Lieber für immer als lebenslänglich

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Was kann demütigender sein, als vor dem Traualtar stehen gelassen zu werden?
Zum Beispiel, nur mit Push-up-BH und Bauch-weg-Unterhose bekleidet durchs Toilettenfenster einer Bar fliehen zu müssen und dabei von der Polizei überrascht zu werden. Faith würde vor Scham am liebsten im Boden versinken. Denn der Cop, der sie erwischt hat, ist ausgerechnet Levi Cooper. Der beste Freund ihres Ex, der dabei geholfen hat, ihre Hochzeit zu ruinieren. Allein dafür verdient Levi lebenslänglich, findet Faith. Da braucht er jetzt auch gar nicht den ritterlichen Freund und Helfer zu spielen. Allerdings sind seine grünen Augen geradezu kriminell sexy und seine Küsse verführerischer, als die Polizei erlaubt …


  • Erscheinungstag 10.12.2014
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493768
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kristan Higgins

Lieber für immer als lebenslänglich

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Elisabeth Hartmann

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Best Man

Copyright © 2013 by Kristan Higgins

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; iStock

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz; Marie Curtis

ISBN eBook 978-3-95649-376-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

An einem wunderschönen Tag im Juni wurde Faith Elizabeth Holland in einem einer Prinzessin würdigen Hochzeitskleid und mit einem Strauß perfekter rosafarbener Rosen in den Händen buchstäblich unter den Augen der halben Stadt vor dem Altar verlassen.

Damit hatten wir nun wirklich nicht gerechnet.

Da saßen wir alle in der Trinity-Lutheran-Kirche, lächelnd, festlich gekleidet, kein Platz war mehr frei, die Menschen standen in Dreierreihen hinter den voll besetzten Bänken. Die Brautjungfern trugen Rosa, und Faiths Nichte, gerade dreizehn Jahre alt, sah hinreißend aus. Der Trauzeuge hatte sich in seine Ausgehuniform geworfen, und Faiths Bruder fungierte als Platzanweiser. Es war wunderschön!

Die Hochzeit dieser beiden jungen Leute – Faith und Jeremy, seit Schulzeiten ein Paar – hätte einer der glücklichsten Tage werden sollen, die unsere Stadt seit Jahren gesehen hat. Immerhin waren die Hollands eine der hiesigen Gründerfamilien, Leute vom Typ Salz der Erde. Sie besaßen mehr Land als jeder andere im Weinbaugebiet der Finger Lakes, Hektar um Hektar Weinberge und Wald bis hinunter zum Keuka, dem Krummen See, wie wir ihn nennen. Die Lyons, nun ja, die stammten zwar aus Kalifornien, aber wir mochten sie trotzdem. Sie waren eher Geldleute. Nette Menschen. Ihr Land grenzte an das der Hollands, demnach waren die Kinder Nachbarn. Ist das nicht süß? Und Jeremy, ach, er war ein prima Kerl! Er hätte Profi in der NFL werden können. Nein, wirklich, er war gut. Doch stattdessen zog er zurück in unsere Stadt, nachdem er Arzt geworden war. Er wollte genau hier praktizieren, sich hier mit seiner lieben Faith niederlassen und eine Familie gründen.

Die beiden hatten sich so romantisch kennengelernt, gewissermaßen auf medizinischem Wege. Faith, damals Oberstufenschülerin, erlitt einen epileptischen Anfall. Jeremy, der gerade auf unsere Schule gewechselt war, drängte sich unter massivem Einsatz seiner Ellenbogen zu ihr vor, hob sie auf seine kräftigen Footballer-Arme, was man genau genommen ja in solchen Fällen eher nicht tun sollte, aber er meinte es nur gut. Und was für ein Bild das abgab, als Jeremy, groß und dunkelhaarig, Faith durch die Gänge trug. Er brachte sie ins Büro der Schulschwester, wo er an ihrer Seite blieb, bis ihr Dad kam und sie abholte. Es war, so erzählt man sich, Liebe auf den ersten Blick.

Sie gingen zusammen zum Abschlussball. Faiths dunkelrote Locken umspielten ihre Schultern, das mitternachtsblaue Kleid ließ ihre Haut sahnig weiß wirken. Und Jeremy sah so gut aus wie die einen Meter sechsundachtzig große Skulptur eines Football-Gottes. Mit seinem schwarzen Haar und den dunklen Augen hätte man ihn glatt für einen heißblütigen italienischen Adeligen halten können.

Er ging aufs Boston College und spielte dort Football, Faith studierte Landschaftsgestaltung am Virginia Tech, und allein schon die Entfernung, dazu ihr Alter … Nun ja, kein Mensch rechnete damit, dass sie zusammenbleiben würden. Angesichts des Vermögens seiner Familie, seiner athletischen Fähigkeiten und dieses guten Aussehens konnten wir alle uns Jeremy mit einem Model oder sogar einem Hollywood-Sternchen vorstellen. Faith war durchaus niedlich, das nette Mädchen von nebenan, aber man weiß ja, wie diese Dinge so laufen. Das Mädchen bleibt zurück, der Junge kommt voran. Wir hätten das total verstanden.

Aber nein, wir lagen total falsch. Seine Eltern beschwerten sich dauernd über die enormen Handyrechnungen und die zahllosen SMS, die Jeremy an Faith schickte. Fast schien es so, als wollten Ted und Elaine mit diesen Bemerkungen einfach nur prahlen: Seht ihr, wie treu ergeben Jeremy ist? Wie beständig? Wie sehr er seine Freundin liebt?

Wenn beide in den Ferien zu Hause waren, schlenderten sie Hand in Hand durch die Stadt, wobei sie nie aufhörten zu lächeln. Manchmal pflückte er eine Blume aus einem der üppigen Fensterkästen vor der Bäckerei und schob sie ihr hinters Ohr. Häufig wurden sie am Strand gesichtet, sein Kopf in ihren Schoß gebettet, oder draußen auf dem See im Chris-Craft-Boot seiner Eltern. Dann stand Jeremy hinter Faith, die das Boot steuerte, hielt sie in seinen muskulösen Armen, und sie gaben ein Bild ab wie ein Plakat für Touristenwerbung. Es sah aus, als wäre Faith auf eine Goldader gestoßen. Schön für sie, dass sie sich einen Mann wie Jeremy geangelt hatte. Wir alle hatten ein Faible für sie, für das arme kleine Mädchen, das Mel Stoakes aus diesem schrecklichen Autowrack befreit hatte. Laura Boothby prahlte gern damit, wie viel Geld Jeremy für Blumen für Faith ausgab, zum Jahrestag ihres ersten Treffens, zu ihrem Geburtstag, zum Valentinstag oder „einfach so“. Manche von uns fanden, es wäre ein bisschen viel, hier draußen in der Gegend der Mennoniten-Höfe und der nordstaatentypischen Zurückhaltung, doch die Familie Lyon stammte aus Napa Valley, na bitte.

Manchmal traf man Faith mit ein paar Freundinnen bei O’Rourke’s an, und die eine oder andere machte ihrem Herzen Luft über ihren gleichgültigen, unreifen Freund, der sie betrog oder belog, der per Handy oder Statusänderung auf Facebook Schluss machte. Und wenn Faith sich mitfühlend dazu äußerte, sagte die Betreffende: „Du hast ja keine Ahnung, wovon wir reden, Faith! Du hast Jeremy, und es klang fast wie ein Vorwurf. Die bloße Nennung seines Namens zauberte ein verträumtes Lächeln auf ihr Gesicht und Zärtlichkeit in ihren Blick.

Hin und wieder hörte man Faith sagen, sie habe sich immer einen Mann gewünscht, der so gut sei wie ihr Vater, und so einen Mann hatte sie anscheinend tatsächlich gefunden. Trotz seiner Jugend war Jeremy ein wunderbarer Arzt, und in den ersten paar Monaten nach seiner Praxiseröffnung zog sich anscheinend jede Frau irgendein Wehwehchen zu. Er nahm sich Zeit zum Zuhören, hielt stets ein Lächeln bereit, vergaß nie, was ein Patient beim letzten Besuch gesagt hatte.

Drei Monate nach der Beendigung seines praktischen Jahrs ließ Jeremy sich an einem herrlichen Septembertag, als die Hügel rot und golden erstrahlten und der See silbrig schimmerte, auf die Knie nieder und schenkte Faith einen Verlobungsring mit einem dreikarätigen Diamanten. Faiths zwei Schwestern sollten Brautjungfern sein, und diese hübsche Colleen O’Rourke war Trauzeugin. Als Jeremys Trauzeuge war der Cooper-Junge vorgesehen, sofern er auf Heimaturlaub aus Afghanistan kommen konnte, und es wäre doch wirklich schön, einen dekorierten Kriegshelden vor dem Altar neben seinem alten Football-Kumpel stehen zu sehen. Es wäre so romantisch, so schön … Wirklich, allein der Gedanke daran entlockte uns allen ein verträumtes Lächeln.

Man stelle sich unsere Überraschung vor, als die beiden jungen Leute dann dort vor dem Altar der Trinity-Lutheran-Kirche standen und Jeremy Lyon die Katze aus dem Sack ließ.

1. KAPITEL

Dreieinhalb Jahre später

Faith Holland senkte das Fernglas, griff nach ihrem Klemmbrett und setzte ein Häkchen auf ihrer Liste, gleich neben den Punkt Lebt allein. Clint hatte gesagt, dass er allein lebte, und laut Hintergrundsprüfung stand auch nur sein Name im Mietvertrag, aber man konnte schließlich nicht vorsichtig genug sein. Sie trank einen Schluck Red Bull und trommelte im Auto ihrer Mitbewohnerin mit den Fingern aufs Lenkrad.

Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre ihr eine solche Szene lächerlich vorgekommen. Doch angesichts ihrer Beziehungsvergangenheit empfahl sich ein bisschen Vorarbeit. Sie ersparte einem Zeit, Peinlichkeit, Ärger und Herzschmerz. Nur mal angenommen, der Mann war schwul, was sie nicht nur mit Jeremy, sondern auch mit Rafael Santos und Fred Beeker erlebt hatte. Zu Rafes Ehrenrettung musste man allerdings einräumen, dass er nicht gewusst hatte, dass Faith an eine Beziehung glaubte; er hatte gedacht, sie würden nur zusammen herumhängen.

Noch im selben Monat hatte Faith, fest entschlossen, nicht aufzugeben, reichlich unbeholfen Fred angebaggert, der ganz in der Nähe von ihrem und Lizas Apartment in derselben Straße wohnte. Er war jedoch entsetzt zurückgezuckt und hatte ihr dann schonend beigebracht, dass er ebenfalls auf Männer stand. (Nebenbei bemerkt, hatte sie ihn später mit Rafael verkuppelt, und seitdem waren die beiden ein Paar, sodass sich immerhin für eine der beteiligten Parteien ein Happy End ergab.)

Schwul zu sein war nicht das einzige Problem. Brandon, den sie auf einer Party kennengelernt hatte, schien zunächst vielversprechend, allerdings nur, bis während ihres zweiten Dates sein Handy klingelte. „Ich muss rangehen, das ist mein Dealer“, sagte er unbekümmert. Als Faith um nähere Erklärung bat – er konnte doch keinen Drogen-Dealer meinen, oder? –, erwiderte er, klar, was denn sonst? Er wirkte verblüfft, als Faith verärgert abdampfte.

Das Fernglas war ein altmodisches Mittel, ja. Doch wenn sie es damals bei Rafe benutzt hätte, wären ihr garantiert seine prachtvollen seidenen Fensterdekos und sein zwei Meter hohes gerahmtes Foto von Barbra Streisand aufgefallen. Und hätte sie Brandon ausgekundschaftet, dann hätte sie womöglich beobachten können, wie er sich zu unappetitlichen Leuten ins Autos setzte, deren Scheinwerfer kurz zuvor aufgeblitzt waren.

Seit ihrem Umzug nach San Francisco hatte sie versucht, sich mit zwei weiteren Männern zu treffen. Der eine hielt nicht viel vom Duschen – auch das hätte sie vielleicht durch eine Vorab-Überprüfung rechtzeitig mitgekriegt. Der andere Typ hatte sie versetzt.

Deshalb die Observierung.

Faith seufzte und rieb sich die Augen. Wenn es auch diesmal nicht klappte, sollte Clint für die nächste Zeit ihr letzter Vorstoß bleiben, denn die Sache schlauchte sie doch gehörig. Lange Nächte, überanstrengte Augen, Magenschmerzen durch zu viel Koffein … Es machte einen fertig.

Aber Clint war es vielleicht wert. Hetero, in Lohn und Brot, kein Vorstrafenregister, keine Alkoholfahrten. Die seltenste Spezies in San Francisco. Und wer weiß, vielleicht ergab sich aus dieser Aktion ja eine hübsche Anekdote für ihre Hochzeit. Sie konnte sich beinahe vorstellen, Clint sagen zu hören: „Woher sollte ich wissen, dass Faith in diesem Moment vor meinem Haus parkte, Red Bull in sich hineinschüttete und das Gesetz brach …“

Sie hatte Clint während eines Jobs kennengelernt – sie hatte den Auftrag erhalten, einen kleinen öffentlichen Park in Presidio zu gestalten, und er besaß einen Landschaftsbau-Betrieb. Sie hatten prima zusammengearbeitet; er war pünktlich, seine Leute erledigten ihre Aufgaben schnell und gründlich. Außerdem hatte Clint sich mit ihrem Golden Retriever angefreundet, und was konnte attraktiver sein als ein Kerl, der in die Knie geht, um sich von einem Hund das Gesicht abschlecken zu lassen? Blue schien ihn zu mögen (allerdings neigte Blue dazu, jeden zu mögen – er gehörte zu diesen überfreundlichen Hunden, die selbst einem Serienmörder das Bein rammeln würden).

Der Park war vor zwei Wochen eingeweiht worden, und gleich nach der Zeremonie hatte Clint sie eingeladen. Faith hatte Ja gesagt, war nach Hause gefahren und hatte sich an die Arbeit gemacht. Das gute alte Google gab keinen Hinweis auf eine Ehefrau (oder einen Ehemann). Seine Facebook-Seite war ausschließlich der Arbeit gewidmet. Zwar wurden ein paar gesellige Aktivitäten erwähnt („War bei Oma in der 19th Street; leckere Kartoffelpuffer!“), doch in den Posts des letzten halben Jahres trat keine Gattin in Erscheinung.

Für Date Nummer eins hatte Faith Vorkehrungen getroffen. Fred und Rafael sollten Clint abchecken, denn auf ihren eigenen Schwulenradar, sofern überhaupt einer vorhanden war, konnte sie sich eindeutig nicht verlassen. Clint und sie trafen sich an einem Dienstagabend auf ein paar Drinks, und die Jungs waren an der Bar aufgetaucht, hatten Clint dem Rempel-Test unterzogen und sich dann an einen Tisch gesetzt. Sauber, hatte Rafael getextet, und Fred bestätigte das Urteil mit Hetero.

Beim Date Nummer zwei (Mittagessen, Freitagnachmittag) zeigte Clint sich charmant und interessiert, als sie ihm von ihrer Familie erzählte, im Gegenzug berichtete Clint von einer Exverlobten; Faith behielt ihre eigene Geschichte für sich.

Beim Date Nummer drei (Abendessen, Mittwoch, gemäß dem philosophischen Grundsatz: „Lass ihn warten, um zu sehen, wie groß sein Interesse wirklich ist“) waren sie in einer süßen kleinen Bar in der Nähe des Piers verabredet, und Clint wurde all ihren Kriterien gerecht: Er rückte ihr den Stuhl zurecht und machte Komplimente, ohne dabei zu sehr ins Detail zu gehen (Hübsches Kleid, fand sie, ließ keine Alarmglocken schrillen, wohl aber: Ist das Badgley Mischka? Oh mein Gott! Ich liebe diese beiden!). Er streichelte ihren Handrücken und spähte immer wieder verstohlen in ihren Ausschnitt. Also war alles gut. Als Clint sie fragte, ob er sie nach Hause fahren dürfe, was natürlich der Code für Sex war, lehnte sie ab.

Er hatte die Augen zusammengekniffen, wie zum Zeichen, dass er die Herausforderung annahm. „Ich rufe dich an. Hast du dieses Wochenende Zeit?“

Noch ein Test bestanden: Steht an Wochenenden zur Verfügung. Faith verspürte ein leises Kribbeln im Bauch; seit sie achtzehn war, hatte sie keine Verabredung Nummer vier mehr erlebt. „Ich glaube, am Freitag habe ich noch nichts vor“, sagte sie leise.

Sie standen auf dem Gehsteig und warteten auf ein Taxi. Um sie herum drängten sich Touristen in die Souvenirläden, um Sweatshirts zu kaufen, nachdem sie sich zu dem Irrglauben hatten verleiten lassen, August in San Francisco bedeute Sommer. Clint beugte sich näher zu ihr und küsste sie, und Faith ließ es zu. Es war ein guter Kuss. Sehr gekonnt. Dieser Kuss hat Potenzial, dachte sie. Dann tauchte das Taxi aus der Düsternis des berühmten Nebels auf, und Clint winkte es heran.

Und nun saß sie hier, im vor seiner Wohnung geparkten Auto, in Vorbereitung des vierten Treffens – welches wahrscheinlich das Treffen sein würde, bei dem sie endlich mit jemand anderem als Jeremy schlief –, und hielt das Fernglas auf seine Fenster gerichtet. Sah ganz so aus, als würde er das Footballspiel gucken.

Es war an der Zeit, ihre Schwester anzurufen.

„Er besteht“, sagte Faith anstelle einer Begrüßung.

„Du hast ein Problem, Schätzchen“, erwiderte Pru. „Öffne endlich dein Herz und so weiter. Jeremy liegt eine Ewigkeit zurück.“

„Das hier hat nichts mit Jeremy zu tun“, beteuerte Faith und ignorierte das Schnauben, das als Antwort ertönte. „Allerdings macht mir sein Name ein bisschen zu schaffen. Clint Bundt. So abgehackt. Clint Eastwood, klar, das geht. Aber dieser Name für jemand anderen, ich weiß nicht. Clint und Faith. Faith und Clint. Faith Bundt.“ Es klang sehr viel weniger angenehm als zum Besipiel Faith und Jeremy oder Jeremy und Faith. Nicht, dass sie wegen der Vergangenheit einen Knacks hatte …

„Ich finde, das klingt okay“, versicherte Pru.

„Ja, du heißt ja auch Prudence Vanderbeek.“

„Und?“, fragte Pru in freundlichem Ton.

„Clint und Faith Bundt. Das ist … einfach daneben.“

„Okay, dann mach Schluss mit ihm. Oder zerr ihn vors Gericht und zwing ihn, seinen Namen zu ändern. Du, ich muss jetzt Schluss machen. Fürs Landvolk ist Bettzeit.“

„Okay. Gib den Kindern ein Küsschen von mir. Bestell Abby, ich schicke ihr diesen Link wegen der Schuhe, nach denen sie gefragt hat.“

„Mach’s gut, Kleine“, rief Pru. „Hey, kommst du zur Ernte nach Hause?“

„Ich glaube schon. Ich habe in der nächsten Zeit keine Ortstermine.“ Den größten Teil ihrer Arbeit als Landschaftsgestalterin erledigte Faith am Computer. Ihre Anwesenheit war nur in der Schlussphase eines Auftrags erforderlich. Außerdem war die Weinernte auf Blue Heron durchaus einen Besuch zu Hause wert.

„Prima!“, sagte Pru. „Hör mal, lass es langsam angehen mit dem Kerl, hab Spaß, lass uns bald wieder reden, hab dich lieb.“

„Hab dich auch lieb.“

Faith trank noch einen Schluck Red Bull. Pru hatte wohl nicht ganz Unrecht. Immerhin war ihre älteste Schwester seit dreiundzwanzig Jahren verheiratet. Und wer sonst hätte ihr Ratschläge in Liebesdingen geben können? Ihre andere Schwester, Honor, fand, dass man ihr die Zeit stahl, wenn man nicht gerade aus dem Krankenhaus anrief. Jack war als Bruder für solche Fragen ungeeignet. Und Dad … tja, Dad trauerte immer noch um Mom, die seit neunzehn Jahren tot war.

Die Welle von Schuldgefühlen war nur zu vertraut.

„Wir schaffen das“, sagte Faith zu sich selbst und wechselte im Geiste das Thema. „Wir können uns wieder verlieben.“

Das war eindeutig eine bessere Aussicht als die, dass Jeremy Lyon ihre erste und einzige Liebe blieb.

Sie sah ihr Gesicht flüchtig im Rückspiegel und erkannte diesen Hauch von Bestürzung und Kummer, der sie beim Gedanken an Jeremy immer befiel.

„Zum Teufel mit dir, Levi“, flüsterte sie. „Hättest du nicht einfach den Mund halten können?“

Zwei Abende später fing Faith allmählich an zu glauben, Clint könnte tatsächlich die zehn Minuten Beinrasur wert sein und sogar die sechs Minuten, die sie gebraucht hatte, um sich in das Mikrofaser-Bauchweg-Teil zu zwängen, das sie vorigen Monat bei QVC erstanden hatte. (Die Hoffnung stirbt zuletzt.)

Clint hatte ein exklusives Thai-Restaurant gewählt, mit einem Koi-Teich am Eingang und rotseidenen Wandbehängen, die den Raum in schmeichelhaftem Licht erglühen ließen. Sie saßen in einer U-förmigen Nische, schön kuschelig. Es war so romantisch. Zudem war das Essen wirklich gut, ganz zu schweigen von dem herrlichen Russian River Chardonnay.

Clints Blick versank immer wieder in ihrem Ausschnitt. „Tut mir leid“, sagte er, „aber du siehst einfach zum Anbeißen aus.“ Er grinste wie ein ungezogener Junge, und Faith spürte ein mächtiges Kribbeln in gewissen frauenspezifischen Körperregionen. „Schon als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, war mir, als hätte mir jemand eins mit einem Kantholz übergebraten“, fuhr er fort.

„Tatsache? Wie süß von dir!“ Faith nippte an ihrem Wein. Soweit sie sich erinnerte, trug sie damals schmutzige Jeans und Arbeitsstiefel und war durchnässt bis auf die Haut. Sie hatte im strömenden Regen ein paar Stauden umgepflanzt und versucht, den Stadtrat zu beruhigen, der sich um den Wasserabfluss aus dem Park sorgte (selbstverständlich völlig grundlos; sie war schließlich zertifizierte Landschaftsarchitektin, herzlichen Dank auch).

„Es hatte mir förmlich die Sprache verschlagen“, sagte Clint jetzt. „Vermutlich habe ich mich total bescheuert angestellt.“ Sein verlegener Blick deutete an, dass er ein ziemlich verliebter Verehrer war.

Und man stelle sich vor, sie hatte nicht mal bemerkt, wie … tja … geblendet er von ihr war! Genau so musste es aber sein, nicht wahr? Die Liebe kommt, wenn man am wenigsten damit rechnet, mal abgesehen von den Millionen Menschen, die ihre Partner bei Match.com finden, aber, hey. Es hörte sich gut an.

Der Ober kam, räumte ihre Teller ab und servierte Kaffee, Sahne und Zucker. „Möchten Sie noch ein Dessert?“ Er lächelte sie an. Kein Wunder, sie waren wirklich ein hinreißendes Paar.

„Wie wär’s mit der Mango Crème brulée?“, fragte Clint. „Ich weiß zwar nicht, wie ich es überleben soll, dir beim Essen zuzusehen, aber man kann wohl kaum schöner sterben.“

Hallo! 6.8 auf der Richter-Skala. „Crème brulée klingt gut“, sagte Faith, und der Ober eilte von dannen.

Clint rutschte ein bisschen näher heran und legte einen Arm um ihre Schultern. „Du siehst umwerfend aus in diesem Kleid“, flüsterte er und fuhr mit einem Finger an ihrem Halsausschnitt entlang. „Wie stehen die Chancen, dass ich es dir später ausziehen darf?“ Er küsste sie seitlich auf den Hals.

Oh, sie schmolz förmlich dahin! Und noch ein Kuss. „Die Chancen steigen“, hauchte sie.

„Ich mag dich wirklich, Faith“, raunte er und beschmuste ihr Ohr. Zumindest halbseitig stand sie schon völlig unter Strom.

„Ich mag dich auch.“ Sie schaute in seine schönen braunen Augen. Sein Finger glitt tiefer, und sie spürte, wie ihre Haut sich erhitzte und dabei zweifellos fleckig wurde, der Fluch der Rothaarigen. Ach, zum Teufel damit. Sie drehte ihm ihr Gesicht zu und küsste ihn auf den Mund, es war ein sanfter, süßer, sehr ausführlicher Kuss.

„Entschuldigt die Unterbrechung, ihr Turteltäubchen“, sagte der Ober. „Und lasst euch nicht stören.“ Er lächelte anzüglich und stellte das Dessert auf den Tisch.

„Das Kind hier!“

Der Schrei ließ alle drei zusammenfahren. Clints Ellenbogen stieß Faiths Glas um, und der Wein ergoss sich über das Tischtuch.

„Ach du Scheiße“, sagte Clint und rückte von ihr ab.

„Macht nichts“, beschwichtigte Faith. „Mir passiert so was auch ständig.“

Doch Clints Blick war nicht auf den Wein gerichtet.

Eine Frau hatte sich direkt vor ihrer Nische aufgebaut, an ihren anklagend ausgestreckten Armen baumelte ein hübscher kleiner Junge. „Dieses Kind hier vernachlässigt er deinetwegen, du Nutte!“

Faith schaute sich suchend nach der Nutte um, sah aber nur die Wand. Sie sah wieder die Frau an, die ungefähr in ihrem Alter war und sehr hübsch – blondes Haar und zornrote Wangen. „Meinen Sie … Reden Sie mit mir?“, erkundigte sie sich.

„Ja, ich rede mit dir, du Nutte! Schau dir gut an, was ihm daheim entgeht, wenn er mit dir vornehm essen geht. Das ist unser Sohn! Unser Baby!“ Sie schüttelte den Kleinen demonstrativ.

„Hey, nicht schütteln“, rief Faith.

„Sprich mich bloß nicht an, du Nutte!“

„Mommy, runter!“, quengelte der Kleine. Die Frau setzte ihn ab und stemmte die Hände in die (schmalen) Hüften. Der Ober fing Faiths Blick auf und zog eine Grimasse. Wahrscheinlich war er schwul und somit ihr Verbündeter.

„Aber ich habe …“, protestierte sie und sah dann zu ihrem Begleiter. „Clint, du bist doch nicht etwa verheiratet, oder?“

Clint hob beide Hände, als wollte er sich ergeben. „Baby, sei nicht böse“, sagte er zu der Frau. „Sie ist nur eine Kollegin …“

„Oh mein Gott, du bist tatsächlich verheiratet!“, platzte Faith heraus. „Woher kommst du? Aus Nebraska?“

„Und ob, du Nutte!“

„Clint!“, jaulte Faith auf. „Du verdammter Mist…“ Sie unterbrach sich, weil ihr das Kind wieder einfiel, das sie ernst anblickte, dann den Finger in die Crème brulée steckte und ihn anschließend abschleckte.

„Es tut mir schrecklich leid“, sagte Faith zu Mrs Clint Bundt (nun ja, zumindest würde sie nun nie diesen Namen mit sich rumschleppen müssen). Der Kleine spuckte den Nachtisch aus und griff nach den Zuckerwürfeln. „Aber ich hatte keine Ahnung …“

„Ach, halt die Klappe, Nutte. Wie kannst du es wagen, meinen Mann zu verführen! Wie kannst du es wagen!“

„Ich verfüh… Ich tue niemandem etwas, okay?“, gab Faith zurück. Sie war total entsetzt darüber, dass diese hässliche Auseinandersetzung vor einem Kleinkind stattfand (das aussah wie ein Hobbit-Baby; es war so verflixt niedlich, wie es den Zucker aus der Verpackung leckte).

„Du bist eine Schlampe, Nutte.“

„Genau genommen“, stieß sie mit gepresster Stimme hervor, „war Ihr Mann derjenige, der …“ Aber da war immer noch der Kleine. „Ach, fragen Sie doch einfach den Kellner.“ Ja, ja, lass dir deine Version von dem netten Ober bestätigen.

„Hm … wer zahlt denn die Rechnung?“, fragte der. So viel zu der Liebe, die sie angeblich in Schwulen weckte.

„Es war ein Geschäftsessen“, mischte Clint sich ein. „Sie hat mich angemacht, ich habe nicht damit gerechnet und wusste nicht, was ich tun sollte. Komm, Schatz, wir fahren nach Hause.“

„Und mit ‚nach Hause‘ meinst du vermutlich nicht deine Junggesellenbude in Noe Valley, stimmt’s?“, ätzte Faith.

Clint ignorierte sie. „Hi, Finn, wie geht’s denn so, Kumpel?“ Er zerstrubbelte seinem Kind das Haar, stand dann auf und bedachte Faith mit einem bekümmerten, würdevollen Blick. „Es tut mir leid, Faith“, sagte er ernst. „Ich bin ein glücklich verheirateter Mann mit einer tollen Familie. Ich fürchte, wir müssen unsere Zusammenarbeit beenden.“

„Kein Problem“, erwiderte sie steif.

„Geschieht dir recht, Nutte“, zischte Clints Frau. „Dafür, dass du versucht hast, meine Familie zu zerstören.“

„Hallo, Nutte“, johlte der kleine Junge und riss das nächste Zuckerpäckchen auf.

„Hallo“, sagte sie. Er war wirklich süß.

„Sprich nicht mit meinem Kind!“, schnauzte Mrs Bundt. „Dein Schandmaul hat nichts in der Nähe meines Sohns zu suchen.“

„Heuchlerin“, murmelte Faith.

Clint nahm den Jungen auf den Arm, aber nicht, bevor der Kleine noch ein paar Zuckerpäckchen gemopst hatte.

„Wenn du meinem Mann noch einmal zu nahe kommst, Nutte, wirst du es bereuen“, fauchte Mrs Bundt.

„Ich bin keine Nutte!“, fuhr Faith sie an.

„Und ob du eine bist!“ Clints Frau zeigte ihr den Mittelfinger. Dann kehrten die Bundts ihr den Rücken zu und marschierten davon.

„Bin ich nicht!“, rief Faith ihnen nach. „Ich habe seit drei Jahren mit niemandem geschlafen, okay? Ich bin keine Nutte!“ Der kleine Junge winkte ihr fröhlich über die Schulter seines Vaters hinweg zu, und Faith winkte verhalten zurück.

Dann waren die Bundts weg. Faith griff nach ihrem Wasserglas, trank es aus und hielt es an ihre glühende Wange. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass ihr übel wurde.

„Seit drei Jahren?“, hakte einer der Gäste nach.

Der Ober reichte ihr die Rechnung. „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, sagte er. Na toll. Zu allem Überfluss musste sie jetzt auch noch das Essen bezahlen.

„Ihr Trinkgeld wäre bedeutend höher ausgefallen, wenn Sie mir den Rücken gestärkt hätten“, knurrte sie und kramte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie.

„Sie sehen wirklich klasse aus in diesem Kleid.“

„Zu spät.“

Nachdem sie bezahlt hatte (wirklich, Clint, noch mal herzlichen Dank, dass du eine Flasche Wein für fünfundsiebzig Dollar bestellt hast), trat sie in die feuchte, kalte San-Francisco-Luft hinaus und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Sie trug High Heels, aber es war nicht allzu weit bis zu ihrer Wohnung. Außerdem waren die Straßen von San Francisco ein Klacks im Vergleich zu den steilen Hügeln ihrer Heimat. Sie konnte den unfreiwilligen Spaziergang unter Training verbuchen. Workout für vergrätzte Frauen. Der Marsch der Rechtschaffenen, Verschmähten. Hier unten am Wasser herrschte Lärm, die Möwen kreischten, Musik plärrte aus jeder Bar und jedem Restaurant, ein Dutzend verschiedene Sprachen flog ihr um die Ohren.

Daheim im Norden würde man jetzt nur das Zirpen der spätsommerlichen Grillen hören und die Rufe der Eulenfamilie, die in einem alten Ahornbaum am Rand des Friedhofs lebte. Der süße Duft der Trauben würde schon in der Luft hängen, vermischt mit Holzrauch, denn in den Nächten wurde es bereits kälter. Aus dem Fenster ihres alten Schlafzimmers würde sie bis zum Keuka blicken können. Ihre gesamte Kindheit hindurch hatte sie in Wäldern und auf Wiesen gespielt, saubere Luft geatmet und war in Gletscherseen geschwommen. Ihre Liebe zur Natur war der Hauptgrund für ihre Berufswahl gewesen.

Vielleicht war es an der Zeit, ernsthaft über eine Rückkehr nachzudenken. Das hatte sie ohnehin von Anfang an vorgehabt. Sie wollte in Manningsport leben, eine Familie gründen, ihre Geschwister und ihren Vater um sich haben.

Clint Bundt. Verheiratet, ein Kind. So ein Arsch. Tja. Aber gleich wäre sie zu Hause bei ihrem Hund. Liza war vermutlich mit ihrem Kerl unterwegs, mit Michael, dem Wunderbaren. Faith konnte sich also in Ruhe mit Real Housewives und einer Packung Ben & Jerry’s trösten.

Warum war es bloß so schwer, den richtigen Kerl zu finden? Faith fand nicht, dass sie übertrieben wählerisch war; sie wollte einfach jemanden, der weder schwul noch verheiratet, unfreundlich, unmoralisch oder zu klein war. Jemanden, der sie ansah … nun, so wie Jeremy sie angesehen hatte, aus dunklen, schimmernden Augen, in deren Tiefen ein Lächeln leuchtete, das ihr sagte, sie sei das Beste, was ihm je passiert war. Nicht ein einziges Mal hatte sie daran gezweifelt, dass er sie von ganzem Herzen liebte.

Ihr Handy klingelte, und sie kramte es aus ihrer Handtasche. Honor. „Hey.“ In ihr stieg die leise Angst auf, die sie immer überkam, wenn ihre Schwester anrief. „Wie geht’s dir?“

„Hast du in letzter Zeit mal mit Dad gesprochen?“, fragte Honor.

„Hm … ja. Wir reden beinahe täglich miteinander.“

„Dann hast du vermutlich auch von Lorena gehört.“

Faith wich einem süßen Typ aus, der ein Derek-Jeter-T-Shirt trug. „Ich bin auch Yankees-Fan“, ließ sie ihn lächelnd wissen. Er runzelte die Stirn und griff hastig nach der Hand der reizbar aussehenden Frau an seiner Seite. Schon kapiert, Junge! Meine Güte, war nur nett gemeint. „Wer ist Lorena?“, fragte sie ihre Schwester.

Honor seufzte. „Faith, vielleicht solltest du nach Hause kommen, bevor Dad heiratet.“

2. KAPITEL

Levi Cooper, Chef der mit zweieinhalb Personen besetzten Polizeibehörde von Manningsport, gab sich alle Mühe, Nachsicht walten zu lassen. Wirklich. Selbst gegenüber Touristen mit Bleifuß-Syndrom, denen Geschwindigkeitsbegrenzungen total egal waren. Er stellte seinen Streifenwagen gut sichtbar auf, mit unübersehbarer Radarpistole. Hallo, willkommen in Manningsport, Sie fahren entschieden zu schnell, und hier stehe ich, im Begriff, Sie anzuhalten, also Fuß vom Gas, Freundchen. Die Stadt war auf Besucher angewiesen, und der September, wenn die Blätter anfingen sich zu verfärben, war Hauptsaison für Touristen. Die ganze Woche hindurch waren Busse angekommen und abgefahren, und jedes Weingut in der Gegend hatte ein besonderes Event zu bieten.

Aber Gesetz ist Gesetz.

Außerdem hatte er gerade Colleen O’Rourke mit einer strengen Verwarnung vom Haken gelassen, während sie sich um eine zerknirschte Miene bemühte.

Aber jetzt war Schluss. Einen weiteren Raser würde er heute nicht mehr davonkommen lassen. Da kam doch gerade wieder einer. Siebzehn Meilen zu schnell, das war mehr als genug. Zudem noch ein Stadtfremder; er erkannte am Kennzeichen, dass es ein Mietwagen war. Der quietschgelbe Honda Civic bretterte mit zweiundvierzig Meilen in eine Fünfundzwanzig-Meilen-Zone. Und wenn nun Carol Robinson gerade mit ihrem fröhlichen Trupp geriatrischer Power Walker unterwegs war? Oder der kleine Nebbins auf seinem Rädchen auf die Straße fuhr? Seit Levi Polizeichef war, hatte es in Manningsport keinen tödlichen Unfall gegeben, und so sollte es bleiben.

Das gelbe Auto sauste an ihm vorbei, ohne auch nur andeutungsweise zu bremsen. Der Fahrer trug eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille. Eine Frau. Seufzend schaltete Levi das Rotlicht ein, ließ kurz die Sirene ertönen und lenkte den Streifenwagen auf die Straße. Die Fahrerin nahm keine Notiz von ihm. Noch einmal schaltete er die Sirene ein, und jetzt schien die Frau zu begreifen, dass tatsächlich sie gemeint war, und fuhr rechts ran. Levi schnappte sich den Strafzettelblock und stieg aus. Nachdem er das Kennzeichen notiert hatte, ging er zur Fahrerseite. Die Frau öffnete das Fenster. „Willkommen in Manningsport“, sagte er ohne ein Lächeln.

Scheiße.

Es war Faith Holland. Ein riesiger Golden Retriever schob den Kopf aus dem Fenster, bellte einmal und wedelte glücklich mit dem Schwanz.

„Levi“, sagte Faith, als hätten sie sich erst letzte Woche bei O’Rourke getroffen.

„Holland. Kommst du zu Besuch?“

„Wow. Wie hast du das bloß erraten?“

Er starrte sie ungerührt und gänzlich unamüsiert an und wartete ein paar Wimpernschläge. Es funktionierte; ihre Wangen röteten sich, und sie wandte den Blick ab. „Also. Zweiundvierzig in einer Fünfundzwanzig-Meilen-Zone“, ließ er sie wissen.

„Ich dachte, hier dürfte man fünfunddreißig fahren“, verteidigte sie sich.

„Das hat sich letztes Jahr geändert.“

Der Hund winselte, und Levi streichelte ihn, woraufhin das Tier versuchte, über Faiths Kopf hinweg ins Freie zu klettern.

„Blue, zurück“, befahl Faith.

Blue. Tatsächlich noch derselbe Hund wie damals.

„Levi, wie wär’s mit einer Verwarnung? Ich muss zu einem, äh, Notfall in der Familie, da wäre es super, wenn du davon absehen könntest, den gnadenlosen Bullen zu mimen.“ Sie lächelte angestrengt, sah ihm beinahe in die Augen und strich sich das Haar hinter ein Ohr.

„Was ist das denn für ein Notfall?“, erkundigte er sich.

„Mein Großvater … äh … Er fühlt sich nicht so gut. Goggy macht sich Sorgen.“

„Wie kannst du bei so was bloß lügen?“, ereiferte er sich. Levi kannte die alten Hollands gut, da sie ungefähr zehn Prozent seiner Arbeitszeit für sich in Anspruch nahmen. Und wenn Mr Holland tatsächlich nicht auf dem Damm wäre, würde Mrs Holland jetzt mit Sicherheit seinen Beerdigungsanzug bereitlegen und eine Kreuzfahrt planen.

Faith seufzte. „Hör mal, Levi. Ich habe den Nachtflug von San Francisco genommen. Kannst du nicht Nachsicht üben? Tut mir leid, dass ich zu schnell gefahren bin.“ Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. „Eine Verwarnung reicht doch. Darf ich jetzt weiterfahren?“

„Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.“

„Oh, verstehe, du sitzt immer noch auf deinem hohen Ross.“

„Führerschein und Fahrzeugpapiere, und steig bitte aus.“

Sie knurrte etwas Unverständliches und kramte im Handschuhfach. Dabei rutschte das Hemd aus ihrer Jeans und legte einen Streifen zarter Haut frei. Die Fitness-Welle war offenbar an ihr vorbeigerollt; andererseits war Faith immer ein bisschen mollig, ähm, füllig, nein, proper gewesen, und das schon, so lange er denken konnte. Blue nutzte die Gelegenheit und steckte wieder den Kopf aus dem Fenster. Levi kraulte ihn hinterm Ohr.

Faith knallte das Handschuhfach zu, drückte Levi ein paar Dokumente in die Hand und stieg so schwungvoll aus, dass sie Levi beinahe eins mit der Tür verpasst hätte. „Du bleibst drin, Blue.“ Sie sah Levi nicht an.

Er warf einen Blick auf ihren Führerschein, dann auf sie.

„Ja, das ist ein schlechtes Foto“, fuhr sie ihn an. „Willst du vielleicht ’ne Gewebeprobe?“

„Das wird wohl nicht nötig sein. Aber dein Führerschein ist abgelaufen. Auch dafür ist ein Bußgeld fällig.“

Faith kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme unter der Brust. Sie hatte immer noch diesen unglaublichen Vorbau.

„Wie war’s in Afghanistan?“ Sie schaute über seine Schulter hinweg.

„Richtig toll. Ich spiele mit dem Gedanken, mir dort ein Ferienhaus zu kaufen.“

„Weißt du, was ich gern wüsste, Levi? Warum sind manche Menschen immer solche Arschlöcher? Fragst du dich das auch manchmal?“

„Ja. Ist dir bewusst, dass die Beleidigung eines Polizisten eine Straftat ist?“

„Echt? Faszinierend. Kannst du bitte endlich in die Gänge kommen? Ich will meine Familie sehen.“

Er unterschrieb das Strafmandat und reichte es ihr. Sie zerknüllte den Zettel und warf ihn ins Auto. „Darf ich jetzt weiterfahren, Officer?“

„Ich bin inzwischen Polizeichef. Die korrekte Anrede ist also Chief.“

„Unternimm mal was gegen dieses verdammt hohe Ross.“ Sie stieg wieder ein und fuhr los. Nicht zu schnell, aber auch nicht gerade langsam.

Levi blickte ihr nach und atmete tief durch. Sie fuhr hinauf zum Weingut Blue Heron, das ihrer Familie schon gehört hatte, als die Vereinigten Staaten von Amerika noch kaum geboren waren, zu dem großen weißen Haus auf dem Hügel, wie man diese Wohngegend hier allgemein nannte.

Er kannte Faith Holland schon so lange, wie er sich selbst kannte. Sie war eins dieser Mädchen gewesen, die ihrer Freundin sechsmal an einem Schultag um den Hals fallen, als hätten sie sich nicht erst vor zwei Stunden, sondern vor Wochen das letzte Mal gesehen. Sie erinnerte ihn an ein Hündchen im Tierheim, das potenzielle Besitzer für sich einnehmen will … Hab mich lieb! Hab mich lieb! Ich bin wirklich brav! Jessica, Levis frühere Nachbarin in der Wohnwagensiedlung und zu High-School-Zeiten immer mal wieder seine Freundin, hatte sie nur Prinzessin Supersüß genannt, weil sie immer in Rüschenkleidchen und Pastelltönen herumlief. Und als Faith dann anfing, mit Jeremy zu gehen … Das war, als würde man ein Schüsselchen sirupgetränkte Schokopops essen, so süß, dass man Zahnschmerzen bekam. Fehlte nur noch, dass ein paar schnäbelnde Rotkehlchen um ihren Kopf herumflatterten.

Komisch, ihr war nie aufgefallen, dass ihr Freund schwul war.

Levi wusste, dass sie im Lauf der Jahre öfter wieder in der Stadt gewesen war – zu Weihnachten und Thanksgiving, hier und da mal auf ein Wochenende, doch ihre Besuche waren kurz und schmerzlos. Sie schaute nie in der Polizeiwache vorbei, obwohl Levi mit ihrer Familie befreundet war. Manchmal luden ihre Großeltern ihn zum Abendessen ein, nachdem sie seine Dienste angefordert hatten, und hin und wieder trank er bei O’Rourke ein Bier mit ihrem Vater oder Bruder. Doch Faith kam nie auf die Idee, mal bei ihm vorbeizukommen und Hallo zu sagen.

Und doch war sie einmal, als sie sich bis zur Erschöpfung ausgeweint hatte, mit dem Kopf auf seinem Schoß eingeschlafen.

Levi ging zurück zum Streifenwagen. Es gab noch viel zu tun. Es brachte nichts, sich mit Erinnerungen an die Vergangenheit aufzuhalten.

Faith klopfte an die Hintertür ihres Elternhauses und wappnete sich innerlich für die stürmische Begrüßung.

„Faith! Ach Schätzchen, endlich!“, rief Goggy, die die Stampede anführte. „Du kommst spät! Hab ich dir nicht gesagt, dass wir pünktlich zu Mittag essen wollen?“

„Ich bin kurz aufgehalten worden“, erwiderte Faith. Die Arschgeige Levi Cooper wollte sie nicht erwähnen.

Abby, inzwischen sechzehn und superhübsch, klebte regelrecht an Faith und überschüttete sie mit überschwänglichen Komplimenten. „Ich finde deine Ohrringe toll, du riechst so gut, kann ich bei dir wohnen?“

Pops gab ihr je einen Kuss auf beide Wangen und sagte, sie wäre sein hübschestes Mädchen, und Faith atmete den tröstenden Duft nach Trauben und Bengay-Salbe ein. Ned umarmte sie trotz seiner einundzwanzig Jahre begeistert und duldete sogar, dass sie ihm das Haar zauste, und Pru schloss sie ebenfalls fest in die Arme.

Aber noch immer war es das Fehlen ihrer Mutter, das sich am stärksten bemerkbar machte.

Und schließlich war da noch Dad, der darauf wartete, dass er mit einer Solo-Umarmung drankam. Als er sich wieder von ihr löste, waren seine Augen feucht. „Hallo, Liebling“, sagte er, und es schnitt Faith ins Herz.

„Du hast mir gefehlt, Daddy.“

„Du siehst großartig aus, Schatz.“ Er strich ihr mit der Hand übers Haar und lächelte.

„Ist Mrs Johnson nicht hier?“, fragte Faith.

„Sie hat heute ihren freien Tag“, erklärte Dad.

„Ach, stimmt ja. Aber ich habe sie seit Juni nicht gesehen.“

„Sie mag Grandpas Freundin nicht“, raunte Abby ihr zu, während sie Blue kraulte.

„Hallo, Schwesterchen.“ Jack reichte ihr ein Glas Wein. „Hallo, Lieblingsbruder.“ Sie nahm einen herzhaften Schluck. „Trink das nicht wie Wasser, Liebling“, schimpfte ihr Vater.

„Wir haben schließlich unsere Winzerehre.“

„Entschuldige, Dad. Ein angenehmes Aroma von frisch gemähtem Gras, satte, buttrige Struktur, und ich ahne einen Beigeschmack von Aprikose mit einem Hauch Zitrone. Herrlich.“

„Braves Mädchen“, sagte er. „Schmeckst du auch Vanille? Honor sprach von Vanille.“

„Eindeutig.“ Es lag Faith fern, Honor zu widersprechen, die auf Blue Heron alles managte. „Wo steckt Honor eigentlich?“

„Telefoniert“, sagte Goggy düster. Sie neigte dazu, jeder Erfindung nach 1957 zu misstrauen. „Komm ins Esszimmer, bevor alles kalt wird.“

„Meine Frage, ob ich zu dir ziehen kann, war durchaus ernst gemeint“, murmelte Abby. Prudence seufzte und trank einen Schluck von ihrem Wein. „Außerdem“, fuhr ihre Tochter fort, „hätte ich dann meinen Wohnsitz in Kalifornien und könnte dort zum halben Preis irgendeine tolle Schule besuchen. Siehst du, Mom? Ich will dir und Dad nur Kosten sparen.“

„Und da wir gerade von meinem Lieblingsschwager sprechen: Wo ist Carl?“, erkundigte sich Faith.

„Er versteckt sich“, antwortete Pru.

„Sieh an, sieh an! Du bist sicher Faith!“, dröhnte eine Frauenstimme. Die Tür zum Gästeklo öffnete sich, und im Hintergrund hörte man das Rauschen der Wasserspülung.

Faith öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. „Oh. J…ja, ich bin Faith“, stammelte sie dann. „Und Sie sind wohl Lorena?“

Die Frau, vor der Honor sie gewarnt hatte, war wirklich ein Bild für die Götter. Stumpfes schwarzes Haar, offensichtlich gefärbt, dazu so dick aufgetragenes Make-up, dass es wie Putz abzublättern drohte, und eine plumpe Figur, die sich unter einem hautengen Shirt mit Leopardenmuster in allen grausigen Einzelheiten abzeichnete.

Die Frau schob sich einen Edding-Stift ins Dekolleté, wo er zitternd wie eine Spritze stecken blieb. „Hab nur schnell meinen Haaransatz nachgefärbt!“, verkündete sie. „Wollte doch einen guten Eindruck auf die kleine Prinzessin machen! Hallooo, du! Komm, gib Küsschen!“

Lorena umschlang sie wie ein Python, und aus Faiths Lungen entwich zischend alle Luft. „Schön, dich kennenzulernen“, keuchte sie. Pru warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

„Können wir bitte vor meinem Tod noch was essen!“, bat Pops. „Die Alte hier hat mir meinen Käse nicht gegönnt. Ich sterbe vor Hunger.“

„Dann stirb doch“, konterte Goggy. „Niemand hindert dich daran. Mir würde es kaum auffallen.“

„Nun, Phyllis Nebbins würde es auffallen. Sie hat vor zwei Monaten ein künstliches Hüftgelenk bekommen, Faithie, und sieht aus, als wäre sie wieder fünfundsiebzig, wenn sie mit ihrem Enkel draußen ist, immer ein Lächeln auf den Lippen. Schön, zur Abwechslung mal eine glückliche Frau zu sehen.“

Goggy stellte mit Nachdruck eine mächtige Schüssel mit Salzkartoffen auf den Tisch. „Glücklich bin ich, wenn du tot bist.“

„Wie reizend, Goggy“, gab Ned zurück.

„Ihr zwei seid wirklich zum Brüllen!“, posaunte Lorena. „Herrlich!“

Faith setzte sich und genoss das Aroma von Goggys Schinken, Salzkartoffeln und ihrem Zuhause.

Auf dem Weingut Blue Heron gab es zwei Häuser: das Alte Haus, in dem Goggy und Pops lebten, war 1781 im Kolonialstil errichtet und seitdem zweimal modernisiert worden – einmal, um eine Innentoilette einzubauen, und dann noch einmal im Jahr 1932.

Faith und ihre Geschwister waren hier im Neuen Haus aufgewachsen, einem eleganten, wenn auch knarzenden Gebäude im Föderationsstil aus dem Jahr 1873. Hier lebte Dad mit Honor und Mrs Johnson, der Hauswirtschafterin, die seit Moms Tod bei ihnen war.

Apropos Honor … Ihre Schwester eilte ins Zimmer „Entschuldigt bitte“, sagte sie, hielt inne und gab Faith einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Endlich bist du da.“

„Hallo, Honor.“ Sie überging die leise Zurechtweisung.

Pru und Jack waren sechzehn beziehungsweise acht Jahre älter als Faith und fanden ihre kleine Schwester im Prinzip hinreißend, wenn auch ein bisschen vertrottelt (was Faith nie gestört hatte, da es sie in früheren Zeiten von zahlreichen lästigen Pflichten entbunden hatte). Honor allerdings … Sie war nur vier Jahre älter; Faith war ein überraschender Nachzügler gewesen. Vielleicht hatte Honor ihr nie verziehen, dass sie ihr den Titel des Nesthäkchens abspenstig gemacht hatte.

Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie nicht darüber hinwegkam, dass Faith den Tod ihrer Mutter verursacht hatte.

Faith litt an Epilepsie. Die Diagnose wurde gestellt, als sie ungefähr fünf Jahre alt war. Jack hatte einmal einen Krampfanfall gefilmt (typisch Junge), und Faith hatte mit Entsetzen gesehen, wie ihre Muskeln zuckten und krampften und ihr Blick so leer war wie der einer toten Kuh, während sie selbst überhaupt nichts wahrnahm. Allgemein wurde vermutet, dass Constance Holland durch einen solchen Anfall abgelenkt worden war und deshalb das entgegenkommende Fahrzeug übersehen hatte, das in sie hineinraste. Mom war bei dem Unfall ums Leben gekommen. Honor hatte Faith nie vergeben … was Faith ihr nicht verübeln konnte.

„Was sitzt du so still da, Faith?“, wollte Goggy wissen. „Iss was, Süße. Wer weiß, wovon du in Kalifornien so gelebt hast.“ Ihre Großmutter reichte ihr einen Teller voller Räucherschinken, Salzkartoffeln mit Butter, grünen Bohnen mit Butter und Zitrone und gedünsteten Möhren (mit Butter). Faith fürchtete, schon vom bloßen Anblick ein Pfund zuzunehmen.

„Also, Lorena, du und mein Dad, ihr seid …?“, erkundigte sich Faith über die Geräuschkulisse hinweg, während ihre Großeltern darüber stritten, wie viel Salz Pops auf sein ohnehin schon stark gesalzenes Fleisch gegeben hatte.

„Besonders vertraute Freunde, Süße, ganz besonders vertraute Freude.“ Die Frau rückte ihre ziemlich massiven Brüste zurecht. „Stimmt’s, Johnny?“

„Ja, sicher“, bestätigte er liebenswürdig. „Sie konnte es kaum erwarten, dich kennenzulernen, Faith.“

Laut Honor hatte Lorena Creech ihren Dad vor etwa einem Monat während einer Führung über das Weingut kennengelernt. Jeder in der Gegend wusste, dass John Holland nach dem Tod seiner Frau am Boden zerstört war und nie mehr den Wunsch verspürt hatte, eine Beziehung zu führen. Er lebte zufrieden im Kreise seiner Kinder, Eltern und Weinstöcke. Alle Annäherungsversuche weiblicherseits hatte er so lange behutsam abgewehrt, bis man allgemein akzeptierte, dass John Holland junior für den Rest seines Lebens Witwer zu bleiben gedachte.

Dann erschien Lorena Creech auf der Bildfläche, von Arizona in den Staat New York verpflanzt, eindeutig scharf auf sein Geld und ganz bestimmt keine Stiefmutter-Kandidatin. Alle drei ortsansässigen Holland-Sprösslinge hatten darüber mit ihrem Dad gesprochen, doch der hatte nur gelacht und ihre Sorge mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan. Und Dad hatte gewiss viele Fähigkeiten, dachte Faith und sah zu, wie Lorena prüfend das Silberbesteck ans Licht hielt, aber eine besonders scharfe Beobachtungsgabe gehörte nun mal nicht dazu. Natürlich hatte keiner etwas dagegen, dass er sich eine nette Frau zum Heiraten suchte, doch gleichzeitig wollte auch niemand, dass Lorena oben in Moms altem Bett schlief.

„Wie viele Hektar habt ihr hier eigentlich?“ Lorena nahm einen mächtigen Bissen Schinken. Wie dezent.

„Ach, so einige“, erwiderte Honor eisig.

„Mit Teilungsgenehmigung?“

„Selbstverständlich nicht.“

„Na ja, für einen Teil des Landes besteht die schon, Honor, Schatz“, stellte Dad richtig. „Aber aufgeteilt wird natürlich nur über meine Leiche. Möchtest du noch grüne Bohnen, Lorena?“

„Wie nett ihr es hier habt“, sagte Lorena. „Die ganze Familie zusammen! Mein verstorbener Mann war zeugungsunfähig, Faith. Hatte als Junge eine Leistenverletzung. Ein Traktor fuhr rückwärts und quetschte seine Weichteile; deshalb konnten wir keine Kinder haben, aber, Teufel auch, wir haben es trotzdem toll getrieben!“

Goggy starrte Lorena an, als wäre sie eine Schlange in der Kloschüssel. Jack trank seinen Wein aus.

„Wie schön für dich!“, kommentierte Pops. „Nimm noch ein bisschen Schinken, meine Liebe.“ Er schob Lorena, deren Appetit sich anscheinend nicht auf Vorgänge im Schlafzimmer beschränkte, die Platte zu.

Jack wechselte das Thema. „Dad meinte, du bleibst jetzt eine Weile hier, Faith.“

Sie nickte und wischte sich den Mund ab. „Ja. Ich will endlich die alte Scheune auf Rose Ridge instand setzen. Ich bleibe etwa zwei Monate.“ Das wäre dann ihr längster Besuch seit ihrem Hochzeitsdebakel. Und sie blieb nicht nur, um die Scheune zu renovieren. Beim Gedanken an ihre eigentliche Mission und das Zeitfenster, das sie sich dafür eingeräumt hatte, verspürte sie einen leichten Anflug von Panik.

„Yay!“, sagte Abby.

„Yay“, echote Ned und blinzelte Faith zu.

„Was hast du denn mit dem alten Ding vor?“, wollte Pops wissen.

„Ich möchte sie zu einem Ort für besondere Ereignisse ausbauen, Hochzeiten, Jubiläen und dergleichen. Die Leute können sie mieten, das bringt zusätzliche Einnahmen für das Weingut.“ Diese Idee war ihr bereits während des Studiums gekommen: Sie wollte die alte, aus Stein gemauerte Scheune so umwandeln, dass sie sich mühelos in die Landschaft einfügte, modern und gleichzeitig alt.

„Oh! Hochzeiten! Ich würde liebend gern wieder heiraten“, sagte Lorena und zwinkerte Dad zu, der einfach nur grinste.

„Das ist doch viel zu viel Arbeit für dich allein, Schatz“, sorgte sich Goggy.

Faith lächelte. „Aber nein. Die Lage ist einfach super, und ich habe schon ein paar Pläne entworfen. Ich zeige sie euch, bin gespannt, was ihr davon haltet.“

„Und das kannst du in zwei Monaten schaffen?“, fragte Lorena, den Mund voller Kartoffeln.

„Klar“, versicherte Faith. „Falls es keine unvorhergesehenen Komplikationen gibt.“ Es wäre ihr bisher größtes Projekt, noch dazu mit Heimvorteil.

„Was machst du noch mal beruflich? Dein Vater hat’s mir natürlich erzählt, du liebe Zeit, er kann ja über nichts anderes reden als über euch Kinder, aber ich hab’s vergessen.“ Lorena lächelte sie an. Sie hatte einen Goldzahn.

„Ich bin Landschaftsarchitektin.“

„Du müsstest ihre Arbeiten sehen, Lorena“, schwärmte Dad. „Umwerfend.“

„Danke, Daddy. Ich gestalte Gärten, Parks, Industrieflächen und so.“

„Dann bist du also Gärtnerin?“

„Nein. Aber ich stelle Gärtner und Landschaftsgestalter ein. Ich entwerfe die Pläne und sorge dafür, dass sie richtig umgesetzt werden.“

„Mit anderen Worten: Du bist die Chefin“, sagte Lorena. „Alle Achtung, Schätzchen! Hey, sind diese Hummel-Figürchen da echt? Wisst ihr eigentlich, dass die bei eBay eine schöne Stange Geld einbringen?“

„Sie haben meiner Mutter gehört“, entgegnete Honor scharf.

„Ach ja? Eine sehr schöne Stange Geld. Kann ich noch was von dem Schinken haben, Ma?“ Sie streckte Goggy auffordernd ihren Teller entgegen.

Lorena war … der Horror, das ließ sich nicht leugnen. Faith hatte heimlich gehofft, Honor hätte übertrieben.

Plötzlich kribbelte ihre Haut vor nervöser Energie. Bevor sie aus San Francisco abgereist war, hatte sie sich per Konferenzschaltung mit ihren Geschwistern abgesprochen. Dad war ein wenig unbedarft, da waren sich alle einig – er war schon mal von einem Auto angefahren worden, als er auf der Straße stand und zum Himmel aufblickte, um herauszufinden, ob mit Regen zu rechnen war. Wenn er also nun bereit war, sich wieder mit Frauen einzulassen, kamen sie überein, dann sollten sie ihm dringend eine passendere Gefährtin suchen. Ohne zu zögern, hatte Faith diese Aufgabe übernommen. Sie würde heimkommen, die Scheune umbauen und eine tolle Frau für Dad finden. Eine wunderbare Person, die ihn verstand und seine loyale, arbeitsame, freundliche Art zu schätzen wusste. Und die die gähnende Leere zu füllen vermochte, die Moms Tod hinterlassen hatte.

Endlich bekam Faith Gelegenheit zur Wiedergutmachung.

Und wenn sie schon dabei war, konnte sie auch mal etwas für das Familienunternehmen tun. Schließlich arbeiteten alle außer ihr auf Blue Heron.

Das Mittagessen verging mit Lorenas Kommentaren, Zankereien zwischen Ned und Abby, die für so etwas eigentlich zu alt waren, und gelegentlichen Todesdrohungen zwischen Goggy und Pops.

„Bleibt alle sitzen. Ich übernehme den Abwasch“, verkündete Goggy mit einem Anflug von Tragik in der Stimme.

„Kinder!“, schnauzte Pru, und Ned und Abby sprangen auf und begannen, den Tisch abzuräumen.

Honor schenkte sich Wein nach. „Faith, hat Dad dir schon gesagt, dass du bei Goggy und Pops wohnst?“

„Wie bitte?“, rief Faith und warf Pops ein rasches Lächeln zu, als Entschädigung für ihren entsetzten Ton. Klar, sie liebte ihre Großeltern, aber bei ihnen wohnen?

„Pops lässt allmählich nach“, flüsterte Pru. Beide Großeltern waren ein bisschen schwerhörig.

„Ich lasse nicht nach“, wehrte sich Pops. „Wer will gegen mich im Armdrücken antreten? Jack, mein Sohn, traust du dich?“

„Heute nicht, Pops.“

„Seht ihr?“

„Ich finde, du siehst prima aus, Dad!“, beteuerte Lorena. „Richtig gut!“

„Er ist nicht dein Vater“, knurrte Goggy.

„Du hast doch nichts dagegen, dass Faith bei euch wohnt, oder?“, fragte Dad. „Du weißt doch, in letzter Zeit bist du ein bisschen …“

„Ein bisschen was?“, fiel Goggy ihm ins Wort.

„Mordlustig?“, schlug Jack vor.

Goggy funkelte ihren Enkel böse an und bedachte dann Faith mit einem etwas milderen Blick. „Wir hätten dich liebend gern bei uns, Schätzchen. Aber als Gast, nicht als Babysitter.“ Nach einem weiteren giftigen Blick, der sämtliche Anwesenden einschloss, stand sie auf und marschierte in die Küche, um den Kindern Anweisungen zu geben.

„Pops, ich wollte dich bitten, die Merlot-Trauben zu prüfen“, sagte Dad.

„Ich bin dabei!“, brüllte Lorena fröhlich, und alle drei machten sich davon.

Da Abby und Ned in der Küche beschäftigt waren, saßen nur noch die vier Holland-Kinder am Tisch. „Ich soll tatsächlich bei ihnen wohnen?“, hakte Faith nach.

„Es ist am besten so“, sagte Honor. „Außerdem habe ich einen Teil von meinem Kram in deinem Zimmer untergebracht.“

„Stellt euch vor“, Pru zupfte den Kragen ihrer Flanellbluse zurecht. „Carl hat mir neulich ein Bikini-Waxing empfohlen.“

„Oh Gott“, platzte Jack heraus.

„Was ist? Bist du plötzlich prüde geworden? Wer hat dich denn von diesem Strip-Club nach Hause gefahren, als du betrunken warst, hm?“

„Das war vor siebzehn Jahren“, protestierte Jack.

„Na und? Carl will unser Liebesleben ‚aufpeppen‘.“ Pru zeichnete mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. „Ich finde, der Mann kann froh sein, dass er überhaupt was kriegt. Was ist denn los mit dir, Jack?“, rief sie ihrem Bruder nach, der fluchtartig das Zimmer verließ.

„Ich will ebenfalls nichts über dein Sexleben hören“, bemerkte Honor. „Und im Gegenzug erzähle ich dir auch nichts über meins.“

„Als ob du überhaupt eins hättest“, gab Pru zurück.

„Du würdest dich vielleicht wundern“, erwiderte Honor.

„Wenn ich mit euch nicht reden kann, an wen soll ich mich dann wenden? An die Kids? An Dad? Ihr seid meine Schwestern. Ihr müsst mir zuhören.“

„Erzähl es uns ruhig“, beschwichtigte Faith. „Wenn ich dich richtig verstehe, kommt ein Bikini-Waxing also nicht infrage?“

„Danke, Faithie.“ Pru lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, er sagt zu mir, warum versuchst du’s nicht mal? Wie die Playboy-Models? Und ich so: ‚Carl, wenn du einen Playboy im Haus haben solltest, bring ich dich um. Wir haben eine halbwüchsige Tochter, und ich will nicht, dass sie sich künstliche Brüste und schlampige Frisuren anguckt.‘“ Sie setzte sich bequemer hin. „Ein Bikini-Waxing! In meinem Alter! Ich habe genug damit zu tun, meine Gesichtshaare unter Kontrolle zu behalten.“

„Apropos gruselige ältere Frauen“, sagte Faith und wich aus, als Pru nach ihr schlug. „Lorena Creech. Du liebe Zeit.“

„Neulich hat sie Jack aufgefordert, sich auf ihren Schoß zu setzen.“ Pru schüttelte sich. „Du hättest sein Gesicht sehen sollen.“

Faith lachte. Honor sah sie eisig an. „Sehr witzig. Warte nur, bis Dad plötzlich mit einer Frau verheiratet ist, die es nur auf sein Geld abgesehen hat.“

„Dad hat Geld?“, witzelte Pru. „Das ist mir neu.“

„Und er wird nicht heiraten, es sei denn, er findet eine ganz tolle Frau“, ergänzte Faith.

„Kann sein. Aber Lorena ist immerhin die Erste, die er als ‚besonders vertraute Freundin‘ betrachtet. Warum allerdings ausgerechnet sie, ist mir ein Rätsel.“ Honor zupfte ihr Haarband zurecht. „Neulich hat sie sich bei Sharon Wiles nach den hiesigen Grundstückspreisen erkundigt. Also, Faith, verlier keine Zeit, okay? Ich komme nicht dazu, sämtliche Singlebörsen im Netz zu durchforsten. Du schon.“

Damit ging sie – zweifellos zurück in ihr Büro. Honor tat nichts anderes, als zu arbeiten.

An diesem Abend schlüpfte Faith, nachdem sie ihre Sachen ins Alte Haus getragen und den Mietwagen zurückgebracht hatte (Dad sagte, sie könne für die Zeit ihres Besuchs Brown Betty benutzen, den alternden Subaru Kombi), im Gästezimmer ihrer Großeltern zwischen die frischen Laken und wartete auf den Schlaf.

Mom war nicht der einzige Mensch, dessen Abwesenheit sie heute gespürt hatte. Faith hatte immer noch halb damit gerechnet, auch Jeremy anzutreffen. Er hatte das Essen im Kreis ihrer Familie immer sehr genossen.

Und in diesem Augenblick war er vermutlich ganz nah, nur ein Stück weit die Straße hinunter.

Seit ihrer Hochzeit war sie sieben Mal zu Hause gewesen, aber sie hatte ihn nie gesehen. Nicht ein einziges Mal. Klar, ihr Besuch hatte immer nur ein paar Tage gedauert. Aber sie war immer auch in der Stadt gewesen und in der Bar, die ihren besten Freunden, Colleen und Connor O’Rourke, gehörte, doch Jeremy hatte sich nicht blicken lassen. Und anders als sonst, wenn sie nicht da war, schaute er auch nicht bei ihrer Familie vorbei. Die Hollands hatten, wie alle anderen hier, den Schock seines Coming-outs überwunden (irgendwann). Jeremy war schließlich auch Teil ihres Lebens gewesen, außerdem war er ihr Arzt und nächster Nachbar, wenn auch in einer Meile Entfernung.

Doch wenn Faith da war, hielt er sich bedeckt.

Die ersten sechs Wochen nach ihrer geplatzten Hochzeit hatten sie täglich miteinander telefoniert, manchmal sogar zwei- oder dreimal. Trotz seines schockierenden Bekenntnisses fiel es ihr schwer zu glauben, dass sie nicht mehr zusammen waren. Seit dem Augenblick, als sie ihn im Sanitätsraum der Schule an ihrem Bett gesehen hatte, immerhin acht lange Jahre, hatte sie ihn geliebt, es gab nicht eine Sekunde des Zweifels. Sie hätten heiraten, Kinder bekommen, ein wunderbares langes Leben miteinander verbringen sollen, und dass all diese zukünftigen Jahrzehnte nun einfach schlagartig ausgelöscht waren … konnte ihr Herz nur schwer begreifen.

Er versuchte zu erklären, warum er es so weit hatte kommen lassen. Das war das Schlimmste von allem. Sie hatte ihn so sehr geliebt, sie waren beste Freunde gewesen … und er hatte nie auch nur den Versuch unternommen, das Thema anzuschneiden.

Er liebte sie, sagte er immer wieder, und Faith wusste, dass das stimmte. Jeden Tag, bei jedem Gespräch entschuldigte er sich, manchmal weinte er. Es tat ihm so furchtbar leid, dass er ihr wehgetan hatte, dass er es ihr nicht gesagt hatte, dass er nicht hatte akzeptieren wollen, was er doch im Herzen längst wusste.

Eines Abends, sechs Wochen nach ihrem verunglückten Hochzeitstag, nachdem sie eine Stunde lang mit sanfter Stimme aufeinander eingeredet hatten, sprach Faith schließlich aus, was im Grunde beiden klar war: Sie mussten richtig Schluss machen. Keine E-Mails mehr, keine Anrufe, keine SMS.

„Ich verstehe“, hatte Jeremy geflüstert.

„Ich werde dich immer lieben“, hatte Faith beteuert, und ihre Stimme brach.

„Ich werde dich auch immer lieben.“

Und dann, nach einem endlos langen Augenblick, hatte Faith die Taste gedrückt, die den Anruf beendete. War auf der Bettkante sitzen geblieben und hatte ins Leere gestarrt. Am nächsten Tag bot ein bekannter Landschaftsarchitekt ihr eine freie Mitarbeit bei seinem neuen Yachthafen-Projekt an, und damit begann ihr Leben nach Jeremy. In jenem Jahr hatte ihr Vater sie dreimal besucht – beispiellos für einen Weinbauern –, und auch Pru und die Kinder waren einmal gekommen. Und alle hatten angerufen und Briefe und SMS geschrieben.

Aber es schien unmöglich, die Liebe einfach so abzuschalten. Manchmal vergaß sie sich. Jemand fragte, ob sie Kinder wollte, und sie antwortete unwillkürlich: „Wir wollen unbedingt welche“, und dann traf sie die Erinnerung, dass niemals hübsche, fröhliche, dunkelhaarige Kinder über die Wiesen der beiden Weingüter hüpfen würden, wie eine Ohrfeige.

Und jetzt, hier im Alten Haus, ließen sich die Gedanken an Jeremy gar nicht mehr unterdrücken. Überall lauerten Erinnerungen. Wie er vorne auf der Veranda saß und ihrem Vater versprach, gut für sie zu sorgen. Wie er die kleine Abby auf der Schaukel anschubste. Wie er mit Ned Spritztouren in seinem Cabrio unternahm, mit Pru und Honor flirtete, mit Jack Bier trank. Er hatte ihr geholfen, genau dieses Zimmer in genau dieser zarten Fliederfarbe zu streichen. In dieser Ecke dort hatten sie sich geküsst (es waren süße, keusche Küsse, vielleicht nicht unbedingt das, was man von seinem sechsundzwanzigjährigen Verlobten erwartete), bis Goggy ins Zimmer kam und sie darüber informierte, dass es in ihrem Haus keine Küsserei gebe – und ob sie verlobt seien oder nicht, sei ihr völlig egal.

Faith hatte ein einziges Foto von sich und Jeremy behalten. Es war während eines Wochenendausflugs zu den Outer Banks entstanden. Sie trugen Sweatshirts, lagen sich in den Armen, der Wind spielte mit ihren Haaren, Jeremy lächelte breit. Täglich zwang sie sich dazu, dieses Bild anzusehen, und ein kleiner, grausamer Teil ihres Verstands riet ihr, die Sache endlich hinter sich zu lassen.

Sie hatte ihn ohnehin nicht verdient.

Doch in diesen acht Jahren ihres Zusammenseins … Da sah es doch so aus, als hätte das Universum ihr das dunkle Geheimnis vergeben – und ihr als Zeichen der Absolution Jeremy geschenkt.

Aber dann hatte das Universum doch zuletzt gelacht, und Levi Cooper war sein Bote gewesen. Levi, für den sie schon immer eine Witzfigur gewesen war.

Levi, der es gewusst und nie ein Wort gesagt hatte.

3. KAPITEL

Levi Cooper lernte Jeremy Lyon kurz vor dem Eintritt in die Oberstufe kennen. Er hatte nie damit gerechnet, dass sie mal Freunde sein würden. Ökonomisch gesehen funktionierte die Welt so nicht.

Manningsport lag am Ufer des Keuka Lake. Der Marktplatz war umringt von malerischen Geschäften: Antiquitätenläden, Brautmoden, O’Rourke’s Tavern, ein kleiner Buchladen und Hugo’s, das französische Restaurant, in dem Jessica Dunn als Servierkraft arbeitete. Dann war da der „Hügel“, der sich über der Ortschaft erhob, dort lebten die reichen Kinder, deren Eltern Banker und Anwälte und Ärzte waren oder eben die Besitzer der Weingüter: die Kleins, die Smithingtons, die Hollands. Von April bis Oktober karrten Busse Touristenhorden heran, die den schönen See und die Landschaft bewundern, den Wein probieren und eine Kiste oder zwei davon mitnehmen wollten.

Die makellosen Höfe der Mennoniten erstreckten sich weiter weg vom See, über Hügel voller schwarzweißer Kühe und dunkel gekleideter Männer, die Traktoren mit Eisenrädern lenkten. Die Frauen trugen Hauben und lange Röcke und verkauften am Wochenende auf dem Bauernmarkt Käse und Konfitüre.

Levi wohnte auf der falschen Seite der Weinberge, dort, wo es im Schatten des „Hügels“ ein bisschen früher Nacht wurde. In seinem Teil der Stadt gab es die Müllhalde, einen schmuddeligen Lebensmittelladen und einem SB-Waschsalon, in dem Gerüchten zufolge mit Drogen gehandelt wurde.

Während der Grundschulzeit luden wohlmeinende reiche Eltern die ganze Klasse zu den Geburtstagspartys ihrer Kinder ein, und Levi ging hin, zusammen mit Jessica Dunn und Tiffy Ames. Sie benahmen sich gut, vergaßen nie, sich bei der Mutter für die Einladung zu bedanken und das Geschenk abzugeben, das das Wochenbudget der Familie belastet hatte. Aber Gegeneinladungen, nein. Man lud die Klasse nicht zum Geburtstag ein, wenn man in einer Wohnwagensiedlung lebte. Solange man jung war, hing man in der Schule zusammen rum, und im Sommer traf man sich vielleicht, um den Wasserfall runterzuspringen, doch nur allzu bald machte sich die soziale Kluft bemerkbar. Die reichen Kids fingen an, über Designerklamotten zu reden oder über das neue Auto der Eltern und ihr nächstes Urlaubsziel, und das gemeinsame Angeln an Henley’s Dock war plötzlich nicht mehr so wichtig.

Und deshalb hing Levi eben mehr mit Jessica und Tiffy und Arschwisch Jones herum, der in Wirklichkeit Ashwick hieß (die Mutter des Jungen war süchtig nach irgendeiner britischen Fernsehserie und hatte eindeutig null Ahnung von Kindern und Namen). Er und seine Halbschwester wuchsen in Wests Wohnwagensiedlung auf, ihr Zuhause war ein billiges doppelbreites Wohnmobil, das immer an zwei Stellen leckte, egal, wie oft Levi das Dach flickte. Sarah wurde geboren, als Levi zehn (und ein weiterer Mann von der Bühne abgetreten) war, und danach war die Wohnsituation zwar etwas beengt, aber sauber und glücklich. Es war nicht grauenhaft, ganz und gar nicht, aber es war eben nicht der „Hügel“ oder der idyllische Ortskern. Jeder begriff den Unterschied, und wer ihn nicht begriff, wusste entweder nichts vom wirklichen Leben oder gehörte nicht zur Stadt.

Am ersten Tag des Footballtrainings, einen Monat vor dem Eintritt in die Oberstufe, stellte der Coach einen neuen Mitschüler vor, und zwar mit den Worten „Jeremy Lyon bringt euch faulen Schlappschwänzen bei, wie man Football spielt.“ Jeremy ging reihum und schüttelte jedem verdammten Team-Mitglied die Hand. „Hey, ich bin Jeremy, schön, dich kennenzulernen. Jeremy Lyon, nett, dich kennenzulernen, Alter.“

Schwul, das war das erste Wort, das Levi in den Sinn kam.

Doch niemand sonst schien etwas zu bemerken – vielleicht weil Jeremy wirklich spielen konnte. Nach einer Stunde stand fest, dass er ein wahnsinnig guter Footballer war. Er sah aus und spielte, als wäre er seit Jahren in der NFL, der wichtigsten Profiliga der USA.

Levis Aufgabe bestand darin, möglichst schnell in das gegnerische Territorium vorzudringen und Jeremys wunderbare Pässe zu fangen. Er war selbst ein ziemlich guter Footballer, auch wenn sich das nicht in einem Stipendium auszahlte, sosehr seine Mom auch darauf hoffte, aber Jeremy war schlicht genial. Nach vier Stunden wurde im Team bereits spekuliert, dass ihnen vielleicht die erste siegreiche Saison seit neun Jahren bevorstehen könnte.

Am Freitag dieser ersten Woche lud Jeremy alle auf eine Pizza zu sich nach Hause ein. Und was war das für ein Zuhause, alles hochmodern und mit allem Pipapo, überall Fenster, und der Küchenboden glänzte dermaßen, dass Levi seine Schuhe auszog. Das Wohnzimmer war ganz in Weiß gehalten und sah aus wie ein Filmset. In Jeremys Zimmer standen ein Doppelbett, ein brandneuer Mac und ein riesiger Fernseher mit Play-Station (und etwa fünfzig Spielen). Seine Eltern stellten sich als Ted und Elaine vor und taten so, als gäbe es für sie keinen größeren Spaß als den Besuch von vierunddreißig Schuljungen. Die Pizza war selbst gebacken (im Pizzaofen, einem von vier Öfen in der Küche), außerdem waren noch leckere Sandwichs aus diesem teuren Brot mit dem italienischen Namen im Angebot. Dazu alle Sorten Limo – die noblen, nicht etwa die No-Name-Produkte, die Levis Mom kaufte. Sie hatten einen Weinkeller und einen speziellen Weinkühlschrank und Biere sämtlicher Mikrobrauereien der Gegend. Als Arschwisch Jones um ein Bier bat, zerstrubbelte Mrs Lyon ihm einfach nur das Haar und sagte, sie hätte heute keine Lust, in den Knast zu gehen, und Arschwisch schien es überhaupt nichts auszumachen.

Levi wanderte durchs Haus, gab sorgfältig auf seine Flasche Virgil’s Rootbeer Acht und versuchte, nicht zu gaffen. Es gab moderne Gemälde und abstrakte Skulpturen, einen Kamin, der eine ganze Wand einnahm, einen Kamin auf der Veranda und einen Kamin im Partyraum im Untergeschoss, wo auch noch ein Billardtisch, ein Kicker, noch ein Riesenfernseher mit Play-Station und eine gut bestückte Bar zur Verfügung standen.

Dann stand plötzlich Jeremy neben ihm. „Danke, dass du heute gekommen bist, Levi.“

„Ja, klar doch“, sagte Levi. „Tolles Haus.“

„Danke. Ich glaube, meine Eltern sind beim Einrichten ein bisschen durchgedreht. Ich meine, brauchen wir wirklich eine Zeus-Statue?“ Er grinste und verdrehte die Augen.

„Tja“, murmelte Levi.

„Hey, hast du Lust, morgen was zu unternehmen? Vielleicht Kino oder einfach nur hier abhängen?“

Levi trank ausgiebig von seiner Limo, dann musterte er Jeremy prüfend. Ja. Schwul, er war sich fast sicher. „Hm, sieh mal, Alter“, sagte er. „Ich habe eine Freundin.“ Na ja, er schlief hin und wieder mit Jessica, falls das zählte. Trotzdem. Die Botschaft war: Ich bin hetero.

„Cool. Dann kommt doch beide her, falls ihr nichts Besseres zu tun habt.“ Jeremy hielt inne. „Es ist nur, ich kenne hier noch niemanden“, fügte er hinzu.

Es war eine offene Bitte, aber Levi hatte keinen Schimmer, warum sie ausgerechnet an ihn gerichtet wurde. Nun ja, irgendwann würde Jeremy vermutlich von irgendeinem anderen reichen Typen erfahren, dass die Coopers praktisch zum Prekariat gehörten, dass Levi kein Auto besaß und neben der Schule zwei Jobs hatte. Aber für den Moment hatte er die Chance, hier in diesem Palast abzuhängen und einen kleinen Eindruck davon zu bekommen, wie die andere Hälfte so lebte … „Klar. Danke. Ich frag sie, ob sie Zeit hat. Sie heißt Jessica.“

„Cool. Um sieben? Meine Mom kann prima kochen.“

„Danke, Schatz“, sagte seine Mutter, die in diesem Augenblick mit einem Tablett voller Sandwichs ins Zimmer kam. Als sie die beiden Jungs beieinanderstehen sah, erstarrte sie. Plötzlich bestand ihr Lächeln nur noch aus einer Überdehnung der Lippen.

„Aber es stimmt, Mom.“ Jeremy legte den Arm um die zierliche Frau, gab ihr einen Kuss aufs Haar, mopste sich ein Sandwich und grinste. „Sie haut mich, wenn ich was anderes sage“, fügte er dann hinzu.

Mrs Lyon sah Levi an; zwischen ihren Brauen zeigte sich eine kleine Falte. „Wie war noch gleich dein Name?“

„Levi“, antwortete Jeremy an Levis Stelle. „Er ist ein Topspieler. Wir wollen morgen zusammen was unternehmen, wenn du nichts dagegen hast. Seine Freundin kommt auch.“Die Mutter wurde sofort wieder locker. „Ach, du hast eine Freundin! Wie schön! Aber klar! Ja, ja, kommt nur, ihr beiden. Das wäre doch nett.“

„Kann sein, dass sie arbeiten muss“, sagte Levi. „Ich frag sie. Aber vielen Dank.“

„Hat dein Mädchen vielleicht eine gute Freundin?“, erkundigte sich Mrs Lyon.

„Da haben wir’s wieder. Sie ist auf der Suche nach ihrer zukünftigen Schwiegertochter.“ Jeremys Lächeln war unbeschwert. Von oben war Poltern zu hören, gefolgt von einem Fluch. „Das hört sich nach Cola auf weißen Polstern an. Ich hab dir doch gesagt, dass es Schwachsinn ist, dieses Sofa zu kaufen.“

„Ach, hör auf. Ihr seid schließlich keine Horde wilder Tiere.“

„Ich sag’s nur ungern, aber so was Ähnliches sind wir schon“, bekannte Levi. Jeremy grinste noch breiter und begleitete seine Mom hinaus, vermutlich um ihr beim Aufwischen zu helfen.

Also, ja. Jeremy war schwul. Oder einfach … aus Kalifornien. Oder beides.

Am nächsten Abend kam Levi wieder; er musste nach seiner Schicht im Yachthafen von zu Hause aus per Anhalter fahren. Sechs Stunden lang hatte er Boote im Trockendock gereinigt, was zwar anstrengend war, ihm aber die Möglichkeit bot, mit freiem Oberkörper zu schuften und sich dabei von Amber Wie-auch-immer-sie-hieß beäugen zu lassen, die übers Wochenende zu Besuch war. Jess wollte nicht auf die sonntagabendlichen Trinkgelder verzichten, deshalb ging Levi allein.

Bei Jeremy aßen sie mit den Eltern (es gab unglaublicherweise Ente!), dann trieben sie den üblichen Jungskram: futterten noch mehr und spielten Soldier of Fortune auf der Playstation im Untergeschoss. Als Jeremy fragte, auf welches College Levi gehen wollte, zögerte der, weil er nicht wollte, dass Jeremy jetzt schon erfuhr, dass das College für ihn absolut unerreichbar war und er sich deshalb nicht einmal bewerben würde. „Weiß noch nicht“, sagte er.

„Ich auch nicht“, antwortete Jeremy unbekümmert, doch Levi wusste, dass er sehr gefragt war und die Wahl zwischen den besten Colleges haben würde. „Gut. Dann verrate mir mal, wer die tollsten Mädchen an der Schule sind. Ich will dieses Jahr eine Freundin haben.“

Es war so peinlich, dass Levi beinahe das Gesicht verzog. Aber irgendetwas hatte Jeremy an sich, er strahlte eine gewisse Unschuld aus. „Hattest du zu Hause eine Freundin?“, stellte er ihn auf die Probe.

„Nicht so richtig. Keine feste. Du weißt schon.“ Jeremy wandte den Blick ab. „Wegen Football und Schule und so weiter findet man nicht viel Zeit.“

Levi hatte da völlig andere Erfahrungen gemacht; er konnte sich vor Angeboten kaum retten. Sofern man kein vorpubertärer Neuntklässler war, warf sich einem mit Sicherheit irgendeine Tussi an den Hals, solange man am Freitagabend das Football-Trikot trug, ganz gleich, wie schlecht die Mannschaft abgeschnitten hatte. Spätabends sagte Levi, dass er die sieben Meilen zu Fuß hach Hause gehen würde, aber Jeremy bestand darauf, ihn zu fahren. Meine Güte, der Typ besaß ein Cabrio und benahm sich trotzdem überhaupt nicht wie ein Arschloch. „Toller Abend für eine Spritztour, wie?“, fragte er fröhlich und sprang ins Auto, ohne die Tür zu öffnen. Levi folgte seinem Beispiel. So macht man’s wohl, wenn man ein Cabrio hat, dachte er.

Jeremy redete die ganze Zeit, erzählte Levi vom Leben im Napa Valley (ziemlich toll), warum seine Eltern trotzdem wegzogen (sein Dad hatte ein Magengeschwür, und sie dachten sich, in Upstate New York wäre die Konkurrenz unter den Winzern wohl nicht so hart), stellte ihm Fragen über den Coach und die Teams, gegen die sie antreten würden.

„Hier rechts. Zur Wohnwagensiedlung.“ Er wartete darauf, dass bei Jeremy der Groschen fiel und kapierte, dass er sich wohl den falschen Mitspieler als Freund ausgesucht hatte.

„Geht klar. Welches Wohnmobil?“, fragte Jeremy und bog in die Zufahrt ein.

„Das letzte links. Danke fürs Fahren, Alter. Und bestell deiner Mom meinen Dank fürs Essen.“

„Keine Ursache, war toll, dass du gekommen bist. Wir sehen uns beim Training.“

Dann winkte er, wendete geschickt und fuhr ab. Das Motorengeräusch summte noch leise in einiger Entfernung.

Das war der Beginn ihrer Freundschaft. Im Lauf des nächsten Monats wurde Levi so oft von Jeremy zum Abendessen eingeladen, dass seine Mutter eines Tages die Geduld verlor: „Warum lädst du ihn nicht zu uns ein? Schämst du dich unseretwegen, oder was?“ Als Jeremy kam, brachte er Levis Mom Blumen mit, sagte zu Sarah, sie sähe umwerfend aus und schien weder den Wasserflecken an der Decke zu bemerken noch den einfachen Wein im Kühlschrank, noch die Tatsache, dass sie zu viert kaum in der Küche Platz fanden.

„Ist das Thunfisch-Auflauf?“, fragte er, als Mrs Cooper die feuerfeste Form auf den Tisch stellte. „Oh Mann, das ist mein Leibgericht! Das habe ich seit einer Ewigkeit nicht gegessen. Meine Mom ist so eigen, was Essen angeht. Aber das hier ist toll. So lässt sich’s leben.“ Er grinste, als wäre ihnen gerade ein Banküberfall gelungen, und aß drei Portionen, während Mom förmlich dahinschmolz.

„Das ist ein sehr netter Junge“, verkündete sie, als Jeremy gegangen war, und es klang beinahe ehrfürchtig.

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