Romana Extra Band 149

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STÜRMISCHE KÜSSE IN DER BRETAGNE von ALICIA LEONARDI

Bei einer Lesung in der Bretagne begegnet Schauspielerin Emmy dem gefeierten Bestsellerautor Gabriel Chabrol. Sofort fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Aber er ist der Bruder ihrer verstorbenen großen Liebe – und tabu! Trotzdem knistert es immer mehr zwischen ihnen …

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  • Erscheinungstag 03.08.2024
  • Bandnummer 149
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523899
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alicia Leonardi, Luana DaRosa, Marion Lennox

ROMANA EXTRA BAND 149

1. KAPITEL

Der Föhn gab nach nur wenigen Sekunden seinen Geist auf.

„Ich fasse es nicht“, entfuhr es Emmy, die frischgeduscht vor dem beschlagenen Badezimmerspiegel stand. Sie starrte fassungslos auf das kaputte Gerät in ihrer Hand, das leicht verbrannt roch. In einem Anflug von Verzweiflung drückte sie trotzdem noch daran herum, aber es war aussichtslos. Und was jetzt? Sollte sie etwa mit klatschnassen Haaren bei der Lesung im „Les Mots“ aufschlagen? Katastrophe! Ihre blonde Mähne war viel zu lang, um sie in nur wenigen Minuten trockenrubbeln zu können. Mit einem tiefen Seufzer zog sie ein Handtuch aus dem kleinen weißen Schränkchen und versuchte dennoch, so viel Feuchtigkeit wie möglich aus ihren Haaren herauszudrücken.

Viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Die Uhrzeiger des alten Weckers, der auf der Kommode zwischen der Gummienten-Sammlung ihres Onkels Alain stand, schritten unbarmherzig voran.

Wenigstens hatte sie die Kleiderfrage bereits während des Duschens gelöst. Sie hatte beschlossen, ihren schlichten rostfarbenen Hosenanzug zu tragen, darunter eine klassische weiße Bluse. Hauptsache unauffällig. Noch besser wäre, sie könnte sich unsichtbar machen. Oder vielleicht hatte sie ja Glück und Gabriel Chabrol sagte aus irgendeinem Grund kurzfristig ab.

Seit Tagen hatte sie ein mulmiges Gefühl im Magen bei dem Gedanken daran, dem gefeierten Bestsellerautor gegenüberzustehen. Hätte Onkel Alain ihn doch bloß nicht in seine Buchhandlung eingeladen! Andererseits, das wäre ein bisschen viel verlangt. Der Besuch eines so bekannten Schriftstellers steigerte natürlich den Umsatz und das Ansehen des Ladens erheblich. Und sie selbst tat ebenfalls, was sie nur konnte, damit das „Les Mots“ gut lief.

Vor knapp vier Wochen hatte sie London Hals über Kopf verlassen, um für Onkel Alain einzuspringen, der wegen Herzproblemen im Krankenhaus lag. Das französische Hafenstädtchen Quiberon, in dem sich das „Les Mots“ befand, war ihr bereits seit der Kindheit vertraut. Ihr Onkel war nach der frühen Scheidung ihrer Eltern so eine Art Ersatzvater für sie geworden. Sie hatte viele glückliche Sommer bei ihm verbracht und ihm viel zu verdanken. Vor allem ihre große Liebe zu Büchern.

In den vergangenen Jahren hatten sie sich allerdings kaum gesehen, was sie rückblickend beschämte. Sie war viel zu beschäftigt damit gewesen, ihre Schauspielkarriere voranzutreiben. Doch damit war nun erst mal Schluss. Seit sie in der beliebten Soap „Crazy Couples“ als Darstellerin den Serientod gestorben war, suchte sie händeringend nach einer neuen Rolle. Doch es war wie verhext, obwohl sie von Casting zu Casting pilgerte, wurde sie einfach nicht besetzt. Daher war sie unglaublich froh über einen Tapetenwechsel gewesen.

Natürlich hätte sie sich bessere Umstände gewünscht für ihre Rückkehr nach Quiberon, aber immerhin war Alain auf dem Weg der Besserung und sollte in wenigen Tagen entlassen werden.

Emmy warf erneut einen Blick auf die Uhr und geriet leicht in Panik. Bereits in einer Viertelstunde war der Einlass für die Besucher vorgesehen. In Windeseile lief sie vom Bad in das Gästezimmer, schlüpfte in ihre Unterwäsche und nahm Blazer und Hose aus dem Schrank. Aber die weiße Bluse? Wo war sie nur? Emmy stutzte kurz und wühlte weiter. Irgendwo muss sie doch sein! Zu ihrem Entsetzen stellte sie schließlich fest, dass sie sie nicht auf einen Kleiderbügel gehängt, sondern sie zwischen ihre T-Shirts einsortiert hatte – und sie daher dementsprechend knittrig war. Zum Bügeln hatte sie aber weder die Nerven noch die Zeit. Also streifte sie sich kurzentschlossen das nächstbeste T-Shirt über.

Wenige Minuten später musterte sie sich kritisch im goldumrahmten Spiegel im Flur. Der Hosenanzug saß perfekt, aber was sollte sie mit ihren immer noch feuchten Haaren machen? Kurzerhand entschloss sie sich für einen geflochtenen Seitenzopf. Ohrringe vielleicht? Sie schüttelte den Kopf. Auch auf Make-up konnte sie verzichten, denn die Wochen in Quiberon hatten nicht nur ihrer Seele, sondern auch ihrem Teint gutgetan, er war hübsch gebräunt. Noch ein bisschen Wimperntusche, ein wenig Lipgloss, schon war sie fertig.

Emmy drehte sich einmal um sich selbst. Sie war zufrieden mit sich. Ihr Look wirkte so dezent, wie sie es sich vorgestellt hatte, und zugleich professionell. Sie würde Gabriel Chabrol so sachlich wie möglich gegenübertreten. Vielleicht erkannte er sie ohnehin nicht wieder, sie waren sich schließlich höchstens drei, vier Mal begegnet. Zuletzt bei Laurents Beerdigung.

Laurent! Wie immer, wenn sie an ihn dachte, flutete tiefer Schmerz ihre Brust. Emmy schluckte rasch die Tränen hinunter, die in ihr aufstiegen.

Nun aber nichts wie los. Da die Wohnung ihres Onkels direkt über der Buchhandlung lag, hatte sie es zum Glück nur wenige Treppenstufen weit.

Wie erwartet gab es vor der Tür bereits Gedrängel. Es waren fast nur Frauen, die in den Laden strömten. Sobald Emmy geöffnet hatte, stürzten sie sich auf die Plätze in den ersten Reihen. Auffällig war, dass sich selbst die, die sonst nur wenig Wert auf ihr Aussehen legten, enorm herausgeputzt hatten. Einige waren stark parfümiert, andere aufwendig geschminkt. Ihre Nachbarin sah sie zum ersten Mal überhaupt in einem Kleid, und die Inhaberin ihres Lieblingscafés stöckelte mehr als überraschend auf atemberaubend hohen High Heels herein.

Keine Frage, jede einzelne der Damen wollte den Bestsellerautor auf ihre Weise beeindrucken. Er galt schließlich als absoluter Frauenschwarm. Wo er auftauchte, wurde er bejubelt wie ein Popstar. Emmy hatte den Hype um ihn bisher nur am Rande mitbekommen. Natürlich wusste sie von seinen Bestseller-Erfolgen, auch davon, dass seine Liebesromane allesamt fürs Kino verfilmt worden waren, aber sie hatte sich nie überwinden können, auch nur eins seiner Bücher zu lesen. Zu groß war ihre Furcht, dadurch Wunden aufzureißen. Das wollte sie nicht. Ihr war es bisher bestens gelungen, allem aus dem Weg zu gehen, was sie an Laurent erinnern würde.

Doch konnte sie das auch weiterhin? Die Anwesenheit Gabriel Chabrols war eine riesige Herausforderung für sie – schließlich war er Laurents jüngerer Bruder. Was würde die Begegnung mit ihm wohl in ihr auslösen?

Während Emmy routiniert Hände schüttelte und lächelnd Fragen beantwortete, spürte sie, dass sie mit jeder Minute aufgeregter wurde. Immer wieder blickte sie nervös Richtung Eingang.

Hélène, die zweite Frau des Bürgermeisters, trat von hinten an sie heran.

„Tut mir leid, dass mein Mann nicht gekommen ist, er ist immer noch auf einem Kongress in Paris“, erklärte sie.

Hélène hatte sich in das auffälligste Kleid des Abends geworfen. Es war knallrot und teilweise mit Pailletten verziert.

„Schön, dass du es zu uns geschafft hast“, entgegnete Emmy, die mit fast allen Bewohnern in Quiberon per du war. Sie hatten es ihr von Anfang an leicht gemacht, sich hier zu Hause zu fühlen. Viele kannte sie ohnehin schon aus Kindheitstagen.

„Na, das hätte ich mir doch nicht entgehen lassen.“ Hélène grinste vielsagend. „Ob er wohl in echt genauso attraktiv aussieht wie auf den Fotos?“

Weil Emmy nicht antwortete, legte Hélène nach und erkundigte sich neugierig: „Sag schon, wie findest du ihn eigentlich?“

„Nicht mein Typ“, antwortete Emmy ausweichend.

„Das glaube ich dir nicht“, kam es ungläubig zurück.

„Tut mir leid, ich gehöre nicht zum Fanclub“, entgegnete Emmy mit einem leichten Schulterzucken und setzte ein kurzes „Entschuldigung“ hinterher, denn es war offensichtlich, dass sie noch mehr Klappstühle aufstellen musste. Der Besucherinnen-Strom schien kein Ende zu nehmen.

Tatsächlich war Emmy gar nicht dazu gekommen, auch nur einmal darüber nachzudenken, ob Gabriel ihr Typ Mann war. Als Bruder ihrer einst großen Liebe war er für sie schlichtweg tabu.

Sie sah sich nervös um. Wo blieb er eigentlich? Die alte Standuhr zeigte sieben Minuten nach acht an – die Veranstaltung sollte also bereits seit sieben Minuten laufen. Während sie aus einem kleinen Nebenraum weitere Stühle anschleppte, registrierte sie das aufgeregte Geplapper, die fragenden Blicke. Auch sie war alles andere als die Ruhe selbst. Aber es würde ihr wohl gerade nichts anderes übrigbleiben, als das Publikum bei Laune zu halten. Kaum waren die Stühle mit vereinter Hilfe aufgestellt, trat sie vor die gut achtzig Leute, die sich in das „Les Mots“ hereingequetscht hatten.

„Meine Damen, vor allem meine Damen“, setzte sie lächelnd an und nahm mit den wenigen Männern, die sich im Laden befanden, kurzen Blickkontakt auf, bevor sie fortfuhr: „Und meine Herren.“ Es kam leiser Applaus. „Ich begrüße euch alle herzlich, auch im Namen meines Onkels Alain, der, wie ihr euch vorstellen könnt, sehr gerne heute Abend dabei gewesen wäre.“ Nächster Beifall brandete auf. „Dass Gabriel Chabrol bei uns lesen wird, ist eine besondere Ehre für uns. Wie ihr alle wisst, spielt sein aktueller Bestseller ‚Der letzte Atemzug‘ hier im schönen Quiberon, an der legendären wilden Küste.“ Erneut gab es Applaus, Hélène klatschte besonders laut. Kaum war es wieder still, abgesehen von einem Räuspern und Husten da und dort, blickte Emmy entschuldigend in die Menge. „Bitte geduldet euch noch ein paar Minuten, die Lesung wird bald beginnen.“

Hoffentlich, setzte sie im Stillen hinzu. So langsam wurde sie wütend. Starallüren gingen ihr so was von auf die Nerven. Was bildete sich dieser Gabriel Chabrol eigentlich ein? Er hätte sie ja wenigstens anrufen können. Siedend heiß fiel ihr in diesem Moment allerdings ein, dass sie das Telefon mit in die Wohnung genommen hatte und es dort, wenn sie sich richtig erinnerte, auf dem Küchentisch abgelegt hatte.

Gerade als sie überlegte, ob ein Stoßgebet helfen könnte, stolperte Gabriel endlich durch die Eingangstür. Er trug einen bordeauxfarbenen Anzug, der, wie Emmy fand, unfassbar lässig an ihm wirkte, als wäre er ein Male-Model bei der Pariser Fashion Week.

Er hat Stil, das muss man ihm lassen. Sein dichtes dunkles Haar fiel ihm teilweise in die Stirn. Er strich es schnell zurück, bevor er mit einem unglaublich charismatischen Lächeln den tosenden Applaus des Publikums entgegennahm. Einige waren sogar von den Sitzen aufgesprungen, andere johlten in einer Lautstärke, die ohrenbetäubend war.

Gabriel verbeugte sich mehrmals, dann kämpfte er sich nach vorne durch. Emmy war völlig verdattert, als er plötzlich neben ihr stand. Seine Nähe konnte einem wahrlich den Atem rauben. Damit hatte sie nicht gerechnet. Doch da zig Augenpaare sich gerade auf sie richteten, konnte sie wohl schlecht weiterhin wie belämmert dastehen.

„Gabriel Chabrol, herzlich willkommen im ‚Les Mots‘“, sagte sie deshalb schnell und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen.

Gabriel lächelte zuerst ihr, dann dem Publikum entschuldigend zu.

„Bitte verzeihen Sie mir, dass ich Sie alle so lange habe warten lassen. Das Taxi, das mich herbrachte, hatte leider eine Panne.“

Wie zu erwarten, applaudierte das Publikum nachsichtig.

„Und damit nicht noch weiter unnötig Zeit verstreicht, fangen wir am besten gleich an.“

Wie selbstverständlich nahm er hinter dem Tisch Platz, den Emmy für ihn vorbereitet hatte, und holte eine Ausgabe seines Romans hervor, die er mitgebracht hatte.

Während Gabriel las, war Emmy eine Weile unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Sie starrte ihn wie gebannt an. Dann riss sie sich abrupt von seinem Anblick los und schaute über die Köpfe der Zuschauer weg ins Leere. Sie verstand überhaupt nichts vom Text, sondern hörte nur seine tiefe, wohlklingende Stimme. Eine Stimme, die ihr durch und durch ging. Die Anspannung der letzten Tage und Stunden fiel allmählich von ihr ab.

Obwohl er aus seinem aktuellen Roman „Der letzte Atemzug“ nicht zum ersten Mal vor Publikum las, fiel es Gabriel schwer, die Fassung zu bewahren. Es war sein persönlichstes Buch, denn er hatte darin den tragischen Unfalltod seines Bruders Laurent verarbeitet.

Die Geschichte handelte von einem Mann, den ein ähnliches Schicksal ereilt: Er verliert seinen besten Freund bei einem Segelunfall und versinkt daraufhin in Depressionen. Genauso war es ihm ergangen. Er war für Monate in ein dunkles Loch gefallen – im Grunde hatte er den Tod seines Bruders bis heute nicht verwunden. Laurent fehlte ihm sehr.

Im Roman taucht allerdings Cécile auf, eine blonde Schönheit, die dem traurigen Helden wieder neuen Lebensmut schenkt. Schließlich verlieben sich die beiden und erleben eine Amour fou mit zahlreichen Hindernissen und einem bewegenden Happy End.

Eine wundervolle Frau wie Cécile war ihm zwar bisher nicht vergönnt gewesen, doch er wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Er wusste, irgendwo da draußen gab es die richtige Frau für ihn. Und er würde sie finden.

Gabriel spürte, dass das Publikum völlig im Bann der turbulenten Geschichte stand. Er hingegen musste feststellen, dass er nicht so bei der Sache war wie sonst. Immer wieder ging sein Blick zu Emmy, die nun am Eingang stand, um für zu spät kommende Gäste einen Platz zu organisieren.

Emmy Bloom. Er hatte sie sofort erkannt.

Die große Liebe seines verunglückten Bruders. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, ihr nun wiederzubegegnen. Laurent war völlig verrückt nach Emmy gewesen. Kein Wunder. Sie war einfach hinreißend, eine natürliche Schönheit. Mit ihren flachsblonden Haaren und ihrer zarten Figur erinnerte sie an eine Fee. Nicht nur das. Irritiert stellte er fest, dass Emmy der Heldin aus seinem Roman unglaublich ähnelte – so hatte er sich Cécile immer vorgestellt. Wie schräg!

Ob Emmy sich überhaupt an ihn erinnerte? Sie waren sich nicht oft begegnet. Natürlich war sie auch zu Laurents Beerdigung gekommen, aber er hatte an dieses erschütternde Ereignis kaum deutliche Erinnerungen. Gefangen in seiner Trauer hatte er alles wie durch eine Nebelwand wahrgenommen.

Trotz all dieser Gedankenfetzen, die durch seinen Kopf schwirrten und ihn ziemlich verwirrten, ließ Gabriel sich nach außen hin nichts anmerken. Während er las, schienen ihm vor allem die weiblichen Gäste regelrecht an den Lippen zu hängen. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, bei Frauen gut anzukommen, aber er wusste auch, dass es mit dem großen Erfolg schnell vorbei sein konnte. Das hatte er bei einigen seiner Kollegen miterlebt. Daher geriet er nicht in Versuchung, zu sehr abzuheben.

Nach einer guten Stunde war die Lesung beendet und es bildete sich eine lange Schlange vor dem Tisch, an dem er saß. Eine Frau nach der anderen ließ sich den Roman von ihm signieren, und auch einige wenige Männer reihten sich ein. Die meisten wünschten sich eine Widmung. Wie gewohnt schrieb Gabriel den Satz „Die Liebe gewinnt immer“ dazu.

„Ich heiße Hélène“, raunte ihm eine sehr auffällige Brünette in einem Kleid mit rot funkelnden Pailletten zu. Und fügte an: „Ich bin die Frau des Bürgermeisters. Wir sind sehr stolz, Sie in unserer Stadt zu Gast zu haben.“

„Schön, Sie kennenzulernen, Hélène“, entgegnete er mit einem Lächeln, nahm das Exemplar entgegen, das sie ihm entgegenhielt, und schrieb mit schnellen Handbewegungen eine Widmung hinein.

Sie strahlte ihn an. „Wissen Sie, ich verschlinge Ihre Romane regelrecht. Und kann es kaum erwarten, bis der nächste auf den Markt kommt.“

„Da werden Sie sich leider ein bisschen gedulden müssen“, erwiderte er, woraufhin Hélène ein enttäuschtes Gesicht machte.

Tatsächlich plante er, sich erst mal zurückziehen. Ihm war der Trubel um seine Person einfach zu viel. Ohnehin war beruflicher Erfolg nicht alles. In letzter Zeit hatte er sich immer häufiger dabei ertappt, sich nach einer Frau und Kindern zu sehnen. Doch das wollte er Hélène nicht auf die Nase binden.

„Wie gesagt, ich bin eine begeisterte Leserin“, setzte sie nach.

„Das freut mich“, sagte er und lächelte sie weiterhin an.

„Und beste Grüße auch von meinem Mann. Er war heute Abend aus geschäftlichen Gründen leider verhindert.“

„Beste Grüße zurück. Es ist schön, hier in Quiberon zu sein.“

Sie nickten sich kurz zu, dann verschwand Hélène im Getümmel. Als Gabriel das nächste Buch entgegengereicht wurde, richtete er seinen Blick unversehens zur Seite und entdeckte Emmy, die an der Tür stand und zur Verabschiedung Hände schüttelte. Da sich draußen ein heftiges Gewitter zusammengebraut hatte, herrschte eine gewisse Hektik. Viele hatten es nun eilig, noch vor dem zu erwartenden Regen nach Hause zu kommen.

Nachdem sich die Buchhandlung geleert hatte, drehte Emmy sich zu ihm um – es war das erste Mal nach ihrem kurzen Blickkontakt bei der Begrüßung, dass sie ihn direkt ansah. Sie wirkte auf ihn ein wenig unsicher und auch er wusste nicht recht, wie damit umgehen, dass sie jetzt alleine miteinander waren.

„Nun sind also alle Gäste gegangen“, kommentierte er, weil ihm nichts anderes einfiel.

Emmy nickte. „Sieht ganz so aus.“

Inzwischen schüttete es in Strömen und der Wind trieb den Regen herein, daher schloss sie rasch die Eingangstür. Dann wandte sie sich ihm erneut zu.

„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“, erkundigte sie sich.

„Ich weiß nicht.“

Emmy runzelte die Stirn.

„Na ja“, schob er nach, „mit Taxis habe ich in dieser Gegend nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht.“

„Stimmt. Vielleicht sollten Sie in Zukunft nie wieder einem Taxifahrer trauen.“

Sie grinsten sich an.

Die leicht angespannte Atmosphäre zwischen ihnen schien sich zu lockern.

„Übrigens, ich glaube, wir waren damals beim Du“, warf Gabriel ein. Er zögerte. „Du erinnerst dich hoffentlich noch an mich?“, hakte er schließlich nach.

Es schien allerdings keine gute Idee, an die Vergangenheit anzuknüpfen. Schlagartig verdüsterte sich Emmys Gesicht. Die eben aufgehellte Stimmung war sofort dahin.

„Ich weiß nicht, ob das der richtige Ort ist, um …“, begann sie und ließ den Satz unvollendet.

„Um was?“, hakte Gabriel nach, obwohl ihm natürlich klar war, worauf sie anspielte.

Doch statt zu antworten, begann Emmy die Stühle zusammenzuklappen, die in der letzten Reihe standen.

Kurzerhand tat er es ihr gleich und klappte, ebenfalls schweigend, Stühle zusammen. Und eine Zeit lang war nur mehr oder weniger regelmäßiges Geklapper zu hören.

Gabriel überlegte fieberhaft, wie er den Gesprächsfaden wieder aufgreifen könnte. Jedenfalls stand jetzt fest, dass es besser war, keine Erinnerungen an Laurent heraufzubeschwören.

„Das war ein richtig toller Abend“, sagte er schließlich und gab seiner Stimme einen möglichst unverbindlichen Klang.

„Das Publikum war begeistert“, stimmte Emmy zu, sah ihn dabei allerdings nicht an.

„Und du?“, rutschte es ihm heraus.

Emmy klappte einen weiteren Stuhl zu, dann blieb sie unentschlossen stehen. Schließlich setzte sie sich auf den nächsten und sah ihn an.

„Wenn ich ehrlich bin, ich habe viel zu wenig mitbekommen, es drängten ja immer noch Gäste herein, während die Lesung bereits lief.“ Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn.

„Ja, es war ziemlich voll.“

„Allerdings. Ich wusste gar nicht, dass so viele Menschen in diesen Laden passen“, erwiderte Emmy.

„Und, wie findest du den Roman eigentlich?“ Gabriel ließ sich ebenfalls auf einen Stuhl fallen. Er musste sich umdrehen, um Emmy ins Gesicht schauen zu können. Ein schönes Gesicht, eine zarte Nase, volle Lippen, leuchtende Augen. Er fühlte sich wohl in ihrer Nähe.

Emmy nestelte an ihrem Zopf herum. Sie überlegte, was sie antworten sollte, denn sie hatte seinen Roman nicht gelesen. Und das aus einem guten Grund. Was, wenn die Erinnerungen an Laurent sie einholen würden? Aber sollte sie Gabriel das wirklich sagen? Er hatte ja das Gespräch in diese Richtung lenken wollen. Doch sie fühlte sich alles andere als bereit, über seinen toten Bruder zu sprechen. Ohnehin machte Gabriels Gegenwart sie nervös.

„Leider hatte ich noch keine Zeit, ihn zu lesen“, gab sie zurück, gleichwohl sie sofort ein schlechtes Gewissen beschlich, weil sie ihm gegenüber nicht ehrlich war.

„Liebesromane sind wahrscheinlich eh nicht dein Fall“, stellte er fest.

„Wie kommst du denn darauf?“ Emmy zuckte kurz zusammen, da ihr nun auch ein Du rausgerutscht war. Aber er hatte ja recht, natürlich hatten sie sich geduzt.

„Ist nur so ein Gefühl“, gab er zurück.

„Ein Gefühl?“

„Du wirkst eben eher …“

„Wie denn?“

„Na ja, eher nüchtern.“

Emmy spürte leichten Ärger in sich aufsteigen. Das hörte sich ja so an, als hielte er sie für eine durch und durch unromantische Person. Dabei war sie genau das Gegenteil. Aber warum störte sie sich überhaupt an seiner Meinung? Sollte er doch über sie denken, was er wollte.

„Und wie kommst du jetzt nach Hause?“, lenkte sie schnell auf ein anderes Thema.

„Du willst mich also loswerden“, gab er scherzend zurück.

„Gut erkannt“, scherzte sie ebenfalls. Wobei sie sich eingestehen musste, dass sie das nicht nur im Spaß gesagt hatte. Seine Anwesenheit brachte sie derart durcheinander, dass sie hin- und hergerissen war. Einerseits wünschte sie sich, er würde endlich aufbrechen, andererseits wollte sie, dass er blieb. Irgendetwas an ihm faszinierte sie derart, dass sie sich dem nicht entziehen konnte.

Gabriel grinste und deutete nach draußen. Der Regen prasselte unaufhörlich herunter und trommelte unerbittlich gegen die Fensterscheiben.

„Wahrscheinlich muss ich schwimmen.“

„Ich habe leider kein Auto, um dich fahren zu können“, räumte sie ein. „Wo bist du eigentlich untergebracht?“

„In meinem neuen Zuhause.“

Emmy konnte kaum glauben, was sie da hörte. „Du wohnst hier?“

„Meine Tante hat mir ein altes Herrenhaus ganz in der Nähe vererbt, knapp dreißig Kilometer von hier, in Auray, und ich dachte mir, dass es eine gar nicht mal so schlechte Idee wäre, da einzuziehen.“

Gabriel grinste und Emmy war verunsichert. Machte er etwa einen Scherz?

„Ernsthaft?“, hakte sie nach.

„Sobald diese Jahrhundertflut vorbei ist, zeige ich dir gerne das Haus. Es ist ein architektonisches Juwel und liegt derart abgelegen, dass es genau der richtige Ort für mich ist.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Ich will mich nämlich für einige Zeit aus der Öffentlichkeit zurückziehen.“

Das waren ziemlich viele neue Informationen, die sie erst mal verarbeiten musste. Doch sie konnte momentan nicht weiter darüber nachdenken, denn von oben drangen höchst beunruhigende Geräusche zu ihnen, die schwer einzuordnen waren. Emmy spürte große Unruhe in sich aufsteigen. Was hatte das zu bedeuten?

Gabriel entging natürlich nicht, dass irgendetwas in diesem Hause vor sich ging. Er sah sie fragend an.

Emmy zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, was da los ist.“

Beide blickten sie zur Decke.

„Was befindet sich im oberen Stockwerk?“, wollte Gabriel wissen.

„Die Wohnung meines Onkels. Und momentan also meine Wohnung.“

Sie schwiegen kurz und lauschten.

„Hört sich gar nicht gut an“, kommentierte Gabriel die nicht nachlassenden Geräusche.

„Als würde gleich das ganze Haus einstürzen“, sagte sie besorgt.

Gabriel sprang auf. „Lass uns nachschauen.“

Emmy fühlte sich wie erstarrt, doch schließlich riss sie sich auch von ihrem Stuhl los. Gemeinsam gingen sie über die Treppe nach oben. Während Gabriel voraneilte, fiel ihr jeder Schritt schwer. Auf eine Katastrophe, und damit war zu rechnen, war sie wirklich nicht vorbereitet.

Als sie vor der Wohnungstür standen, ließ Gabriel ihr den Vortritt. Da sie nicht abgeschlossen hatte, musste sie nur die Klinke runterdrücken, und sie tat es langsam, bedächtig. Im Flur schien zum Glück alles in Ordnung zu sein. Emmy atmete erleichtert auf. Doch nur ein paar Schritte weiter hätte sie sich am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen. Das Wohnzimmer stand unter Wasser!

Das bereits in die Jahre gekommene Dach hatte dem Druck des Regens offensichtlich nicht standgehalten.

„Du liebe Güte“, entfuhr es ihr.

„Euer Dach scheint mir nicht gerade das stabilste zu sein“, meinte Gabriel.

„Gut erkannt“, gab sie wütend zurück. Was sie nun wirklich nicht brauchte, waren solche Schlaumeier-Kommentare. Sie musste dringend eine Lösung finden.

„Schau mal, das fließt schon in andere Zimmer hinüber“, kommentierte Gabriel weiterhin das desaströse Geschehen.

„Danke, das sehe ich selbst“, zischte Emmy. Sie wusste, dass es am besten wäre, einen kühlen Kopf zu bewahren, aber gerade lagen die Nerven blank.

„Hier kannst du auf jeden Fall nicht bleiben“, stellte Gabriel nüchtern fest.

„Aber ich muss doch … irgendetwas tun.“ Emmy war der Verzweiflung nahe. Tränen schossen ihr in die Augen.

„Das müssen wir der Feuerwehr überlassen.“

„Aber ich … ich kann doch nicht … ich sollte …“ Sie war so überfordert, dass es ihr nicht einmal gelang, einen vollständigen Satz herauszubringen. Nicht nur in der Wohnung, auch in ihrem Kopf herrschte maximales Chaos. Wie sollte sie ihrem Onkel diese Hiobsbotschaft überbringen?

Mit einem Mal legte Gabriel einen Arm um sie und sie zuckte zusammen. Emmy spürte zwar, dass diese liebevolle Geste genau das war, was sie gerade brauchte, aber nicht von einem Mann, der im Grunde ein Fremder war. Und noch dazu der Bruder ihrer großen Liebe! Es fühlte sich einfach falsch an.

Mit einem Ruck befreite sie sich entschlossen aus der Umarmung. Gabriel blickte sie stirnrunzelnd an.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Nein, nichts ist in Ordnung, das siehst du doch, die reinste Katastrophe“, blaffte sie und deutete auf das Wohnzimmer, in dem bereits die ersten Gegenstände umherschwammen. Sie wusste, dass es nicht fair war, ihn in diesem Ton anzugehen, aber ihr war gerade alles zu viel.

„Tut mir leid“, flüsterte sie.

„Schon in Ordnung.“ Gabriel fasste sie sanft an den Schultern an und drehte sie behutsam in seine Richtung. „Ich verstehe, dass du völlig durch bist. Aber wir können hier leider gerade nichts ausrichten.“

Emmy seufzte tief, dann blickte sie hoch, direkt in seine strahlend blauen Augen. Es war ein ganz besonderes Blau. Wie der Himmel an einem Tag, an dem man alle seine Sorgen vergaß. Sie hatte das Gefühl, als wollte er ihr mit seinem Blick sagen, dass alles wieder gut wird. Und je länger sie darin versank, desto erleichterter fühlte sie sich.

„Darf ich einen Vorschlag machen?“, fragte Gabriel und lächelte leise.

Sie lächelte zurück. „Du darfst.“

„Es gibt in meinem Herrenhaus jede Menge Gästezimmer. Du suchst dir einfach eins aus und übernachtest dort.“

Obwohl es ihr wie die einfachste Lösung erschien, zögerte Emmy. Sollte sie wirklich zustimmen? Sie kannte Gabriel doch kaum. Andererseits, er war Laurents Bruder und hatte allein deshalb schon ihr Vertrauen verdient. Was sollte auch passieren? Zudem war sie zu müde, um über eine andere Lösung nachzudenken.

„Einverstanden“, sagte sie deshalb. Dann fielt ihr ein, dass sie ja noch überlegen mussten, wie sie nach Auray kommen sollten. Sie konnten ja schlecht fliegen. Also doch ein Taxi?

„Und wie kommen wir …“, begann sie.

„Taxi“, unterbrach Gabriel sie breit lächelnd.

„Du willst es also wieder wagen“, gab sie zwinkernd zurück.

„Uns bleibt wohl nichts anderes übrig.“

Sie sahen sich grinsend an.

„Also, los, rufen wir ein Taxi“, sagte Emmy und merkte, dass sie es plötzlich eilig hatte, von hier fortzukommen. Wer wusste schon, welche Ausmaße der Einsturz des Daches noch entwickeln würde? Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, krachte es im Wohnzimmer. Bestürzt und beinahe gleichzeitig schauten sie beide in die Richtung, aus der das ohrenbetäubende Geräusch kam. Ein Balken hatte sich gelöst und war heruntergefallen. Nun strömte noch mehr Regenwasser herein.

„Horror“, entfuhr es Emmy. Wieder dachte sie an ihren Onkel. Sie würde es ihm am liebsten ersparen, sich mit diesem Desaster auseinandersetzen zu müssen.

„Wir sind hier auf jeden Fall nicht sicher“, meinte Gabriel und zog sein Smartphone aus der Jackentasche, um ein Taxi zu bestellen.

Kurz darauf standen sie wieder in der Buchhandlung und warteten. Es sollte wegen der Wetterlage noch etwa zwanzig Minuten dauern, bis das Taxi bei ihnen sein würde.

„Immerhin ist es hier noch trocken“, sagte Emmy.

„Fragt sich nur, wie lange noch“, gab Gabriel zurück und deutete auf die Decke, an der schon erste Wasserflecken zu erkennen waren – das Wasser aus dem darüberliegenden Geschoss sickerte bereits durch.

Emmy schlug die Hände vors Gesicht. „Das ist der reinste Albtraum.“

„Hey, das kommt schon wieder alles in Ordnung“, versuchte Gabriel sie aufzumuntern.

„Na, hoffentlich.“

„Versprochen.“ Er sah sie mit einem unerschütterlichen Ausdruck im Gesicht an.

Emmy wünschte sich so sehr, dass er recht behalten würde.

Sie sah sich suchend um. Wo war eigentlich ihre Handtasche? Wenn sie sich nicht täuschte, hatte sie sie unter der Kasse deponiert. Tatsächlich! Erleichtert zog sie ihre Handtasche heraus. So hatte sie wenigstens alles Notwendige bei sich. Nicht auszudenken, wenn Portemonnaie und Smartphone in diesem Chaos verloren gegangen wären.

Gemeinsam mit Gabriel klappte sie noch schnell die restlichen Stühle zusammen. Dann standen sie am Fenster und starrten in die Dunkelheit, hoffend, dass das Taxi bald auftauchen würde. Einige Zeit schwiegen sie.

„Ich glaube, es war beim fünfzigsten Geburtstag unseres Vaters, als wir uns das erste Mal gesehen haben“, beendete Gabriel die Stille.

Emmy erstarrte. Nein, das konnte sie jetzt nicht. Sie fühlte sich ganz und gar nicht in der Lage, Erinnerungen auszutauschen. „Kann schon sein“, wich sie aus.

„Ich war neugierig, dich kennenzulernen. Laurent hatte mir wochenlang von dir vorgeschwärmt.“

Emmy stöhnte innerlich auf. Besonders feinfühlig war Gabriel anscheinend nicht. Merkte er denn nicht, dass sie keinesfalls über Laurent reden wollte? Ihr blieb aber wohl keine andere Wahl, als ihn darauf hinzuweisen.

„Ist dir eigentlich nichts aufgefallen?“, fragte sie und sah ihn direkt an.

Gabriel runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter.

Also fuhr Emmy fort: „Es wäre mir recht, wenn wir nicht über deinen Bruder sprechen würden.“

„Ihr habt euch sehr geliebt.“

„Genau deshalb.“

Gabriel nickte. „Mir fiel es auch lange schwer, über Laurent zu sprechen. Eigentlich schaffe ich es erst, seit ich meinen Roman geschrieben habe.“

Tränen schossen in Emmys Augen. „Es tut immer noch so weh“, entgegnete sie mit erstickter Stimme.

„Ja, so geht es mir auch.“

Gabriel legte einen Arm sanft auf ihre Schultern. Dieses Mal ließ Emmy ihn gewähren. Zu gut fühlten sich seine Nähe und seine Wärme an. Es war genau das, was sie in diesem Moment brauchte.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen“, sagte er leise.

Emmy atmete tief durch. „Schon gut.“ Sie blinzelte, denn von draußen drang grelles Scheinwerferlicht herein. „Unser Taxi ist da“, sagte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Als sie sich in Bewegung setzen wollte, hielt Gabriel sie jedoch zurück.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte er und musterte sie nachdenklich.

„Ja“, wiederholte Emmy. Sie war gerührt, dass er so besorgt um sie war. Just in dem Moment grummelte es in ihrem Magen.

„Da hat wohl jemand Hunger“, stellte Gabriel fest und lächelte sie voller Wärme an.

Sie lächelte zurück. „Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal heute gegessen habe.“

„Ich habe zwar noch keinen vollen Kühlschrank, aber irgendetwas finden wir schon, was ich dir anbieten kann.“

Emmy nickte dankbar, griff nach ihrer Handtasche und öffnete die Tür. Es schüttete immer noch, als gäbe es kein Morgen. Sie wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, was das für die Wohnung und die Buchhandlung bedeutete. Erstmal war sie froh, von hier wegzukommen. Zudem gab ihr Gabriel ein Gefühl von Sicherheit. Sie fühlte sich bei ihm gut aufgehoben.

Emmy seufzte, als sie die Tür verschloss. Was das Leben doch für seltsame Wege ging. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Tag so enden würde.

2. KAPITEL

Das Taxi setzte sie und Gabriel vor dem Herrenhaus ab. Um nicht allzu nass zu werden, liefen sie über die ausladende Treppe so schnell wie möglich zum Eingangsportal. Weil es außerdem stockdunkel war, bekam Emmy die ganze Umgebung überhaupt nicht richtig mit. Sie wollte nur noch eins, rein ins Trockene.

Kaum hatte Gabriel die Tür hinter ihnen geschlossen und das Licht angeschaltet, atmete sie laut auf. „Was bin ich froh, hier zu sein“, sagte sie erleichtert.

Er grinste und machte eine ausholende Handbewegung. „Herzlich willkommen in meinem neuen Zuhause.“

Emmy sah sich in der imposanten Eingangshalle um. Ein riesiger Kronleuchter thronte über ihnen, zahlreiche Gemälde hingen an der Wand, Landschaftsmalereien. Und ein glänzender Flügel stand mittendrin. Von der Halle gingen etliche Türen ab, eine geschwungene Treppe führte nach oben.

„Wir sehen aus wie zwei begossene Pudel“, meinte Gabriel und zwinkerte ihr zu.

„Allerdings.“ Emmy lachte.

„Ich hole uns erstmal Handtücher“, bot er an.

„Gute Idee.“

„Bin gleich wieder da.“

Gabriel ging in den ersten Raum links, kam flugs zurück und hielt ihr ein goldgelbes Handtuch entgegen. Emmy rubbelte damit ihre Haare ab. Schon wieder nasse Haare, hört das denn nie auf! Sie dachte an den kaputten Föhn. Ein Tag voller Pleiten, Pech und Pannen. Sie schmunzelte in sich hinein. Na ja, so ganz stimmte das nicht, schließlich hatte sie Gabriel wiedergetroffen. Und sie war immer noch völlig überrascht davon, dass sich das gar nicht mal so übel anfühlte. Dabei hatte sie solche Panik vor ihrer Begegnung gehabt.

„Besser, ich suche dir noch trockene Sachen heraus“, meinte Gabriel. „Sofern du überhaupt ein T-Shirt von mir anziehen magst.“

„Ich fürchte, ich habe gar keine andere Wahl“, entgegnete Emmy und zwinkerte ihm zu. „Ich habe ja nicht mal ein Nachthemd dabei.“ Kaum hatte sie das ausgesprochen, hatte sie das Gefühl, vor Scham rot anzulaufen. Als wäre der Satz eine Einladung an Gabriel, sich ihren nackten Körper vorzustellen.

Sie starrte auf das Handtuch und sagte, um schnell abzulenken: „Und wohin kommt das?“

„Lass mich nur machen.“ Er verschwand mit den Handtüchern wieder in den Raum, aus dem er zuvor gekommen war. Emmy war mehr als erleichtert, dass er die ihr unangenehme Situation gar nicht bemerkt zu haben schien. Oder vielleicht war er einfach nur gut darin, es zu überspielen.

Als er wieder vor ihr stand, klatschte er in die Hände. „Und jetzt kümmern wir uns darum, dass du etwas zu essen bekommst.“

„Bloß keinen Aufwand wegen mir“, wehrte Emmy ab.

„Aber du hast doch noch Hunger?“

Sie nickte.

Er strahlte sie an. „Folgen Sie mir, meine Dame.“

Während sie durch einen mit einem hellroten Läufer ausgelegten Gang gingen, der endlos lang erschien, wusste Emmy kaum wohin mit ihrem Blick. Alles sah so prachtvoll aus, die edlen Porzellanfiguren, die luxuriösen Vasen, die altehrwürdigen Kommoden. Die Atmosphäre des Hauses erinnerte an längst vergangene Zeiten, die gewiss sehr glamourös gewesen waren. Sie konnte sich die vielen rauschenden Feste, die es hier vermutlich gegeben hatte, lebhaft vorstellen.

Über eine Treppe, die nach unten führte, gelangten sie in die größte Küche, die Emmy jemals gesehen hatte. Alleine der Herd in der Kochinsel in der Mitte war mindestens drei Mal so groß wie ihre eigene Küche. Gabriel steuerte zielsicher den Kühlschrank an und öffnete ihn. Tatsächlich war der, gemäß seiner Ankündigung, ziemlich leer. Er holte zwei Bananen heraus, einen Apfel, eine Birne und einen Karton Eier und legte alles auf den schlichten, weißen Tisch.

„Das wäre also meine Ausbeute“, sagte er und fügte bedauernd an: „Ich bin noch zu gar nichts gekommen, da ich erst heute Morgen angereist bin.“

Emmy tippte auf den Eierkarton. „Rühreier gehen immer.“

Gabriel nickte. „Und als Nachtisch einen Obstsalat?“

Emmy nickte ebenfalls. „Na, wenn das kein Festmahl ist.“

„Eben, das kriegst du nicht mal in einem Fünf-Sterne-Restaurant“, sagte Gabriel mit gespielt angeberischer Miene.

Sie grinsten sich an.

Als sie nach dem Eierkarton greifen wollte, kam Gabriel ihr zuvor.

„Das erledigt der Chefkoch“, bestimmte er lächelnd.

„Dann kümmere ich mich um den Obstsalat“, entgegnete Emmy entschieden und sah sich suchend um. „Wo sind Brett und Messer?“

Gabriel bedeutete ihr, sich hinzusetzen. „Lass mich nur machen.“

„Kommt gar nicht in Frage“, protestierte sie.

„Du hattest einen anstrengenden Tag.“

„Ich will hier nicht einfach untätig herumsitzen“, protestierte sie.

„Und ich will, dass du dich von mir verwöhnen lässt“, erklärte Gabriel mit sanfter Stimme.

Er schenkte ihr einen derart zärtlichen Blick, dass sie davon völlig irritiert war. So sehr, dass sie überhaupt nicht wusste, was sie antworten sollte. Also tat sie wie ihr geheißen und setzte sich auf einen der weißen Holzstühle.

„Du wirst sehen, das werden die besten Rühreier deines Lebens“, verkündete er.

Emmy spürte plötzlich einen Stich in ihrem Herzen. Laurent! Genau das hatte Laurent gesagt, als er ihr einmal auf einer Berghütte in den Schweizer Alpen Rühreier zubereitet hatte. Sie sah ihn vor sich, mit seinem verschmitzten Lächeln, das das Grübchen an seinem Kinn vertiefte – wie sehr hatte sie dieses Grübchen geliebt.

Gabriel sah sie stirnrunzelnd an. „Was ist, habe ich etwas Falsches gesagt?“

Emmy fühlte sich ertappt, doch sie beschloss, ihn nicht an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Wahrscheinlich würden ihr dann gleich wieder die Tränen kommen. Sie bemühte sich um ein Lächeln. „Dann bin ich ja mal gespannt.“

„Die Eier sind übrigens von den glücklichsten Hühnern überhaupt.“

„Hm“, machte Emmy nur.

„Wirklich alles in Ordnung?“

„Ich bin bloß müde“, wich sie aus. Und es stimmte ja, es war allerdings ein anstrengender Tag gewesen.

Während Gabriel am Herd hantierte, grübelte Emmy, ob Laurent ihr jemals von diesem Herrenhaus erzählt hatte und von der Tante, die darin gelebt hatte. Doch so sehr sie in ihrem Gedächtnis danach kramte, sie konnte sich nicht daran erinnern.

Als wäre es Gedankenübertragung, kam Gabriel von selbst auf die Tante zu sprechen.

„Tante Marlene war die Schwester meiner Mutter, sie war so etwas wie das schwarze Schaf der Familie, ich kannte sie nicht mal richtig.“

„Trotzdem hast du ihr Haus geerbt, wieso das?“

„Wundert mich selbst. Aber sie hatte keine eigenen Kinder“, sagte Gabriel, wobei er die Eier in der Pfanne umrührte. „Ich erinnere mich nur, dass wir mal im Sommer ein paar Wochen bei ihr waren, da waren wir noch ziemlich klein. Mutter musste ins Krankenhaus und Vater war auf Geschäftsreise. Wahrscheinlich konnte sonst niemand auf uns aufpassen. Scheint, als hätte sie mich damals ins Herz geschlossen“, überlegte er laut. „Und Laurent sicher auch“, fügte er schnell hinzu. „Das Erbe wäre bestimmt an uns beide gegangen.“

Laurent! Emmy seufzte. Wie sie es auch anstellten, früher oder später würden sie ja doch auf ihn zu sprechen kommen. Es war praktisch unvermeidbar. Doch das bedeutete auch, sich immer wieder dem Schmerz auszusetzen, der nach wie vor in ihr bohrte, und das wollte sie nicht. Also würde sie den Kontakt zu Gabriel möglichst knapp halten müssen. Und wer sagte überhaupt, dass sie sich weiterhin sehen würden? Er half ihr in einer üblen Notlage, das war alles. Oder wünschte sie sich etwa mehr?

Weil diese Gedanken zu nichts führten, außer zu noch mehr Verwirrung, lenkte sie auf ein unverfänglicheres Thema. „Und was hast du nun vor, willst du hierbleiben?“, erkundigte sie sich.

„Nun, wie ich ja schon sagte, will ich mich einige Zeit aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Es war ziemlich viel die letzten Jahre, ein Bestseller nach dem anderen, der ganze Trubel. Ich brauche dringend eine Auszeit.“

„Verstehe.“

„Vielleicht zeigst du mir hier in der Umgebung ein paar schöne Fleckchen?“

Emmy wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie konnte ihm jetzt wohl schlecht sagen, dass es besser wäre, keinen weiteren Kontakt zu halten. Zum Glück kam keine peinliche Pause auf, da er sich in diesem Moment mit der Pfanne in der Hand zu ihr umdrehte.

„Bereit für das Essen deines Lebens?“, fragte er mit einem breiten Grinsen.

Emmy nickte, auch wenn sie ihren Hunger inzwischen völlig vergessen hatte. „So was von.“

Flugs hatte er Teller auf den Tisch gestellt, Besteck dazugelegt und die Rühreier so verteilt, dass sie eine deutlich größere Portion abbekam.

„Sehe ich etwa so hungrig aus?“, fragte sie lachend.

„Nicht, dass später Beschwerden kommen, ich hätte dich nicht gut versorgt“, antwortete er und lachte ebenfalls.

„Keine Sorge“, sagte sie und wollte spontan einen seiner Oberarme umfassen, zog ihre Hand aber gerade noch rechtzeitig zurück. „Du kümmerst dich toll um mich“, setzte sie leise nach.

Gabriel sah ihr tief in die Augen. „Und das tue ich gerne, sehr gerne sogar.“

Wieder herrschte eine besondere Stimmung zwischen ihnen. Was geschieht hier nur?

Emmy griff rasch nach ihrer Gabel und kostete den ersten Bissen. Köstlich! Tatsächlich hatte sie das Gefühl, gerade die besten Rühreier ihres Lebens zu essen.

„Einfach wundervoll“, kommentierte sie begeistert. Doch schon im nächsten Moment überkam sie ein schlechtes Gewissen. Als würde sie Laurent gegenüber Verrat begehen.

„Genug Salz und Pfeffer?“, hakte Gabriel nach.

„Gerade richtig.“

Einige Minuten kauten sie schweigend. Emmy versuchte währenddessen, alle aufsteigenden Gedanken zu vertreiben. Sie wollte einfach hier sitzen und das Essen genießen.

Schon bald merkte sie, dass sie immer müde wurde. Als Gabriel sich schließlich anschickte, den Obstsalat zuzubereiten, wehrte sie daher ab. „Ich muss dringend ins Bett.“

„Kann ich verstehen.“

„Danke für das wirklich tolle Essen.“

„Im nächsten Leben werde ich Koch“, sagte er und zwinkerte ihr zu.

Nachdem er die Teller abgeräumt hatte, schlug er vor, ihr einige Gästezimmer zur Auswahl zu zeigen.

Emmy winkte ab. „Ich nehme einfach irgendeins, das du mir zeigst.“

„Dann lass uns hochgehen, du bekommst das Zimmer mit dem großen Erker und dem schönsten Ausblick.“

„Klingt wundervoll.“ Keine Frage, Gabriel tat alles, aber auch wirklich alles, damit sie sich wohlfühlte.

Vor der Tür angekommen, standen sie einander unschlüssig gegenüber. Emmy wusste nicht, wie sie sich verabschieden sollte und auch Gabriel schien sich unsicher zu sein.

„Also, dann“, sagte sie.

„Also, dann“, echote er.

„Tja … danke.“

„Schlaf gut.“

„Du auch.“

„Schön, dass wir uns wiederbegegnet sind“, setzte Gabriel hinzu.

„Ja, finde ich auch.“

So müde Emmy auch war, sie bemerkte, dass es ihr nicht leichtfiel, sich von ihm zu verabschieden. Aber wie war das möglich? Sie kannten sich doch kaum. Und außerdem sollte sie sich besser keinen falschen Illusionen hingeben. Dieser Mann war für sie tabu.

Mit einem Ruck öffnete sie die Tür zu ihrem Gemach für diese Nacht. „Bis morgen dann“, sagte sie kurz angebunden.

„Ja“, meinte Gabriel nur.

Täuschte sie sich oder war er enttäuscht? Aber warum? Was hatte er erwartet?

Emmy schloss schnell die Tür hinter sich. Als sie sich auf das Bett legte, stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, Gabriel um ein frisches T-Shirt zu bitten. Egal! Sie schlüpfte aus ihrem Hosenanzug, der inzwischen fast wie eine zweite Haut an ihr hing, dann aus ihrem T-Shirt, und kroch, nur in Unterwäsche bekleidet, unter die Bettdecke. Noch ehe sie überlegen konnte, wann sie das letzte Mal so einen aufregenden Tag gehabt hatte, war sie schon eingeschlafen.

3. KAPITEL

Kaum hatte Gabriel am nächsten Morgen die Vorhänge aufgezogen, stach ihm die Sonne in die Augen. Über der Landschaft hing eine Sommerstimmung, als hätte es den gestrigen Starkregen nie gegeben. In der Ferne glitzerte ein Bach, der nahe Wald schien wie in helles Gold getaucht.

Obwohl er kaum geschlafen hatte, fühlte Gabriel sich wie neu geboren. Die Erinnerung an seinen Bruder hatte ihn wach gehalten, aber auch die Gefühle, die die Begegnung mit Emmy in ihm ausgelöst hatte. Was machte diese Frau nur mit ihm? Doch egal, was da vor sich ging, es tat ihm gut. Laurent hätte es sicher gefallen, dass er sich so gut mit Emmy verstand.

Als er an den Kleiderschrank trat, fiel ihm siedend heiß ein, dass Emmy frische Klamotten brauchen würde. Er hatte kaum Auswahl, da er bisher nur den Inhalt seines Koffers mitgebracht hatte. Aber ein T-Shirt und Shorts, die ihm einigermaßen angemessen für Emmy erschienen, waren trotzdem schnell gefunden. Natürlich würde ihr beides viel zu groß sein, aber das ließ sich sicher mit ein paar Knoten anpassen. Gabriel dachte an ihre zarte Figur, die dennoch an den richtigen Stellen hübsche Rundungen hatte, und bemerkte, dass ein heißer Schauer durch seinen Körper jagte.

Lautes Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Gabriel ging zum Fenster und sah einen dunkelblauen Lieferwagen, aus dem gerade eine blondgelockte Frau sprang. Auch Emmy war bereits draußen unterwegs und die beiden Frauen winkten einander zu. Um herauszufinden, was da vor sich ging, warf er sich schnell in die erstbesten Klamotten, die er zu fassen kriegte, und eilte nach unten.

Emmy und die Blondgelockte kamen auf ihn zu. Sie schienen sich zu kennen. Bevor er etwas sagen konnte, streckte ihm die unbekannte Frau schon die Hand entgegen.

„Ich bin Céleste“, sagte sie. „Und ich bringe das Holz.“

„Und ich bin …“

„Ich habe alle Ihre Bücher gelesen“, unterbrach sie ihn sofort. „Keiner schreibt so wie Sie, Monsieur Chabrol, so einfühlsam, einfach himmlisch.“

Sie strahlte ihn begeistert an, mit einem Blick, wie Gabriel ihn schon zig Mal gesehen hatte – der Blick eines weiblichen Fans.

„Danke Ihnen“, sagte er lächelnd und wechselte schnell das Thema, weil er nicht in der Stimmung war, angehimmelt zu werden. Vor allem nicht in Gegenwart von Emmy. Sie schien ihn aufmerksam zu beobachten. „Ihr beide kennt euch?“, fragte er.

„Quiberon ist klein genug“, erwiderte Emmy.

Als sie ihn ansah, mit ihren grünfunkelnden Augen, durchströmte ihn ein Gefühl von Wärme. Wie schön sie doch ist!

„Céleste arbeitet in der Schreinerei ihres Vaters“, erklärte sie.

„Und wir liefern in der Umgebung das Kaminholz für den ganzen Winter“, ergänzte Céleste.

„Jetzt schon?“ Das wunderte ihn.

„Man weiß hier nie, wann man den Kamin zum ersten Mal anmachen muss, es kann bereits im frühen Herbst unangenehm kalt werden.“

Gabriel runzelte die Stirn. „Soweit ich mich erinnern kann, habe ich aber keins bestellt.“

„Aber Ihre Tante. Es handelt sich um einen Dauerauftrag, der bisher wohl noch nicht storniert wurde.“

„Also gut, ich habe nichts dagegen, ich kann das Holz für den Winter tatsächlich gut gebrauchen“, entgegnete Gabriel.

Céleste sah ihn mit großen Augen an. „Das heißt, Sie werden hier wohnen, ein Bestsellerautor bei uns in Quiberon?“

Sie schien vor Begeisterung kaum an sich halten zu können. Gabriel behagte das gar nicht. Er hatte keine Lust, das Klatschthema Nummer eins zu sein. Zum Glück lenkte Emmy, die sein Unwohlsein zu spüren schien, das Gespräch in eine andere Richtung.

„Die Buchhandlung ist in einem üblen Zustand“, sagte sie. Ihre Miene verdüsterte sich. „Was mir Céleste gerade berichtet hat, hört sich noch schlimmer an, als ich vermutet habe.“

„Das ist ja grauenvoll.“ Gabriel war bestürzt. Nicht nur wegen der Buchhandlung. Ihm tat weh, Emmy so bedrückt zu sehen. Um ein Haar hätte er sie in seine Arme gezogen. Er widerstand in letzter Sekunde, weil er die lauernden Blicke Célestes spürte.

Emmy atmete tief durch. „Und deshalb sollte ich wohl besser gleich los.“

„Ohne Frühstück?“, warf er ein, und gestand sich ein, dass es vor allem ein Argument war, um sie nicht gehenlassen zu müssen.

Zu seiner Freude hellte sich ihr Gesicht kurz auf. „Noch mal Rühreier?“

Gabriel breitete seine Arme aus, als würde er eine besondere Ankündigung machen. „Die besten der Welt.“

Céleste schaute neugierig von einem zum anderen. Sie schien den nächsten Dorfklatsch zu wittern. Um möglichen Gerüchten keine Nahrung zu geben, bemühte Gabriel sich schnell um einen neutraleren Tonfall.

„Es ist besser, etwas im Magen zu haben, bevor man in den Tag startet“, sagte er und schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Du hörst dich ja an wie deine eigene Mutter.

Céleste schmunzelte. „Wo er recht hat, hat er recht.“

„Hm“, machte Emmy.

„Die Buchhandlung rennt dir garantiert nicht weg“, meinte Céleste mit einem schiefen Lächeln.

Emmy seufzte. „Mir graut bereits bei der Vorstellung, mich dem ganzen Ausmaß des Schadens zu stellen.“

„Hey, es kommt sicher alles wieder in Ordnung“, versuchte Gabriel sie zu trösten und stellte erleichtert fest, dass langsam die Anspannung aus ihren Schultern wich.

Sie lächelten sich an. Erneut musste er sich zusammenreißen, um dem Zauber, der von ihr ausging, nicht zu verfallen.

„Wohin nun mit dem Holz, Monsieur Chabrol?“ Céleste sah ihn fragend an.

„Das wissen Sie bestimmt besser als ich“, gab er zurück und zwinkerte ihr zu.

„Dann lade ich es wie gewöhnlich in der Scheune ab.“

Gabriel nickte.

Céleste winkte, warf Emmy noch ein freundliches „Kopf hoch“ zu und ging zurück zu ihrem Lieferwagen.

Nach dem Frühstück schlüpfte Emmy rasch in die frischen Kleidungsstücke, die Gabriel ihr herausgesucht hatte. Natürlich waren sie zu groß, aber mit ein bisschen Knoten und Krempeln passten sie ihr doch ganz gut.

In ihrem Kopf ging es drunter und drüber. Sie hatte das Gefühl, mit den Ereignissen in ihrem Leben gerade nicht richtig Schritt halten zu können. Mit dem Auftauchen von Gabriel wurden die vielen Erinnerungen an Laurent so lebendig wie schon lange nicht mehr. Doch morgens, gleich nach dem Aufwachen, waren ihre Gedanken bei Gabriel gewesen, der sie berührte wie schon lange kein Mensch mehr.

Sie konnte gar nicht richtig beschreiben, woran das lag, sie wusste nur, dass es sich gut anfühlte, in seiner Nähe zu sein. Und zugleich war da ihre innere Stimme, und sie wurde immer lauter, die sie dringend davor warnte, sich tiefer auf diesen Mann einzulassen.

Und dann war da noch die Katastrophe, die das gestrige Unwetter in der Buchhandlung und in der Wohnung verursacht hatte. Ihr schauderte. Wie würde Onkel Alain wohl darauf reagieren? Sie hatte ihn noch nicht darüber informiert. Stattdessen wollte sie abwarten, wie sich die Lage vor Ort darstellte. Gemäß den Schilderungen von Céleste befürchtete sie allerdings das Schlimmste.

Noch wollte sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, was es für sie bedeuten würde, wenn sie nicht mehr in die Wohnung zurückkehren könnte und die Buchhandlung erst mal geschlossen bleiben musste. Sie war so schon überfordert genug. Zum Glück sah man es ihr nicht an, wie sie erleichtert mit einem kurzen Blick in den Spiegel feststellte.

Sie klemmte sich ihre wenigen Sachen unter den Arm, nahm ihre Handtasche und verließ das Gästezimmer schweren Herzens, denn sie hatte sich hier, inmitten antiker Möbel, ausnehmend wohlgefühlt. Über den langen, herrschaftlichen Gang und die ausladende Treppe ging sie zum Eingangsportal, wo Gabriel bereits auf sie wartete.

„Ist das Taxi schon da?“, erkundigte sie sich.

Gabriel machte eine leichte Verbeugung. „Heute bin ich Ihr Chauffeur, Madame.“

„Du hast ein Auto?“

„Das gehört zum Erbe quasi mit dazu“, erwiderte er grinsend. „Ich hatte gestern nur keinen Nerv, damit zur Lesung aufzukreuzen. Außerdem war ich nicht sicher, ob es fahrbereit ist.“

„Und jetzt bist du dir sicher?“

„Überzeuge dich selbst.“

Er hielt ihr die schwere Eingangstür auf und kaum war sie über die Schwelle getreten, erblickte Emmy einen schnittigen, grünen Flitzer, der in der Sonne glänzte. Ein klassischer Jaguar, der fast schon ein Oldtimer sein musste. Sehr gediegen, sehr edel. Beinahe zu schön, um darin zu fahren.

„Wow“, entfuhr es ihr.

Gabriel lächelte breit. „Gar nicht mal so übel, oder?“

„Alles andere als das. Einfach traumhaft.“

„Bitte folgen Sie mir, Madame.“ Er machte ein paar schnelle Schritte, um ihr vorauszueilen, und öffnete die Beifahrertür. „Bitte die Dame einzusteigen.“

Was für ein Gentleman! Emmy war ausgesprochen beeindruckt von seinen guten Manieren. Davon könnten sich so einige Männer eine gehörige Scheibe abschneiden. Sie ließ sich in den cremefarbenen Ledersitz fallen. Die Ausstattung war wie erwartet luxuriös. Sie bestaunte das ganz in Mahagoniholz gehaltene Armaturenbrett.

Gabriel ließ, kaum hatte er neben ihr Platz genommen, den Motor an.

„Funktioniert“, rief er aus.

Emmy applaudierte.

„Dann mal los“, meinte er.

Während sie durch die Landschaft glitten, vorbei an ausladenden Wiesen und malerischen Wäldern, versuchte Emmy einfach mal an gar nichts zu denken und nur die Aussicht zu genießen. Es kam ihr vor, als wäre sie diese Strecke schon viele Male gefahren, was natürlich nicht stimmte, aber es fühlte sich nun mal so an. Ob es an Gabriel lag, mit dem sich irgendwie alles vertraut anfühlte?

„Es kommt sicher alles in Ordnung“, erklärte er in aufmunterndem Tonfall, nachdem sie einige Minuten schweigend gefahren waren.

„Das hoffe ich sehr.“ Emmy sah ihn kurz von der Seite an.

„Häuser lassen sich wieder reparieren, zumindest meistens.“

„Das sicherlich, aber die Frage ist, ob Onkel Alain das finanziell überhaupt stemmen kann.“

„Nun lass uns erst mal herausfinden, wie hoch der Schaden überhaupt ist.“

Emmy sah nachdenklich vor sich hin. „Ich erinnere mich, dass mein Onkel davon sprach, dass das Dach irgendwann mal repariert werden müsste.“

„Dann wird es ihn vielleicht nicht besonders überraschen.“

„Vermutlich nicht. Die Sache ist nur, dass er eine nicht gerade leichte Zeit durchgemacht hat, wegen seiner Herzerkrankung. Und ich wünschte, ihm bliebe diese Katastrophe erspart.“

„Kann ich gut verstehen“, entgegnete Gabriel mitfühlend.

Sie waren bereits in der Ortschaft angekommen und nahmen die letzte Kurve auf dem Weg, der zur Buchhandlung führte, die etwas abseits lag.

Emmy musste schwer schlucken, als sie die Verwüstung sah. Ringsherum lagen zig von Bäumen herabgebrochene Äste, einige Ziegel waren vom Dach heruntergerutscht und die beiden Holzbänke, die sonst zum gemütlichen Verweilen einluden, waren aus der Verankerung gerissen und lagen umgekippt auf dem matschigen Boden. Sogar das Namensschild war beschädigt und hing schief herunter. Kurz: ein totales Chaos!

„Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es drinnen aussieht“, murmelte sie, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte.

Gabriel stellte den Motor ab und sah sie aufmunternd an. „Hey“, sagte er sanft.

Sie bemühte sich, zu lächeln.

„Schon besser“, entgegnete er und lächelte ebenfalls.

Dann streichelte er zärtlich ihre Wange. Eine vertrauliche Geste, mit der Emmy nicht gerechnet hatte. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, aber eins war sicher, es tat ihr gut. Daher ließ sie es einfach geschehen.

„Wir haben schon ganz andere Sachen durchgemacht“, sagte er leise.

Ihr wurde es klamm ums Herz. Natürlich wusste sie sofort, was er meinte. Sie hatten beide einen unfassbar wichtigen Menschen verloren – Laurent!

Sie schwiegen eine Weile, dann setzte Gabriel seine Gedanken laut fort: „Häuser kann man wieder aufbauen, aber wenn Menschen aus dem Leben scheiden, dann ist es für immer.“

Erneut vergingen einige Momente des Schweigens.

„Ich vermisse ihn, ich vermisse ihn sehr“, sagte Emmy schließlich und spürte, dass ihre Stimme wegbrach.

Gabriels Blick war in die Ferne gerichtet. „Ich erinnere mich noch gut an unsere Kindheit. Wir waren quasi unzertrennlich.“

„Er hat oft davon gesprochen.“

„Auch von unserer Marienkäferbeerdigung?“

Emmy grübelte, dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Nein, ich kann mich nicht daran erinnern.“

Gabriel schien weit, weit weg, als er sagte: „Ich glaube, ich war damals vier Jahre alt, und Laurent hat das Grab geschaufelt.“

Trotz der großen Traurigkeit, von der sie bei seinen Worten erfasst wurde, musste sie schmunzeln. Und gleich war es ihr leichter ums Herz zumute.

„Eine Marienkäferbeerdigung, darauf muss man auch erst mal kommen.“

Gabriel lachte leise vor sich hin. „Ich sammelte damals Marienkäfer und habe einige eines Abends in eine Kiste gelegt. Allerdings hatte ich keine Luftlöcher hineingemacht und so waren sie am nächsten Morgen qualvoll erstickt.“

„Grauenvoll“, kommentierte sie.

„Allerdings“, pflichtete er ihr bei.

Sie blickten sich betreten an, mussten dann aber grinsen.

„Man könnte also sagen, dass du ein Marienkäfermörder bist“, meinte Emmy scherzhaft.

Gabriel griff ihren neckenden Tonfall auf und hob seine Arme in die Höhe. „Ich bekenne mich schuldig.“ Dann setze er nach: „Es war allerdings der erste und einzige Mord meines Lebens.“

„Schwerverbrecher bleibt Schwerverbrecher“, entgegnete Emmy mit gespielter Strenge.

„Vielleicht könnte man ja auch von fahrlässiger Tötung sprechen“, versuchte er, sich zu verteidigen.

„Und was hat Laurent dazu gesagt?“, erkundigte Emmy sich. Als sie diesen Namen aussprach, zuckte sie zusammen, aber zugleich erkannte sie, dass sie einem Gespräch über ihre einstige große Liebe nicht weiter ausweichen konnte.

„Er hat mich getröstet und dann das mit der Beerdigung vorgeschlagen. Die wir schließlich feierlich in unserem Garten begingen. Ich war völlig fertig damals.“

„Ein großartiger Bruder.“

Gabriel nickte. „Der beste! Wir waren immer füreinander da.“

Emmy wollte etwas erwidern, doch sie kam nicht dazu. Jemand klopfte an das Fenster der Beifahrertür. Es war Antoine, ein alter Freund ihres Onkels.

„Wir reden später weiter, in Ordnung?“, sagte sie in Richtung Gabriel, der ihr rasch signalisierte, dass er damit einverstanden war.

Emmy stieg aus, um Antoine zu begrüßen, dessen Gesicht sorgenvoll umschattet war.

Mon dieu!“, rief er erschüttert aus. „Die Buchhandlung liegt ja völlig in Trümmern.“

Wie immer neigte Antoine zur Übertreibung. Die Lage war zwar ernst, aber nicht hoffnungslos.

„Keine Sorge, die kriegen wir schon wieder flott“, mischte sich Gabriel ein, der ebenfalls ausgestiegen war. Er reichte Antoine die Hand. „Gabriel Chabrol, guten Tag.“

„Natürlich kenne ich Sie“, entgegnete Antoine. „Meine Frau ist ein großer Fan, sie war gestern bei der Lesung.“

Gabriel nickte freundlich.

„Und Sie sind immer noch da?“, fragte Antoine stirnrunzelnd. „Ich dachte, Sie wären längst unterwegs zur nächsten Lesung.“

„Auch Bestsellerautoren brauchen mal eine Pause.“

Antoine wusste anscheinend nicht, was er von dieser Antwort halten sollte. Er bedachte Gabriel mit einem argwöhnischen Blick. „Sie bleiben also länger hier?“, hakte er nach.

„Mir gefällt es in Quiberon“, antwortete Gabriel aus...

Autor

Alicia Leonardi
Alicia Leonardi mag Geschichten, die das Herz berühren. Ihre ersten Texte schrieb sie bereits mit sieben Jahren und brachte Familie und Lehrer mit ihrer überquellenden Fantasie zum Staunen. Können Sterne die Sonne besuchen? war eine ihrer Fragen als Kind. Weil sie partout nicht aufhören konnte zu fragen, musste ein Job...
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Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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