Lieber heiß geküsst als kaltgestellt

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Jessica sieht keinen Grund, ihre lockere Beziehung zu Connor auf die nächste Stufe zu heben. Schließlich hat ein Freund mit Vorzügen noch niemandem geschadet. Davon abgesehen hat sie neben ihrem Kellnerjob und ihrem Bruder, um den sie sich kümmert, ohnehin keine Zeit für eine Ehe. Alles könnte also weitergehen wie bisher - wäre da nur nicht diese Eifersucht, als Connor beschließt, sich eine andere Braut zu suchen …

"Ein atemberaubender, herzzerreißender und unwiderstehlicher Liebesroman." Kirkus Reviews


  • Erscheinungstag 12.09.2016
  • Bandnummer 5
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499418
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kristan Higgins

Lieber heiß geküsst als kaltgestellt

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Tess Martin

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Anything For You

Copyright © 2016 by Kristan Higgins

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V.&/S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Eva Wallbaum

Titelabbildung: Getty Images / Janne Hansson

ISBN eBook 978-3-95649-941-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Steh auf, du Blödmann.“

Zwar sagte sie es mit einem Lächeln, doch Connor O’Rourke hatte nun wirklich auf eine andere Reaktion gehofft. Schließlich kniete er gerade mit einem Diamantring in der Hand auf dem Boden.

„Ich habe dich gefragt, ob du mich heiraten willst, Jess“, sagte er.

„Und das war ganz bezaubernd.“ Sie zerzauste sein Haar. Ebenfalls kein gutes Zeichen. „Die Antwort ist natürlich nein. Was hast du dir bloß dabei gedacht? Mann, ich bin am Verhungern. Hast du schon Pizza bestellt?“

Okay. Zugegeben, Jessica Dunn war … anders.

Seit acht Monaten führten sie eine Beziehung – oder, je nachdem, wie man rechnete, seit zehn Jahren –, und diesen Moment überhaupt herbeizuführen hatte so viel strategische Planung verlangt wie beispielsweise die Landung der Alliierten in der Normandie. Und doch hatte Connor so eine Reaktion wirklich nicht erwartet.

Er versuchte es erneut. „Jessica, mach mich zum glücklichsten Mann der Welt und werde meine Frau.“

„Ich habe dich auch schon beim ersten Mal verstanden, mein Großer. Und dann auch noch diese ganzen Kerzen. Wirklich hübsch, wenn auch ein bisschen gewagt, Brandgefahr, du weißt schon.“

„Und deine Antwort lautet?“

„Du kennst meine Antwort bereits, und die kanntest du auch lange bevor du irgendwas gefragt hast. Und jetzt komm schon, Connor. Steh auf.“

Er rührte sich nicht. Jess seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm unter hochgezogenen Brauen einen geduldigen Blick zu.

Jetzt piepte ihr Handy, das sie sofort aus der Hosentasche fischte, weil sie immer ihre Nachrichten las, egal, was sie gerade machten. „Iron Man ist dabei, all die bösen Kerle in der Höhle zu erledigen“, sagte sie trocken.

Das war vollkommen normal – dass ihr Bruder sie per SMS über den Inhalt der Filme auf dem Laufenden hielt, die er sich zusammen mit seinem gelegentlichen Babysitter Gerard ansah. Manchmal war das lustig. Im Augenblick nicht so sehr.

„Könnten wir einen Moment ernst bleiben?“, fragte er.

„Ich habe wirklich Hunger, Con.“

„Wenn ich dir was zu essen mache, sagst du dann Ja?“

„Nein. Also steh jetzt auf. Lass uns einen netten Abend miteinander verbringen, okay? Wollten wir nicht Game of Thrones gucken?“

Heilige Jungfrau Maria, sie gab ihm wirklich einen Korb.

Er stand nicht auf. Mit der Hand, in der er nicht die kleine schwarze Samtschachtel hielt, rieb er sich über das Kinn. Er hatte sich extra rasiert und alles. Der Diamant blinkte höhnisch im Kerzenlicht.

„Hör zu, Jess“, sagte er. „Ich will nicht länger das Gefühl haben, als würdest du mich pro Stunde bezahlen. Ich habe es satt, dass du immer wieder mit mir Schluss machst. Warum heiraten wir nicht einfach und bleiben bis ans Ende unseres Lebens zusammen?“

„Kennst du den Spruch, dass man nicht reparieren soll, was nicht kaputt ist?“

„Siehst du mich hier mit einem teuren Ring in der Hand auf dem Boden knien?“

„Ja. Das ist kaum zu übersehen. Und es sieht wirklich schön aus. Bestimmt glaubst du, du musst mich lieben, nur weil wir seit so vielen Jahren immer mal wieder miteinander schlafen …“

„Nein, ich liebe dich wirklich.“

„Und zweitens weißt du doch, wie es ist. Ich kann dich nicht heiraten. Ich habe Davey.“

„Na und? Ich habe Colleen, und die macht einem viel mehr Arbeit als dein Bruder.“

„Sehr witzig.“ Jessicas Miene verhieß ihm, besser drei Schritte auf Abstand zu gehen, verriet jedoch nichts von ihren Gefühlen. Diesen undurchdringlichen Gesichtsausdruck hatte er in den letzten beiden Jahrzehnten nur allzu oft zu sehen bekommen. Es war, als ob sie einem sehr höflich zu verstehen gab: Rück mir nicht auf die Pelle, sonst verlierst du einen Arm.

Allmählich tat ihm das Knie weh. „Ich weiß, wie es um deinen Bruder steht, Jess. Aber ich finde nicht, dass du dich für ihn aufopfern solltest.“

„Fang nicht wieder damit an. Ich liebe meinen Bruder, und er steht für mich immer an erster Stelle.“

„Damit sitzt du doch praktisch lebenslänglich im Gefängnis! Schließlich geht es um dein Leben.“

„Richtig“, antwortete sie in einem Ton, als ob sie es einem Zweijährigen erklären müsste. „Mein Leben. Daveys Leben. Das kann man nicht voneinander trennen. Oder soll ich ihn vielleicht deinetwegen in einen Zwinger stecken?“

„Habe ich je das Wort Zwinger benutzt? Nein. Habe ich nicht. Aber du könntest ihm sagen, dass du heiratest und er bei uns leben wird.“ Oder in dieser Wohngruppe in Bryer, die wirklich sehr nett zu sein schien. Ja, Connor hatte sie sich angesehen.

Ihr Handy piepte erneut, und wieder schaute sie direkt auf das Display. „Iron Man kann fliegen.“

„Jessica. Ich bitte dich, mich zu heiraten.“ So langsam konnte er spüren, wie seine Kiefermuskulatur sich verspannte.

„Ich weiß. Und wirklich, vielen Dank. Das ist total süß von dir. Können wir jetzt essen?“

„Also sagst du nicht Ja, richtig?“

„Ja. Ich sage nicht Ja.“ Sie strich sich eine Strähne ihres seidigen blonden Haars hinter das Ohr.

„Dann ist das also ein Nein.“

„Leider ja, es ist ein Nein. Was dich nicht sonderlich überraschen dürfte.“

Sie wies ihn tatsächlich ab.

Irgendwie hatte er sich das alles ein bisschen anders vorgestellt.

Connor stand auf, sein Knie knirschte. Er klappte die kleine Samtschachtel zu und stellte sie vorsichtig auf den Tisch. Um den Ring zu kaufen, war er extra nach Manhattan gefahren – es war ein schlichter und makelloser Diamant mit Smaragdschliff, der zu ihr passte, denn sie war ebenfalls schlichtweg makellos. So, wie sie vor ihm stand − kein Tropfen Make-up im Gesicht, das lange blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, in Jeans und einem ausgewaschenen T-Shirt, auf dem Hugo’s stand –, war sie die schönste Frau, die er je gesehen hatte.

„Soll ich Pizza bestellen?“, fragte sie.

Er setzte sich ihr gegenüber. Im Kühlschrank lagen zwei Hummer, Muscheln, Kartoffelgratin, Artischocken und Rucolasalat, eine Flasche Dom Pérignon und zwei Schüsseln Crème au chocolat – denn sein Plan war gewesen, ihr den Ring an den Finger zu stecken, mit ihr zu schlafen und ihr dann das beste Abendessen ihres Lebens zu servieren.

Er wollte keine Pizza.

Und er wollte keinen Korb bekommen.

Er spürte den Puls in seinen Schläfen klopfen, ein Zeichen dafür, dass er wütend war. Klopfkopf, sagte seine nervige Zwillingsschwester dazu. Langsam und tief atmete er ein, sah sich im Zimmer um und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Das Esszimmer … vielleicht war das der Fehler gewesen. Die Atmosphäre hier konnte man schwerlich als warm und romantisch bezeichnen. Keine Bilder hingen an den Wänden, und bei Licht betrachtet, erinnerte sein ganzes Haus eher an eine Möbelausstellung als an ein Zuhause.

Und natürlich gab es auch keine Fotos von ihm und Jessica.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie soll das mit uns weitergehen, Jess?“

Sie war so kühl und ruhig wie ein Stein im Keuka Lake. „Was meinst du?“

„Du und ich, unsere Zukunft, unsere Beziehung, auch wenn man dieses heimliche Techtelmechtel mit zweiunddreißig wohl kaum als Beziehung bezeichnen kann.“

„Ich kann mir das ganz gut vorstellen. Dass wir zusammen sind, wenn es uns passt. Dass wir Spaß miteinander haben.“ Sie war nicht der Typ zum Streiten, so viel stand fest. Schade. Ein bisschen Geschrei gefolgt von fantastischem Versöhnungssex, das wäre jetzt schon eher nach Connors Geschmack gewesen. Außerdem wollte er unbedingt diesen Ring an ihrem Finger sehen.

Er bemühte sich, leise zu sprechen. Jess stand nicht auf Wutausbrüche. „Hast du nie daran gedacht, dass wir zusammenleben oder heiraten und Kinder haben könnten?“

„Nein. So wie es ist, ist es für mich perfekt.“ Sie drehte den Silberring an ihrem Daumen und lächelte ihn freundlich an.

„Für mich nicht. Nicht mehr, Jess.“

Ein normaler Mensch würde eine Lupe benötigen, um bei Jessica Dunn irgendeine Reaktion festzustellen, doch Connor war sozusagen Meisterstudent ihres Gesichts. Jetzt presste sie die Lippen ein winziges bisschen zusammen, was auf milde Bestürzung hindeutete.

„Okay, gut zu wissen“, sagte sie glatt. „Auch wenn es mir natürlich leidtut, das zu hören. Du hast schließlich behauptet, dass du alles verstehst und die Sachlage akzeptierst. In meinem Leben hat sich seither nichts geändert, deswegen ist mir nicht ganz klar, warum plötzlich alles anders sein soll.“

„Davey würde sich daran gewöhnen.“

„Nein, würde er nicht, Connor. Er hat einen IQ von zweiundfünfzig. Und er hasst dich, hast du das etwa vergessen? Er bekommt ja schon einen Nervenzusammenbruch, wenn er dich nur im Supermarkt trifft. Weißt du noch, wie er mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen hat, als er dich mit unserem Hund sah?“ Ja, daran konnte Connor sich gut erinnern. Um genau zu sein, war es einer der beängstigendsten Momente seines Lebens gewesen. „In meinem Leben ist kein Platz für Ehe und Kinder“, fuhr Jess fort. „Ich bin für meinen Bruder verantwortlich, und zwar mehr, als du dir je vorstellen könntest. Es überrascht mich, dass du überhaupt vom Heiraten angefangen hast. Wir haben doch schon eine Million Mal darüber gesprochen.“

„Genau genommen haben wir noch nie darüber gesprochen.“

Ihre Wangen röteten sich, sie war also doch nicht so vollkommen ruhig, kühl und gefasst.

Gut. Es schien ihm nämlich nicht fair, dass er hier der Einzige sein sollte, der Gefühle zeigte.

„Nun, ich dachte jedenfalls, dass du das wüsstest“, gab sie zurück. „Ich war immer sehr deutlich.“

Blut pulsierte in seinen Schläfen, zu heftig, zu schnell. Noch ein tiefer Atemzug. „Du benutzt deinen Bruder als Ausrede. Er würde sich schon daran gewöhnen. Du bist jetzt seit Jahren praktisch seine Geisel.“

„Wage es ja nicht, Connor.“

„Was ich sagen wollte, ist …“

„Dass ich ihn in ein Heim stecken soll. Das ist es doch, was du sagen wolltest.“ Immerhin, jetzt war sie wenigstens richtig bei der Sache.

„Nein, das wollte ich nicht. Als ich dieses Haus gekauft habe, habe ich auch an euch gedacht. Oben gibt es noch eine Wohnung, falls du das vergessen hast. Die ist für ihn. Ich mag deinen Bruder.“

„Nein, du magst ihn nicht. Du hast noch nie richtig mit ihm geredet, und er mag dich mit Sicherheit auch nicht. Und jetzt tu mal nicht so. Du hast einfach entschieden, ein Zweifamilienhaus zu kaufen, ohne auch nur einmal mit mir darüber zu sprechen.“

Da war was dran. Aber er hatte es tatsächlich als perfekte Lösung betrachtet: er und Jess unten, Davey oben. Stattdessen war, nachdem Jess sich geweigert hatte, auf diesen Vorschlag einzugehen, seine Schwester eingezogen.

Jessica seufzte, und auf einmal wirkte sie nicht mehr ganz so stahlhart. „Connor, hör mal. Ich finde dieses Angebot wirklich süß von dir. Vielleicht liegt es ja daran, dass deine Schwester schwanger ist und du irgendwie sentimental wirst, aber es würde einfach nicht funktionieren. Außerdem glaube ich, dass du mich nur deshalb gefragt hast, weil du wusstest, dass ich nicht Ja sagen würde, und du hattest recht. Ich sage nicht Ja.“

„Ich hätte dich nicht gefragt, wenn ich kein Ja von dir wollte, Jessica.“

Ihr Handy piepte erneut – und wieder schaute sie auf das abscheuliche Gerät. „Na toll. Davey hat die Toilette verstopft, und Gerard schafft es nicht, das Wasser abzustellen. Beim letzten Mal war das ganze Badezimmer überflutet, und ich musste den gesamten Boden erneuern lassen.“

„Jess, ich möchte, dass du meine Frau wirst.“

„Ich muss gehen. Wir sehen uns Donnerstag, okay? Das war eine nette Idee, Connor. Ich weiß das zu schätzen. Wirklich.“ Sie stand auf, küsste ihn auf den Kopf wie einen Hund – was er letztlich auch war, ein dummer Labrador, den man so lange ignorierte, bis man sich mal einsam fühlte, der immer glücklich war, einen zu sehen, und gerne vergaß, dass er ein Jahr lang im Keller eingesperrt gewesen war. Sie nahm ihre Jeansjacke vom Haken neben der Tür.

„Jessica.“ Er sah sie nicht an, starrte nur auf die flackernden Kerzen auf dem Tisch. „Das ist das letzte Mal, dass du mit mir Schluss machst.“

Ups, scheiße. Das hatte er nicht sagen wollen, aber nachdem die Worte nun mal ausgesprochen waren, standen sie zwischen ihnen wie eine Stahltür.

Sie erstarrte einen Moment. „Was meinst du damit?“

Sein Kopf brachte ihn fast um, er spürte jeden Herzschlag hinter den Augen stechen. „Ich spreche davon, wie oft du dich von mir getrennt hast, wie oft du gesagt hast, dass das Leben zu kompliziert wäre und du nichts daran ändern könntest. Ich möchte eine Frau und Kinder haben, und ich möchte dich in aller Öffentlichkeit küssen können. Wenn du jetzt gehst, dann war es das.“

„Machst du etwa gerade mit mir Schluss?“ Sie klang tatsächlich verärgert.

„Ich mache dir einen Heiratsantrag!“

„Und ich kapiere nicht, wieso!“, fuhr sie ihn an. „Du weißt, dass ich dir mehr einfach nicht geben kann.“

„Okay, dann war’s das eben.“ Er biss die Zähne zusammen. Ihre Lippen öffneten sich leicht. „Wirklich?“

„Ja.“

„Schön“, sagte sie. „Mach doch, was du willst.“

„Danke. Das werde ich.“

„Gut.“

„Gut.“

Sie sah ihn lange an. „Ich wünsche dir noch einen schönen Abend, Connor.“

Dann drehte sie sich um und ging. Connor schleuderte die bescheuerte schwarze Samtschachtel durchs Zimmer.

2. KAPITEL

Zwanzig Jahre vor dem Heiratsantrag

Connor Michael O’Rourke war zwölf Jahre alt, als er sich in Jessica Dunn verliebte.

Es beruhte nicht auf Gegenseitigkeit, aber das konnte er ihr nicht verübeln. Schließlich hatte er ihren Hund umgebracht.

Also nicht direkt umgebracht, doch es fühlte sich so an.

Der schicksalhafte, schreckliche Tag war ein Freitagnachmittag im April, als er und Colleen von der Schule nach Hause geradelt waren, eine vollkommen neue Freiheit, die ihre Eltern ihnen auch nur zugestanden, solange sie zusammenblieben, was wiederum den Nervenkitzel erheblich minderte. Es ist ein Fluch, eine Zwillingsschwester zu haben, dachte Connor oft. Wie viel cooler wäre es, wenn er allein durch den Ort radeln dürfte – er würde dann vielleicht in Mrs. Stoakes’ Laden ein paar Süßigkeiten kaufen oder am Seeufer eine Schlange entdecken, die er mitnehmen und in Colls Bett legen könnte.

Stattdessen waren sie zusammen. Colleen redete die ganze Zeit, fast ausschließlich über Dinge, die ihn nicht besonders interessierten – welche ihrer Freundinnen schon ihre Tage bekommen hatten, wer beim Mathetest durchgefallen war, wer in wen auch immer verliebt war. Das war praktisch der Normalzustand – Coll plapperte, er hörte halb hin, und ab und zu kam es zu gelinden Gewaltausbrüchen unter Geschwistern, die für eine gesunde Kindheit so wichtig sind.

Auch wenn sie ihm meist auf die Nerven ging, mit diesem Gerede über ihre magische Zwillingsverbindung, die sie – ja okay, zugegeben – tatsächlich hatten, und wegen ihrer Angewohnheit, ihm ständig überallhin zu folgen, konnte er es sich andererseits nicht anders vorstellen. Außerdem musste er auf sie aufpassen; sie war seine kleine Schwester, wenn auch nur drei Minuten jünger.

Connor und Colleens Leben war so normal, wie es nur sein konnte. Sie wohnten in einem hübschen Haus, machten fast jedes Jahr zwei Wochen lang irgendwo Urlaub, und vor Kurzem war Connor klar geworden, dass seine Eltern ziemlich betucht waren, was man als kleines Kind ja nicht so richtig mitkriegte. Sein Vater fuhr teure Autos, und wenn Connor die neuesten Nike-Turnschuhe haben wollte, wies seine Mutter ihn nie darauf hin, dass er sich doch auch für ein günstigeres Paar entscheiden könnte. Er war Mamas Liebling. Sein Vater hingegen … Nun ja, sein Vater war irgendwie schwierig. Angespannt und – wie sagte man doch gleich? – wichtigtuerisch, ja, das war er. Eingebildet und aufgeblasen. Nur zufrieden, wenn er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und bewundert wurde, und selbst das machte ihn immer nur für ein paar Minuten glücklich.

Während Connor also Moms Lieblingskind war, schien Colleen die gesamte Anerkennung abzubekommen, die Dad zu geben hatte. Vor allem in letzter Zeit kam es Connor immer so vor, als ob er entweder etwas falsch machte oder total unsichtbar war; nur als Colls Beschützer war er offenbar für seinen Vater zu gebrauchen. „Pass auf deine Schwester auf“, hatte Dad gerade heute Morgen erst wieder gesagt, während er Colleen umarmte. Für Connor gab es keine Umarmung. Was ja okay war, eigentlich. Er war schließlich ein Junge, ein großer Junge sogar. Und große Jungs wollten nicht mehr in den Arm genommen werden.

Überhaupt war heute ein guter Tag! Die Apfelblüten hatten sich geöffnet, und endlich wehte wieder ein laues Lüftchen. Sie hatten drei Tests zurückbekommen, und sehr zu Colleens Verdruss hatte Connor jeweils eine Eins plus; dabei lernte er nie. Den ganzen Tag hatte er sich schon auf die Heimfahrt mit dem Fahrrad gefreut. Freitagnachmittag bedeutete, dass sie sich Zeit lassen konnten, vielleicht bei Tompkin’s Gorge anhalten und ganz hinaufklettern, um dem Rauschen des Wasserfalls zu lauschen und kleine Glimmer- und Quarzstücke zu sammeln.

Colleen knallte gegen sein Hinterrad. „Ups, sorry, Streber“, sagte sie kein bisschen bedauernd.

„Kein Problem, Doofi.“

„Hast du heute Mittag Pizza gegessen?“ Sie schloss zu ihm auf. „Die war widerlich. Ich meine, die hat getropft vor Öl, total nass und eklig. Du solltest denen mal zeigen, wie das geht, Con. Deine Pizza ist die beste.“

Er musste ein Lächeln unterdrücken. Wenn seine Eltern ausgingen, kochte er immer für Colleen. Letztes Wochenende hatte es Pizza gegeben, den Teig hatte er selbst gemacht. Jeder von ihnen hatte eine komplette Pizza vertilgt, so gut war sie gewesen.

Er hörte ein Auto hinter sich und fuhr vor seine Schwester. Die Räder zischten auf dem feuchten Asphalt, er spürte den Wind in seinem Gesicht. Sie hatten den langen Heimweg gewählt, um ihre Freiheit besser ausnutzen zu können. Wenn man den historischen Ortskern hinter sich gelassen hatte, gab es nicht mehr viel außer Bäumen und Feldern. Nur Wests Wohnwagensiedlung lag noch vor ihnen, und danach gut eine Meile Natur. Sie würden um den Hügel herumfahren, an dem all die Weinberge lagen, und dann den gewundenen Weg nach Hause hinaufradeln.

Nach den langen kalten Monaten fühlte es sich gut an, im Freien zu sein. Er trat fester in die Pedale und vergrößerte den Abstand zwischen sich und Coll. Über den Winter hatte er einen Wachstumsschub gehabt, daher fiel es ihm leicht, seine Schwester abzuhängen. Er spürte das befriedigende Brennen seiner Muskeln und folgte ihrem Ruf nach noch mehr Geschwindigkeit. Auf Coll würde er oben warten. Sie war schließlich ziemlich faul.

Und dann hörte er ein Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Musste Colleen husten? War es ein Motor? Nein, das war kein …

Etwas Braunes raste auf ihn zu, und er lag schon am Boden, das Fahrrad über sich, bevor er überhaupt kapierte, dass sie zusammengestoßen waren. Nicht Colleen hatte dieses Geräusch gemacht, sondern ein Hund. Das braune Ding war ein Hund, und der war rasend vor Wut.

Er hatte keine Zeit zu reagieren, keine Zeit, auch nur Angst zu empfinden; da war nur der harte Asphalt unter seinen Schultern und Hüften, und da waren seine Hände, mit denen er versuchte, den Hund von seiner Kehle fernzuhalten. Die Welt war voller Lärm – wütendes lautes Knurren und Colleens Schreie. War sie okay? Wo war sie?

Alles, was Connor sehen konnte, war das Hundemaul, riesig, klaffend und schnappend, der dicke, starke Hals, und dann zog sich das Maul weit, weit nach hinten zurück wie eine Schlange, und er wusste, sobald diese Zähne sich in ihm vergruben, wäre er tot. Der Hund versuchte, ihn zu töten, begriff Connor benommen. Womöglich war das hier die Art und Weise, wie er sterben würde. Nicht vor Colleens Augen. Bitte.

Bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, fuhren die Zähne in Connors Arm, der Hund schüttelte den Kopf … und Himmel, hatte er eine Kraft, Connor war nur ein Lumpen, den der Hund herumschleuderte, und er konnte nicht schreien und auch nicht kämpfen; verglichen mit diesem muskulösen Hund war er ein Nichts. Colleen schrie, der Hund knurrte, Connor war ganz still, während er versuchte, seinen Arm festzuhalten, damit er ihm nicht abgerissen wurde.

Dann begann Colleen, mit ihrem Rucksack auf den Hund einzuschlagen und ihn zu treten, nirgendwo waren Autos zu sehen. Es wäre wirklich gut, wenn jemand anhalten und helfen würde; in diesem Moment wünschte er sich so sehnlich einen Erwachsenen herbei. Sein Arm brannte wie Feuer, da war auch Blut, und der Hund zerrte und schüttelte noch immer, als ob Colleen gar nicht da wäre.

Irgendwann ließ der Hund seinen Arm los und drehte sich zu Colleen um, die ihm voll ins Gesicht trat. Gott, sie war wirklich mutig, aber was, wenn er jetzt sie anfiel? Und schon schien er genau das zu tun, doch Connor trat ihm ans Bein, und sofort wandte er sich wieder ihm zu – gut, besser er als Colleen –, und dann fiel er schon ein zweites Mal über ihn her.

Diesmal hatte er es auf seinen Kopf abgesehen  – und das war’s, er würde sterben. Das riesige Maul klappte zu, und seine ganze linke Gesichtshälfte begann heftig zu brennen. Der Hund ließ nicht locker. Colleen war jetzt vollkommen hysterisch, trat immer wieder nach dem Tier, und Connor sah ihre Augen, so weit aufgerissen, dass er den kompletten grauen Kreis ihrer Iris sehen konnte.

Hau ab, Collie. Renn weg.

Er würde gleich ohnmächtig werden, Colleens Schreie schienen sich immer weiter zu entfernen.

Dann ein Kläffen, und der Hund war verschwunden. Instinktiv hob er die Hand an seine Wange, sie pochte und war heiß und viel zu nass.

„Oh mein Gott, oh mein Gott“, schluchzte Colleen und fiel neben ihm auf die Knie, um ihn zu umarmen. „Hilfe!“, schrie sie jemandem zu.

„Bist du okay?“, fragte Connor, seine Stimme klang seltsam und schwach. War sein Gesicht noch da? „Coll?“

Sie löste sich zitternd von ihm. „Du blutest. Ganz schön schlimm.“

Sie waren direkt vor dem Trailer Park, wo die armen Kinder in Wohnwagen lebten. Tiffy Ames und Levi Cooper und Jessica Dunn.

Und da war Jess auch schon, hielt den Hund an seinem Halsband fest und versuchte, ihn hochzuziehen. Ihr Bruder, mit dem irgendwas nicht stimmte, hatte sich auf den Hund gestürzt, schluchzend, und sagte wieder und wieder ein Wort. Cheeto oder so was. „Ist sie okay?“, fragte Connor, aber seine Stimme war zu leise, um gehört zu werden. „Ist ihr Bruder okay?“

„Ruft einen Krankenwagen“, kreischte Colleen, ihre Stimme war hoch und zittrig.

„Bist du okay, Collie?“, fragte er. Wieder war das gesamte Grau ihrer Augen zu erkennen.

„Mir geht’s gut. Aber du … bist verletzt.“

„Wie schlimm?“

„Schlimm. Aber ist schon okay. Alles wird gut.“ Tränen tropften über ihre Wange und auf ihn.

„Muss ich sterben?“

„Nein! Himmel, Connor! Nein!“ Aber er spürte, dass sie sich nicht sicher war. Sie knüllte ihr Sweatshirt zusammen und drückte es an seinen Kiefer. Sofort sah er vor Schmerz schwarzweiße Blitze. Auf seiner Hand glänzte dunkelrotes Blut. „Atme einfach ganz gleichmäßig.“ Sie biss sich auf die Lippe.

Das half. Der Himmel wurde wieder blauer, und Connors T-Shirt war rosa. Und blutbefleckt. Er hörte eine Sirene, so ein schönes Geräusch … aber, wie es schien, noch so weit weg.

„Sie kommen. Halt durch. Hilfe ist schon unterwegs“, sagte Colleen. Sie klang viel zu erwachsen. Tränen strömten ihr über das Gesicht, ihre Lippen zitterten.

Dann das Zuknallen einer Tür. Connor sah hinüber. Jessica Dunns Vater kam nach draußen. „Was habt ihr Kids mit meinem Sohn gemacht?“, fragte er. Er schwankte ein wenig, und Connor konnte nicht anders: Jessica tat ihm leid. Jeder wusste, dass ihre Eltern Alkoholiker waren.

„Sperren Sie diesen Scheißhund ein!“, rief Colleen.

Oje. Er hatte sie noch nie zuvor fluchen hören. Vermutlich war von seinem Gesicht nicht viel übrig, und vielleicht lag er gerade wirklich im Sterben.

Jessica schob ihren kleinen Bruder zur Seite, endlich, dann bückte sie sich und hob den Hund auf. Er war schwer, wie Connor sehen konnte. Wie Connor wusste.

„Chico!“, kreischte ihr Bruder. „Bring Chico nicht weg!“ Er rannte hinter Jessica her, schlug mit den Fäusten auf ihren Rücken ein, aber sie ging weiter zum Wohnwagen – dem hässlichsten und schmutzigsten von allen – und schloss die Tür hinter sich.

Dann kam Levi Coopers Mutter heraus, einen Säugling auf der Hüfte, und als sie Connor sah, rannte sie zu ihm. „Oh mein Gott, was ist passiert?“ Connor bemerkte, dass sie zitterte, aber wenigstens war jetzt ein freundlicher Erwachsener hier.

„Der Hund von den Dunns hat ihn attackiert.“ Colleens Stimme brach. „Er kam einfach aus dem Nichts.“

„Mein Gott“, murmelte Mrs. Cooper. „Ich habe ihnen immer wieder gesagt, dass dieser Hund gefährlich ist. Lieg ganz still, Schatz.“ Sie tätschelte Connors Bein.

Es war seltsam, hier zu liegen, von Mrs. Cooper zu hören, dass er sich nicht bewegen sollte, Colleens Sweatshirt an sein schmerzendes Gesicht gepresst, die Dunns in ihrem Garten. „Dieser Hund kann keiner Fliege was zuleide tun“ und: „Warum waren diese Kinder überhaupt auf meinem Grundstück?“ Und Colleen hielt seine Hand viel zu fest.

Als der Krankenwagen kam, war das ziemlich beschämend und gleichzeitig eine solche Erleichterung, dass er beinahe losgeheult hätte. Jede Menge Rummel und Fragen, Verbandsmull und Funk. „Minderjähriges Kind, zwölf Jahre alt, von Hund angefallen“, sagte Mr. Stoakes in sein Funkgerät. Minderjähriges Kind. Mann! Alle warfen den Dunns böse Blicke zu.

Sie legten Connor eine Halskrause an und hoben ihn auf eine Trage. Mrs. Cooper sagte, sie hätte Connors Mutter angerufen, die direkt ins Krankenhaus kommen würde. Colleen fuhr vorn im Krankenwagen mit, schluchzend.

In der Notaufnahme erklärten sie ihm, dass er großes Glück gehabt hätte und dass alles viel schlimmer hätte ausgehen können. Am Ende bekam er elf Stiche am Kinn, acht unter dem Auge. „Mach dir keine Sorgen wegen der Narben“, versicherte der hippe junge Doktor, der ihn verarztete. „Mädchen stehen auf Narben.“ Weitere sechzehn Stiche am Arm, eine Beule am Kopf, Schürfwunden am Rücken, wo sein T-Shirt hochgerutscht war. Mit anderen Worten: Er war ein Wrack. Alles schmerzte und brannte und pochte.

Mom weinte den ganzen Abend, Connor war leicht benebelt von den Schmerzmitteln. Colleen bastelte ihm eine Gute-Besserung-Karte, ohne auch nur eine einzige Beleidigung daraufzuschreiben, woraus Connor schloss, dass er noch schlimmer aussah als befürchtet. „Du hast mich gerettet“, sagte er, und sie brach in Tränen aus.

„Hab ich nicht“, erwiderte sie. „Ich habe es versucht, aber nicht geschafft.“

„Aber er hat aufgehört.“

„Jessica hat einen Stein nach ihm geworfen und ihn voll am Kopf getroffen.“

Hm. Er war zu betäubt, um weiter darüber nachzudenken. Gut gezielt jedenfalls.

Sein Vater war blass vor Wut. „Diese beschissenen Typen, Abschaum!“ Er betrachtete Connors Gesicht, dann ging er zum Telefonieren in sein Büro und kam erst wieder heraus, als Connor im Bett lag. „Ich bin froh, dass du so weit in Ordnung bist“, sagte er und legte eine Hand auf Connors Schulter. Auf einmal schien sich der Hundebiss gelohnt zu haben. „Du warst sehr mutig, wie ich hörte.“

„Ich hatte wirklich Angst.“

Mist. Falsche Antwort. Er hätte einfach sagen sollen, dass es keine große Sache war oder so was. Denn natürlich nahm Dad die Hand jetzt wieder weg. „Hätte schlimmer kommen können“, fügte Connor schnell hinzu. „Zumindest war es nicht Colleen.“

Wenn seiner Schwester etwas passiert wäre, hätte Connor den Hund höchstpersönlich getötet. Schrecken und Wut durchzuckten ihn unerwartet heftig.

„Morgen werden wir die Dunns besuchen“, sagte Dad.

„Ach, Dad, nein.“ Die Erinnerung daran, wie Jess den Hund in den Wohnwagen gezerrt hatte … Irgendetwas stimmte an dem Bild nicht, aber Connor wusste nicht, was.

„In solchen Situationen muss man seinen Mann stehen“, erklärte sein Vater. „Ich werde mit dir mitkommen. Keine Sorge. Sie müssen sich bei dir entschuldigen.“

Am nächsten Tag zwang sein Vater ihn tatsächlich, in den Porsche zu steigen und zum West’s Trailer Park zu fahren. Connors Gesicht unter dem Verband war geschwollen und wund, sein Arm schmerzte. Das hier war der letzte Ort auf der Welt, an dem er sein wollte.

Dad klopfte laut an die Tür. Jessica öffnete, ihr Blick fiel auf Connors Gesicht. Sie sagte nichts. Im Hintergrund plärrte der Fernseher, es lief eine dieser Gerichtssendungen, in denen immer viel gebrüllt wird.

„Sind deine Eltern zu Hause?“, fragte Dad, ohne seine Zeit mit Höflichkeiten zu verschwenden.

„Hi, Jess“, sagte Connor. Sein Dad warf ihm einen scharfen Blick zu.

Sie verschwand. Eine Sekunde später kam Mrs. Dunn an die Tür. „Was wollen Sie?“, fragte sie mürrisch. Connor überfiel umgehend eine tiefe Dankbarkeit für seine eigene Mutter, die immer gut roch und  – nun ja  – einen BH trug und saubere Blusen.

„Ihr Hund hat meinen Sohn angefallen.“ Dads Ton war hart. „Ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Nachmittag der Hundefänger kommt, um ihn einzuschläfern.“

„Sie haben nicht zu entscheiden, was mit meinem Hund geschieht“, gab sie zurück, und Connor konnte den Alkohol in ihrem Atem von der Treppe aus riechen.

„Was bedeutet einschläfern?“, fragte eine kleinlaute Stimme.

Connor zuckte zusammen. Davey Dunn spähte hinter den Beinen seiner Mutter hervor. Er war fünf oder sechs, und er hatte die längsten Wimpern, die Connor je gesehen hatte. Jeder wusste, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dieser schmale Kopf und die weit auseinanderstehenden Augen, aber Connor war nicht sicher, was genau es war. Die Kinder im Bus hatten ein Wort dafür, aber Connor wollte es nicht mal denken. Davey war einfach nicht ganz … normal. Aber doch auch irgendwie süß. Jess tauchte neben ihrem Bruder auf, legte eine Hand auf seinen Kopf und starrte Connor ausdruckslos an.

Er und Jess gingen in dieselbe Klasse. Er konnte nicht gerade behaupten, dass sie nett war; sie hatten nicht dieselben Freunde, aber sie war öfter mit Levi Cooper zusammen, und jeder mochte Levi.

Außerdem war Jess Dunn wunderschön, das hatte Connor schon immer gewusst.

„Was ist hier los?“ Mr. Dunn erschien auf der Türschwelle, zerknautscht und dürr. Und auf einmal war auch der Hund da, sein großer brauner Kopf, und Connor wich zurück, er konnte einfach nicht anders. Dad packte das Tier hart am Halsband. „Einschläfern“, sagte er zu Davey, „bedeutet, dass dein Hund wegmuss und nie wieder zurückkommt, weil er sehr böse war.“

„Chico ist nicht böse.“ Davey steckte den Daumen in den Mund. „Er ist lieb.“

„Sieh dir das Gesicht meines Sohnes an“, zischte Dad. „Das hat dein Hund getan. Also kommt er jetzt in den Hundehimmel.“

Es wurde still. Davey nahm den Daumen aus dem Mund und blinzelte.

Dad konnte manchmal so ein Arsch sein.

„Er wird sterben?“, fragte Davey.

„Ja. Und du hast Glück, dass er dich noch nicht zerfleischt hat, Sohn.“

„Sprechen Sie nicht mit meinem Jungen“, sagte Mr. Dunn etwas verspätet.

„Nein!“, heulte Davey auf. „Nein! Nein!“

„Da sind sie schon“, sagte Dad. Ein Kleinbus fuhr in die Wohnwagensiedlung.

„Chico! Komm! Wir müssen uns verstecken!“, schluchzte Davey, aber Dad hielt den Hund noch immer am Halsband fest.

„Dad“, sagte Connor. „Vielleicht könnte der Hund einfach … ich weiß nicht. Angekettet werden oder so was?“

„Hast du dir mal dein Gesicht angesehen?“, fuhr sein Vater ihn an. „Dieser Hund ist morgen tot. Es wäre verrückt, ihn am Leben zu lassen.“

„Nein!“, kreischte Davey.

Drei Leute von der Tierkontrolle stiegen aus; jetzt kam auch noch ein Streifenwagen. „Wir müssen den Hund mitnehmen, Ma’am“, sagte einer der Männer, aber man konnte ihn kaum verstehen, weil Davey so laut schrie, und der Hund … Der Hund leckte schwanzwedelnd über Daveys Gesicht.

„Dad, bitte“, sagte Connor. „Tu das nicht.“

„Du verstehst das nicht.“ Sein Vater sah ihn nicht an.

„Leckt mich alle am Arsch“, murmelte Mrs. Dunn. Tränen liefen ihr aus den Augen. „Fahrt zur Hölle!“

Es war Jess, die Davey auf den Arm nahm, obwohl er wild um sich schlug und trat. Sie drückte seinen Kopf an ihre Schulter und zog sich weiter in den düsteren kleinen Wohnwagen zurück.

Mr. Dunn beobachtete das Geschehen. Sein Mund war zu einer wütenden Grimasse verzerrt. „Ihr reichen Leute bekommt immer euren Willen, nicht wahr? Wie nett, das Hündchen eines behinderten Jungen zu töten.“

Das war das Wort, das Connor nicht mal denken wollte, und dann auch noch ausgesprochen vom Vater des Kindes.

„Ihr Hündchen hat beinahe meinen Sohn umgebracht“, knurrte Dad. „Sie dürfen sich gern entschuldigen.“

„Lecken Sie mich.“

„Dad, lass doch“, flehte Connor. Seine Augen brannten. Man konnte noch immer hören, wie Davey den Namen des Hundes schrie.

Der Weg zurück zum Wagen kam ihm unendlich lang vor. Ausgerechnet der Porsche, Himmel noch mal. Ein Auto, das wahrscheinlich mehr als das komplette Zuhause der Familie Dunn kostete.

Connor sagte auf der Rückfahrt keinen Ton. Sein Hals war wie zugeschnürt.

„Connor, der Hund war eine Gefahr. Und bei solchen Eltern kann man nicht darauf vertrauen, dass sie den Hund in ihrem Garten anketten. Du hast sie doch gesehen. Die sind beide Alkoholiker. Mir tut der Junge leid, aber seine Eltern hätten den Hund erziehen sollen, damit er keine unschuldigen Kinder anfällt.“

Connor starrte geradeaus.

„Nun, ich geb’s auf“, sagte sein Vater und seufzte. „Hättest du lieber, dass der Hund noch mal auf dich losgeht? Oder möchtest du es darauf ankommen lassen, dass er das nächste Mal Colleen anfällt? Hm? Möchtest du das?“

Natürlich nicht.

Aber er wollte dem kleinen Jungen auch nicht das Herz brechen.

Am Montag war die Schwellung seines Gesichts weitgehend zurückgegangen, sein Arm war eher steif, als dass er schmerzte. Aber er sah noch immer ziemlich übel aus. Colleen hatte das Trauma bereits überwunden, nannte ihn Frankenstein und sagte, dass er hässlicher denn je wäre. Der Arzt meinte, dass unter dem Kinn, wo der Hund ein Stück Haut herausgerissen hatte, wohl eine Narbe bleiben würde und eine weitere auf der Wange, in der Nähe des Auges. „Damit wirst du wie ein knallharter Bursche aussehen“, befand Connors Vater, als er Sonntagabend die Stiche begutachtete. Er klang beinahe zufrieden.

Alle hatten schon davon gehört, das war normal in einer so kleinen Stadt. „Ach du liebe Zeit, Connor, hattest du große Angst? Hat es wehgetan? Was ist passiert? Ich habe gehört, dass er erst auf Colleen losgegangen ist und du sie gerettet hast!“ Jeder war mitfühlend und fasziniert. Er bekam jede Menge Aufmerksamkeit, was ihn ganz zappelig machte.

An diesem Tag kam Jessica nicht in die Schule. Am nächsten und übernächsten auch nicht. Erst am Donnerstag tauchte sie wieder auf. Natürlich fehlte sie sowieso oft, und jeder wusste, weshalb – ihre Eltern, ihr Bruder. Doch Connor war klar, dass es diesmal an ihm lag. Am Abend zuvor hatte man ihm den Verband abgenommen, die Schwellung war verschwunden, es waren nur noch eine Menge blaue Flecke zu sehen.

Jessica machte auf cool. Sie sprach nicht viel; das tat sie nie, außer mit Levi und Tiffy Ames, ihren besten Freunden. Sie schaffte es sogar, ihm den ganzen Tag nicht ein einziges Mal in die Augen zu sehen, obwohl es schwierig war, sich in einer derart überschaubaren Schule aus dem Weg zu gehen.

Nach dem Unterricht, als er eigentlich schon unterwegs zum Schachclub war, sah er sie über den Schulhof gehen. Er raste den Gang hinunter und durch die Tür nach draußen. Ihre Hose war ein kleines bisschen zu kurz – Hochwasser, hatten die arroganten Mädchen beim Mittagessen gesagt –, und von einem ihrer billigen Turnschuhe hatte sich die Sohle halb gelöst. „Jess! Hey, Jess.“

Sie blieb stehen. Ihm fiel auf, dass ihr Ranzen zu winzig war, schmutzig und pinkfarben. Etwas für kleine Mädchen, ganz anders als die Rucksäcke, die Colleen und ihre Freundinnen hatten, mit fröhlichem Schottenmuster, aufgestickten Initialen und Extrapolsterung an den Schulterriemen.

Dann drehte sie sich um. „Was willst du?“ Ihr Blick war kalt.

„Ich … ich wollte nur fragen, wie es deinem Bruder geht.“

Sie antwortete nicht. Vom Keuka Lake kam ein Windstoß, es roch nach Regen.

„Er ist bestimmt noch ziemlich traurig“, fuhr Connor fort.

„Ähm … ja.“ Sie klang, als wäre er der dümmste Mensch der Welt. Und so fühlte er sich auch. „Er hat diesen Hund geliebt.“

„Das hat man gesehen.“

„Und Chico hat noch nie zuvor jemanden gebissen.“

Darauf wusste Connor nichts zu sagen.

Jess starrte auf einen Punkt neben Connors linkem Ohr.

„Mein Vater meint, dass Chico normalerweise noch eine Chance bekommen hätte, aber nachdem Pete O’Rourke dem Bürgermeister gesagt hat, was er tun soll, ist unser Hund jetzt tot.“ Sie schaute ihm in die Augen. „Davey hat nicht aufgehört zu weinen. Er kann nicht in die Schule gehen, und er hat jede Nacht ins Bett gemacht. So geht es ihm, Connor.“

Sie ließ seinen Namen wie ein Schimpfwort klingen.

„Es tut mir wirklich leid“, flüsterte er.

„Wen interessiert es schon, was du denkst, O’Rourke?“ Sie wandte sich um und trottete davon; er hörte ihre Schritte auf dem Kiesweg, die lose Sohle ihres Turnschuhs klatschte.

Er sollte sie einfach gehen lassen. Doch stattdessen rannte er ihr hinterher und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Jess. Ich …“

Sie wirbelte herum, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie hob die Faust, um ihn zu schlagen. Jess geriet ständig in Schlägereien, normalerweise mit den Deppen vom Football-Team, und sie konnte sich sehr gut behaupten. Doch sie zögerte, und in diesem Moment konnte er in ihrem Gesicht sehen, wie die vergangene Woche für sie gewesen war, all die Trauer und die Wut und die Angst und die Hilflosigkeit. Die … Scham. Er sah, wie müde sie war. Und dass sie einen Schmutzfleck hinter dem linken Ohr hatte.

„Du kannst mich ruhig schlagen“, sagte er. „Ist schon okay.“

„Deine Nähte würden aufplatzen.“

„Dann schlag mir in den Bauch“, schlug er vor.

Sie ließ die Faust sinken. „Lass mich einfach in Ruhe, Connor. Und sprich nie wieder mit mir.“

Dann ging sie davon, mit gesenktem Kopf, ihr blondes Haar flatterte im Wind, und Connor hatte das Gefühl, als würde ihm jemand einen Besenstiel mitten in die Brust rammen.

Sie war so schön.

Viele Mädchen waren hübsch – Faith Holland mit ihrem roten Haar, Theresa DeFilio mit ihren großen braunen Augen. Miss Cummings in der Bibliothek, die gar nicht alt genug für eine Erwachsene aussah. Selbst Colleen war irgendwie hübsch, wenn sie ihn nicht gerade ärgerte.

Aber Jess Dunn war schön.

Connor fühlte sich, als ob er auf ein Rotkehlchen getreten wäre und seine zarten, hohlen Knochen zerquetscht hätte.

3. KAPITEL

Elf Jahre vor dem Heiratsantrag …

Als Jess klein war, vor Daveys Geburt, fuhren ihre Eltern einmal mit ihr zum Campen. So richtig, mit einem mit Klebeband ausgebesserten Zelt und Decken, um es sich auf dem Boden gemütlich zu machen. Sie fand es herrlich, die Behaglichkeit des Zeltes, der Geruch nach Nylon und Rauch, wie ihre Eltern Bier tranken und über offenem Feuer grillten. War das in Vermont gewesen? Vielleicht in Michigan? Das spielte keine Rolle. Es gab einen Pfad hinunter zum See, und am nachtschwarzen Himmel war ein dicker Streif glitzernder Sterne zu sehen. Sie kriegte siebzehn Mückenstiche ab, aber das störte sie überhaupt nicht.

Das war der einzige Urlaub, den sie je machten.

Als der Ausflug der Abschlussklasse nach Philadelphia angekündigt wurde, drehten die Schüler fast durch vor Begeisterung. Sie würden dort übernachten, die Sehenswürdigkeiten abhaken und dann vier Stunden kostbare freie Zeit haben, um durch die Gegend zu streifen. Jeremy Lyon, der jüngste und heißeste Neuzugang der Klasse, hatte einen Onkel vor Ort, der Jer und all seine Freunde zum Essen einladen wollte, wahrscheinlich auf dem Reading Terminal Market, wo es unendlich viele Restaurants und Delikatessenstände gab. Und natürlich würden sie beim Museum of Art vorbeischauen, damit sie die Treppe raufrennen konnten wie Rocky. Und jeder wollte unbedingt ein Philly-Cheesesteak-Sandwich essen.

Die Fahrt kostete zweihundertneunundzwanzig Dollar.

Jessica war in der sechsten Klasse einmal in New York City gewesen, aber nur für einen Tag. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr Lehrer damals für sie bezahlt hatte, damit sie mitkommen konnte.

Aber in Philly würden sie übernachten, und allein der Gedanke ließ ihr Herz hüpfen wie einen Gummiball. Sie fand Großstädte einfach toll, daran bestand wohl kein Zweifel mehr, nachdem ihr die fünf Stunden in Manhattan schon so unglaublich gut gefallen hatten.

Ihre Eltern hatten keine zweihundertneunundzwanzig Dollar für Schulausflüge übrig. Fürs Saufen vermutlich schon. Es kam ihr keine Sekunde in den Sinn, sie zu fragen; sie hatte ihr eigenes Geld gespart und in einem Loch in der Wand neben ihrem Bett versteckt. Es war sicher in einer kleinen Blechdose verwahrt, die sie am Bach gefunden hatte, der sich hinter der Siedlung entlangschlängelte. Mit achtzehn war Jess nicht mehr naiv; sie wusste, dass ihre Mom eine hoffnungslose Alkoholikerin war. Machtlos nannte man es bei Al-Anon. Ihr Vater war nicht ganz so extrem, dafür durchtrieben und hinterhältig. Beide würden jederzeit ihr Geld klauen, das war die bittere Wahrheit.

Also versteckte sie ihr Erspartes. Sie wartete stets so lange, bis sie allein im Wohnwagen war, und steckte dann ihr Trinkgeld in die rote Dose. Ihre Eltern kamen normalerweise nie in Jessicas Raum, und ganz sicher schoben sie nicht das Bett weg, um dahinter zu putzen.

Sie konnte den Ausflug mitmachen, würde ein Zimmer mit Tiffy und Angela Mitchum teilen, sich vielleicht heimlich mit Levi treffen … zum Spazierengehen oder um mit ihm zu schlafen, obwohl sie oft das Gefühl hatte, dass sie beide das nur aus reiner Gewohnheit taten.

Gemeinsam in einer Wohnwagensiedlung aufzuwachsen wie sie und Tiffy und Levi und Arschwisch Jones (der eigentlich Ashwick hieß, und mal ehrlich, hasste seine Mutter eigentlich Kinder?) schweißte zusammen. Sie waren alle arm, manche hatten noch weniger als andere. Sie erkannten einander daran, wie viel Essen sie mittags in der Schule in sich reinstopften, denn das Schulessen war kostenlos für die, die bedürftig genug waren. Sie wussten, wie man Schuhsohlen festklebte, wenn sie sich lösten, und hatten ständig ein Auge auf den Laden der Heilsarmee. Und sie konnten meist auch ganz gut klauen.

Skiurlaube oder Reisen auf Inseln, Abendessen in Restaurants und Hotelaufenthalte … das alles war für die Dunns total illusorisch. Schlimm genug, dass Jess’ Vater aus jedem Job flog und ihre Mom sich von vier verschiedenen Ärzten vier Rezepte für Vicodin besorgte. Rechnete man dazu noch Daveys Spezialbehandlungen und Arztbesuche und neue Medikamente, die gegen seine Wutausbrüche helfen sollten, aber nie von der Krankenkasse bezahlt wurden … war es kein Wunder, dass sie immer von der Hand in den Mund lebten.

Nur Jess hatte fast tausend Dollar gespart. Bei Hugo’s verdiente sie mehr als ihr Vater mit seinen diversen Tätigkeiten (wenn er überhaupt mal was verdiente), und immer wenn Davey einen neuen Helm brauchte, damit er sich bei seinen Anfällen nicht den Kopf an der Wand einschlug, war sie es, die die Kosten übernahm. Übrigens auch für das private Sommerprogramm, damit er beschäftigt war und mal von seinen Eltern wegkam. Sie kaufte ihm auch neue Kleider, denn sie selbst konnte sich die fiesen Mitschüler vom Leib halten, die ablästerten, weil sie Faith Hollands Klamotten auftrug, doch Davey hatte Besseres verdient. Er hatte es sowieso schon schwer genug, da brauchte er nicht auch noch in abgelegten Sachen rumzulaufen. Sie kaufte Lebensmittel und spezielle Vitamine, von denen ein Arzt behauptete, dass sie seinen IQ steigern könnten. Sie hatte letzten März die Gasrechnung beglichen, als die Eiseskälte einfach nicht nachlassen wollte und sie heizen mussten, und sie war für die Reparatur des verbeulten alten Toyotas aufgekommen, mit dem sie zur Arbeit fuhr.

Trotzdem war es ihr gelungen, in den drei Jahren bei Hugo’s neunhundertsiebenundachtzig Dollar und siebenundvierzig Cent zu sparen, und ausnahmsweise würde sie nun einen Teil davon für sich allein ausgeben. Sie war im letzten Schuljahr und würde mit Sicherheit nicht aufs College gehen. Erstens, weil sie Davey nicht alleinlassen konnte, und zweitens, nun, sie hatte weder das Geld noch die entsprechenden Noten, um ein Stipendium zu bekommen. Sie würde versuchen, am Wickham Community College einen Kurs zu belegen, aber ansonsten sah ihre Zukunft genauso aus wie ihre Gegenwart: arbeiten. Sich um Davey kümmern. Verhindern, dass ihre Eltern in Schwierigkeiten gerieten, und falls das doch passierte, die Kaution oder die fälligen Geldstrafen bezahlen.

Aber diese Reise … allein bei dem Gedanken daran regte sich etwas in ihr, etwas Helles und Klares. Sie würde einen anderen, cooleren Teil des Landes zu sehen bekommen. Sie konnte sich dort eine künftige, magische Version ihrer selbst vorstellen, die in der großen Stadt arbeitete, in einer Stadtvilla lebte und einen tollen Job hatte. Keine Eltern, nur sie und Davey.

Also rannte sie den ganzen Weg von der Bushaltestelle nach Hause, angetrieben von Begeisterung und … nun ja, Glücksgefühlen.

„Hey, Goldjunge“, sagte sie, als sie in die Küche kam. Sie beugte sich vor, um Davey über den Kopf zu streichen. Dann runzelte sie die Stirn. „Hast du dir wieder selbst das Haar geschnitten?“ Er war an manchen Stellen praktisch kahl geschoren und sah aus, als ob er eine Krankheit hätte.

„Nein“, antwortete er. „Sam hat das gemacht.“

„Nicht doch, Schatz. Ich bin die Einzige, die dein Haar schneiden darf, okay?“ Diesen kleinen Scheißer Sam würde sie sich vorknöpfen, und wenn er sich vor Angst in die Hose machte, umso besser. Die Jungs waren elf, Himmel noch mal, die hatten sicher nicht harmlos Friseur gespielt. Das war Mobbing und nicht das erste Mal, dass Sam sich als Daveys Freund ausgegeben hatte, um ihn dann zu demütigen.

„Was gibt’s zum Essen?“, fragte Davey.

„Ich weiß nicht. Wo ist Mom?“

„Weiß ich nicht.“ Er beugte sich über sein Malbuch. Er war immer noch ganz verrückt nach Pokémon.

Jess warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo ihr Vater vor dem laufenden Fernseher im Sessel saß. Er schien zu schlafen.

Gut. Sie ging in das Zimmer, das sie mit Davey teilte, und schloss leise die Tür. Schob das Bett von der Wand weg, beugte sich hinunter und steckte die Finger in das Loch.

Keine Dose.

Wahrscheinlich war sie nach hinten gerutscht, obwohl das noch nie zuvor passiert war. Sie schob die ganze Hand hinein, tastete nach links, dann nach rechts.

Sie war nicht da.

Ihr Herz fühlte sich klebrig an, die Herzkammern wie verstopft von Furcht.

Auf dem wackligen Plastiktisch neben seinem Bett hatte Davey einen Schlüsselanhänger mit einem LED-Licht liegen, für den Fall, dass er nachts Angst bekam. Jess griff hastig nach dem Ding und richtete das Licht auf das Loch.

Keine Dose. Nicht links, nicht rechts. Sie war nicht unten, und sie war nicht oben. Sie war einfach verschwunden.

Sie ging zurück in die Küche. „Davey, Liebling, hast du in unserem Zimmer eine Blechdose gefunden? In einem kleinen Loch hinter dem Bett?“

„Da ist ein Loch? Was ist da drin?“, fragte er. „Ist da eine Maus drin?“

„Nein. Ich hatte dort eine kleine Blechbüchse hineingelegt.“

„Welche Farbe?“

„Rot und Silber. Und darin war etwas Geld.“

Er wählte einen blauen Wachsmalstift, das Papier darum weich und verknittert vom vielen Benutzen. „Ich weiß nicht, wo sie ist.“ Davey konnte gar nicht lügen. „Machst du mir heute Abend was zu essen?“

„Ich muss arbeiten.“

„Aber Mom ist nicht zu Hause!“

Jess atmete tief durch. „Okay.“ Sie schaute zum Spülbecken, in dem sich noch das schmutzige Geschirr vom Frühstück und vom Mittagessen stapelte. Außerdem standen da sieben leere Bierdosen.

Also war der Schulausflug gestrichen. Sie würde einfach behaupten, dass sie arbeiten musste. Oder dass irgendwas mit Davey war und sie deswegen nicht mitkommen konnte. Nein, Davey durfte sie nicht als Ausrede nehmen, auch wenn er tatsächlich immer irgendeinen Termin hatte und Angst davor, allein zu sein. Sie würde einfach sagen, Philadelphia wäre nicht ihr Ding.

Nur dass das nicht stimmte.

Tja. Wahrscheinlich hatte sie diese Reise sowieso nicht verdient. Wie egoistisch, dass sie überhaupt auf die Idee gekommen war, ihren Bruder übers Wochenende allein zu lassen.

Sie stellte Wasser auf, um Spaghetti zu kochen, und öffnete eine Dose mit Tomatensoße. Nicht besonders gesund, aber etwas anderes hatten sie nicht. Sie musste morgen einkaufen gehen. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr und begann so schnell sie konnte Geschirr zu spülen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit vor der Arbeit.

Wahrscheinlich hatte Dad es genommen. Mom war in dieser Hinsicht anständiger. Ab und zu schickte Jess’ Großmutter ihr ein bisschen Geld, und dann ging Jolene mit Jess und Davey Eis essen … und erst danach ins Black Cat, um den Rest zu vertrinken. Wenn sie von Jessicas Ersparnissen gewusst hätte … nun, es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sie alles auf einen Schlag genommen hätte. Es wäre eher Moms Stil gewesen, immer wieder eine kleine Summe zu klauen, gerade genug, um sich so viel Wodka zu kaufen, dass sie damit durch den Tag kam.

Mom war es also nicht gewesen.

Blieb nur Dad übrig, und der würde es nicht mal zugeben, wenn man ihm eine Pistole an die Schläfe drückte. Das Geld befand sich vielleicht sogar noch irgendwo hier im Wohnwagen, aber ihr Vater war viel zu clever, als dass Jess es hätte finden können. Niemals würde er ihr eine ehrliche Antwort geben, wenn sie ihn fragte, sondern Unwissenheit vortäuschen und unschuldig mit seinen großen blauen Augen blinzeln. Um dann loszuziehen und hundert Lottoscheine zu kaufen oder ins Casino zu gehen. Sollte er jemals etwas gewinnen, würde er es irgendwie hinkriegen, auch dieses Geld zu verpulvern.

Sie hätte ihr Leben darauf verwettet, dass er nicht schlief, obwohl seine Augen geschlossen waren.

Manchmal wünschte sie sich, er würde einfach sterben. Ohne seinen schlechten Einfluss könnte Mom vielleicht sogar trocken werden. Er wäre Davey nicht länger ein so beschissenes Vorbild. Und ohne ihn gäbe es ein hungriges Maul weniger zu stopfen.

Einige Tage später brachte Jeremy Lyon sie mit seinem teuren kleinen Cabriolet nach Hause. Weil es regnete, war das Dach geschlossen, und Jess fand das Auto so gemütlich und sauber und hübsch, dass sie am liebsten dort eingezogen wäre.

Mit Jeremy. Sie liebte ihn. Jeder liebte ihn.

Doch Jungs wie Jeremy interessierten sich nicht für Jessica Macht’s, die Klassenschlampe, die’s mit jedem macht. Den bettelarmen Abschaum. Nein, natürlich war Jeremy bis über beide Ohren in Faith Holland verknallt, auch bekannt als Prinzessin Supersüß, eines von den reichen Mädchen, nicht besonders helle, wie Jess fand, aber eben eine, die alles besaß, der es nie an irgendwas gefehlt hatte.

„Ich habe gehört, dass du nicht mitfährst“, sagte Jeremy.

„Ach so, ja.“ Jessica tat so, als hätte sie gar nicht mehr an den Ausflug gedacht. „Ich habe an dem Wochenende schon was vor.“

„Also, die Sache ist die“, fuhr er fort. „Du weißt ja, wie ich bin. Unfähig, mich zu amüsieren, wenn nicht alle meine Freunde dabei sind. Das muss wohl der Fluch des Einzelkindes sein oder so was Ähnliches. Deshalb dachte ich, falls es um die Kosten geht, dann lass mich bitte dafür aufkommen, Jess. Du würdest mir einen Gefallen tun, denn ohne dich macht es einfach null Spaß. Ich wäre die ganze Zeit schlecht drauf und einsam.“

Dieser Typ war so wundervoll, dass ihr manchmal das Herz wehtat. Und ein Lügner. Der beste Freund von Levi und so wahnsinnig in Faith verknallt, dass man sich wirklich wunderte, dass die beiden nicht ständig von einem Schwarm Schmetterlinge umflattert wurden. Jer war wirklich mit jedem befreundet, den er kannte.

Als sie in die Wohnwagensiedlung einbogen, erlaubte Jess sich einen kleinen Tagtraum. Sie malte sich aus, wie es wäre, mit Jeremy zusammen zu sein. Er würde Faith den Laufpass geben und sich für sie, Jess, entscheiden. Und auch Davey in sein Herz schließen, zu dem er jetzt schon immer sehr nett war, und ein Leben lang auf sie und ihren Bruder aufpassen.

„Was sagst du, Jess? Würdest du das für mich tun?“

Sie räusperte sich. „Das ist wirklich lieb von dir, Jeremy, aber es geht nicht ums Geld. Philly ist wirklich nicht mein Ding, weißt du? Außerdem muss ich an dem Wochenende arbeiten. Aber danke.“ Sie warf ihm eine Kusshand zu und rannte nach drinnen, solange sie ihre lockere Fassade noch aufrechterhalten konnte.

Am Freitagabend, während ihre Freunde es sich schon in der „Stadt der Bruderliebe“ gut gehen ließen, kam eine große Gruppe ins Hugo’s, alles ehemalige Verbindungsstudenten mittleren Alters. Hugo überließ Jess den Tisch. Die Männer gaben ihr zweihundertfünfzig Dollar Trinkgeld.

Aber da war die Sache schon gelaufen.

Am Sonntag ging sie mit Davey auf den Jahrmarkt in Corning und kaufte ihm Corn Dogs und Popcorn und Root Beer. Sie kreischte in der Achterbahn, und er legte einen Arm um sie und lachte vor Glück. Er mochte es, wenn sie mal Angst hatte und er sie beschützen konnte. Sie aßen kandierte Äpfel und kratzten sich dann mit den Fingernägeln den Zucker von den Zähnen – Jess erfolgreicher als Davey.

Als er Ballons schießen wollte, sorgte sie dafür, dass der Typ am Stand einen guten Blick in ihren Ausschnitt werfen konnte, damit Davey auf jeden Fall ein Plüschtier gewann, obwohl er nur einen einzigen Ballon traf.

Das war der schönste Tag seit Langem.

„Ich hab dich lieb“, murmelte Davey auf der Heimfahrt schläfrig.

In diesem Moment war sie froh, genau hier zu sein, zusammen mit ihrem Bruder, ihrem besten Kumpel, der vom Tag seiner Geburt an so schwer zu kämpfen hatte.

Was hauptsächlich ihre Schuld war.

„Ich hab dich auch lieb, Goldjunge“, entgegnete sie heiser.

Niemals hatte sie etwas Wahreres gesagt.

Doch als Davey schlief, den Kopf zum Fenster gedreht und leise schnarchend, überlegte Jess, wie wohl der Blick aus dem Hotelfenster in Philadelphia war, und sie musste an die kleinen Seifen und Shampoos denken, die sie ihrem Bruder hatte mitbringen wollen.

Und das war der Grund, warum Jessica Dunn im Alter von einundzwanzig Jahren noch nie in einem Hotel übernachtet hatte.

Drei Jahre nach dem Schulabschluss waren Jess und Angela Mitchum die Einzigen, die noch immer in Manningsport lebten. Angela hatte sich im letzten Schuljahr schwängern lassen, wohnte bei ihren Eltern und besuchte die Abendschule, um Krankenschwester zu werden. Manchmal kamen die Mitchums zum Abendessen ins Hugo’s, und das Kind war wirklich niedlich.

Jess machte das, was sie immer gemacht hatte – sie bediente im Hugo’s, arbeitete nebenher noch ab und zu für eine private Pflegeagentur und kümmerte sich um ihren Bruder. Sie wohnten nach wie vor in der Wohnwagensiedlung, aber nicht mehr lange; sie hatte jetzt ein Konto bei der Bank, und in vier Monaten würden ihre Ersparnisse reichen, um in der Stadt eine anständige Wohnung zu mieten. Zwei Schlafzimmer, denn sie würde Davey natürlich nicht bei ihren verantwortungslosen Eltern lassen.

Dad bot ihm in letzter Zeit ständig Drinks an, was Davey nur zu gern annahm. Aus einem vollkommen unbegreiflichen Grund betete er seinen Vater an, der es witzig fand, seinen Sohn beschwipst zu sehen. Ihrer Mutter würde es nicht gefallen, wenn Jess Davey mitnahm, aber schließlich würde sie doch einwilligen. Ihr Vicodin bekam sie jetzt von dem schmuddeligen Kerl im Waschsalon, da die Ärzte irgendwann doch kapiert hatten, dass mit Mom – abgesehen von ihrer Sucht – alles in Ordnung war.

Jetzt war Oktober, eine traditionell herausfordernde Zeit für Jess. Die Indian-Summer-Fans, Busladungen von Touristen, die das bunte Laubwerk bestaunen und Finger-Lakes-Wein trinken wollten, fuhren wieder nach Hause, und außer an den Weihnachtstagen würde es in Manningsport von jetzt an sehr ruhig sein. Hugo machte den Laden immer nach dem Veterans Day am 11. November dicht, deswegen musste Jess versuchen, mehr Stunden als Pflegerin zu ergattern. Zwar verdiente sie damit nicht annähernd so viel Geld wie im Restaurant, doch eine andere Möglichkeit hatte sie nicht.

An diesem Abend bat Hugo sie vor Beginn ihrer Schicht in sein Büro. „Ich möchte, dass du ein Weinseminar absolvierst“, sagte er ohne große Vorrede. „Felicia verkauft viel mehr Flaschen als du, und der Preisaufschlag ist ziemlich bemerkenswert. Was meinst du?“

„Ähm … klar“, sagte Jess. „Aber ich trinke eigentlich keinen Alkohol.“

„Ich weiß, Liebes.“ Er kannte ihre Familiengeschichte. Jeder kannte sie, und nur für den Fall, dass jemand vielleicht doch noch nicht Bescheid wusste, kam ihr Vater mindestens einmal pro Jahr ins Restaurant gestürzt, fragte nach seinem „kleinen Mädchen“ und ob der gute alte Hugo ihm einen Drink spendieren könnte. „Aber du bist jetzt einundzwanzig. Du solltest dich mit Wein auskennen. Welcher zu welchem Essen passt, wie man darüber spricht, welchen Jahrgang und welche Lage man empfiehlt und so weiter.“

„Ich empfehle einfach den wirklich teuren Kram.“

„Was ich auch zu schätzen weiß. Trotzdem möchte ich, dass du das machst, Kleine. Es wertet uns auf, wenn du sachkundig darüber parlieren kannst, was die Leute trinken.“

„Ja, okay.“ Das stimmte. Felicia konnte so ziemlich jedem eine Flasche Wein andrehen und sagte ständig Sachen wie „diese spezielle Region in Frankreich“ und „lang anhaltender Abgang mit Noten von frischem Schnee und Brombeeren“. Das klang in Jessicas Ohren ziemlich albern, doch Felicias Gäste gaben mehr Geld aus, was mehr Trinkgeld bedeutete.

„Das Weingut Blue Heron bietet nächste Woche einen Kurs an“, fuhr Hugo fort. „Du bist doch mit Faith Holland zur Schule gegangen, oder? Möchtest du dahin?“

„Lieber ein anderes Seminar“, sagte sie leichthin. „Wenn das okay ist. Nächste Woche ist bei mir ziemlich voll.“

Hugo nickte. Er hatte sie zum Tischeabräumen angeheuert, als sie fünfzehn war, sie dann zur Kellnerin befördert und zeigte ihr jetzt, wie man Drinks mixte. Er fragte nie, warum sie nicht wie all die anderen jungen Leute studierte, zur Army ging oder die Stadt verließ, um irgendwo anders einen besseren Job zu finden.

Er kannte den Grund. Wahrscheinlich wusste er mehr, als ihr lieb war, beispielsweise auch, warum sie ihr Weinseminar lieber nicht auf Blue Heron machen würde.

„Okay, Kindchen“, sagte er mit einem Nicken. „Dann schaue ich mal, was es sonst für Angebote gibt.“

„Vielen Dank.“ Die Worte fielen ihr nicht leicht, aber sie drückte seine Hand, dann schob sie ihre Gefühle zur Seite und machte sich wieder an die Arbeit.

Manningsport war eine recht wohlhabende Stadt. Es gab jede Menge Weingüter und Clans, die schon seit Generationen hier lebten, wie die Hollands, oder reiche Zugereiste wie die Lyons oder Leute, die einfach viel Geld verdienten, wie die O’Rourkes.

Und dazwischen wucherten, verstreut wie Unkraut in einem Garten, arme Familien, die immer wieder mit dem Gesetz aneinandergerieten, die Alkohol- und Drogenprobleme hatten und immer, immer in Geldnot waren. Familien, wo die Mutter auf Kosten des Staats lebte, weil sie behauptete, wegen einer Knieverletzung, die sie sich nach vier Tagen als Köchin in einer Highschool zugezogen hatte, nicht mehr arbeiten zu können. Familien, in denen der Vater ständig den Job verlor und ungezählte Male von einem Streifenwagen nach Hause gebracht wurde.

Mit anderen Worten: Familien wie ihre.

Doch sie musste auf Davey Rücksicht nehmen. Ohne ihn hätte sie Manningsport in der Sekunde verlassen, in der sie den Führerschein besaß, hätte alle Menschen weit hinter sich gelassen, die wussten, dass sie Jessica Macht’s war, die Klassenschlampe, die es mit jedem machte. Vielleicht wäre sie nach Europa gegangen. Nach Italien, wo sie sich verlieben und die Sprache lernen und Modedesignerin oder so was werden würde.

Aber ihr Bruder war nun mal da, und er war ihre Aufgabe, ihre allein, und deswegen waren all diese Gedanken und Träume nutzlos. Doch Davey war dieses Opfer mehr als wert.

Eine Woche später drückte Hugo ihr im Vorbeigehen ein paar Unterlagen in die Hand. „Sag jetzt bloß nicht Nein“, rief er über die Schulter zurück. „Dir fällt schon was ein, wie du das organisiert kriegst.“

Die erste Seite war die Anmeldebestätigung für ein eintägiges Weinseminar am Culinary Institute of America in Hyde Park, gut vier Stunden entfernt.

Die zweite Seite eine Hotelreservierung im Hudson Riverview Hotel.

Sie würde also über Nacht bleiben.

Jess ging in das menschenleere Büro, um mit kribbelnden Fingern das Hotel zu googeln.

Es war wunderschön. Vier Sterne, mit Blick auf den Hudson, inklusive Frühstück und Willkommens-Cocktail. Doppelbett! Jess schlief noch immer in einem schmalen Einzelbett und teilte sich das Zimmer mit ihrem Bruder. Eine riesige Badewanne und eine schicke Dusche hinter Glas. Ein kleinwagengroßes Blumenarrangement in der Lobby.

Als sie sich umdrehte, stand Hugo hinter ihr und lächelte sie verlegen an. „Ich dachte, du würdest mal gern aus der Stadt rauskommen.“

„Hugo“, begann sie, konnte aber nicht weitersprechen.

„Versprich mir einfach, dass du hingehst. Ich kann notfalls auch für deinen Bruder reservieren, okay? Jetzt wein doch nicht! Sind das etwa Tränen in deinen Augen? Wage bloß nicht, hier loszuheulen, sonst muss ich dich feuern.“

Ein paar Tage später küsste sie ihren Bruder, löste seine Arme von ihrem Nacken, sagte, dass Chico Zwei gut auf ihn aufpassen würde, ermahnte ihre Eltern, nüchtern zu bleiben, erklärte ihrer Mutter noch einmal, wie sie den Auflauf aufwärmen musste, den Jess am Abend vorbereitet hatte, und stieg in ihr Auto.

Sie würde in einem Hotel übernachten. Das Weinseminar war natürlich auch toll, aber sie würde in einem Hotel wohnen.

Die vierstündige Fahrt ging vorüber wie im Flug, und mit jeder Meile, die sie fuhr, fühlte Jessica sich … leichter. Natürlich machte sie sich Sorgen um Davey, aber sie würde ja schon morgen Nachmittag wieder zurück sein. Sie hatte fest vor, lange zu schlafen und das Frühstück zu genießen. Und da sie nun mal in diesem herrlichen Hotel wohnte, wollte sie auch dort im Restaurant zu Abend essen, und falls zufällig gerade eine Hochzeit stattfinden sollte, würde sie einen Blick in den Ballsaal riskieren – denn in dem Hotel gab es einen Ballsaal! Und sie würde ein Bad nehmen, ganz klar. Im Wohnwagen gab es keine Badewanne, nur eine Dusche mit Schimmel in den Fugen, egal, wie viel Reinigungszeug sie daraufsprühte.

Das Hotel war in Wirklichkeit sogar noch schöner als auf den Internetfotos. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Lobby betrat. Sie hätte besser einen Koffer anstelle ihres Rucksacks mitnehmen sollen, aber hey, das war schon in Ordnung. Sie sah einfach lässig aus, das war alles.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, sagte der ältere Mann an der Rezeption.

„Ich habe eine Reservierung“, erwiderte sie. „Jessica Dunn.

“ Er drückte ein paar Tasten auf seinem Computer. „Wie ich sehe, werden alle Kosten von Hugo’s Restaurant übernommen?“

„Oh. Ähm, ja. Mein Arbeitgeber.“

„Was für eine Position haben Sie denn dort, wenn ich fragen darf?“

Einen Moment lang hätte sie fast geschwindelt, dass sie Managerin wäre oder Sommelière – was es bei Hugo gar nicht gab – oder Küchenchefin. „Ich bin Kellnerin.“

Er musterte sie kurz von Kopf bis Fuß, dann reichte er ihr einen Schlüssel. „Ich gebe Ihnen ein Upgrade für eine Junior-Suite“, sagte er. „Genießen Sie Ihren Aufenthalt bei uns. Ich habe um sieben Feierabend. Vielleicht könnte ich Sie zu einem Drink einladen?“

„Ich habe leider schon etwas vor“, erklärte sie. „Aber vielen Dank für das Angebot.“

„Sagen Sie mir Bescheid, falls Sie es sich anders überlegen.“

Das Einzige, was sie ihren Eltern zu verdanken hatte, war ihr gutes Aussehen. Das und Davey. Jess wusste, dass sie schön war, und in diesem Moment war sie auch froh darüber. Sicher, der geile alte Typ baggerte sie an. Aber immerhin hatte sie auf diese Weise eine Junior-Suite bekommen, was immer das auch sein mochte. Es klang jedenfalls umwerfend.

Und das war es auch. Unglaublich geräumig. Es gab eine Couch – eine glatte graue Couch mit orangefarbenen Kissen, und das Bett war wie ein Ozean aus Weiß mit einer orangefarbenen Decke am Fußende. Flachbildfernseher! In dem einen Nachttisch lag das Neue Testament, im anderen ein „Intim-Set“ – Kondome und Massageöl. Räusper. Es gab sogar eine Minibar! Sie trank zwar nicht, aber die vielen Flaschen und Snacks waren trotzdem hübsch anzusehen. Neun Dollar für eine Packung M&Ms, das musste man sich mal vorstellen.

Die Handtücher waren strahlend weiß, und es gab unglaublich viele Lichtschalter im Badezimmer – einen für die Dusche, einen für den Spiegel, einen unter dem Waschbecken als Nachtlicht oder so etwas. Und heiliger Strohsack, die Baumwolle des Bademantels war so weich wie eine Wolke. Hausschuhe! Shampoo und Duschgel und Haarspülung waren von L’Occitane, was höchstwahrscheinlich eine teure Marke war und auf jeden Fall teuer roch.

Sie lief zum Fenster, von wo aus man einen kleinen Park und den Hudson River überblicken konnte. Es war ein grauer und kühler Tag, und doch war das hier womöglich die hübscheste Aussicht, die Jess je gesehen hatte.

Sie ging zurück ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn der riesigen Badewanne auf.

Das würde das schönste Wochenende ihres Lebens werden.

Während die Wanne volllief, rief sie zu Hause an. Wie erwartet, ging Davey ran. Er war ein totaler Telefon-Freak.

„Hey, Davey“, sagte sie.

„Ich vermisse dich. Wann kommst du nach Hause?“

„Morgen. Das weißt du. Soll ich dir von meinem Hotel erzählen?“

„Okay.“

„Ich habe ein großes Bett. Größer als das von Mom und Dad.“

„Bist du darauf herumgehüpft?“

„Noch nicht.“ Sie grinste. „Und eine Badewanne. Ich lasse mir gerade ein Schaumbad ein.“

„Das klingt lustig.“

„Wir werden in unserem neuen Haus auch eine Badewanne haben.“

„Okay! Was gibt es da noch?“

„Zimmerservice, da bringen sie dir das Essen auf einem Tablett.“

„Hast du schon was bekommen? Haben die Cheeseburger? Und Kuchen? Das würde ich bestellen!“

Eines Tages, dachte Jess, während sie mit ihrem Bruder sprach, würde sie mit Davey hingehen, wohin auch immer er wollte. Disney World wahrscheinlich, und dann würden sie in einem genauso feinen Hotel wie diesem übernachten.

Aber dieses Wochenende gehörte ihr allein, und für jemanden, der so etwas gar nicht kannte, war das wirklich eine sehr, sehr angenehme Vorstellung.

4. KAPITEL

Elf Jahre vor dem Heiratsantrag …

Als Jessica Dunn den Raum betrat, in dem Connor in seinem Abschlussjahr am Culinary Institute of America den Basiskurs Weinkunde gab, erkannte er sie zuerst nicht.

Stattdessen wurde ihm unwillkürlich heiß, er fühlte sich sofort zu ihr hingezogen, und es dauerte volle drei Sekunden, bis er begriff, wer sie war – drei Sekunden mit Gedanken wie Heilige Jungfrau, sie ist eine echte Schönheit. Nicht weil sie sich verändert hatte, es war einfach nur so unerwartet, sie hier in seiner Schule zu sehen.

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