Lieber rundum glücklich als gar keine Kurven

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Sie ist Freundin und Helferin, aber jetzt braucht Emmaline Neal selbst Hilfe. Denn ihr Ex-Verlobter heiratet - und sie braucht eine Begleitung. Von allen Seiten wird ihr geraten, Jack zu fragen. Er ist nicht nur ein gut aussehender Weindynastie-Erbe, sondern auch Retter bei einem Verkehrsunfall und ein absoluter Gentleman. Dass die Frauen bei ihm Schlange stehen, ist Em herzlich egal. Dass ihre Familie Jack ins Herz schließt und plötzlich alle glauben, sie wären verlobt, bekommt sie auch geregelt. Aber als Jack sich tatsächlich für sie zu interessieren scheint, gerät Em ins Schwitzen. Sollte sie, die leicht übergewichtige Polizistin, die mit Männern sonst nur befreundet ist, wirklich mit diesem Traummann zusammenkommen?


  • Erscheinungstag 01.10.2015
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783956494819
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kristan Higgins

Lieber rundum glücklich als gar keine Kurven

Roman

Aus dem Amerikanischen von Tess Martin

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

In Your Dreams

Copyright © 2014 by Kristan Higgins

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Shutterstock

Autorenfoto: © Kristan Higgins

ISBN eBook 978-3-95649-481-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Nun ja, ist doch völlig klar, dass wir alle Jack Holland lieben. Vor allem wir Frauen. Aber dann passierte auch noch dieses sogenannte Mittwinter-Wunder … du meine Güte, können Sie sich so etwas vorstellen? Natürlich waren wir kein bisschen überrascht darüber, wie fabelhaft er sich da verhalten hat – ich meine, was auch sonst?! Erstens ist er John Hollands Sohn, der einzige Junge in der Familie, obwohl man inzwischen wohl eher „Mann“ sagen muss, schätze ich. Und dann war er auch noch in der Navy! Dabei haben wir ihn ja auch schon vorher für den tollsten und nettesten Kerl der Welt gehalten. Ganz zu schweigen davon, dass er auch noch super aussieht! Diese blauen Augen … Sogar Cathy und Louise haben letztens erst wieder von diesen Augen geschwärmt!

Jack ist hier in der Gegend so was wie eine Berühmtheit. Die Hollands haben Manningsport einst mit gegründet, und Jack ist der Chefwinzer vom Blue Heron, dem Weingut der Familie. Also müssen wir uns wohl keine Sorgen machen, dass auch dieses Stück Land, wie schon so viele andere Grundstücke in der Region, demnächst an irgendein Bauunternehmen verscherbelt wird. Jedenfalls nicht, solange alle Kinder im Blue Heron arbeiten. Und wie Jack mit seinen drei Schwestern und seiner Stiefmutter umgeht! Ein Prinz, das ist er! Von seiner Exfrau hingegen wollen wir lieber gar nicht erst anfangen. Die hat ihn nämlich nie verdient.

Wie auch immer, wo war ich gerade? Ach ja, das Mittwinter-Wunder! Gut, natürlich haben auch andere geholfen. Levi Cooper, unser Polizeichef, war ebenfalls fantastisch. Er und seine Stellvertreterin, Luanne Macombs Enkelin, wie heißt sie gleich noch mal? Emily? Emmaline? Egal, die beiden haben jedenfalls die Reanimation durchgeführt. Und dieser gut aussehende Gerard Chartier, klar, der auch.

Aber der eigentliche Held, das war Jack.

Was niemanden überraschte.

Die ganze Sache war ziemlich … nun, aufregend ist wohl nicht ganz das richtige Wort, oder? Aber außergewöhnlich war es schon, womit ich dieser armen Familie auf keinen Fall zu nahe treten will. Manningsport ist im Winter immer so gut wie ausgestorben, da gibt es nur uns Einheimische. Die Touristen kommen erst wieder im Frühjahr, wenn die Weinproben beginnen. Deswegen hat das Mittwinter-Wunder auch alle möglichen Fernsehstars hierher gebracht – Brian Williams von den NBC Nightly News hat im Black Swan übernachtet, wussten Sie das? So was von charmant! Und so ziemlich jeder ist ins O’Rourke’s gekommen, als Anderson Cooper von CNN dort einkehrte (Levi ist nicht mit ihm verwandt, wir haben natürlich gefragt).

An diesem Abend war unsere kleine Stadt am Seeufer in aller Munde, und Mitte Januar konnten wir so ein bisschen Ablenkung wirklich gut gebrauchen. Laney Hughes hat sogar ihren Souvenirladen extra noch mal aufgemacht, weil so viele Leute da waren. Und sie ist noch mal jede Menge Keuka-Lake-T-Shirts losgeworden! Loreleis „Sunrise“-Bäckerei war die ganze Woche über immer schon um acht Uhr morgens leergekauft.

Wie bitte? Wie es Jack geht? Gut! Wunderbar! Ein wahrer Held, das wird Ihnen hier jeder bestätigen.

Warum fragen Sie?

1. KAPITEL

Besser als mit einem Elektroschocker konnte Emmaline Neals Wochenende gar nicht beginnen. Okay, okay, sie hatte das Ding bisher noch nie eingesetzt und würde vermutlich auch jetzt keine Gelegenheit dazu kriegen (verflixt), dennoch durchfuhr sie ein winziger Wonneschauer freudiger Erwartung. Falls wirklich ein Eindringling im Haus der McIntoshs war, würde sie ihm mit Genuss eine verpassen. Barb McIntosh war praktisch sicher, dass sich ein Sexualverbrecher in ihrem Keller herumtrieb, und falls das stimmen sollte, wusste Em genau, wohin sie zielen musste.

Gut, Barb war nach eigenem Bekunden süchtig nach Law & Order: Special Victims Unit (mit Christopher Meloni! So was von attraktiv!). Nichtsdestotrotz hatte sie tatsächlich merkwürdige Geräusche im Heizungskeller gehört, und ihr Enkel, der stadtbekannte gruselige Bobby, war nicht zu Hause.

„Nähere mich der Kellertreppe“, wisperte Everett Field.

„Das weiß ich, Ev, schließlich bin ich direkt hinter dir“, sagte Emmaline. „Und es gibt keinen Grund zu flüstern.“

„Alles klar, verstanden“, flüsterte Everett.

Obwohl Emmaline den Job erst seit neun Monaten machte und Everett schon länger, wussten beide, dass Emmaline der bessere Cop war. Ev hingegen war nicht die hellste Lampe am Leuchter.

Em schaute über ihre Schulter zu Barb. „Bist du sicher, dass Bobby nicht hier ist?“

„Ja, ich habe ihn angerufen und die Treppe hinuntergerufen, insofern …“

„Klar, verstanden.“ Everett griff nach seinem Pistolenhalfter. „Alarmbereitschaft! Eindringende Feinde!“

„Nimm die Finger von deiner Waffe, Everett“, sagte Emmaline. „Und woher hast du bloß diese Ausdrücke?“

Call of Duty.“

„Super. Jetzt komm mal wieder runter. Wir werden niemanden erschießen.“ Allerhöchstens jemandem einen Elektroschock verpassen, und das auch nur im Falle einer körperlichen Auseinandersetzung.

Die Kriminalitätsrate unter den 715 Einwohnern von Manningsport, New York, war ziemlich niedrig. Everett und Em bildeten zusammen schon mal zwei Drittel der Polizeidienststelle; das letzte Drittel bestand aus ihrem Chef Levi Cooper. Die üblichen Delikte: Alkohol am Steuer, Vandalismus, Strafzettel … aufregender wurde es hier nicht. Im Sommer und im Herbst, wenn die Touristen kamen, um Wein zu probieren, zu baden und mit Booten auf dem Keuka Lake herumzufahren, hatten sie etwas mehr zu tun. Aber jetzt war Januar und nicht viel los. Genau genommen handelte es sich um ihren ersten Einsatz seit drei Tagen.

Ein Klopfen. Everett kreischte auf. Höchstwahrscheinlich war es nur eine kaputte Heizungsanlage. Oder ein Waschbär. Levi sagte immer, bei Hufschlag sollte man damit rechnen, Pferde zu sehen – nicht Zebras.

Jetzt waren sie unten und hatten Bobbys Apartment direkt vor sich. Rechts war die Tür zum anderen Teil des Kellers, in dem sich die Heizung und der Wasserboiler befanden und, wie Barb ihnen gesagt hatte, Dutzende Gläser mit eingemachtem Gemüse.

Klopf.

Okay, da drinnen war etwas.

„Wahrscheinlich ein Tier“, murmelte Em und zog die Taschenlampe aus ihrem Gürtel. Der Heizungsraum war von außen nicht zugänglich, ein Mensch hätte also durchs Haus kommen müssen. Und Barb schloss immer ab (auch hier machte sich der übermächtige Einfluss von Law & Order bemerkbar).

Everett legte die Hand auf den Türknauf und sah Em an. Sie nickte, er stieß die Tür auf, und Em knipste die Taschenlampe an. Etwas bewegte sich, Everett schrie auf, und fing sofort an zu feuern.

Verdammt! Der Lärm war ohrenbetäubend.

„Eine Katze! Everett, es ist eine Katze!“, brüllte Em. „Steck die Waffe wieder ein!“

Everett gehorchte. In diesem Moment stürzte sich ein schwarz-weißer Ball auf ihn, zischte und vergrub scharfe Zähne in seinem Schenkel. Offenbar war der gestiefelte Kater hier nicht erfreut, dass auf ihn geschossen wurde.

„Polizist verletzt, Polizist verletzt!“, schrie Everett, während er nach dem Tier schlug. „Zehn null null, Polizist verletzt!“

„Klappe“, fuhr Em ihn an. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“ Dem Kätzchen war natürlich nichts passiert, der Typ war ein miserabler Schütze.

Sie griff dem wütenden Tier sanft in den Nacken und löste es von Everetts Bein. Dann wurde Everett plötzlich von Bobby McIntosh am Hals gepackt, der offenbar doch zu Hause war.

„Warum haben Sie auf meine Katze geschossen?“, brüllte er.

„Bobby! Lass ihn los!“, befahl Emmaline.

„Wir haben gar keine Katze“, rief Barb von oben. „Bobby, hast du eine Katze mit nach Hause gebracht?“

Everett keuchte, und sein Gesicht lief rot an. Em seufzte. „Lass ihn los, oder ich muss das hier benutzen.“ Sie nahm den Elektroschocker aus ihrem Gürtel. „Tut weh.“

Bobby zögerte. Sie hob eine Augenbraue, und er seufzte und ließ ihren Partner los.

Mist. „Danke, Bobby“, sagte sie. Ich war so nah dran.

„Bobby! Was hast du denn da unten gemacht?“, wollte Barb wissen. „Ich habe dich gerufen, und du hast nicht geantwortet! Woher hast du dieses Ding überhaupt? Ich hasse Katzen.“

„Und ich liebe sie“, erwiderte Bobby. „Ich hab sie aus dem Tierheim.“

„Okay, also ist hier alles in Ordnung“, stellte Emmaline fest. Everett sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Komm schon, Ev – gehen wir. Du musst melden, dass du die Waffe benutzt hast.“

„Ich dachte, es wäre ein Sexualverbrecher“, sagte Everett. Seine Hände zitterten.

„War es aber nicht. Dir kann nichts mehr passieren, Kumpel.“ Sie tätschelte seinen Arm. „Los. Gehen wir zurück zum Revier.“

„Sie haben auf eine Katze geschossen?“, fragte Chief Cooper fünfzehn Minuten später. Er starrte Everett an.

„Tut mir leid.“ Everett stand da wie ein gescholtenes Kind.

„Er hat sie nicht getroffen“, erklärte Emmaline. Nachdem das Klingeln in ihren Ohren endlich leiser geworden war, fiel es ihr schwer, nicht zu lachen. „Der Verdächtige war ziemlich schnell.“ Levi warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

„Machen Sie eine Meldung, Everett. Der Vorfall wird bestimmt genau unter die Lupe genommen werden, was nichts anderes bedeutet, als dass Sie mir noch mehr Arbeit machen.“

„Tut mir leid, Chief. Ähm, Bobby McIntosh hat mich attackiert.“

„Weil Sie auf sein Haustier geschossen haben.“

„In Notwehr.“

„Eigentlich nicht“, sagte Emmaline. „Die Katze hat in Notwehr gehandelt.“

Levi musste sich ein Grinsen verbeißen. „Ihre Mutter wird nicht gerade erfreut sein, Ev.“

„Müssen Sie es ihr denn erzählen?“

„Sie ist die Bürgermeisterin. Also ja.“

„Scheiße.“ Everett seufzte schwer. „Sonst noch was, Chief?“

„Nein. Schreiben Sie den Bericht und verschwinden Sie.“

Everett verließ das Büro und mopste auf dem Weg einen Keks von Carol Robinsons Tisch. Die frisch eingestellte Sekretärin hatte schamlos gelauscht.

„Du hast verhindert, dass Bobby Everett umbringt, dafür noch mal vielen Dank“, sagte Levi zu Emmaline.

„Ich hatte insgeheim gehofft, den Elektroschocker benutzen zu können.“

„Den hättest du ja an Everett ausprobieren können. Aber gut zu wissen, dass du einen kühlen Kopf bewahren kannst.“

Das war so ziemlich das größte Lob, das sie sich vom Polizeichef vorstellen konnte, und Emmaline richtete sich stolz auf. Gut, es war von Anfang an ein idiotischer Einsatz gewesen, aber trotzdem.

Levi, der auf der Highschool eine Klasse unter ihr gewesen war, nahm einen Strauß roter Rosen in die Hand. Er war in grünes Papier gewickelt und hatte eine weiße Schleife. Levis Blick legte ihr nahe, jetzt lieber nichts zu sagen.

„Oh“, sagte sie. „Blumen für die Ehefrau? Du bist so ein schnuffiger Teddybär, Levi.“

„Unangemessene Bemerkung, Officer Neal“, knurrte er und bedachte sie mit seinem berühmten „Ich toleriere dich, weil ich muss“-Blick. „Übrigens, was diesen Kriseninterventions-Kurs betrifft. Ich habe dafür gesorgt, dass du den machen darfst. In zwei Wochen geht es los.“

„Wirklich? Oh, du bist der Beste! Ich nehme jede einzelne Beschwerde zurück, die ich jemals über dich eingereicht habe.“

„Sehr witzig“, sagte ihr Chef. „Ich gehe jetzt nach Hause. Vielleicht sehen wir uns ja später im O’Rourke’s.“

„Vielleicht. Grüß die werdende Mutter von mir.“

Lächelnd ging er aus dem Büro, blieb kurz stehen, um etwas zu Carol zu sagen, dann verließ er das Revier.

Es war schwierig, ihn nicht ein klein wenig zu beneiden. Levi und Faith waren etwas länger als ein Jahr verheiratet und erwarteten ein Baby. Überhaupt schien im Moment so ziemlich jeder den Bund fürs Leben zu schließen; allein diesen Sommer war Em bei drei Hochzeiten gewesen. Mittlerweile zog sie sogar schon in Erwägung, selbst zu heiraten, nur damit sie auch mal so eine lustige Geschenkliste in ihrem Lieblingsladen auslegen konnte.

Nun ja. Zeit, nach Hause zu gehen. Das O’Keefe-Public-Safety-Gebäude, in dem die Feuerwehr, die Polizei und die Rettungssanitäter untergebracht waren, lag ungefähr fünf Autominuten außerhalb der Stadt. Em fuhr an Hastings Farm und der Highschool vorbei und bog dann in den Innenstadtbereich von Manningsport ein … er bestand aus drei Straßen rund um einen kleinen Park am Ufer des Keuka Lake.

Emmaline wohnte in der Water Street, neben der Bücherei, und parkte oft direkt am Parkeingang, wo die Bürger von Manningsport ihren Wagen gut sehen und eine dumme Entscheidung – zum Beispiel betrunken Auto zu fahren – noch einmal überdenken konnten. O’Rourke’s Tavern, die einzige ganzjährig geöffnete Kneipe der Stadt, leuchtete hell und einladend. Vielleicht sollte sie heute dort zu Abend essen, da sie keine anderen Pläne hatte. Aber erst musste sie nach Hause zu ihrem Wunder-Welpen Sarge. Der lebhafte junge Schäferhund brauchte dringend Auslauf.

Sie stieg aus. Ihr Atem bildete kleine Wolken in der kalten, klaren Luft.

„Hey, Em!“, rief jemand. Lorelei Buzzetta und Gerard Chartier, die gerade ins O’Rourke’s wollten, winkten ihr zu, und Em winkte zurück. Gerard war Feuerwehrmann und Sanitäter. Em sah ihn fast jeden Tag bei der Arbeit (genauso wie Lorelei, der die Bäckerei gehörte und die mit ihren himmlischen Schokoladencroissants Engel zum Weinen bringen konnte). Die beiden waren seit einiger Zeit zusammen.

Durch die Fenster konnte sie sehen, wie Colleen O’Rourke, jetzt Colleen Campbell, ihren umwerfenden Ehemann Lucas küsste. Honor Holland und ihr Mann, der wundervolle Tom Barlow, waren ebenfalls da. Und Paulie Petrosinsky und Bryce, die das Tierheim führten und ihr vor zwei Wochen das Hundebaby vermittelt hatten.

Sah nach Pärchenabend aus.

Vielleicht sollte sie doch lieber zu Hause bleiben. Sie und Sarge konnten sich auf Youtube Videos von Geisel-Verhandlungen ansehen und Makkaroniauflauf von Kraft essen (kein vorschnelles Urteil bitte, der war köstlich!). Vielleicht ein paar The Walking Dead-Folgen am Stück gucken. Außerdem hatte sie noch einen ganzen Stapel Bücher aus der Bibliothek. Oder sie konnte nacheinander die Leute von den Bitter Betrayed anrufen (die bitter Betrogenen, so hatten sie ihren Buchclub getauft), um herauszufinden, wem außer ihr noch langweilig war.

Plötzlich schien sich das Wochenende lang und leer vor ihr auszustrecken. Keine Schicht bis Montag. Und nichts vor außer dem Eishockeyspiel am Sonntag – sie spielte in der Stadtliga. Sie könnte auch die Wäsche machen und putzen. Ähm. Vielleicht ein paar neue Handtücher kaufen. Zum Schießstand gehen. Das war nett, wenn auch einsam.

So langsam wurden ihre Füße taub. Höchste Zeit weiterzugehen. Trotzdem blieb Em auf dem winzigen Rasenstück stehen und schaute dem fröhlichen Treiben in der Kneipe zu.

Sie könnte auch nach Penn Yan fahren und sich einen Film ansehen, aber Penn Yan lag eine halbe Stunde entfernt, und laut Wetterdienst war mit weiterem Schneefall zu rechnen. Seit dem schrecklichen Unfall hatten alle hier sehr viel mehr Respekt vor winterlichen Straßen.

Apropos, da war Jack Holland.

Er stand vor dem O’Rourke’s und starrte das Gebäude an, als ob er es nie zuvor gesehen hätte. Vielleicht sollte sie ihn ansprechen. Sie spielten zusammen Eishockey, er war der Schwager ihres Chefs und Rettungssanitäter, es war also nicht so, dass sie ihn nicht kannte.

Er rührte sich nicht, schien zu überlegen, ob er in die Kneipe gehen sollte oder nicht.

Em überquerte die Straße. „Hey, Jack.“

Er antwortete nicht.

„Hi, Jack“, versuchte sie es noch einmal. Er zuckte zusammen, dann sah er sie an.

„Hey, Emmaline.“ Er lächelte gezwungen.

„Wie geht’s denn so?“

„Super.“

Es ging ihm dermaßen überhaupt nicht super, dass es ihr fast das Herz brach, ihn so zu sehen, blass wie eine Wasserleiche.

Unglückliche Wortwahl.

Auf jeden Fall ging es ihm definitiv nicht super.

„Gehst du rein?“, fragte er, als ihm auffiel, dass eine zu lange Gesprächspause entstanden war.

„Nein. Ich bin auf dem Heimweg. Ich habe nämlich seit Neuestem einen kleinen Hund, Sarge. Ein Deutscher Schäferhund. Sehr niedlich. Hoffentlich hat er mir nicht in die Wohnung gekackt.“

Ach ja, wieder dieses sinnlose Drauflosblubbern. War praktisch unvermeidlich. Zu allem Überfluss war Jack Holland nämlich auch noch unverschämt attraktiv. Im Sinne von Hi, ich bin gerade vom Olymp herabgestiegen. Wie geht’s? Groß und blond, die Augen so klar und perfekt und rein, dass einem alle möglichen albernen Ausdrücke für Blau einfallen wollten – Azur- und Himmelblau und Aquamarin. Mit seinem Lächeln konnte er den Verkehr zum Erliegen und Bäume zum Erblühen bringen und diesen ganzen Schwachsinn.

Also ja, in seiner Gegenwart wurden Frauen zwangsläufig zu blubbernden albernen Gänsen. Sogar Frauen, die grundsätzlich etwas gegen sehr, sehr gut aussehende Männer hatten. Schließlich wusste jede, Emmaline eingeschlossen, dass Jack eben nicht nur sensationell attraktiv war, sondern auch noch ein unglaublich netter Kerl.

„Jack? Alles klar mit dir?“

„Alles bestens!“, entgegnete er zu schnell. „Tut mir leid. Ich bin bloß etwas müde. Bis demnächst mal wieder, Emma.“

Niemand nannte sie so. Höchstwahrscheinlich hatte Jack Holland einfach ihren Namen vergessen. Er öffnete die Kneipentür. Sofort erschallte ein mehrstimmiges „Jack!“ und „Hey! Der Held!“, es gab Beifall und Pfiffe. Die eiserne Glocke hinter der Bar wurde angeschlagen, das machten die O’Rourke-Zwillinge immer, wenn es was zu feiern gab.

Armer Kerl.

Emmaline hatte durchaus Verständnis dafür, dass die Einwohner von Manningsport – und dem Rest von Amerika – gar nicht fassen konnten, was Jack Holland getan hatte. Ihr ging es ja nicht anders. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es viele Menschen gab, die so etwas fertiggebracht hätten. Es war also tatsächlich unfassbar.

Was allerdings Jacks Gesichtsausdruck nicht erklärte.

Nun ja. Er hatte eine große Familie und viele Freunde. Jeder mochte die Hollands. Man würde sich gut um ihn kümmern.

Sie atmete die kalte Luft tief ein, dann ging sie um die Ecke zu ihrem Haus, einem kleinen Bungalow, der anheimelnd in der Dunkelheit leuchtete. Sie hatte ein paar Lichter für ihren Hund angelassen.

Emmaline war nicht in Manningsport geboren, hier aber auf die Highschool gegangen. Schon damals hatte sie in genau diesem Haus gewohnt, zusammen mit ihrer Großmutter. Nana war vor vier Jahren gestorben und hatte das Haus Emmaline und deren Schwester Angela hinterlassen. Angela lebte in Kalifornien. Für Emmaline war der Bungalow mehr als nur ein Zuhause – hier hatte sie damals Zuflucht und Normalität gefunden … genauso wie vor drei Jahren, als sie nach Manningsport zurückgekehrt war. Sie hatte viele von Nanas Möbeln behalten, einige neue dazugekauft und hier und da ein paar Wände gestrichen. Das Resultat war eine angenehme Mischung aus Alt und Neu, vielleicht nicht besonders stilvoll, aber gemütlich und fröhlich. Es brachte sie unweigerlich zum Lächeln, wenn sie nach einem langen Tag nach Hause kam.

Sie holte die Post aus dem kleinen Blechbriefkasten, schloss die Tür auf und kniete sich hin. „Mommy ist zu Hause“, rief sie.

Das Trappeln von Pfötchen und begeistertes Fiepsen waren paradiesische Musik in ihren Ohren.

Sarge kam auf sie zugerannt, die Quietscheente, sein Lieblingsspielzeug, als Geschenk im Maul.

Emmaline nahm den Hund auf den Arm und küsste seinen haarigen Kopf. „Hallo, Hund.“ Um seine und ihre Würde zu wahren, unterdrückte sie den fast übermächtigen Drang, mit dem Kleinen in Babysprache zu reden, aber als er ihr übers Gesicht leckte und wie ein kleiner Otter zappelte, musste sie lachen.

Sie stand auf und drehte sich mit ihm ein paarmal im Kreis, weil er das mochte. Bevor er vor Aufregung auf ihren Boden pinkeln konnte, schob sie ihn hinaus in den kleinen, eingezäunten Garten, wo er sofort ein vertrocknetes Blatt zu jagen begann.

Em sah ihre Post durch. Ein Prospekt von Loreleis Bäckerei mit herzförmigen Keksen und Cupcakes drauf – Bestellungen für den Valentinstag wurden ab sofort angenommen. Den brauchte sie wohl nicht aufzuheben, es sei denn, sie wollte sich selbst was Gutes gönnen (wozu sie tatsächlich Lust hatte, obwohl ihre Uniformhose in letzter Zeit etwas geschrumpft zu sein schien). Die Telefonrechnung. Eine Postkarte von ihrer Schwester. Saluti da Milano! Richtig. Super-Angela war auf einem Astrophysik-Kongress in Italien.

Em drehte die Karte um. „Hallo, Schwesterlein! Hoffe, dir geht’s gut. Ich habe noch nicht viel von Mailand gesehen, aber ich hoffe, nach dem Kongress noch ein paar Tage dranhängen zu können. Lass uns bald sprechen! Grüße und Küsse, Angela.“

Wie süß. Ihre Schwester, vier Jahre jünger, war wirklich ein unglaublich aufmerksamer Mensch. Sie war Tochter 2.0, in Äthiopien geboren und von Ems Eltern adoptiert worden, nachdem Em ihr Elternhaus verlassen hatte, um auf die Highschool zu gehen. Angela war genau die Art Tochter, die Dr. und Dr. Neal sich immer gewünscht hatten, auch wenn sie es niemals zugeben würden. Brillant, nett, fröhlich und obendrein auch noch umwerfend schön mit ihrer leuchtend braunen Haut und den riesigen, ausdrucksvollen Augen. Im College hatte sie sogar als Model gejobbt. Wenn Emmaline ihre kleine Schwester nicht so lieben würde, wäre es ziemlich leicht, sie zu hassen.

Sarge kam durch die Hundeklappe zurück, einen Schneeklumpen mitten auf der Nase. Geradezu irrwitzig niedlich. Sie gab ihm sein Abendessen, dann goss sie sich selbst ein Blue Point Toasted Lager ein. Okay, okay, die Finger Lakes waren eher für ihre Weine bekannt, aber es gab hier auch jede Menge großartige Mikrobrauereien.

Ups. Da war etwas aus dem Poststapel auf den Boden gefallen. Sie schnappte es sich gerade noch rechtzeitig, bevor Sarge sich daraufstürzen konnte. Er liebte Papier.

Sah nach einer Hochzeitseinladung aus. Dicker elfenbeinfarbener Umschlag, rote Tinte, Blumenbriefmarke.

Abgestempelt in „Malibu, Kalifornien“, ihrer Heimatstadt.

Ein warnendes Kribbeln breitete sich in ihren Knien aus.

Sie setzte sich auf den kleinen Lacktisch. Öffnete den Umschlag und fand darin einen weiteren. „Miss Emmaline Neal & Begleitung“ stand darauf. Auch dieses Kuvert riss sie auf.

„Gemeinsam mit ihren Eltern geben Naomi Norman und Kevin Bates ihre Vermählung bekannt und laden herzlich zur Trauung ein.“

Sarge legte die Pfoten auf ihr Knie, und sie zog ihn auf den Schoß. „Tja“, sagte sie mit trockenem Mund. „Wie es aussieht, heiratet mein Verlobter.“

2. KAPITEL

Am Samstagnachmittag fuhr Jack Holland vom Krankenhaus in Corning zurück zum Blue Heron, dem Weingut, das seiner Familie gehörte. Im Radio lief eine Talkshow, doch er hätte nicht sagen können, worum es ging. Er fand die Stimmen einfach tröstlich.

Wahrscheinlich war er in letzter Zeit zu viel allein. Eine leicht ramponierte Katze reichte wohl doch nicht als Gesellschaft. Er sollte wirklich mehr unter Leute gehen. Aber der gestrige Abend im O’Rourke’s war für ihn die Hölle gewesen, all diese Menschen, die ihm auf den Rücken klopften und ihn auf ein Bier einladen wollten. Die fragten, wie es ihm ging. Wie es Josh ging. Die ihm dankten und sagten, dass er ein verdammt mutiger Mistkerl wäre und man hier in der Stadt noch jahrelang davon sprechen würde – woraufhin ihm mal wieder der Angstschweiß ausgebrochen war.

Trotzdem hatte er gelächelt und sich für alles bedankt, was sie sagten, denn er wusste, dass sie es nur nett meinten und dass es immer schwerer für ihn werden würde, je länger er sich dem normalen Leben verweigerte. Ihm ging es gut. Ihm ging es wirklich gut. Alles war okay.

Er war so lange geblieben, wie er es ertragen konnte. Colleen O’Rourke, die wie eine vierte Schwester für ihn war – zusätzlich zu den dreien, die er ohnehin hatte –, umarmte ihn zum Abschied, und soweit er wusste, erwiderte er ihre Umarmung. Zu Hause hatte er sich dann einfach auf die Couch gesetzt. Lazarus neben sich, der ihn nicht berührte, aber doch für ihn da war.

Also, seine Familie zu treffen und normale Dinge zu tun war gut. Er mochte seine Familie. Sie machte ihm nicht die Hölle heiß. Jedenfalls nicht sehr.

Er setzte, vorsichtig, wie er war, den Blinker, obwohl er ganz allein auf der Landstraße fuhr.

Wenn er doch bloß Josh besuchen könnte. Und zwar dann, wenn seine Eltern mal nicht in der Nähe waren. Er wollte ihn einfach nur sehen.

Scheiße. Vielleicht sollte er besser mal anhalten.

Einmal, während Jack gerade an seinem Haus werkelte, war ein Rotfuchs hereingekommen, angelockt von einem Hackfleisch-Sandwich auf dem Sägebock. Als Jack das Zimmer betrat, geriet das Tier in Panik, rannte direkt auf die geschlossene Gartentür zu und warf sich wieder und wieder dagegen.

Genau das machte Jacks Herz in diesem Moment. Seine Hände am Steuer waren feucht, aber es war schon okay, ihm ging es gut – er musste nicht rechts ranfahren. Es ging ihm gut.

Vor Honors Eingangstür parkten gefühlt tausend Autos. Jack und seine Schwestern Prudence, Honor und Faith waren hier im sogenannten Neuen Haus aufgewachsen, das aus dem 19. Jahrhundert stammte. Inzwischen lebte dort seine mittlere Schwester mit ihrem Mann Tom und Charlie, dem Jungen, den die beiden quasi adoptiert hatten. Jacks Vater und seine Stiefmutter, Mrs Johnson (offiziell Mrs Holland, aber so nannte sie keiner), waren in die große Wohnung über der Garage gezogen.

Heute wurde Faiths Babyparty gefeiert.

Jack stieg aus. Prus Sohn Ned schlenderte gemächlich auf ihn zu. „Hey, Onkel Jack. Warum genau sind wir noch mal hier?“

„Ich habe keinen Schimmer“, erwiderte Jack. „Aus Solidarität gegenüber Levi, schätze ich mal.“

Wie nicht anders zu erwarten, versteckten sich die Männer der Familie – Jacks Vater und Großvater, seine drei Schwäger und der inoffizielle Neffe Charlie – mannhaft in der Küche. Aus dem Wohnzimmer erschallte lautes Frauengelächter.

„Jack!“, sagte sein Vater. „Wein?“

„Danke, Dad. Hey, Levi. Wie geht’s denn so?“

Levi sah ihn schmerzerfüllt an. „Gerade haben sie über Brustwarzenentzündungen gesprochen.“ Er deutete mit dem Kinn in das mit blauen Luftschlangen verzierte Wohnzimmer.

„Ich weiß schon, warum ich sie als Hexenzirkel bezeichne“, murmelte Jack.

„Levi!“, rief Faith. „Komm, sieh dir das an, Schatz. Ein Windeleimer!“

„Oh. Ein Windeleimer“, sagte Ned. „Opa, kann ich bitte auch Wein haben? Bitte? Schnell?“

„Bist du schon alt genug?“

„Bin ich. Beeil dich.“

„Levi!“

„Man verlangt nach dir, Kumpel.“ Tom schlug Levi auf die Schulter. „Eine schwangere Frau sollte man besser nicht warten lassen.“

„Du kommst auch noch dran“, murrte Levi düster. „Ich freue mich ja auf das Baby. Aber dieses … Zeugs … macht mich nervös.“ Seufzend ging er ins Wohnzimmer, um den Windeleimer zu bewundern.

„Ein neues Baby“, sagte Dad zufrieden. „Wird auch höchste Zeit. Stimmt’s, Jack? Noch ein Neffe für dich.“

„Hoffen wir mal, dass er so cool wird wie Charlie und ich“, bemerkte Ned.

Jack lächelte. Ups, sein Weinglas war ja schon leer. Komisch. Er konnte sich gar nicht an den Geschmack erinnern.

Mrs Johnson hastete herein, ein turmhoch mit Essen beladenes Tablett in den Händen. „Dachte ich mir doch, dass ich deine Stimme gehört habe, Jackie, mein lieber Junge! Möchtest du was essen? Du siehst dünn aus.“

„Mrs J“, sagte Jack zu seiner Stiefmutter, „du siehst heute ganz besonders bezaubernd aus. Genau genommen siehst du natürlich jeden Tag ganz besonders bezaubernd aus.“ Seine Stimme klang ziemlich normal, fand er.

„Ach, du schrecklicher Lügner!“ Sie schlug ihm leicht gegen den Kopf und strahlte. „Komm. Sag hallo zu deiner Schwester. Beeil dich, danach kannst du was essen.“

Jack ließ sich von ihr ins Wohnzimmer schieben. Faith thronte auf dem Sofa. Auf ihrem Babybauch balancierte sie einen Kuchenteller, um sie herum verstreut lagen pastellfarbenes Geschenkpapier und winzige Babyklamotten.

Ungefähr ein Dutzend Frauen redeten gleichzeitig und machten so viel Lärm wie mehrere Hundert Blechbüchsen, die eine Steintreppe hinunterpurzelten. „Jack, wie geht es dir? Jack, du warst unglaublich! Jack, Gott sei Dank warst du da! Jack, Jack, Jack!“

„Ladies“, sagte er. Der Rotfuchs warf sich gegen die Tür, wieder und wieder. „Hey, Schwesterlein.“ Er beugte sich herab, um sie pflichtschuldig auf den Kopf zu küssen.

„Jack!“ Faith tätschelte seinen Arm. „Schön, dass du gekommen bist, Kumpel.“

„Aber sicher. Welche Schwester bist du gleich noch mal?“

„Die schwangere. Die Königin.“

Er lächelte. Seht ihr? Vollkommen normal alles. Faith hatte was Witziges gesagt, und er hatte entsprechend reagiert. Honor lächelte ihm zu, das hieß wohl, dass er alles richtig machte.

„Nun, ich hoffe, dass die Geburt besser verläuft als damals bei mir, Faith“, bemerkte ihre Großmutter dramatisch. „Drei Tage. Schmerzmittel gab’s damals auch keine. Entweder Äther, oder man hielt es eben irgendwie aus. Manche starben sogar. John! Wo bist du, Sohn?“ Dad tauchte in der Küchentür auf, schon jetzt mit schuldbewusstem Gesicht. „Drei Tage lag ich mit dir in den Wehen.“

„Tut mir leid, Mom“, sagte er. „Noch immer.“ Er warf Jack einen gequälten Blick zu.

„Ich fand es toll“, schwärmte Prudence. „Ned ist wie ein Otter rausgeschlüpft, und bei Abby hatte ich nicht mal genug Zeit, ins Auto zu steigen. Sie ist auf dem Küchenboden zur Welt gekommen. Auch noch mit dem Hintern zuerst.“

„Danke, Mom“, sagte Abby. „Ich bin wirklich froh, dass das nun jeder weiß.“

„Das erklärt eine Menge“, brüllte ihr Bruder aus der Küche.

„Sieh unbedingt zu, dass du einen Dammschnitt bekommst, Faith“, empfahl eine andere Frau. „Sonst zerreißt du, du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr. Ist noch jemand hier zusammengenäht worden?“

Traurigerweise konnte Jack diesbezüglich nichts mehr erschüttern. Drei Schwestern, die allesamt keine Gefangenen machten, wenn es darum ging, andere an ihren urweiblichsten Erfahrungen teilhaben zu lassen. Als ob sie Kriegserlebnisse miteinander verglichen, dachte Jack, aber das war nur eine Vermutung. Sein eigener Dienst in der Navy hatte derlei nämlich nicht geboten; er war die ganze Zeit im Forschungszentrum unten in Washington gewesen.

Es war ein komisches Gefühl, hier im Neuen Haus zu sein – das übrigens deshalb so genannt wurde, weil es immerhin neuer war als das im vorigen Jahr abgebrannte Originalhauptgebäude des Grundstücks. Honor hatte das Gebäude im Sommer nämlich gründlich renoviert, und obwohl es noch immer so freundlich und gemütlich war wie in Jacks Kindheit, musste er sich erst an die veränderte Umgebung gewöhnen.

Er fand es immer noch etwas verwirrend.

Wie praktisch alles in letzter Zeit. Alles schien vertraut, aber doch irgendwie … anders.

Levi setzte sich neben ihn. „Hast du auch ein paar von ihren Geschichten zu hören gekriegt? Guter Gott!“

„Ach, ich habe drei Schwestern. Die können einfach nicht im selben Raum sein, ohne über Blut und Eierstöcke zu sprechen. Ganz zu schweigen von früher, als sie Teenager waren. Da haben sie ständig geheult und gekreischt. Beängstigend.“

„Da kann ich ja echt froh sein, dass ich in Afghanistan war, als meine Schwester in die Pubertät kam“, erwiderte Levi. „Dort war es höchstwahrscheinlich viel sicherer.“ Er schwieg einen Moment. „Geht es dir gut, Jack?“

„Ja, klar.“

„Kannst du schlafen?“

„Ziemlich gut“, log er. Levi sollte sich keine Sorgen um ihn machen.

„Nun, selbst wenn sie gut ausgehen, können diese Dinge manchmal … traumatisch sein.“

„Ja, klar.“

„Wenn du irgendwann darüber reden möchtest, sag einfach Bescheid.“

„Danke, Kumpel. Das weiß ich zu schätzen.“ Der Rotfuchs war wieder da. Jack fragte sich, ob Levi den wild jagenden Puls an seiner Halsschlagader sehen konnte.

Wieder tönte Lachen aus dem Wohnzimmer. Er stand hastig auf. „Na gut, ich habe mir meine Östrogen-Dosis für den Tag abgeholt.“ Er zögerte. „Hast du etwas von dem Deiner-Jungen gehört?“

Levi sah auf. „Unverändert.“

„Okay. Danke.“ Jack versuchte, tief einzuatmen, aber die Luft passte einfach nicht in seine Lungen. Also nickte er Levi zu, winkte den Frauen und ging zurück in die Küche, wo die Männer inzwischen eine Runde Poker gestartet hatten.

„Hol dir einen Stuhl, Jack“, rief sein Großvater. „Du kannst mitmachen.“

„Ich hab zu Hause noch einiges zu tun.“ Er drückte Pops’ Schulter. „Dad, wir sollten morgen den Pinot prüfen, okay?“

„Was immer du sagst, Sohn.“ Sein Vater lächelte ihn an, und Jack konzentrierte sich darauf, das Lächeln zu erwidern.

Er ging hinaus zu seinem Wagen. Der Himmel war fast dunkel. Wieder ein Tag vorüber, das war gut. Nicht, dass die Nächte einfacher waren. Im Gegenteil.

Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Diesmal war es Tom.

„Warte mal, Kumpel“, sagte der. „Ich wollte nur kurz mit dir reden. Wie läuft’s?“

„Danke, Tom. Gut.“

Der Mann seiner Schwester war ein guter Kerl. Genau genommen waren alle Ehemänner seiner Schwestern in Ordnung. Sie waren sogar seine Freunde, wobei er Tom, einen übergesiedelten Engländer, nicht so lange kannte wie Carl und Levi.

„Wenn du etwas brauchst, dann sag es, ja? Und natürlich bist du hier jederzeit willkommen. Honor hofft, dass du bald kommst und mit ihr irgendeine eklige Medizinsendung anguckst.“ Tom lächelte, seine Augen waren freundlich.

„Mach ich ganz bestimmt“, versprach Jack. Vermutlich würde er es nicht tun. „Danke, Tom.“

Er stieg ein und fuhr davon.

Die Leitplanke war noch nicht repariert worden, und schon in der ersten Nacht hatte jemand Blumen hingelegt. Inzwischen waren sie verwelkt, verrottet in ihren Plastikfolien. Ein durchweichter Teddybär mit einem Herz war seitlich in den Schnee gefallen.

Sieh nicht hin.

In Wahrheit will ich die Fragen und Umarmungen, die ganze Aufmerksamkeit nicht, dachte er, als er die Straße hinauffuhr und dann in die lange Auffahrt bog, die sich durch den Wald bis zum Rose Ridge wand. Er wollte nicht daran denken. Er wollte, dass es Josh besser ging. Er wollte eine zweite Chance bekommen.

Er steckte den Schlüssel ins Türschloss, dann blieb er wie angewurzelt stehen.

Im Haus roch es nach Parfüm.

Kerzen brannten auf dem Tisch, und im Kamin prasselte ein Feuer.

Eine schöne Frau erhob sich von der Couch. „Jack. Ach, Baby, wie geht es dir? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“

Scheiße.

Sie war der letzte Mensch auf der Welt, den er jetzt gebrauchen konnte.

„Hadley“, sagte er. Seine Exfrau schlang ihre Arme um ihn.

Sie war so schnell wie möglich gekommen, erzählte sie, weil sie natürlich die Berichte im Fernsehen gesehen hatte. Er hatte da etwas wirklich Wunderbares, Unglaubliches getan! Daddy war so stolz auf ihn, alle waren das, und typisch Jack, dass er …

„Hadley, was machst du hier? Im Ernst!“, unterbrach er sie.

Sie setzte sich wieder auf die Couch und wickelte die Decke um sich. Garantiert hatte sie sich vorher im Spiegel begutachtet. Mit Decke oder ohne? Will ich verloren wirken oder selbstbewusst und stark? Haar offen oder nicht?

Sie nippte am Wein (von dem sie sich selbst bedient hatte, wie er nicht umhinkam festzustellen). „Ich musste einfach kommen“, erwiderte sie. „Du sollst dich jetzt um nichts, aber auch gar nichts kümmern müssen. Ich habe unbezahlten Urlaub genommen, kann also so lange hierbleiben, wie du mich brauchst.“

„Wie ich dich brauche?“

Sie holte tief Luft. „Jack, ich weiß, wie schwer das alles für dich sein muss, und ich weiß, dass wir unsere Probleme hatten …“

Er lachte. So konnte man es auch ausdrücken.

„Und ich möchte für dich da sein. Mich um dich kümmern.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Es wiedergutmachen.“

„Ich habe dich zwei Jahre nicht gesehen, Hadley.“

„Ich weiß ganz genau, wie lange es her ist. Und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich bereue, was geschehen ist. In den letzten Jahren habe ich viel dazugelernt, und ich möchte dir zeigen, dass ich ein anderer Mensch geworden bin.“

Gar keine schlechte Rede, dachte er. „Das ist nett von dir, aber ich bin nicht interessiert.“

Sie schaute auf ihre Hände. „Ich kann’s dir nicht mal verübeln.“

Es war ihr schon immer gelungen, bei allem, was sie tat, wunderschön auszusehen.

„Du solltest gehen“, sagte er. „Danke, dass du vorbeigekommen bist.“

„Ich verstehe.“ Ihre Stimme klang heiser. Sie stand auf und faltete die Decke zusammen. „Nun, ich werde auf jeden Fall noch eine Weile in der Stadt bleiben.“

„Wozu?“

„Selbst wenn du es jetzt noch nicht so siehst, aber das mit uns ist noch nicht vorbei. Und ich möchte dir helfen, Jack, wirklich.“

„Ich brauche keine Hilfe. Aber danke, ich wünsche dir viel Glück für die Zukunft und diesen ganzen Mist.“

„Du bist wütend. Das kann ich nachvollziehen. Aber wie auch immer, ich werde eine Weile hierbleiben. Auf diese Weise bin ich auch näher bei meiner Schwester.“

Richtig. Frankie Boudreau, die jüngste der drei Boudreau-Schwestern, studierte in Cornell Tiermedizin, wie ihm sehr wohl bekannt war, weil er ab und zu mit seiner ehemaligen Schwägerin essen ging.

„Nun, dann will ich dich nicht weiter aufhalten“, sagte er. „Gute Nacht.“

„Schon gut. Ich … ich muss nur noch schnell ein Taxi rufen. Ich habe noch keinen Leihwagen.“

Er schloss kurz die Augen. In Manningsport fuhren im Winter keine Taxis. Sie müsste vielleicht eine halbe Stunde oder länger warten, bis ein Taxi aus Penn Yan kam. „Ich fahre dich. Welches Hotel?“

„The Black Swan. Ach Jack, vielen Dank, du bist so ein Gentleman.“

Ihre Koffer standen neben der Tür. Vier insgesamt, genug, um mehrere Monate zu bleiben. Er trug sie zu seinem Wagen. Hadley folgte ihm, leicht zitternd. Höflich hielt er ihr die Wagentür auf.

„Danke!“ Sie lächelte ihm zu, bevor sie einstieg.

Jack hatte so ein Gefühl, dass sein Leben gerade beträchtlich komplizierter geworden war.

3. KAPITEL

Was zur Hölle soll das sein?“ Entsetzt starrte Emmaline auf die … die … Dinger in Shelaynes Händen.

„Vertrau mir“, sagte Shelayne. „Die sind zwar eklig, funktionieren aber.“

Die Bitter Betrayed hatten sie zum Einkaufen begleitet, denn ja, sie würde zu der verdammten Hochzeit gehen. Zwar kam ihr jedes Mal, wenn sie daran dachte, Edvard Munchs Der Schrei in den Sinn, aber sie würde hingehen.

Denn abzusagen wäre noch schlimmer. Kevin würde denken, dass sie noch nicht über ihn hinweg war. Und Naomi würde sich freuen.

Die Sache war die: Damals, als Emmaline und Kevin Freunde wurden, hatten sich auch ihre und Kevins Eltern angefreundet, erleichtert darüber, dass ihre Kinder Anschluss gefunden hatten. Selbst nachdem Ems Eltern sich vor zehn Jahren hatten scheiden lassen (allerdings weiterhin im selben Haus wohnten, und wie krank war das eigentlich?), trafen sich die beiden Paare nach wie vor jeden dritten Samstag im Monat zum Abendessen. Sie reisten zusammen nach Alaska und, ein paar Jahre später, nach Paris.

Also würden Ems Eltern auch auf die Hochzeit gehen, genauso wie Angela. Und wenn Em nicht auftauchte, würden ihre Eltern, beide Psychologen, die Gründe dafür hinterfragen und analysieren und jedem auf die Nase binden. Sie würden sagen, dass Em nicht die emotionale Kraft aufgebracht hätte, diese schmerzhafte Reise zu unternehmen, um endlich mit der Sache abzuschließen. Mom hatte in dieser Woche bereits drei Mal angerufen, um Em an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Das konnte auch den stärksten Widerstand brechen.

Allison Whitaker, inoffizielle Vorsitzende der Bitter Betrayed, hatte sich begeistert auf diese Gelegenheit gestürzt. Einen gemeinsamen Einkaufstrip zu organisieren war schließlich viel amüsanter, als schon wieder über ein Buch zu diskutieren, das keine von ihnen gelesen hatte.

Im Bitter-betrogen-Buchclub ging es nicht wirklich um Literatur. Wie der Name schon andeutete, musste man sitzen gelassen worden sein. Allison, die aus den Südstaaten zugewanderte Kinderärztin von Manningsport, hatte sich von ihrem Mann Charles scheiden lassen, nachdem dieser eine hemmungslose Leidenschaft für antike Plätzchendosen entwickelt hatte, „und dabei nicht mal den Anstand hatte, schwul zu werden so wie dieser heiße Jeremy Lyon“. Shelayne Schanta, die Oberschwester der Notaufnahme, war für ihre eigene Tante verlassen worden. Jeanette O’Rourkes Mann hatte vor einigen Jahren eine viel jüngere Frau geschwängert. Grace Knapton, Leiterin der Theatergruppe, war von einem Pakistaner, den sie im Internet kennengelernt hatte, um fünftausend Dollar erleichtert worden. Er hatte behauptet, sie zu lieben, um dann nie mehr von sich hören zu lassen. Zugegeben, Grace war nicht wirklich verbittert – sie musste selbst immer wieder über ihre Dummheit lachen. Aber da sie hervorragende Cocktails mixen konnte (ihr Pfirsich-Sunrise war ein Gedicht) und traumhafte Käseröllchen machte, durfte sie dem Club beitreten.

Natürlich war die Hochzeit des Mannes, der Ems Mitgliedschaft möglich gemacht hatte, jetzt Gesprächsthema Nummer eins.

„Weißt du, was du tun solltest?“, sagte Allison in ihrem herrlich langgezogenen Louisiana-Akzent, während sie einen schwarzen Spitzen-BH streichelte. „Abführmittel in ihre Getränke mischen. Ich könnte dir ein entsprechendes Rezept ausstellen, Schätzchen. Oder noch besser, zerschneide direkt vor der Zeremonie eine scharfe Peperoni und reib deine Hände damit ein …“ Sie machte es vor. „Und dann fass ihnen ans Auge. Höllenfeuer und Verdammnis für die beiden.“

„Wie soll sie denn an die Augen rankommen?“, fragte Shelayne. „Aber Emmaline, wenn du das wirklich machst, dann solltest du sein Ding anfassen, das wäre klasse. Wir hatten letztes Jahr so einen Fall in der Notaufnahme. Es war zum Totlachen. Nun, jedenfalls für uns Krankenschwestern.“

„Ja, klingt wirklich verlockend“, murmelte Em, außerstande, ihren Blick von dem Päckchen in Shelaynes Händen loszureißen. „Aber ich werde es wohl eher nicht tun.“

„Probier die hier mal an, Em“, rief Jeanette. „Ich nehme vielleicht selbst ein Paar.“

„Ist es nicht schon schlimm genug, dass ich einen Badeanzug kaufen muss?“, jammerte Em.

„Wassersport bei einer Hochzeit.“ Grace gluckste. „Wer hat denn so was schon mal gehört?“

„Eben“, gab Emmaline zurück.

„Kusch, Kleine“, sagte Allison. „Wir haben schließlich Gnade walten und dich einen Einteiler aussuchen lassen. Jetzt komm her und zeig uns deine Brüste.“

„Das ist so demütigend“, ächzte Emmaline. Doch sie gehorchte und schlich mit dem Badeanzug in der einen und dem … Dings … in der anderen Hand in die Umkleidekabine.

Dort riss sie sich das Sweatshirt des Manningsport Police Departments über den Kopf und zog die Jeans aus. Dann schlüpfte sie erneut in den Badeanzug, eines von diesen „ein paar Kilo leichter“-Teilen, dem Herrgott sei Dank. Bei der ersten Anprobe hatten die Bitter Betrayed ihr Dekolleté für zu unauffällig befunden. Nachdem Em sich in den Wunderstoff hineingezwängt hatte, waren nämlich nicht nur die Speckröllchen am Bauch optisch minimiert worden, sondern auch ihre Brüste.

Also rein mit den Ta-Ta Ta-Das.

Die Ta-Ta Ta-Das sahen wie rohe Hähnchenfilets aus. Ihr Zweck: Die beiden Mädels etwas aufzumöbeln. Also die Brüste. Na super.

Em öffnete das Päckchen, dann schnitt sie eine Grimasse. Die Dinger fühlten sich auch an wie rohe Hähnchenfilets. Seufzend hob sie ihre linke Brust an und stopfte das Polster darunter. Vielleicht sollte sie einfach richtiges Hähnchenfilet kaufen. Wäre jedenfalls billiger als das hier. Sie steckte das rechte Teil hinein und schaute in den Spiegel.

So, so. Es funktionierte. Tatsächlich Ta-Da!

Sie ging hinaus, um sich der Gruppe zu zeigen.

„Hallo!“, rief Allison. „Leute, das nenn ich mal abheben!“

„Wie fühlen die sich an, Emmaline?“, wollte Grace wissen.

„Ekelhaft. Ich ziehe jetzt wieder meine eigenen Klamotten an. Ihr habt euren Spaß gehabt.“

Als sie kurz darauf um einen Tisch im Olive Garden saßen, nahm Em einen Schluck von ihrem Pfirsich-Sunrise (nicht halb so gut wie der von Grace) und holte tief Luft. „Also, Kinder, ich würde gern in Begleitung da hingehen“, gestand sie. „Kennt ihr jemanden?“

„Jack Holland“, riefen sie im Chor.

„Wow“, sagte Em. „Ist er im Sonderangebot oder was?“

„Nein, nein“, sagte Jeanette. Sie arbeitete fürs Blue Heron und war deshalb Expertin, was die Familie Holland betraf. „Er macht so was einfach öfter. Wenn jemand einen Begleiter braucht, dann geht er mit.“

„Nicht Jack“, sagte Emmaline.

„Wieso nicht? Er sieht so gut aus! Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre … Und er hat all diese Jungs gerettet! Ich meine, er war schon immer umwerfend, aber ich schwöre euch, jetzt beginnt bei mir alles zu zucken, wenn ich nur an ihn denke. In meinem Unterleib, meine ich.“ Okay, Grace war schon bei ihrem dritten Getränk. Nun, zumindest fuhr sie nicht Auto.

„Jack hat mich zur Hochzeit meiner Schwester begleitet“, erzählte Shelayne. „Er ist einfach perfekt. Umwerfend, klar, das wissen wir eh alle, aber man kann sich auch mit ihm unterhalten, er riecht fantastisch und macht sich auf der Tanzfläche nicht lächerlich. Als wir nach Hause kamen, hat er mich auf die Wange geküsst. Ich habe Sex vorgeschlagen, aber er hat abgelehnt. Aber auf sehr taktvolle Art, wisst ihr? Ich war nicht gekränkt oder so was.“

„Seine Exfrau ist wieder in der Stadt“, bemerkte Allison. Das wusste Em schon – Faith war im Polizeirevier vorbeigekommen, damit Levi sie küssen und seine Hand auf ihren Bauch legen und andere Ehemann-Dinge tun konnte, und hatte die Neuigkeit verkündet.

„Seine Frau?“, fragte Grace. „Diese Südstaaten-Schönheit? Die Blondine? Als wir Sound of Music aufgeführt haben, habe ich sie angefleht, die Liesl zu spielen, aber sie war … nun. Ihr wisst schon.“ Sie senkte die Stimme zu einem Bühnenflüstern. „Nicht besonders nett.“ Das war so ziemlich das Gemeinste, was Grace über die Lippen bringen konnte.

„Ihr Name ist Hadley“, sagte Jeanette. „Und ja, sie ist wunderschön. Sie kam letztens in den Souvenirladen vom Blue Heron. So was von elegant.“

Emmaline konnte sich an Jacks Frau erinnern – winzig und blond, hilflos und anbetungswürdig wie ein frisch geborenes Häschen. Einmal waren sie gleichzeitig im Lebensmittelladen gewesen, und Em hatte anhand des südlichen Akzents haarscharf geschlossen, dass es sich um Mrs Jack Holland handeln musste (typisch Kleinstadt, wo es nichts sonst gab, worüber man reden konnte). Em hatte die Arme voller Tüten, beinahe wäre sogar die Packung Ben-&-Jerry’s-Eis rausgefallen. Gerard Chartier sah, wie sie mit ihren Einkäufen kämpfte, sagte hallo und rannte sie dann praktisch um, um Hadley beim Tragen ihres Einkaufsnetzes zu helfen – in dem sich nicht viel mehr als ein Apfel befand.

„Sagen wir mal so, die Atmosphäre wurde auf einmal eisig, und zwar rasend schnell“, fügte Jeanette genüsslich hinzu. „Honor hat sie mit diesem kalten Blick angestarrt, und Hadley hat ziemlich schnell kapiert, dass sie unerwünscht war. Sie ist mehr oder weniger aus dem Laden geflüchtet.“

„Keine Frau, die halbwegs bei Verstand ist, würde jemals Jack Holland betrügen“, stellte Allison fest.

„Wenn Jack eine Vagina hätte“, sagte Grace, „dann könnte er Mitglied in unserem Buchclub werden.“

„Für dich gibt’s heute keinen Cocktail mehr“, verkündete Emmaline. „Zurück zu meinem Problem. Ich glaube nicht, dass Jack schon so weit ist. Er hat gerade andere Sachen im Kopf.“ Außerdem war er viel zu schön für eine normale Sterbliche wie sie. „Kennt ihr sonst jemanden?“

„Ich frage mal Charles’ Cousin“, bot Allison an. Die durch Keksdosen ausgelöste Scheidung hielt sie nicht davon ab, jeden Tag mit ihrem Ex zu sprechen. „Er ist ein Mann. Er muss andere Männer kennen.“

Dann wandte die Unterhaltung sich anderen wichtigen Fragen zu: was Emmaline anziehen, ob sie vorher eine Crash-Diät machen, ihr Haar färben und sich aufbrezeln sollte oder ob es besser wäre, Kevin ein schlechtes Gewissen zu machen, indem sie muffige Klamotten anzog und ihre Haare eine Woche lang nicht wusch.

„Nein, nein“, sagte Jeanette. „Du musst besonders schön aussehen.“ Sie starrte Em an. „Soll ich dir mal meine Tochter vorbeischicken? Sie kennt sich mit solchen Sachen aus.“ Colleen hatte selbst ab und zu bei den Bitter Betrayed vorbeigeschaut und ihre fantastischen Cocktails gemixt, doch jetzt war sie wieder mit dem Typ zusammen, der ihr damals den Laufpass gegeben hatte, und glühte vor Liebe und Hormonen, deswegen war sie ausgeschlossen worden.

„Wisst ihr was?“, erklärte Em abschließend. „Ich gehe einfach allein hin und setze mich zu meiner Familie.“ Sie hielt inne, um sich die eben beschworene Szene bildlich vorzustellen, und schauderte. „Na schön. Besorgt mir einen Typen, der ein paar Tage mit mir nach Kalifornien fliegt, und ich lasse all eure Strafzettel verschwinden.“

Und so kam es, dass Emmaline zwei Abende später Sarge siebenmal küsste, sicherstellte, dass die Quietscheente in seiner Nähe war, und dann um die Ecke ins O’Rourke’s spazierte, um einen Bekannten des Cousins von Allisons Exmann zu treffen. Mason Maynard.

Laut Allison – und einer kurzen polizeilichen Überprüfung – hatte Mason einen Job (Treffer!) in der Werbebranche und lebte nicht mehr bei seiner Mutter (Zweifachtreffer!). Er war nie verheiratet gewesen, einundvierzig Jahre alt und auf unbedrohliche Weise attraktiv. „Er geht gern essen, mag Hunde und französisches Cinéma“, hatte Allison gesagt.

Emmaline war zusammengezuckt. „Sehr verdächtig. Und warum Cinéma? Warum nicht Kino?“

„Klingt intellektueller. Ich muss jetzt aufhören, Em. Ich will ein paar sexuell eindeutige SMS an jemanden schicken, den ich im Internet kennengelernt habe.“

„Genau so trifft man auf Serienmörder und … Allison? Hallo?“ Ihre Freundin hatte aufgelegt.

Aber Allison hatte nicht unrecht. Em würde das Cinéma verzeihen und sich sogar den einen oder anderen dieser Filme ansehen, wenn Mason Maynard bereit wäre, mit ihr zur Hochzeit der Verdammten zu gehen.

Sie atmete tief durch und betrat das O’Rourke’s, in dem es warm und ruhig war, freundliches Licht sorgte für genau die richtige schmeichelnde Beleuchtung. Die üblichen Verdächtigen waren schon da – die Iskins, Bryce und Paulie, Jessica Dunn und Big Frankie Pepitone. Lucas lächelte seine Frau an, die gerade den Martini-Shaker schüttelte.

„Hey, Emmaline“, sagte Bryce. „Wie geht’s Sarge?“

„Er ist ja so niedlich, Bryce“, schwärmte Em. „Du hast was gut bei mir.“

„Ich bin einfach nur froh, wenn er glücklich ist.“

„Hey, Mädchen!“, rief Colleen. „Willst du an der Bar sitzen?“

„Ich nehme einen Tisch, wenn das okay ist. Ich bin verabredet.“ Sie schnitt eine Grimasse.

„Ein Blind Date?“ Colleen konnte bei solchen Dingen hellsehen, das wusste jeder. „Suchst du jemanden, Em? Warum hast du nicht mich gefragt? Das kränkt mich.“

Colleen hatte viele wunderbare Eigenschaften – Diskretion gehörte nicht dazu. „Ich suche nicht. Ich brauche nur einen Begleiter für eine Hochzeit.“ Sie zog ihren Parka aus und hängte ihn an die Garderobe.

„Hast du Jack Holland gefragt? Er ist für so was immer zu haben. Nur mit mir wollte er irgendwie nie gehen …“

„Nun, du bist jetzt ja ebenfalls verheiratet.“

„Stimmt. Aber wenn du einen Begleiter suchst, dann frag doch Jack. Er liebt es, jungen Damen in Not zu helfen.“

„Ich schätze mal, er hat in letzter Zeit ziemlich viel um die Ohren.“

Colleen nickte. „Er sieht auch ziemlich müde aus, der arme Kerl.“ Sie reichte Emmaline die Speisekarte. „Wer heiratet denn?“

„Mein Exverlobter.“

„Heiliger Herr im Himmel. Okay, dann brauchen wir einen extrem gut aussehenden Typen. Wann findet die Hochzeit statt und wo?“

„In zehn Tagen. Malibu.“ Em hatte die zwei Wochen seit der Einladung hin und her überlegt. Wollte sie sich das wirklich antun? Sollte sie eine Begleitung chartern oder nicht? Oder einfach nach Alaska ziehen und sich einen Krabbenfischer angeln?

Colleen warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. „Ähm … etwa Naomi Normans Hochzeit?“

„Ja. Woher weißt du das?“

„Ich bin auch eingeladen. Naomi und ich sind zusammen aufs College gegangen. Dieselbe Studentinnen-Verbindung.“

„Ah. Nun, mein Verlobter hat mich für sie verlassen.“ Warum nicht gleich mit der Wahrheit herausrücken.

„Nein! Weißt du, ich konnte sie noch nie leiden. Ich glaube, sie wollte mich als Brautjungfer, weil sie keine anderen Freundinnen hat.“

„Du bist Brautjungfer?“

Colleen zog eine Grimasse. „Tut mir leid. Ich habe Ja gesagt, weil ich dachte, das wäre eine super Möglichkeit, mit meinem Mann aus dieser Schneehölle rauszukommen, bevor ich zu schwanger zum Reisen bin. Das Resort sieht toll aus.“

„Allerdings.“

„Also hast du heute Abend ein Date, und man weiß ja nie, vielleicht ist der Kerl toll. Ich meine, das sind sie nie, aber egal. Hey, warte mal!“ Sie schlug sich an die Stirn. „Du könntest mit Connor hingehen. Schwangerschaftsdemenz. Ich vergesse einfach alles, sogar meinen Zwillingsbruder. Connor!“, schrie sie Richtung Küche. „Du musst mit Emmaline Neal zu dieser Hochzeit in Kalifornien gehen!“

„Nein, muss ich nicht!“, kam es zurück. „Tut mir leid, Em.“

„Macht nichts.“ Em spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen.

„Doch, musst du!“, brüllte Colleen. „Ihr Exverlobter ist der Bräutigam!“ Hey, warum sollte man ihr Liebesleben und -leiden nicht vor der halben Stadt ausbreiten? Aber zumindest war Connor nett und attraktiv und männlich schroff.

„Hör auf, mich ständig an andere auszuleihen.“ Connor stand jetzt in der Küchentür.

„Na schön!“, lenkte Colleen ein. „Du bist ein Idiot, Con.“ Sie wandte sich wieder an Emmaline. „Möchtest du was trinken?“

„Gern. Ein Blue Point Lager, bitte.“

„Oder vielleicht ein schönes Glas Pinot Noir?“, schlug Colleen vor. „Das macht gleich den richtigen Eindruck. Sensibel, aber nicht zu egozentrisch, und auch nicht zu sehr kesser Vater.“

„Ich bleibe beim Bier.“ Sie zögerte. „Du weißt schon, dass ich nicht lesbisch bin, oder?“

„Das weiß ich. Du siehst nur so aus.“

Em seufzte. „Na toll.“

„Trag dein Haar offen. Du hast schöne Haare.“ Colleen griff über die Theke und zog die Spange aus Ems Dutt. „So. Sehr hetero. Außerdem bin ich ein Genie, was Make-up betrifft. Nur so nebenbei.“

„Danke. Aber du hast doch bestimmt viel zu tun.“

„Schon kapiert. Ich schicke den Typen zu dir, wenn er hier an der Bar aufschlägt.“ Lächelnd eilte sie davon.

Trotz Colleens Aufdringlichkeit war Em zutiefst erleichtert. Colleen würde also auch bei der Hochzeit sein, Lucas ebenfalls. Und Angela. Mit anderen Worten: Sie hatte Verbündete. Ihre Eltern waren nach wie vor eher neutral. Auf wessen Seite sie standen, hing von ihrer jeweiligen Tagesform ab.

Hannah O’Rourke brachte ihr Bier, Em trank einen Schluck, dann nickte sie den Feuerwehrleuten von Manningsport zu, die hier ihr wöchentliches Meeting abhielten, das überwiegend aus Poker und schmutzigen Witzen bestand.

So. Wie genau sollte sie sich jetzt eigentlich verhalten? Seit ihrer Trennung hatte sie nicht viele Dates gehabt. Genau genommen, mal sehen, oh … zwei.

Es hatte natürlich etwas gedauert, bis sie über Kevin hinweg gewesen war, den ersten Mann, mit dem sie geschlafen, den sie geküsst, mit dem sie auch nur Händchen gehalten hatte. Und diese zwei Verabredungen waren ziemlich schrecklich gewesen. Ein Typ musste spontan ins Krankenhaus, um einen Nierenstein auszuscheiden; Em hätte ja mit ihm gewartet, aber er bat sie zu gehen, bevor seine Frau kam. Der andere Typ hatte sie gebeten, ihn abzuholen, sie dann in seine Wohnung eingeladen, eine Haschpfeife hervorgezogen und sie gefragt, ob sie high werden und mit ihm SpongeBob gucken wolle. „Sie haben das Recht zu schweigen“, hatte sie erwidert, und der Abend endete für ihn im Knast.

Zugegeben, die Männer rannten ihr auch nicht direkt die Tür ein. Sie hatte Bücher gelesen, solche, die einem rieten, Dummheit vorzutäuschen und feminin zu sein und nicht interessiert zu wirken und dem Mann die ganze Arbeit zu überlassen. Sie wäre auch durchaus bereit gewesen, diese Methode mal auszuprobieren. Ihr Problem war eher, dass die Typen sie gar nicht erst fragten, ob sie mit ihnen ausgehen wollte.

Em verstand schon. Sie war Polizistin, spielte Eishockey und hatte ein freches Mundwerk. Nicht unattraktiv, aber auch nicht atemberaubend schön, nicht wie Colleen oder Faith. Schulterlanges braunes Haar. Blaue Augen, kein Saphir oder Ultramarin oder Kobalt oder Türkis, einfach nur gewöhnliches Blau. Ihr Körper war Durchschnitt, vermutete sie. Sie war gut in Form, joggte und ging ab und zu Kickboxen. Andererseits hatte sie gerade gestern Abend erst einen ganzen Pepperidge-Farm-Kokosnuss-Kuchen verdrückt.

Kevins Abschiedsworte hatten sich auf ihr Gewicht bezogen.

Seufz. Mason Maynard war bereits siebenundvierzig Sekunden zu spät. Nicht, dass sie nachrechnete.

In ihrer E-Mail hatte sie deutlich gemacht, dass sie nach einem Begleiter für eine Hochzeit suchte, mehr nicht. Sie würde natürlich für seinen Flug und das Hotel aufkommen, alles, was sie suchte, war nette Gesellschaft. Jemanden, mit dem sie reden und zusammensitzen konnte und den sie, falls ihre Eltern fragten, als einen Freund vorstellen würde.

Sie war natürlich schon öfter ohne Begleiter auf Hochzeiten gewesen. Aber das waren die Hochzeiten von netten Menschen gewesen. Tom Barlow und Honor Holland. Oder letztes Jahr Faith und Levi.

Wieder sah sie auf die Uhr. Der Freund des Cousins von Allisons Exmann war jetzt drei Minuten und vierzehn Sekunden zu spät. Sie trank einen Schluck Bier, aber nicht zu viel, denn Mason Maynard sollte nicht denken, dass sie schon lange auf ihn wartete oder soff wie ein Bauarbeiter.

Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Mason toll war. Außerdem, wenn er 41 war, also acht Jahre älter als sie, war ihm wahrscheinlich auch schon mal das Herz gebrochen worden. Vielleicht würde er komplett nachvollziehen können, warum sie einen Begleiter brauchte, und bei der Hochzeit entsprechend charmant und verständnisvoll sein. Und wenn sie nach Manningsport zurückkamen, würde er sagen: „Weißt du, ich habe viel Spaß gehabt. Wollen wir mal zusammen essen gehen?“

Denn ja, Emmaline hatte immer heiraten wollen.

Das Problem war nur, dass sie immer Kevin hatte heiraten wollen.

So war das nun mal, wenn man seine große Liebe in der achten Klasse traf.

„Emmaline?“

Sie sah so jäh auf, dass sie sich praktisch den Hals ausrenkte. „Hey! Hi! Ja. Das bin ich.“

Mason Maynard sah besser aus als auf dem Foto.

Viel besser.

Und so was kam nun wirklich nicht jeden Tag vor. Er sah aus wie Michael Fassbender. Hoffentlich in jeder Hinsicht.

„Schön, dich kennenzulernen.“ Um seine Lippen spielte ein leises Lächeln. Emmalines Magen drehte sich einmal um sich selbst, und sie spürte, wie sich auf ihrem Gesicht ein törichtes Grinsen breitmachte.

Er hatte schöne dunkle Augen und grau meliertes Haar, und er sah aus … er sah aus wie ein Ehemann. Okay, das war jetzt vielleicht ein bisschen vorschnell geurteilt, aber …

„Ja, finde ich auch“, hauchte sie.

Sein Grinsen wurde breiter. Yep. Ehemann.

„Das ist meine Schwester.“ Er trat zur Seite, um den Blick auf eine dünne, ähnlich grau melierte Frau mit scharfen, bitteren Gesichtszügen freizugeben. „Patricia, das ist Emmaline.“

„Hallo“, sagte Patricia mit tonloser Stimme.

„Hi“, sagte Em.

Mist.

Aber nein, nein, das hieß noch gar nichts. Es war doch nicht komisch, dass ein Typ seine Schwester zu einem Date mitbrachte, oder?

Ja, gut. Es war komisch. Aber vielleicht gab es einen guten Grund dafür. Vielleicht hatte sie eine Panne mit dem Auto gehabt, oder sie war unerwartet bei ihm vorbeigekommen. Oder sie brauchte einen Betreuer, so irre, wie sie aussah, wäre das kein Wunder.

„Sie wollte dich kennenlernen.“ Mason Maynard zwinkerte ihr zu.

„Ja, klar. Das ist … das ist toll.“

Colleen kam zu ihnen. „Hallo! Was kann ich euch bringen?“, fragte sie fröhlich.

„Ich nehme einen Wodka Tonic“, sagte Mason Maynard. „Und für meine Schwester Wasser mit einer sehr, sehr dünnen Zitronenscheibe bitte.“

„Aber klar.“ Colleen warf Em einen Blick zu. „Vielleicht etwas zu essen?“

„Nein danke“, sagte Mason Maynard, während seine Schwester sich setzte. „Wir möchten nur etwas trinken.“

Emmaline war hin- und hergerissen. Einerseits stand die Situation auch so schon merklich auf der Kippe, andererseits knurrte ihr Magen. „Ich nehme die Nachos“, sagte sie. Patricia versank noch tiefer in ihrem Stuhl. „Wir können teilen, wenn du magst“, fügte Em hinzu.

Mason Maynard lächelte. Emmaline lächelte. Patricia lächelte nicht. Colleen ging zurück in die Küche.

„Also“, sagte Em. „Total toll, euch beide kennenzulernen.“

„Ich habe eine kleine Phobie, wenn es darum geht, mit Frauen allein zu sein“, erklärte er übergangslos.

„Deswegen komme ich immer mit“, fügte Patricia hinzu. „Immer. Jedes Mal.“

„Ah.“ Lieber Gott, wo versteckst du eigentlich die normalen Leute? Viele Grüße, Emmaline.

Mason Maynard lachte herzlich. „Nein, das stimmt nicht.“

„Doch, das stimmt.“

„Nein, das stimmt nicht.“ Mason Maynard lächelte wieder. „Nur beim ersten Mal. Mir ist klar, wie merkwürdig das wirkt.“

„Das liegt an unserer Mutter“, sagte Patricia.

„Lass uns jetzt nicht drüber sprechen“, bat Mason Maynard.

„Du solltest es ihr sagen, Mase“, blaffte Patricia ihn an. „Es ist gefährlich, Dinge in sich hineinzufressen!“

Die Feuerwehrleute starrten jetzt ganz unverblümt hinüber. Die liebten so was.

„Ist schon gut“, beschwichtigte Em. „Manche Dinge sind zu persönlich, um sie mit Fremden zu diskutieren.“

„Er hat Abgrenzungsschwierigkeiten“, betonte Patricia mit Nachdruck. „Das haben wir beide. Grenzen sind in Kommunen eher fließend.“

„Sagtest du Kommune?“, hakte Em nach.

„Und die Katzen. Lieber Himmel.“ Patricia erschauderte.

„So viele Katzen.“ Mason Maynards Stimme brach. Er holte tief Luft, dann versuchte er, Emmaline anzulächeln. Und sie versuchte zurückzulächeln.

„Ich selbst mag ja lieber Hunde“, bemerkte sie.

„Danke.“ Er ergriff ihre Hand. Sie fühlte sich etwas unwohl, weil er ihr so tief in die Augen sah … und seine Schwester gerade versuchte, etwas aus ihrem Backenzahn zu entfernen. „Du bist sehr nett. Also! Diese Hochzeit. Schwierige Umstände, würde ich sagen.“

„Ach weißt du, ich werde wahrscheinlich allein hingehen. Ich meine, das ist kein Problem. Aber vielen Dank.“

„Er war deine erste Liebe, das hast du in deiner E-Mail geschrieben.“

Scheiße. Warum hatte sie ihm davon erzählt? „Ja.“

Patricia hörte auf, an ihrem Zahn herumzupulen. „Mase, erzähl ihr von deiner ersten Liebe. Los. Erzähl ihr davon.“

„Das musst du nicht“, sagte Em. „Wirklich nicht.“

„Nein, nein, ich möchte es dir gern erzählen. Genau genommen ist es eine recht schöne Geschichte.“ Er umklammerte noch immer ihre Hand. „Lisbeth. Sie war wunderbar, so wunderbar. Eine Freundin meiner Großmutter …“

„Es war die Kommune. Wir hätten schon viel früher davonlaufen sollen, Mase.“

„Wie gesagt“, fuhr Mason Maynard fort, „Lisbeth war eine schöne Frau. Oh, sicher, vielleicht ein bisschen alt für einen siebzehnjährigen Jungen, aber …“

„Sie war vierundsiebzig“, sagte Patricia und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. „Vier. Und. Siebzig.“

„Hier sind deine Nachos!“ Colleen baute einen regelrechten Berg Essen vor ihr auf. Warum hatte Em das bloß bestellt? Jetzt musste sie zumindest so tun, als ob sie aß. Und konnte nicht einfach so gehen.

Moment. Sie war Polizistin. Sie hatte immer eine Ausrede.

„Wisst ihr was?“, sagte sie. „Ich habe gar nicht erwähnt, dass ich heute Abend Bereitschaft habe. Nur für den Fall, dass ich gebraucht werde. Patricia, ich bin Polizistin, und das hier ist so eine kleine Stadt …“

„Eigentlich hat Levi heute Bereitschaft“, mischte Colleen sich ein.

Lieber Gott, könntest du mir bitte mal helfen? Viele Grüße, Emmaline. „Nein, ich.“ Sie warf Colleen einen beredten Blick zu.

„Nein, da bin ich ganz sicher. Faith ist vorhin zum Abendessen hier gewesen, weil Levi arbeiten muss. Also hast du frei … oh.“ Endlich schien Colleen zu begreifen, dass sie gerade ein Loch in das letzte Rettungsboot der Titanic gebohrt hatte. „Tut mir leid.“

„Nein! Das ist … das ist toll. Ich dachte, ich hätte Bereitschaft. Aber offenbar doch nicht. Gut! Super. Das ist gut.“

„Nun fang endlich an zu essen“, sagte Mason Maynard. Sein Grinsen war breit und freundlich. Echt gruselig. „Mach schon – iss, solange es noch warm ist. In der Kommune hatten wir kein warmes Essen, weshalb ich jetzt ganz scharf darauf bin.“

„Ähm, möchtest du was? Bedien dich.“ Nicht. Bedien dich nicht.

„Wir sind Vegetarier.“ Patricia nahm sich einen Nacho und untersuchte ihn. „Obwohl ich ab und zu Schinken bestelle. Wusstest du, dass das französische Wort für Schinken jambon ist? Das finde ich faszinierend.“ Sie legte den Nacho zurück auf den Teller. „Jambon. Jambon. Jambon.“

„Zurück zu Lisbeth“, sagte Mason Maynard. „Sie und ich waren seelenverwandt. Es hat so gutgetan, nicht länger verbergen zu müssen, wer ich war, nicht verblendet von der traditionellen Vorstellung von Schönheit zu sein. Was übrigens ein Grund ist, warum ich denke, dass das mit dir und mir gut laufen wird.“

„Äh, danke.“

„Gern geschehen. Lisbeths Alter war also kein Problem. Weißt du, wir in der Kommune haben nicht ans Älterwerden geglaubt.“

Em nahm einen Nacho. „Wirklich. Und wie ist das mit euch ausgegangen?“

„Sie ist gestorben“, schluchzte Mason Maynard. „Lisbeth ist gestorben, ist einfach tot umgefallen, als sie Pflanzen jäten wollte!“ Er brach in Tränen aus. „Für mich kam das total überraschend!“

„Ach, Mase“, sagte seine Schwester und legte einen Arm um seine Schultern. „Wein doch nicht!“ Offenbar waren die Tränen ihres Bruders zu viel für sie, denn nun begann sie ebenfalls zu schluchzen.

Emmaline warf einen Blick zur Bar. Colleen hatte die Hände über die Augen gelegt, ihre Schultern zuckten vor Lachen.

„Coll?“, rief sie. „Kannst du mir die bitte zum Mitnehmen einpacken?“

4. KAPITEL

Wenn Hadley sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte nichts und niemand sie davon abbringen, wie Jack nur allzu gut wusste. Nicht die Meinung anderer Leute, kein gesunder Menschenverstand, nichts. Und jetzt, jetzt wollte sie Jack.

Was reine Zeitverschwendung war. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“, hatte Jacks Großmutter gesagt, als er ihr von seinen Hochzeitsplänen erzählte.

„Was ist so verkehrt daran, Junggeselle zu sein?“, fragte sein Großvater. „Ich wünschte, ich wäre Junggeselle. Das wünsche ich mir seit sechs Jahrzehnten.“

„Dann besorg dir einen Anwalt“, entgegnete Goggy. „Ich hab nichts dagegen, alter Mann.“

Im Nachhinein betrachtet, hatten die beiden recht gehabt.

Aber Jack war blind vor Liebe gewesen. Hadley Belle Boudreau war anders als jede Frau, die er je getroffen hatte.

Sie war sanft und klug und witzig. Und sie besaß Umgangsformen, die Yankee-Frauen – oder zumindest Holland-Frauen – einfach nicht hatten. Wobei seine Schwestern ihn erschlagen hätten, wenn er diese Meinung jemals laut kundgetan hätte. Pru trug Männerklamotten, roch genauso wie ihr Vater nach Trauben und Erde und hatte Jack jahrelang mit ekelhaften, detaillierten Schilderungen von Perioden und Eierstockzysten gequält. Honor war lebhaft und unsentimental. Faith, die Jüngste, machte sich einen Spaß daraus, ihn zu hauen (selbst jetzt noch, mit fast dreißig).

Aber Hadley war – wie sollte er es ausdrücken? – kultiviert. Sie war, Himmel noch mal, eine Lady, eine von diesen eleganten Frauen, die man sonst hier in der ländlichen Provinz vergeblich suchte. Und noch mal – er würde einen qualvollen, langsamen und extrem blutigen Tod erleiden, wenn seine Schwestern (oder seine Großmutter!) ihn jemals so etwas hätten sagen hören. Was letztlich seine Behauptung natürlich nur bestätigte.

Hadley war verletzlich, sie war winzig, eins siebenundfünfzig, schmal gebaut, seidiges blondes Haar und große braune Augen. Ihr Lächeln konnte einen ganzen Raum erhellen. Aber sie hatte auch einen ziemlich derben Sinn für Humor, was verhinderte, dass sie zu süß wirkte.

Sie hatten sich bei einer Weinverkostung in Manhattan kennengelernt, in einem todschicken Restaurant in der Nähe der Wall Street, vollgestopft mit mageren, schrecklich schicken Frauen und lauten, selbstbewussten Männern, die ihre Horsd’oeuvres mit einer gewissen Aggression verspeisten und versuchten, sich gegenseitig mit ihren Erfolgstorys zu übertreffen. Doch die Besitzer des Restaurants gehörten zu den besten Kunden des Blue Heron und waren eigentlich ganz nett.

Normalerweise kümmerte sich Honor um solche Sachen, aber sie hatte ihn gebeten, sie zu vertreten, und es machte ihm nichts aus. Weinproben (und dabei den Restaurantbesitzern Honig ums Maul schmieren) gehörten nun mal zum Geschäft, und Jack wollte seinen Teil dazu beitragen. Im College war er dem Navy’s Reserve Officers Training Corps beigetreten, und nach seinem Chemiestudium (bei der Herstellung von Wein drehte sich schließlich alles um Chemie) hatte er in einem Labor außerhalb von Washington für die Navy gearbeitet, um die potenziellen Auswirkungen und die Aufbereitung chemischer Verschmutzung in großen Wassermengen zu erforschen. Danach war er nach Manningsport zurückgekehrt, um seinen Platz als Winzer neben seinem Vater und seinem Großvater einzunehmen.

Das war immer schon der Plan gewesen: nach der Ausbildung zum Militär, um danach wieder nach Hause zu kommen, und der Plan war ja auch aufgegangen. Er liebte seine Familie, seine Arbeit, den Westen des Staates New York. Beim anderen Geschlecht war er außergewöhnlich erfolgreich, doch so langsam ging ihm das Singleleben auf die Nerven, er wollte heiraten und eine Familie gründen.

Dazu brauchte er nur noch die richtige Frau, und da er praktisch jeden in Manningsport kannte, konnte er davon ausgehen, dass die Richtige nicht von dort kam. Zweimal war ihm das Herz gebrochen worden, einmal auf dem College und einmal ein paar Jahre später, und seither hatte er keine längere Beziehung mehr geführt.

In jener Nacht schenkte er also Wein aus und erläuterte, was die Leute da gerade probierten (sofern sie sich dafür interessierten). In den Augen der Wall-Street-Männer war Jack einfach nur ein Barkeeper. Falls sie sich davon bedroht fühlten, wie manche der Frauen ihn musterten, so bewältigten sie dieses Gefühl, indem sie ihn einfach ignorierten. Was total in Ordnung war. Er war schließlich als Vertreter vom Blue Heron hier, sonst nichts.

Die anwesenden Frauen waren sowieso nicht sein Typ – sie trugen allesamt steife, enge, schwarze Kleider und Schmuck, der aussah wie aus gewundenem Draht. Musste dieses Jahr wohl schwer angesagt sein. Sie alle hätten als Klone durchgehen können, von ihren unterschiedlichen Haut- und Haarfarben einmal abgesehen.

„Also, was trinke ich da?“, fragte eine von ihnen und beugte sich vor, damit er den Ausblick bewundern konnte (kein Problem, ihr BH war ein architektonisches Wunderwerk, das ihre Brüste wie auf einem Teller präsentierte).

„Das ist ein Sauvignon Blanc“, sagte er. „Mit einer Note von Mandarine und Aprikose und sanften Anklängen von Kalk.“

„Mmm“, sagte sie und ließ den Blick über seinen Oberkörper wandern.

„Er hat eine feste Säure und ein langes, klares Finish. Passt hervorragend zu Fisch oder Geflügel.“

„Möchten Sie später zu mir kommen?“, erkundigte sie sich. „Ich bin übrigens Renee. Mitarbeiterin bei Goldman.“

„Leider ist das gegen unsere Firmenpolitik“, log er.

Ein weiterer weiblicher Wall-Street-Klon schlängelte sich zur Bar und bedachte Jack mit demselben nachdenklichen Blick wie die erste Frau. Er unterdrückte ein Seufzen, zwang sich zu lächeln und goss ihr Wein ein.

Ein Typ streckte ihm das Glas hin, ohne ihn dabei auch nur eines Blickes zu würdigen, und Jack schenkte ihm gehorsam nach.

„Nicht diesen! Den Cabernet!“, blaffte der Typ. Jack hob eine Augenbraue.

Und dann entdeckte er sie.

Sie war die einzige Frau hier, die nicht dunkel gekleidet war – sie sah aus, als sei sie direkt aus einem Disney-Film zur Weinprobe spaziert. Ihr Kleid war leuchtend pink, sie hatte das blonde Haar nachlässig hochgesteckt und wirkte etwas verloren.

Sehr verloren, um genau zu sein. Sie sah sich um, stellte sich auf die Zehenspitzen. Dann, indem sie immer wieder „Entschuldigung“ zu den lautstarken Brokern sagte, die sie vollkommen ignorierten, bahnte sie sich den Weg zur Bar.

„Hallo“, sagte er. „Alles klar?“ Er konnte ihr Parfüm riechen.

„Hallo“, entgegnete sie. „Ich bin … ein bisschen überwältigt. Ich wollte mich hier eigentlich mit meiner früheren Mitbewohnerin vom College treffen, aber sie ist noch nicht da. Irgendwie fühle ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen.“

Sie sprach mit einem Südstaatenakzent, ihre Stimme klang heiser. Was einen ganz speziellen Charme hatte. O ja.

„Jack Holland.“ Er streckte ihr die Hand hin.

„Hadley Boudreau.“ Ihre Hand war weich und zart. „Wahnsinnig schön, Sie kennenzulernen. Sie sind der erste Mensch, der mich heute anlächelt, das schwöre ich. Ich war noch nie zuvor in New York, und, du meine Güte, das hier ist ein komplett anderes Land, oder nicht?“

Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, war er verliebt. Sie passte nicht in diese laute, übertrieben selbstsichere Gesellschaft. Sie machte auf Jack den Eindruck, dass sie in Tränen ausbrechen würde, wenn jemand sie anstoßen oder ihr auf den Fuß treten würde. Schließlich wuchs man nicht mit drei Schwestern auf, ohne mitzukriegen, wie Frauen tickten.

Und Jacks Schwestern behaupteten zudem, er hätte eine Schwäche für junge Damen in Not.

„Woher kommen Sie?“, fragte er.

„Savannah.“

„Schöne Stadt.“ Er lächelte.

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