein“, stöhnte Alex, und Chrissie eilte davon.

Na toll, dachte Alex und griff nach ihren Notizen. Die Nachbesprechungen der Sprechstunde waren nie besonders angenehm. Und nach dem, was er gerade mitgehört hatte, würde diese jetzt sicher die reinste Wonne werden.

Zunächst berichtete Malcolm über alle Patienten, die er an diesem Vormittag behandelt hatte. Doch jeder Beitrag von Alex wurde von Hugh Scott entweder mit äußerst gelangweilter Miene oder einem abrupten Themenwechsel quittiert. Schließlich hatte sie mit ihrem Kugelschreiber ihr Notizbuch völlig durchbohrt, und ihre Nerven lagen blank.

„Irgendwelche Probleme bei deinen Patienten, Alex?“, fragte Malcolm mit einem aufmunternden Lächeln.

„Rory Murray war nicht sonderlich erbaut, als ich sagte, dass er Arthrose im Hüftgelenk hat“, antwortete sie.

Er lachte. „Kann ich mir vorstellen. Rory ist zwar schon über vierzig, hält sich aber immer noch für den Don Juan des Dorfes. Obwohl Neil Allen von der Werkstatt ihm diesen Anspruch garantiert streitig machen würde. Für ihn war das wohl gleichbedeutend damit, dass er seine besten Tage hinter sich hat.“

„Stimmt.“ Sie lachte ebenfalls. „Aber als ich ihm sagte, dass Arthrose auch bei Teenagern auftreten kann, war er wieder beruhigt.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er an Arthrose leidet?“, wollte Hugh wissen.

Weil ich Ärztin bin, dachte Alex wütend, erwiderte jedoch so ruhig wie möglich: „Aufgrund einer gründlichen Untersuchung sowie meiner medizinischen Erfahrung. Natürlich habe ich außerdem einen Röntgen-Termin für ihn vereinbart. Aber ich gehe davon aus, dass meine Diagnose korrekt ist.“

„Was haben Sie Rory gesagt?“, fragte er weiter.

„Dass er sich so viel wie möglich bewegen und Schmerzmittel nur dann einnehmen soll, wenn es nötig ist“, antwortete sie. „Sollten die Schmerzen sehr viel stärker werden, müsste man sicherlich entzündungshemmende Medikamente und Physiotherapie verschreiben. Momentan würde ich aber erst einmal abwarten, wie sich die Sache entwickelt.“

„Sehr richtig“, bestätigte Malcolm und grinste belustigt. „Hat er versucht, mit dir zu flirten?“

Alex lachte. „Ja. Meine Diagnose hat ihn zwar etwas aus dem Konzept gebracht, aber das hielt nicht lange vor.“

Kopfschüttelnd meinte er: „Selbst wenn man Rory sagen würde, dass er demnächst sterben würde, bezweifle ich, dass das seine Libido beeinträchtigen würde. Sobald er eine hübsche Frau sieht, schaltet sich automatisch sein Jagdinstinkt ein.“

Alex sah Hughs missbilligenden Ausdruck. Oh, Mann, krieg dich wieder ein, dachte sie gereizt.

„Hast du Rory Paracetamol empfohlen?“, erkundigte sich Malcolm.

Sie nickte. „Außerdem noch Glukosamin-Tabletten und Capsaicin-Creme. Beide sind rezeptfrei, und es spricht einiges dafür, dass sie seine Beschwerden lindern können.“

Hugh Scott schnaubte verächtlich.

Langsam wandte sie sich ihm zu. „Soll das heißen, Sie sind mit meinem Vorschlag nicht einverstanden?“, fragte sie scharf.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Ich schätze, es kann wohl nicht schaden.“

„Manchmal kann es sogar durchaus hilfreich sein.“

„Manchmal, ja.“

„Wie zum Beispiel in diesem Fall.“

Sie starrten einander an.

Nerv mich nicht, Freundchen. Ich habe inzwischen mehr als genug von dir. Also, wenn du weißt, was gut für dich ist, dann lass mich endlich in Ruhe.

Hugh hielt ihrem Blick noch einen Moment lang stand, ehe er wegschaute und seine Notizen zur Hand nahm. „Ich habe gesehen, dass Donna Ferguson bei Ihnen war.“

Alex löste ihre geballten Fäuste. Fehlt bloß noch, dass du ein Fernglas auf mein Zimmer richtest. Klar hast du sie gesehen.

„Anscheinend fühlt sie sich seit einem halben Jahr nicht wohl“, meinte sie. „Nichts Konkretes. Nur eine allgemeine Erschöpfung und etwas Steifigkeit am Morgen. Ich habe festgestellt, dass ihre Finger geschwollen sind. Aber Blutdruck und Herzschlag waren normal.“

Hughs hochmütiger Ausdruck wich der Besorgnis. „Ihre Mutter und ihre Schwester sind beide an Brustkrebs gestorben.“

„Das hat sie mir erzählt“, sagte Alex. „Sie hat schreckliche Angst davor, aber ich konnte keine Knoten tasten oder sonstige Anzeichen erkennen. Bei einem Mammografie-Screening vor zwei Monaten war alles in Ordnung. Ich denke also, es ist unwahrscheinlich, dass sich seitdem etwas entwickelt hat.“

„Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.“ Eine tiefe Falte erschien auf seiner Stirn. „Donnas Schwester ist vor vier Jahren mit dreiundvierzig gestorben. Und wenn sie früher zu uns gekommen wäre, hätte sie viel bessere Überlebenschancen gehabt.“

„Ich kann Ihre Sorge verstehen“, meinte Alex. „Aber die geschwollenen Finger könnten auch einfach nur eine beginnende Arthritis anzeigen.“

„Haben Sie ihr eine Blutprobe abgenommen?“

„Selbstverständlich.“

„Wenn Donna wegen ihrer Ergebnisse wiederkommt, möchte ich mit ihr sprechen.“

Aber sie ist meine Patientin, hätte Alex am liebsten protestiert, schluckte es jedoch herunter. „Ich werde Chrissie informieren.“

Hugh lächelte flüchtig.

„Gut, wenn sonst nichts mehr anliegt …“ Malcolm wollte aufstehen.

„Nur noch eine Sache“, sagte Alex, und er setzte sich wieder. „Ich habe gesehen, dass im Wartezimmer ein Plakat mit Schlankheits- und Übungskursen für Frauen hängt. Da niemand an dem entsprechenden Abend aufgetaucht ist, nehme ich an, die Kurse wurden eingestellt?“

„Jenny hat sie früher angeboten“, antwortete Malcolm etwas unbehaglich. „Nach ihrem Tod habe ich sie eine Weile weitergeführt. Aber wie du siehst, bin ich nicht gerade der beste Kandidat für Ernährungsratschläge.“ Er klopfte sich auf seinen üppigen Bauch.

„Schade“, meinte Alex. „Vielleicht bräuchte man nur einen neuen Ansatz, irgendwas Peppiges, um die Kurse wiederzubeleben.“

„Hast du eine Idee?“, fragte er.

Sie lächelte. „Vielleicht. Ich muss mal drüber nachdenken.“

„Es erscheint mir nicht besonders sinnvoll, die Schlankheitskurse wieder anlaufen zu lassen, wenn Sie nur noch zwei Monate, zwei Wochen und …“ Hugh schaute auf seine Uhr. „… drei Stunden bei uns sind. Sobald Sie weg sind, werden sie wieder eingehen.“

„Wenigstens können aber die Frauen, die ihr Gewicht reduzieren möchten, in dieser Zeit ein paar wichtige Tipps von mir bekommen“, entgegnete sie. „Das ist doch schon mal gut.“

„Finde ich auch“, warf Malcolm schnell ein. Aber Alex und Hugh fixierten sich gegenseitig herausfordernd.

„Wenn Sie mit den Kursen wieder anfangen wollen, bitte sehr“, erklärte Hugh wegwerfend. „Aber ich will nicht, dass dies Ihre sonstige Arbeit beeinträchtigt.“

„Bei Ihrer Frau hat es die Arbeit ja offensichtlich auch nicht beeinträchtigt, oder?“

Finster zog er die Brauen zusammen. „Hier geht es nicht um meine Frau.“

„Nein“, gab Alex erbost zurück. „Sondern um mich. Beziehungsweise darum, dass Sie anscheinend der Meinung sind, ich sei zu nichts weiter fähig als zum Fiebermessen!“

„Alex, Hugh“, versuchte Malcolm zu beschwichtigen.

„Wenn ich das tatsächlich glauben würde, dann wären Sie mit Sicherheit nicht hier, Dr. Lorimer“, erwiderte Hugh schroff. „Laut Ihres Lebenslaufs verfügen Sie über angemessene Qualifikationen.“

„Wie bitte?“

„Aber ich muss sagen, Ihre Haltung ist keineswegs zufriedenstellend“, fuhr er ungerührt fort. „Dr. Lorimer, Sie sind hier nicht als Mitglied meiner Praxis, sondern lediglich als eine Vertretung. Sie tun also, was ich sage und wann ich es sage. Und wenn ich sage: ‚Springen Sie‘, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie es tun.“

„Moment mal“, fuhr sie entrüstet und mit blitzenden grünen Augen auf. „Ich bin nicht mehr ‚gesprungen‘, seitdem ich meine Assistenzzeit hinter mir habe, als irgendein anmaßender, herrischer Oberarzt, der sich für den Herrgott persönlich hielt, es von mir verlangte. Und nur zu Ihrer Information, Dr. Scott: Für Sie werde ich ganz sicher nicht springen! Niemals.“

„Alex, ich glaube nicht, dass Hugh es so gemeint hat“, sagte Malcolm hilflos.

„Oh, doch, das hat er! Und mir reicht’s. Ich habe genug davon, bevormundet und wie der letzte Dreck behandelt zu werden.“ Mit erhitzten Wangen bückte sie sich nach ihrer Tasche. „Ich mache jetzt meine Hausbesuche. Und wenn ich zurückkomme, erwarte ich, dass Dr. Scott sich auf Knien bei mir entschuldigt, oder ich gehe!“

Sie schlug die Tür so heftig hinter sich zu, dass es schepperte. Malcolm verschränkte die Arme vor der Brust und sah Hugh nur schweigend an.

„Okay, sag’s schon“, meinte dieser schließlich.

„Dass du ein arroganter, unerträglicher Volltrottel bist? Ich denke, das ist doch wohl offensichtlich!“, erklärte Malcolm. „Lass Sie in Ruhe, Hugh!“

„Tu ich doch.“

„Von wegen! Seit ihrem ersten Tag hier kritisierst du ständig an ihr herum“, entgegnete Malcolm. „Aber ob’s dir passt oder nicht, Alex ist eine gute Ärztin.“

„Wenn du das sagst.“

„Falls du dir ernsthafte Sorgen wegen ihrer beruflichen Fähigkeiten machst, wieso rufst du dann nicht einige ihrer früheren Arbeitgeber an?“ Da Hugh nicht antwortete, nickte Malcolm verstehend. „Das hast du schon getan, stimmt’s?“

Allerdings, und jeder hatte Alex in den höchsten Tönen gelobt. Alle wollten sie behalten, aber sie hatte jedes Angebot abgelehnt.

„Das ergibt doch keinen Sinn, Malcolm“, meinte Hugh. „Wenn sie wirklich so gut ist, wie sie alle behaupten, warum nimmt sie dann immer wieder neue Stellen an, anstatt in eine Praxis mit einzusteigen?“

„Vielleicht hat sie ja Hummeln im Hintern und langweilt sich schnell?“, vermutete Malcolm. „Aber das solltest du nicht mich, sondern sie fragen.“

Hugh presste die Lippen fest zusammen. „Wir reden nicht miteinander.“

„Ich weiß, und das solltest du.“ Malcolm erhob sich. „Ich mag sie, Hugh.“

„Schön für dich.“

Kopfschüttelnd meinte Malcolm: „Ich muss los. Schwester Mackay erwartet mich im Altenheim, und ich bin schon spät dran. Sieh zu, dass du dir ein anderes Benehmen zulegst, Hugh, und zwar zackig. Sonst ist Alex nämlich nicht die Einzige, die geht.“

Nachdem er den Raum verlassen hatte, warf Hugh seinen Stift auf den Tisch. Malcolm verstand ihn einfach nicht. Schon allein, wie Alex Lorimer sich kleidete. In der Praxis trug sie Jeans und Sweatshirt und zu den Hausbesuchen ihre Ledermontur. Das war schlampig und unprofessionell. Außerdem nahm sie ihren Beruf nicht ernst genug. Ständig hörte man ein Lachen aus ihrem Sprechzimmer.

Blind starrte er auf die gegenüberliegende Wand. Nein, das hatte nichts mit Alex’ Kleidung zu tun oder damit, dass sie ständig von einem Lachen begleitet wurde. Es ging gar nicht um sie, sondern um ihn. Um seine Trauer und die Unfähigkeit, mit ihr umzugehen.

Die Sinnlosigkeit von Jennys Tod schmerzte ihn am meisten. Eine kleine vereiste Stelle auf der Straße. Eine Stelle, die vielleicht weggetaut gewesen wäre, wenn Jenny nur ein bisschen später zu ihren Hausbesuchen aufgebrochen wäre. Eine kleine Stelle, der Hugh möglicherweise hätte ausweichen können, falls er an ihrer Stelle die Hausbesuche gemacht hätte.

Warum musste sie sterben? Wieder und wieder hatte er sich diese Frage gestellt und nie eine Antwort darauf gefunden.

„Entschuldige die Störung, Hugh“, sagte da Chrissie, die blass und angespannt hereinschaute. „Sergeant Tulloch hat gerade angerufen. Ein Lieferwagen hat sich auf der A 838 überschlagen. Ein Verletzter, Ewan Allen. Bill hat die Straße sperren lassen und die Feuerwehr und den Rettungshelikopter gerufen.“

Hugh fluchte leise und holte sofort den tragbaren Defibrillator, den Sauerstoffzylinder und die Trauma-Ausrüstung. Wenn der Sergeant den Rettungshubschrauber bestellt hatte, sah es nicht gut aus.

„Sag Malcolm im Altenheim Bescheid, dass wir uns an der Unfallstelle treffen“, rief er Chrissie auf dem Weg zur Tür zu.

Bestimmt war Ewan Allen zu schnell gefahren, dachte er, als er in seinen Wagen sprang. Der Zwanzigjährige hielt sich anscheinend für unbesiegbar. Jetzt konnte man nur hoffen, dass er recht hatte.

Sobald er am Schauplatz des Unfalls eintraf, sah er den völlig zerstörten Transporter, der zwischen zwei Bäumen eingeklemmt war.

„Nach den Schleuderspuren auf der Straße zu urteilen, war er viel zu schnell unterwegs und musste scharf bremsen, um einem Reh auszuweichen“, berichtete Sergeant Tulloch. Vorsichtig suchte Hugh sich seinen Weg durch Glassplitter und kaputte Metallteile, die auf der ganzen Straße verstreut waren. „Der Lieferwagen muss sich mehrfach überschlagen haben, bevor er in die Bäume da gekracht ist.“

„Übel“, brummte Hugh.

Der Polizist nickte. „Und es wird noch übler, fürchte ich. Die Fahrertür ist fest in einen Baum verkeilt, die Beifahrertür ist total zerquetscht und das Dach teilweise eingedrückt. Ohne Schneidegerät kriegen wir ihn da auf keinen Fall raus. Und um zu ihm zu kommen, müssen Sie durch die Hecktüren reinklettern.“

„Das schaffe ich schon“, erwiderte Hugh. Doch als er in den Unfallwagen hineinkroch, um den Verletzten zu untersuchen, merkte er rasch, dass es für ihn absolut unmöglich war, mehr zu tun, als Ewan Allen eine Halskrause umzulegen.

Derjenige, der dem jungen Mann medizinische Hilfe leisten könnte, müsste wesentlich kleiner sein als er selbst.

„Vielleicht hat Dr. MacIntyre mehr Glück“, meinte der Sergeant, nachdem Hugh unverrichteter Dinge wieder herausgekommen war. „Er ist ein bisschen kleiner als Sie, oder?“

Allerdings auch um einiges dicker. „Wissen Sie schon, wann der Hubschrauber hier sein kann?“, fragte Hugh.

„Da haben wir leider auch keine guten Nachrichten, Doc. Offenbar herrscht in den mittleren Highlands dichter Nebel, sodass sie an der Küste entlangfliegen müssen. Das heißt, sie können uns keine genaue Ankunftszeit nennen.“ Der Polizeibeamte drehte sich um, als er Motorengeräusche vernahm. „Das klingt zumindest nach der Feuerwehr und Dr. MacIntyre.“

Die Feuerwehr ja, aber es war nicht Malcolm.

„Ich weiß, dass ich die Letzte bin, die Sie hier sehen wollen“, erklärte Alex, als sie von ihrem Motorrad stieg und zu ihm kam. „Aber Chrissie hat mich angerufen, weil ich näher dran war.“ Sie starrte auf den Lieferwagen und holte tief Luft. „Heiliges Kanonenrohr.“

„Kann man wohl sagen.“ Hugh streifte sich einige Glassplitter vom Jackett.„Wir haben einen Verletzten. Ewan Allen, zwanzig Jahre alt.“

„Ist er verwandt mit dem Neil Allen, von dem Malcolm vorhin gesprochen hat?“, erkundigte sie sich.

„Einer seiner Brüder. Insgesamt gibt es acht Allen-Jungs zwischen sechs und dreißig Jahren. Und sie geraten ständig in irgendwelche Schwierigkeiten.“

„Heute hat es Ewan wohl voll erwischt“, meinte Alex.

„Es ist noch schlimmer, als es aussieht“, bestätigte Hugh. „Er ist im Wagen eingeklemmt, und ich kann nur seinen Kopf und den Oberkörper sehen. Ich habe ihm eine Halskrause angelegt, aber er kann nicht sprechen. Ich vermute eine Verletzung im Brustraum, sodass er nasal intubiert werden müsste. Aber ich habe dafür nicht genug Platz.“

„Ich bin viel kleiner als Sie“, sagte Alex. „Ich könnte es machen, wenn Sie sich hinter mir reinquetschen und mir alles Nötige anreichen.“

Das klang vernünftig, dennoch war Hugh der Gedanke nicht sympathisch. Und Jock Sutherland, der Einsatzleiter der Feuerwehr, hielt noch weniger davon.

„Mir wäre es lieber, wenn Sie beide warten würden, bis wir wenigstens den Benzintank abgepumpt haben“, meinte er. „Er ist zerstört, und wenn das Ding in die Luft fliegt, während Sie da drin Sauerstoff benutzen …“

„Werden wir unserem Schöpfer eher begegnen, als uns lieb ist“, beendete Alex seinen Satz. „Aber wir können nicht warten. Ewan braucht jetzt sofort Hilfe.“

Fragend sah er Hugh an, der unentschlossen wirkte. Er wollte nicht, dass Alex irgendetwas zustieß. Sie mochte nervig sein, aber sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich.

„Ich weiß, Sie halten nicht viel von mir“, sagte Alex, die Hughs düstere Miene missverstand. „Aber entweder ich mach’s oder keiner, stimmt’s? Je länger wir warten, desto schlechtere Chancen hat Ewan.“

„Ich habe nicht überlegt, ob Sie in der Lage sind, es zu tun, sondern, ob es ratsam wäre“, erwiderte Hugh.

Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Ist ja auch egal. Geh ich jetzt rein oder nicht?“

Es war sehr gefährlich, aber Hugh sah keine andere Möglichkeit. „Okay“, meinte er.

Jock Sutherland schüttelte den Kopf. „Sie sind beide verrückt, aber wie Sie wollen. Wir leeren den Tank dann, solange Sie drin sind. Aber zünden Sie um Himmels willen kein Streichholz an!“

Und keine plötzlichen Bewegungen machen, fügte Hugh im Stillen hinzu, als Alex anfing, sich langsam durch den Lieferwagen bis zum Vordersitz zu robben. Hugh folgte ihr mit dem Sauerstoffzylinder und der Trauma-Ausrüstung. Der Wagen begann unheilvoll zu ächzen.

„Kommen Sie nah genug an ihn ran, um ihn zu intubieren?“, fragte Hugh.

Alex drehte sich halb auf den Rücken. „Es ist eng, aber das schaffe ich schon“, antwortete sie. „Ewan, ich heiße Alex Lorimer und bin Ärztin.“ Der junge Mann stöhnte und versuchte, sie anzusehen. „Nein, nicht den Kopf drehen“, sagte sie schnell. „Ich schiebe Ihnen jetzt einen Schlauch durch die Nase, damit Sie besser atmen können. Das ist etwas unangenehm, aber es hilft. Okay?“

Ewan nickte leicht, und Alex begann, ihn zu intubieren. Sie schob den Schlauch immer nur dann weiter, wenn Ewan mühsam Luft holte.

Sobald der Schlauch drin war, rollte sie sich wieder auf den Bauch. „Können Sie mir einen Tropf durchgeben?“, fragte sie Hugh.

Er reichte ihn ihr. „Verletzungen?“

„Der rechte Arm scheint mehrfach gebrochen zu sein, und er hat auf jeden Fall einige instabile Rippenfrakturen. Weiter komme ich nicht an ihn ran, aber ich gehe von schweren Becken- und Beinverletzungen aus.“

„Blutdruck und Atemfrequenz?“

„Blutdruck neunzig zu dreißig, Atemfrequenz vierzig“, erwiderte Alex. Da Hugh plötzlich aufstöhnte, schaute sie zerknirscht über die Schulter. „Sorry, habe ich Sie gerade getreten?“

Hatte sie, aber nach allem, was er ihr heute Morgen an den Kopf geworfen hatte, wunderte er sich, dass sie sich überhaupt bei ihm entschuldigte. Als er in ihre großen grünen Augen blickte, wurde ihm noch etwas klar: Sie hätte gar nicht hier sein und ihr Leben für einen Patienten riskieren müssen, den sie nicht kannte. Nach zwei Wochen unbarmherziger Sticheleien von seiner Seite hätte Hugh es ihr nicht verübeln können, wenn sie Chrissie gesagt hätte, sie solle Malcolm schicken. Aber sie war gekommen. Obwohl er ihre Fähigkeiten angezweifelt und sie mies behandelt hatte.

Sie konnte schließlich nichts dafür, dass sie nicht Jenny war. Dass Alex sehr lebendig war und Jenny eben nicht. Er war von Anfang an entschlossen gewesen, kein gutes Haar an ihr zu lassen. Er hatte ihre Anwesenheit in Jennys Sprechzimmer als Beleidigung seiner Trauer empfunden, als würde Alex dadurch Jennys Existenz verleugnen. Aber das war falsch gewesen.

„Dr. Scott?“ Fragend sah sie ihn an.

„Kein Problem“, antwortete er. „Wie geht es Ewan?“

„Er scheint starke Schmerzen zu haben. Ich denke, wir sollten ihm Morphin geben.“

„Gut. Aber immer nur eine geringe Dosis.“

„In Ordnung.“ Sie legte Ewan die Infusion. Dann schaute sie erneut über die Schulter und senkte die Stimme. „Unser Sauerstoffzylinder wird nicht lange vorhalten. Was glauben Sie, wann der Hubschrauber kommt?“

„Keine Ahnung“, brummte Hugh.

Sie biss sich auf die Lippen. „Hoffentlich bald.“

In diesem Moment rief der Einsatzleiter nach ihm. „Bin gleich wieder da“, meinte er.

„Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich laufe nicht weg.“

„Da haben Sie aber eine couragierte neue Vertretung“, bemerkte Jock Sutherland, als Hugh aus dem Fahrzeug kroch.

In der Tat. Sie war außerdem eine hervorragende Ärztin. Hugh hatte ihre Hände beim Arbeiten sehen können, und ihre Geschicklichkeit hatte ihn beeindruckt. Ebenso wie ihre ruhige, sachliche Art, in der sie mit Ewan sprach. Falls sie Angst hatte, ließ sie es sich nicht im Geringsten anmerken.

Malcolm hatte recht. Hugh musste sich bei ihr entschuldigen, und zwar dringend.

„Wir haben den Tank abgepumpt“, berichtete Jock. „Jetzt wollen wir versuchen, die Beifahrerseite aufzuschneiden. Wir werden so vorsichtig wie möglich vorgehen. Aber ich muss Sie warnen. Der Transporter wird dabei heftig durchgeschüttelt.“

Er hatte nicht übertrieben.

„Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal Ohrstöpsel mit in die Trauma-Ausrüstung aufnehmen“, sagte Alex mit einem unsicheren Lachen. Sie presste sich noch dichter an Ewan, um ihn in dem schwankenden Wagen möglichst ruhig zu halten.

Ihr Gesicht war schmutz- und ölverschmiert. Doch Hugh konnte erkennen, dass sie darunter noch blasser war als sonst.

„Alles okay?“, fragte er.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin bloß etwas steif wegen meiner Liegeposition.“

„Sind Sie sicher?“, hakte er nach. „Hier ist eine Menge zerbrochenes Glas.“

„Mir geht’s gut“, gab sie scharf zurück. Als er sie verblüfft ansah, meinte sie bedauernd: „Tut mir leid. Eine Überreaktion. Ich mag es nur nicht, wenn Leute mich bemuttern.“

Das konnte Hugh gut nachvollziehen. Er erinnerte sich daran, wie Malcolm versucht hatte, ihn nach Jennys Tod zu trösten, und wie unfreundlich er darauf reagiert hatte.

„Es dauert bestimmt nicht mehr lange“, meinte er aufmunternd.

Dieses Mal war Alex’ Lächeln echt. „Ich nehme Sie beim Wort.“

Zu Hughs Erleichterung hatten die Feuerwehrleute die Seite des Transporters bald entfernt. Sobald sie weg war, kletterte er hinein. Behutsam fingen er und Alex an, Ewans Hüften und Oberkörper unter dem zerschmetterten Armaturenbrett hervorzuziehen. Dabei achteten sie darauf, seine Wirbelsäule möglichst gerade zu halten. Dann stieß Hugh einen Fluch aus.

„Was ist los?“, fragte Alex.

„Er bewegt sich nicht. Ich weiß nicht, wieso.“

Jock spähte an Hugh vorbei und fluchte noch ausgiebiger. „Sein Fuß sitzt hinter dem Bremspedal fest, Doc.“

Alex’ und Hughs Blicke trafen sich. Falls sie Ewans Fuß nicht herausbekamen, mussten sie ihn amputieren. Ewan durfte nicht länger in dem Wagen bleiben. Man konnte schon erkennen, dass seine Verletzungen noch erheblich umfangreicher waren, als Alex ursprünglich angenommen hatte. Er hatte einen Beckenbruch, sein Unterleib war gespannt und aufgebläht. Beide Unterschenkel waren gebrochen, und an einem Knöchel hatte er einen offenen Trümmerbruch.

„Na ja, wenn’s sein muss“, sagte Alex unschlüssig.

Hugh fasste hinunter, um Ewans Fuß abzutasten. Er war eiskalt. Wahrscheinlich musste er im Krankenhaus ohnehin amputiert werden, aber Hugh wollte dem jungen Mann wenigstens diese eine Chance geben.

„Jock, haben Sie eine Rettungsschere?“, meinte er.

Der Einsatzleiter nickte und verschwand.

„Was ist das denn?“, wollte Alex erstaunt wissen.

„Ein hydraulisches Gerät, das wie eine riesige Schere aussieht“, erwiderte Hugh. „Mit etwas Glück kann Jock mit den Spannbacken das Bremspedal packen. Und wenn er am Pedal zieht und ich an Ewans Fuß, bekommen wir ihn vielleicht frei.“

Alex nickte. Als Jock zurückkam und Hugh ihm seine Idee erklärte, war er jedoch entsetzt.

„Verdammt, Doc, ist Ihnen eigentlich klar, dass ich Ihnen dabei ein paar Finger abreißen könnte?“, protestierte er.

„Tun Sie’s einfach, ja?“, sagte Hugh.

Jock wollte weitere Einwände erheben, aber ein Blick in Hughs Gesicht zeigte ihm, dass es zwecklos war. „Es sind Ihre Finger, Doc.“ Mit der Rettungsschere streckte er sich an ihm vorbei.

„Sind Sie bereit, Jock?“ Als dieser nickte, holte Hugh tief Luft und brüllte: „Ziehen!“

Eine Minute lang strengten sich beide mit beinahe übermenschlichen Kräften an. Dann stieß Alex einen lauten Freudenschrei aus.

„Er ist draußen!“, rief sie mit leuchtenden Augen aus. „Sie haben es geschafft, Hugh!“

Halb unbewusst hörte er, dass sie ihn zum ersten Mal beim Vornamen genannt hatte und Jock ihm anerkennend auf die Schultern klopfte. Was Hugh jedoch vor allem wahrnahm, war das Rotorengeräusch eines Helikopters über ihnen, und er schickte ein Dankgebet zum Himmel.

Innerhalb weniger Minuten hatten die Sanitäter Ewan auf ein Rettungsbrett gebettet, ihm einen neuen Tropf gelegt, und der Hubschrauber startete wieder. Sergeant Tulloch veranlasste die Räumung der Straße, und schließlich fuhren auch Jock und seine Leute davon.

„Glauben Sie, dass Ewan durchkommt?“, fragte Alex, als Hugh sie zu ihrem Motorrad begleitete.

„Ich hoffe es.“ Er räusperte sich. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Dafür bin ich da.“ Sie sah ihn an. „Jedenfalls sollte ich es sein, wenn Sie mich lassen.“

„Nachdem ich mitgekriegt habe, was Sie gerade getan haben, können Sie darauf wetten“, antwortete er. „Das war tolle Arbeit.“

Mit gespielter Ungläubigkeit meinte sie: „Täuschen mich meine Ohren, oder haben Sie mir tatsächlich gerade ein Kompliment gemacht?“

„Alex.“

„Und Sie haben mich sogar beim Vornamen genannt!“, rief sie aus. „Noch eine Premiere.“

„Sind Sie immer so rebellisch, egal, wo Sie arbeiten?“

„Absolut.“ Sie nickte, und als er zögernd lächelte, fügte sie hinzu: „Ich bin eine gute Ärztin, Hugh, aber ich will nicht Jennys Platz einnehmen. Ich bin nur hier, weil Sie in der Praxis Hilfe brauchen. Und in zweieinhalb Monaten sind Sie mich sowieso los. Also, Waffenstillstand?“

Verlegen fuhr er sich mit den Fingern durch das schwarze Haar. „Dass ich vorhin gesagt habe, dass Sie springen sollen, wenn ich es von Ihnen verlange, das tut mir leid. Das war unhöflich.“

„Stimmt“, bestätigte Alex. „Aber es war auch unhöflich von mir, Sie einen eingebildeten, aufgeblasenen Blödmann zu nennen.“

„Eigentlich war es der Teil mit ‚knapp unter sechzig‘, der mich am meisten getroffen hat“, gestand er mit einem schiefen Lächeln.

„Tut mir leid“, sagte sie. „Was halten Sie von einem Deal? Sie vergessen, was ich gesagt habe, und ich vergesse, was Sie gesagt haben.“

„Sie sind wesentlich entgegenkommender, als ich es an Ihrer Stelle wäre“, meinte er.

Sie lächelte. „Ich bin kein schlechter Mensch, Hugh.“

„Und was bin ich?“

Nachdenklich schaute sie ihn an. „Ich weiß nicht. Aus Ihnen bin ich noch nicht so recht schlau geworden.“ Sie blickte auf die Uhr. „Ich muss los. Ich habe noch keinen einzigen Hausbesuch gemacht, und es ist gleich halb zwei.“

„Moment“, sagte er, als sie ihren Helm aufsetzen wollte. „Ihr Gesicht ist schmutzig.“

„Ich wasche es mir bei meinem ersten Patienten“, erwiderte sie wegwerfend.

„Nein, kommt nicht infrage“, widersprach er. „Sie werden nicht durch die Gegend fahren und aussehen, als ob Sie gerade einem Feuer entkommen sind. Ich habe ein Taschentuch und Wasser in meinem Auto. Kommen Sie.“

„Aber …“

„Dr. Lorimer, entweder Sie lassen sich von mir das Gesicht säubern, oder Sie können gleich wieder in die Praxis zurückfahren“, erklärte Hugh.

Sie streckte ihm die Zunge heraus. „Sie kommandieren gern, stimmt’s?“

„Alex.“

„Okay, okay“, gab sie resigniert nach. „Aber könnten Sie sich bitte beeilen? Sonst schicken Ihre Patienten noch einen Suchtrupp nach mir los.“

Er versuchte, sich zu beeilen. Aber es wäre wesentlich schneller gegangen, wenn sie nicht ständig dabei die Miene verzogen hätte.

„Halten Sie doch mal still!“, rief er entnervt, als sie zum wiederholten Male zurückzuckte.

„Hugh, das ist mein Gesicht und kein Ziegelstein“, protestierte sie. „Sie sind zu grob.“

„Weichei.“

„Gar nicht“, entgegnete sie störrisch.

Nein, das war sie wirklich nicht. Er umfasste ihr Kinn erneut und rieb ein wenig sanfter. Aber sie brauchte auf jeden Fall einen Aufpasser. Jemanden, der auf sie achtgab und dafür sorgte, dass sie nichts Unüberlegtes tat. Anscheinend blieb diese Aufgabe an ihm hängen. Malcolm hatte zu viel um die Ohren, und ihr Freund schien sonst wo zu sein. Wenn sie wüsste, was er gerade dachte, würde sie ihm vermutlich den Kopf abreißen. Aber sie war schließlich seine Vertretungsärztin, also hatte er auch die Verantwortung für sie.

„Sind Sie immer noch nicht fertig?“, fragte sie.

Kopfschüttelnd meinte er: „Sie haben einfach keine Geduld, oder?“

„Sie etwa?“, gab sie zurück, und er lachte leise.

Sie hat so feine Züge, dachte er, als er an einem besonders hartnäckigen Ölfleck auf ihrer Wange rieb. Einen so zarten Knochenbau. Jenny war nicht zerbrechlich gewesen, sondern eine Frau mit weiblichen Rundungen. Aber Alex war definitiv eine Wassernixe. Eine Nixe mit hellem Teint und riesengroßen grünen Augen.

Hugh, der auf sie herunterschaute, vergaß auf einmal das Taschentuch in seiner Hand. Er vergaß alles um sich herum, bis nur noch sie beide existierten. Er sah, wie ihr Blick von Ungeduld zu Verwirrung wechselte, ehe er für eine Sekunde etwas darin las, bei dem sich ihm das Herz zusammenzog.

Rasch wich Alex zurück. „Ich muss los“, murmelte sie. „Meine Hausbesuche.“

„Klar.“ Er nickte. „Es war nicht meine Absicht, dass es so lange dauert.“

„Meine Schuld“, sagte sie. „Ich habe nicht stillgehalten.“ Sie trat noch einen Schritt zurück. „Ich muss jetzt wirklich fahren.“

„Ich auch.“ Doch er rührte sich nicht. Als sie den Helm aufsetzte, fragte er unvermittelt: „Alex, all diese Vertretungen, die Sie übernehmen. Warum haben Sie keine der Partnerschaften akzeptiert, die Ihnen angeboten wurden?“

Achselzuckend meinte sie: „Hummeln im Hintern, nehme ich an.“ Damit schloss sie ihr Visier und ließ den Motor aufheulen.

„Fahren Sie vorsichtig“, rief Hugh.

Autor

Josie Metcalfe
Als älteste Tochter einer großen Familie war Josie nie einsam, doch da ihr Vater bei der Armee war und häufig versetzt wurde, hatte sie selten Gelegenheiten, Freundschaften zu schließen. So wurden Bücher ihre Freunde und Fluchtmöglichkeit vor ihren lebhaften Geschwistern zugleich. Nach dem Schulabschluss wurde sie zur Lehrerin ausgebildet, mit...
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Maggie Kingsley
Maggie Kingsley ist in Edinburgh, Schottland geboren. Als mittlere von 3 Mädchen wuchs sie mit einem schottischen Vater und einer englischen Mutter auf. Als sie 11 Jahre alt war, hatte sie bereits 5 unterschiedliche Grundschulen besucht. Nicht weil sie von ihnen verwiesen wurde, sondern der Job ihres Vaters sie durch...
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<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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