Romana Extra Band 155

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SÜSSE LIEBESTRÄUME IN VENEDIG von ALICIA LEONARDI

In einem venezianischen Palazzo will Designerin Charlene in Ruhe arbeiten. Doch überraschend kommt der attraktive Tycoon Paolo dazu! Als er seine Macho-Fassade ablegt, sich tiefgründig und zärtlich zeigt, träumt Charlenes bitter verletztes Herz doch wieder von der Liebe …

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  • Erscheinungstag 18.01.2025
  • Bandnummer 155
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533065
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alicia Leonardi

1. KAPITEL

Unverschämt! Charlene Everett schüttelte den Kopf. Eine mit zig Perlenketten behängte Wasserstoff-Blondine zuckte nicht mal mit der Wimper und schnappte ihr das Taxi direkt vor der Nase weg. Und dabei grinste sie auch noch frech. So dreist muss man erst mal sein!

Charlie, wie Charlene von allen genannt wurde, brummelte verärgert vor sich hin und zog ihren smarten silberfarbenen Koffer weiter zum nächsten Taxi.

Sie war gerade am Flughafen von Venedig angekommen und konnte es kaum erwarten, unter die Dusche zu springen. Mit ihrem dunkelblauen Hosenanzug war sie für London richtig angezogen gewesen, aber hier herrschten regelrechte Bikini-Temperaturen. Sie versuchte, sich den Schweiß von der Stirn zu pusten, und bedeutete dem Taxifahrer, er möge ihr Gepäck verstauen.

Die Fahrt verlief rasant, die Landschaft flog in Windeseile vorbei. Der Taxifahrer schien sich für ein Formel-1-Rennen fit machen zu wollen. An einer Kreuzung kam es fast zu einem Zusammenstoß mit einer Radfahrerin. Doch statt sich bei ihr zu entschuldigen, brüllte der Taxifahrer ihr einen Schwall italienischer Schimpfwörter entgegen. Die Frau polterte mit energischer Stimme zurück, griff in ihren Einkaufskorb und warf eine Tomate auf die Windschutzscheibe, dann eine zweite. Japanische Touristen fotografierten die Szene, andere Autos hupten wild, kurz, totales Chaos.

Charlie schlug die Hände vor die Augen und atmete tief durch. So hatte sie sich ihre Ankunft in Venedig nicht vorgestellt. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie die Zeit in einem der schönsten Palazzi der Lagunenstadt in vollen Zügen genießen würde. Eine Traum-Location, die der milliardenschwere Musikproduzent Marcello Graziano ihr den ganzen Sommer lang überließ. Als Dank dafür, dass sie ihm das Leben gerettet hatte.

Es war eine Sache von Sekunden gewesen. Vor gut fünf Wochen erlitt er während eines Fluges nach Paris einen Herzinfarkt. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit, sofort zu reagieren. Als Flugbegleiterin war sie in Erster Hilfe bestens geschult. Jede andere Kollegin hätte genauso gehandelt. Es gehörte zu ihrem Job.

Marcello Graziano ließ es sich aber nicht nehmen, sich erkenntlich zu zeigen. Charlie war völlig überwältigt gewesen, als 500 000 Euro auf ihrem Konto gelandet waren und der Schlüssel zu seinem Palazzo in ihrem Briefkasten. Sie hatte es als Wink des Schicksals gedeutet, das ihrem eingefahrenen Leben offenbar eine neue Richtung geben wollte. Und das hieß: Raus aus dem alten Job und den Neustart als Brautmoden-Designerin wagen. Endlich!

Davon hatte sie schon lange geträumt. In ihrem Koffer lagen diverse Entwürfe, die sie in aller Ruhe ausarbeiten wollte. Sie hoffte, damit auf dem vielumkämpften Markt Fuß fassen zu können.

Der Taxifahrer hatte nach dem Vorfall mit der Radfahrerin noch immer ein hochrotes Gesicht, als sie hielten, und an der Windschutzscheibe klebten Tomatenreste. Er redete ununterbrochen, und obwohl Charlie die italienische Sprache ziemlich gut beherrschte, verstand sie nicht jedes Wort. Sie bezahlte schnell und war erleichtert, als er mit aufheulendem Motor weiterfuhr.

Nun ging es per Vaporetto weiter, wie die Wasserbusse genannt wurden, die hier ähnlich wie Busse im Linienverkehr fuhren, nur eben auf Wasserstraßen. Charlie löste ein Ticket und suchte sich einen Platz mit einem guten Ausblick. Was gar nicht mal so einfach war, denn es tummelten sich nicht gerade wenige Menschen an Bord. Trotzdem, sie hatte Glück.

Als sie auf einem der schmalen Kanäle entlangfuhren, atmete sie tief durch. Sie war während der Taxifahrt viel zu angespannt gewesen, um sich auf die Umgebung einlassen zu können, aber nun saugte sie die neuen Eindrücke förmlich auf.

Die venezianische Kulisse mit ihrem malerischen Zusammenspiel aus Wasser und Land war einfach umwerfend. Die Häuser schienen regelrecht zu schwimmen. Besonders die weißen Fassaden bildeten einen hinreißenden Kontrast zum Blau des Wassers.

Charlie war schon an vielen Plätzen der Welt gewesen, aber das hier, das war sehr besonders. Angesichts der jahrhundertealten Bauten und romantischen Gassen glaubte man, mitten in einem Märchen gelandet zu sein.

Die Fahrt war schneller zu Ende, als ihr lieb war. Bereits nach vier Stationen musste sie aussteigen. Als sie sich mit ihrem Gepäck durch die Menschenmenge drängte, wäre sie beinahe gestolpert. Wieder sicheren Boden unter ihren Füßen, kramte sie nach dem Zettel, auf dem sie sich den Weg zum Palazzo notiert hatte. Wenn sie sich nicht täuschte, waren es nur noch wenige Meter zu Fuß. Es war allerdings nicht gerade einfach, den Rollkoffer über die sperrigen Pflastersteine zu bugsieren.

Erneut trat ihr der Schweiß auf die Stirn. Wahrscheinlich schwitzte niemand gerne, aber sie hatte eine ganz besondere Abneigung dagegen. Ich brauche endlich eine Dusche!

Das Haus auf der anderen Straßenseite musste es sein. Charlie blieb stehen und verglich die Adresse mit der auf ihrem Notizzettel. Ja, hier war sie richtig. Hier in diesem altehrwürdigen Palazzo würde sie die nächsten Wochen verbringen. Es kam ihr immer noch unwirklich vor.

„Wow“, entfuhr es ihr, als sie das imposante Portal betrachtete. Dunkel und irgendwie geheimnisvoll, verziert mit aufgemalten grazilen weißen und goldenen Blüten. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Die alte, schwere Holztür ächzte, als Charlie sie aufschob, erfrischend kühle Luft schlug ihr entgegen, durchwoben von einem dezenten Blütenduft, den sie auf die Schnelle allerdings nicht zuordnen konnte.

Von der in Ziegelsteinrot gehaltenen Halle führte eine breite Steintreppe nach oben. Das wirkte einerseits majestätisch, aber es bedeutete andererseits, dass sie ihren Koffer über die vielen Stufen würde schleppen müssen. Wenn man mal einen Aufzug braucht, ist keiner da.

Oben angekommen und leicht aus der Puste, beschloss sie, erst mal nach dem Badezimmer zu suchen. Die anderen Räumlichkeiten würde sie sich dann in aller Ruhe und vor allem frisch geduscht anschauen.

Links und rechts gingen kleinere Steintreppen ab. Als sie sich nach links orientierte, kam sie an einem Zimmer vorbei, zu dem die Tür offen stand. Der Boden war mit Terrakotta-Fliesen ausgelegt, in der Mitte thronte eine frei stehende, in hellblauen Marmor gefasste Badewanne, die auf goldenen Füßen stand. Eine Dusche konnte Charlie allerdings nirgends entdecken. Zumindest keine, die so aussah, wie Duschen normalerweise aussahen. Doch dann bemerkte sie einen in die Decke eingearbeiteten Regenduschkopf und ein dezent angebrachtes Paneel mit mehreren Drehknöpfen. Man konnte also einfach im Raum stehend duschen.

Auf einem Wandregal lagen weiße Bademäntel und Handtücher, in einem gläsernen Schränkchen standen zig edel aussehende Fläschchen aufgereiht, die als Shampoo oder Duschgel etikettiert waren. Herrlich! Es war an alles gedacht.

Charlie schlüpfte schnell aus ihren Klamotten und stellte sich erwartungsfroh unter den Duschkopf, doch gerade, als sie an einem der Knöpfe drehen wollte, hörte sie lautes Gepolter. Sie hielt den Atem an, ihr Herz klopfte sofort schneller. War etwa noch jemand im Haus? Dem ersten Rumpelgeräusch folgten weitere, die sie nicht zuordnen konnte.

Vielleicht handelte es sich einfach nur um eine Katze? Diese Erklärung wäre ihr natürlich am liebsten gewesen, aber was, wenn es alles andere als harmlos war? Hatten Einbrecher sich Zugang verschafft?

Hier weiterhin nackt herumzustehen, war jedenfalls keine gute Idee. Charlie schnappte einen der Bademäntel, schlüpfte hinein und schlich dann durch die offene Tür nach draußen. Als sie sich in Richtung der Geräusche bewegte, fiel ihr ein, dass es vielleicht besser wäre, sich irgendwie zu bewaffnen. Aber womit?

Sie musterte die massive, roséfarbene Bodenvase, an der sie vorbeikam. Die sah allerdings so schwer aus, dass Charlie bezweifelte, sie überhaupt hochheben zu können. Von der gegenüberliegenden Wand blitzten ihr antike Schwerter entgegen, die zwar wirkten, als entstammten sie dem Mittelalter, aber ihre Klingen wirkten immer noch scharf.

Instinktiv griff sie nach einem, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie es im Ernstfall anwenden sollte. Sie wäre überhaupt nicht in der Lage, es jemandem in den Bauch zu rammen. Im Gegenteil, ihr Talent lag eindeutig darin, Leben zu retten. Aber immerhin gab ihr das Schwert ein gewisses Gefühl, geschützt zu sein.

Als sie um die Ecke bog, weiterhin sehr langsam und bedacht, stellte sie fest, dass sie in der Küche gelandet war. Zwei Schubladen und mehrere Schranktüren standen offen – davor hantierte ein großer, dunkelhaariger Mann. Er kehrte ihr den Rücken zu und schien sie nicht zu bemerken. Ein gut trainierter, ziemlich muskulöser Typ.

Charlie war klar, dass sie gegen ihn keine Chance haben würde, wenn es zum Kampf kommen sollte. In einem ersten Impuls wäre sie am liebsten weggerannt, doch sie wollte nicht kneifen, sondern diesen Mann stellen. Und zwar sofort.

Sie hob das Schwert an und rief mit donnernder Stimme: „Keine Bewegung.“

Schon im nächsten Moment kam sie sich völlig bescheuert vor. Dachte sie ernsthaft, sie könnte einem Einbrecher Angst einjagen? Dann vernahm sie einen lauten Knall und zuckte erschrocken zusammen. Dem Mann war eine Flasche aus der Hand gerutscht, die in zahllose Splitter zersprang. Er drehte sich mit vor Wut blitzenden Augen zu ihr um.

„Was zur Hölle …“, entfuhr es ihm.

Bei ihrem Anblick wechselte sein Gesichtsausdruck jedoch. Er betrachtete sie amüsiert und fing schallend an zu lachen.

Charlie war irritiert. Sie hätte mit allem gerechnet, aber bestimmt nicht damit.

Sie bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie kurz aus der Balance gebracht hatte. Zum Glück hatte sie in ihrer Ausbildung als Flugbegleiterin viele Katastrophenszenarien durchgespielt und war geübt darin, die Nerven zu bewahren.

„Sie erklären mir jetzt sofort, was Sie hier machen“, sagte sie mit fester Stimme und hielt das Schwert weiterhin in seine Richtung gerichtet.

„Mir scheint, Sie haben aktuell ganz andere Probleme“, erwiderte er und deutete grinsend auf ihren Bademantel.

Dämlicher Trick! Charlie war überzeugt, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver handelte. „Antworten Sie gefälligst“, beharrte sie.

Sein Grinsen wurde noch breiter. Charlie konnte gar nicht sagen, wie sehr ihr der Typ auf die Nerven ging.

„Nichts gegen schöne Brüste“, meinte er schließlich.

Brüste? Wieso redet der von Brüsten? Plötzlich wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Meint der etwa meine Brüste?

Sie senkte ruckartig den Blick. Tatsächlich! Der Bademantel hatte sich im Eifer des Gefechts leicht geöffnet und bot einen viel zu gewagten Einblick. Mit jeder Pore ihrer Haut spürte sie, wie sie errötete. Hastig zog sie den Bademantel zu, konnte dabei aber das Schwert nicht mehr in Abwehrstellung halten.

„Schade“, meinte er und zwinkerte ihr zu. „Ihr Amazonenauftritt war auf jeden Fall heiß, das muss man Ihnen lassen. Es kommt nicht alle Tage vor, dass mich eine halb nackte Frau mit einer Waffe bedroht. Das hat schon was.“

Flirtete er etwa mit ihr? Was für ein selbstgefälliger Typ! Widerstrebend musste Charlie allerdings einräumen, dass er zwar unterirdisch unverschämt war, aber fast schon überirdisch attraktiv. Nur, was zum Teufel machte er hier?

Er kam ein, zwei Schritte auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.

„Ich glaube, das ist ein guter Zeitpunkt, dass wir uns gegenseitig vorstellen. Ich heiße Lucio Graziano, mein Name dürfte Ihnen bekannt vorkommen.“

Allerdings! Wenn sie eins und eins zusammenzählte, musste das der Sohn von Marcello Graziano sein oder sonst ein Verwandter. Und sie hatte ihn für einen Einbrecher gehalten. Wie peinlich! Vor Scham wäre sie am liebsten im Boden versunken.

Trotzdem versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, denn man musste improvisieren können, also sah sie ihn möglichst selbstbewusst an.

„Ich heiße Charlene Everett“, entgegnete sie und streckte ihm ebenfalls die Hand entgegen. „Ich bin auf Einladung von Marcello Graziano hier.“

„Mein Vater“, stellte er klar und nahm ihre Hand.

Als Charlie ihn wieder loslassen wollte, hielt er sie weiter fest und sah sie dabei direkt an. Fasziniert blickte sie zurück. Seine strahlend grünen Augen bildeten einen reizvollen Kontrast zu seinen tiefschwarzen, leicht welligen Haaren und seinem sonnengebräunten Teint.

Für einen Moment katapultierte sein Blick sie in eine andere Welt. Eine Welt voller Geheimnisse und Magie, aufgeladen mit einer gewissen Erotik, und das verwirrte sie noch mehr. Unwillkürlich jagte ein heißer Schauer durch ihren Körper. Irritiert wandte sie den Blick ab. Was geschieht hier?

Mit einem Ruck entzog sie ihm die Hand.

Er runzelte kurz die Stirn, dann musterte er sie von Kopf bis Fuß.

„Ich schließe aus, dass Sie eine Geliebte meines Vaters sind“, sagte er schließlich.

Charlie war auf einen Schlag ernüchtert. Sie schnappte hörbar nach Luft. Die Geliebte seines Vaters! Allein diese Idee schien ihr so abwegig, dass sie sich wunderte, dass er sie überhaupt äußerte.

Bevor sie etwas erwidern konnte, legte er nach: „Sie sind so was von gar nicht sein Typ, er steht ja eher auf vollbusige Blondinen.“

Das wird ja immer besser! Dieser Kerl besaß den Charme eines Bulldozers. Charlie hatte nicht übel Lust, das Gespräch sofort abzubrechen. Sie versuchte trotzdem, sich ihren aufsteigenden Ärger nicht anmerken zu lassen.

Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, hakte sie nach: „Sie wissen also nicht, wie es kommt, dass ich hier bin?“

Er schüttelte den Kopf und sah sie an, als hätte sie ihn etwas völlig Abwegiges gefragt.

„Sollte ich denn?“, erkundigte er sich.

Charlie fand es ausgesprochen seltsam, dass er anscheinend absolut keine Ahnung hatte. Wie konnte das sein? „Ihr Vater hatte einen Herzinfarkt“, erklärte sie und machte eine Pause, um seine Reaktion abzuwarten, aber es kam keine. Er stand da, stumm wie eine Wand.

„Er brach auf einem Flug von London nach Rom plötzlich zusammen. Ich kam ihm zu Hilfe, ich bin Flugbegleiterin gewesen auf diesem Flug.“

Immer noch regte sich nichts in Lucios Gesicht. Sie hätte zumindest mit einem Ausdruck der Überraschung gerechnet, aber nichts.

„Gut, dass Sie vor Ort gewesen sind“, sagte er schließlich. Sein Tonfall klang wie der eines Berichterstatters im Fernsehen.

„Zum Dank hat mir Ihr Vater angeboten, den Sommer über hier zu wohnen“, klärte sie ihn weiter auf. Sie merkte, dass sie ungeduldig wurde. Musste sie ihm wirklich jedes Detail berichten? Es fiel ihr immer noch schwer, zu glauben, dass er überhaupt keine Ahnung hatte.

„Das muss ein Irrtum sein“, wandte er entschieden ein.

Charlie stöhnte auf. „Ich habe den Schlüssel, also muss es wohl stimmen“, platzte sie heraus. Wenn er so weitermachte, würde ihr der Geduldsfaden ziemlich bald reißen.

Ihr fiel auf, dass sie immer noch dieses dämliche Schwert in der Hand hielt. Und überhaupt, sie wollte endlich duschen und sich anziehen.

„Diese Villa gehört unserer Familie. Ich bin hier im Grunde jeden Sommer. Und ich habe nicht vor, das zu ändern“, hielt er ihr entgegen.

Seine grünen Augen funkelten bedrohlich. Oder bildete sie sich das nur ein? Auf komplizierte Situationen hatte sie jedenfalls überhaupt keine Lust.

„Und was schlagen Sie dann bitteschön vor?“, wollte sie wissen.

Er zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, aber mir wird schon irgendwas einfallen. Am besten, sie ziehen sich erst mal was an.“ Dann drehte er sich um und deutete auf die Scherben, die auf dem Boden lagen. „Und ich bringe das hier in der Zwischenzeit in Ordnung.“ Seufzend fügte er hinzu: „Schade nur um den teuren Champagner, es war die letzte Flasche.“

Charlies Mitleid hielt sich in Grenzen. „Das tut mir aber leid“, kommentierte sie schnippisch und beeilte sich, so schnell wie möglich zur Treppe zu kommen. Genervt stieg sie Stufe um Stufe zum Badezimmer hinauf. Keine Frage, ihren ersten Tag in Venedig hatte sie sich definitiv anders vorgestellt.

Lucio kippte die letzten Scherben in den Mülleimer und überlegte, ob er vorsichtshalber nicht noch mit dem Staubsauger über den Fliesenboden gehen sollte. Es fiel ihm allerdings schwer, selbst diese einfache Entscheidung zu treffen. Im Grunde drehten sich seine Gedanken nur um seinen ungebetenen Gast.

Wie hieß sie noch gleich? Charlotta? Charline? Er wusste es nicht mehr. Ihm war nur klar, dass sie ihn ziemlich durcheinandergebracht hatte. Wie schon lange keine Frau mehr. Genau genommen war es nur Tiziana gelungen, ihn derart aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Tiziana! Es gab seinem Herzen einen Stich, sobald er an sie dachte. Sie war sein Engel gewesen, seine große Liebe.

Lucio schob sofort jeden Gedanken an sie beiseite. Das würde nur seine ohnehin schon angeknackste Stimmung verdüstern. Andererseits fühlte er auch so etwas wie Aufregung. Als würde ihm eine Art Abenteuer bevorstehen. Irgendwas lag in der Luft, er wusste nur nicht, was.

Ihm fiel die Wassermelone ein, die er im Kühlschrank verstaut hatte. Ein bisschen Erfrischung konnte nicht schaden, also beschloss er, sie aufzuschneiden. Zumindest einen Teil davon, denn sie war überdimensional groß. Er griff nach einem besonders scharfen Küchenmesser und während er Scheibe um Scheibe schnitt, tauchte plötzlich das Bild seines Vaters vor seinem inneren Auge auf. Ausgerechnet!

Seine Laune landete von einem Moment auf den anderen im Keller. Momentan hatte er keinen Kontakt zu ihm, was nicht ungewöhnlich war, sie hatten nun mal nicht das beste Vater-Sohn-Verhältnis. Das war schon seit der Kindheit so und würde sich gewiss nicht mehr ändern. Dazu war einfach zu viel zwischen ihnen in die Brüche gegangen. Dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte, überraschte ihn nicht, sein Vater hatte immer schon auf der Überholspur gelebt. Besessen von seiner Karriere – und von Frauen.

Lucio legte mehrere Melonenscheiben auf einen Teller, trug ihn ins Wohnzimmer und stellte ihn auf einem imposanten Marmortisch ab. Eine Weile blieb er unschlüssig im Raum stehen. Unwillkürlich stellte er fest, dass sein Herz schneller zu schlagen begann. Wieso bist du so nervös?

Das Klackern von Schritten auf der Treppe jagte seinen Puls noch mehr in die Höhe. Schon im nächsten Moment betrat sie den Raum und mit ihr wehte ein fruchtiger Duft herein, Richtung Vanille gehend, wie er fachmännisch feststellte, mit zarter Sandelholznote gemischt. Sie trug ein weißes, leicht ausgeschnittenes Kleid, das ihre sonnengebräunten Beine dezent umspielte. Der Stoff schmiegte sich wunderbar weich an ihren Körper und ließ ihre verführerischen Rundungen mehr als nur erahnen. Ihr kastanienbraunes, fast rötlich schimmerndes Haar fiel sanft über ihre Schultern.

Unbestritten, sie war eine schöne Frau. Man hätte sie fast für eine Fee halten können, wäre da nicht der leichte Trotz in ihrer Miene.

Lucio deutete auf einen der samtgrünen Sessel, die rund um den Tisch gruppiert waren.

„Setzen Sie sich doch.“

Sie blieb jedoch stehen, ihr Blick war schwer zu deuten. Offensichtlich war nur, dass sie ihm nicht recht zu trauen schien.

„Ich habe ein Stück Melone für uns aufgeschnitten“, sagte er in der Hoffnung, die angespannte Situation zu lockern.

Sie schob die Unterlippe ein wenig vor. Es war deutlich, dass ihr das alles nicht gefiel.

„Erst mal sollten wir überlegen, wie es nun weitergeht“, sagte sie mit fester Stimme.

Lucio wusste, dass er nicht lange nachdenken musste. Für ihn lag die Sache klar auf der Hand. „Wir teilen uns die Räumlichkeiten auf“, kündigte er an.

Kaum hatte er ausgesprochen, riss sie die Augen auf, als wäre eine Katastrophe über sie hereingebrochen und sein Vorschlag völlig unzumutbar. Lucio spürte, dass ihn das ein bisschen kränkte.

„Haben Sie etwa eine bessere Idee?“, fragte er unwirsch.

Sie verschränkte die Arme. „Mir wurde der Palazzo versprochen, ich habe das Wort ihres Vaters.“

Lucio missfiel, dass sie unbedingt ihren Willen durchsetzen wollte, anstatt nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen. So schön, wie sie war, so stur war sie. Andererseits hatte dieser Trotz, und es fiel ihm schwer, sich das einzugestehen, auch etwas verdammt Anziehendes.

„Und ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich den Sommer über auch hier sein werde“, sagte er und bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Und um es gleich klarzustellen, ich bin nicht zum Vergnügen hier. Ich habe im Keller ein kleines Labor und werde mich dahin zurückziehen, um an meiner nächsten Duftkollektion zu arbeiten.“

Schlagartig blitzte Neugier in ihren Augen auf. „Duftkollektion?“

Er stutzte. Sie hatten sich einander doch vorgestellt. Er war kein Unbekannter und leitete das Duftimperium „L“, das er gegründet und aufgebaut hatte. Aber anscheinend hatte sie keine Ahnung. Das war zwar ungewöhnlich, aber er war nun mal nicht der Papst, und daher hatte sein Bekanntheitsgrad seine Grenzen.

„Ich habe ein Parfum-Unternehmen“, erklärte er knapp. Ausführlicher wollte er nicht werden, zumindest nicht jetzt. Schnell lenkte er wieder zum eigentlichen Thema: „Wie gesagt, wir können uns den Wohnbereich aufteilen.“

„Wir kennen uns doch überhaupt nicht“, hielt sie ihm entgegen.

Immerhin klang sie weniger angriffslustig als noch vor ein paar Minuten.

„Sie haben leider keine andere Wahl“, machte er ihr unmissverständlich klar. „Es sei denn, Sie ziehen in ein Hotel.“

„Kommt gar nicht infrage.“

„Gut, dann zeige ich Ihnen jetzt, wo Sie wohnen werden.“

„Ich habe nicht zugestimmt“, protestierte sie.

Er ließ sich auf das Sofa fallen und seufzte laut auf. „Glauben Sie mir, ich habe mir diesen Sommer auch anders vorgestellt, aber nun lassen Sie uns doch einfach das Beste aus der Situation machen.“

Weil sie nichts erwiderte, stand er auf und ging voran. „Folgen Sie mir einfach“, sagte er. Ohne sich umzudrehen, trat er auf den langen Flur hinaus.

Charlie war hin- und hergerissen. Sollte sie sich wirklich darauf einlassen? Sie dachte an den Moment, als er ihre Hand länger als notwendig gehalten hatte. Und an den heißen Schauer, den sein tiefer Blick bei ihr ausgelöst hatte. Andererseits gingen ihr seine Macho-Attitüden jetzt schon auf die Nerven. Er wirkte außerdem unberechenbar. Schwer vorstellbar, dass sie das einen ganzen Sommer lang durchstehen würde.

Aber hatte sie überhaupt eine Wahl? Es kam nicht infrage, sich ein Hotel zu nehmen oder gar abzureisen. Wochenlang hatte sie dem Sommer entgegengefiebert und sich in den schillerndsten Farben ausgemalt, wie es sein würde, in einem Palazzo zu wohnen. Sie wollte diesen Traum leben. Daher würde sie sich wohl oder übel mit Lucio arrangieren müssen. Am besten, sie nahm die Sache sportlich.

Also gab sie sich einen Ruck und folgte Lucio, der bereits am Ende des langen Flurs angekommen war. Dort blieb er abrupt stehen und drehte sich zu ihr um.

„Was halten Sie davon, wenn wir einfach noch mal von vorne anfangen?“, schlug er vor und deutete ein Lächeln an.

Sie nickte, während sie ihm entgegenging. „Einverstanden.“

Als sie bei ihm angekommen war, reichten sie sich erneut die Hände. Charlie hoffte inständig, dass es sich weniger dramatisch aufwühlend anfühlen würde als beim ersten Mal. Tatsächlich war genau das Gegenteil der Fall. Seine Handinnenfläche schien regelrecht zu glühen – oder war es ihre eigene? Es war fast, als sprühten elektrische Funken zwischen ihnen. Ihr Atem ging schneller.

„Wenn Sie einverstanden sind, also wenn du einverstanden bist, lass uns Du sagen“, schlug er vor.

Sein Blick traf sie mit voller Wucht. Das Grün seiner Augen funkelte verführerisch, geradezu magisch. Warum hatte sie plötzlich das Gefühl, zu schwanken?

„Gerne“, erwiderte sie und wunderte sich, dass sie überhaupt ein Wort herausbrachte.

„Lucio.“

„Charlene.“

„Charlene“, wiederholte er und sprach ihren Namen besonders langsam aus, so als sei er sehr kostbar.

„Man nennt mich auch Charlie.“

„Also, Charlie, auf einen guten Sommer.“

Er lächelte sie an. Und wie er das tat, ging ihr durch und durch. Immer noch hielten sie sich an den Händen, man könnte inzwischen meinen, sie wären aneinander festgewachsen. Sie merkte, dass sie seine Lippen regelrecht anstarrte. Wie sinnlich sie waren! Und war das etwa ein Grübchen in seinem Kinn? Oh Gott, es wurde ja immer schlimmer!

Schließlich lösten sie sich voneinander. Charlie registrierte, dass ihr das gar nicht gefiel. Wie gerne hätte sie noch länger mit ihm so dagestanden. Noch viel länger. Dabei konnte sie sich noch vor wenigen Minuten nicht mal vorstellen, auch nur einen weiteren Tag mit ihm zu verbringen. Was ist nur plötzlich mit dir los?

Durch einen gemauerten Bogen kamen sie zu einem mit Terrakotta-Fliesen ausgelegten Raum, in dem ein langer, massiver Holztisch stand und zahlreiche Stühle drum herum. Zwei Fenstertüren öffneten sich zu einem Balkon hin.

„Das ist unser gemeinsames Esszimmer“, erklärte er ihr. „Das heißt, sofern du nichts dagegen hast.“

Wieder lächelte er sie in einer Art an, die ihr durch und durch ging. Was machst du nur mit mir?

„Äh, nein“, erwiderte sie schnell. „Es ist schön hier, klasse, toll, super, fantastisch.“ Sie reihte die Worte wie in Trance aneinander und kam sich dabei sonderbar unbeholfen vor.

Er musterte sie lächelnd. „Alles in Ordnung?“

Charlie fühlte sich ertappt. Reiß dich zusammen! Auf keinen Fall wollte sie sich anmerken lassen, dass er sie verlegen machte.

„Es sind viele neue Eindrücke“, antwortete sie geistesgegenwärtig. Und das war schließlich nicht gelogen. Mit betont fester Stimme fuhr sie fort: „Ich bin schon gespannt auf die restlichen Zimmer.“

„Dann will ich dich nicht weiter auf die Folter spannen.“ Lucio machte eine ausladende Geste, die ihr signalisierte, dass er ihr den Vortritt lassen wollte. „Wenn ich bitten darf“, sagte er galant und zwinkerte ihr zu.

Charlie ging durch den nächsten Türrahmen, der ziemlich niedrig war. Sie passte gerade noch durch, doch jemand, der größer war, wie etwa Lucio, musste den Kopf einziehen.

„Daran wirst du dich gewöhnen müssen“, sagte er und folgte ihr. „Die Menschen damals waren kleiner, daher sind auch viele Türen entsprechend niedriger.“

Sie drehte sich kurz zu ihm um. „Anscheinend bin ich gerade so groß, wie es damals üblich war.“

„Eine echte venezianische Prinzessin ist aus einer anderen Zeit zu uns gereist“, stellte Lucio fest.

Seine Stimme klang so begeistert, dass ihr Herz wieder anfing, schneller zu klopfen. Tief und dunkel, ein bisschen verführerisch, weckte sein Timbre bei ihr den Wunsch, darin zu versinken.

Sie befürchtete, Lucio könnte ihre Aufregung bemerken, und das wollte sie um jeden Preis verhindern. Außerdem bestand die Gefahr, dass er womöglich wieder anfing, sie mit seinem magischen Blick zu hypnotisieren. Also wandte sie sich abrupt von ihm ab und ging mit entschlossenen Schritten weiter.

2. KAPITEL

Charlie hatte sich für das Schlafzimmer entschieden, das in Apricot- und Orangetönen gehalten war. Es war riesig und luxuriös wie alles in diesem prachtvollen, Jahrhunderte alten Palazzo, der wahrlich ein architektonisches Juwel war. Über Generationen war er im Besitz einer Fürstenfamilie gewesen, bis Marcello Graziano ihn dann, nach mehreren Besitzerwechseln, gekauft hatte.

Lucio hatte ihr erzählt, dass er bereits als kleiner Junge die Sommer hier verbracht hatte. Der Palazzo war quasi sein zweites Zuhause, wenn er gerade nicht in seiner Mailänder Villa weilte. Klar, dass er sich daraus nicht vertreiben lassen wollte.

Als sie an eins der Fenster trat, konnte sie es kaum erwarten, es zu öffnen. Eine leichte Brise kam ihr entgegen, die Müdigkeit, die sich in ihr ausgebreitet hatte, wieder wegzublasen schien. Die Aussicht auf den malerischen Canal Grande war fast frei, nur ein anderer nicht minder prächtiger Palazzo ragte von links ein wenig in den Blick. Die Sonne ging gerade unter, und das so spektakulär und farbenprächtig, dass es schlichtweg überwältigend war. Zugleich fuhr eine Gondel vorbei, auf der Menschen standen, die ein italienisches Lied angestimmt hatten. Charlie kannte es nicht, aber sie verstand, dass es um einen Mann ging, der den tragischen Tod seiner Geliebten beweinte. Die Melodie war entsprechend sehnsuchtsvoll, fast schwermütig.

Die Szenerie kam ihr fast unwirklich vor. Wie in einem Film. Überhaupt konnte sie nicht fassen, dass sie das alles hier tatsächlich erlebte. Es war schon als kleines Mädchen ihr großer Traum gewesen, in einem Schloss zu leben. Und das hier kam ihren Vorstellungen ziemlich nahe. Um zu überprüfen, dass sie nicht träumte, kniff sie sich in den Oberarm. So kräftig, dass sie Schmerz verspürte.

„Autsch“, entfuhr es ihr. Über sich selbst lachend, schüttelte sie den Kopf.

Sie ging zu ihrem Koffer, den ihr Lucio, ganz Gentleman, ins Zimmer getragen hatte. Was war sie froh, dass er sich so schnell von ihr verabschiedet hatte. Warum seine Anwesenheit sie derart durcheinanderbrachte, wusste sie nicht.

Womöglich lag es gar nicht an ihm, sondern an der besonderen Atmosphäre Venedigs. Es war nun mal eine Stadt für Verliebte und vielleicht geriet man deshalb schnell in Gefahr, sich zu romantischen Gefühlen hinreißen zu lassen. Doch wenn sie etwas absolut nicht gebrauchen konnte, dann waren das irgendwelche Männergeschichten. Das würde sie nur unnötig ablenken.

Sie hatte sich fest vorgenommen, die Zeit im Palazzo zu nutzen, um an ihren Entwürfen weiterzuarbeiten. Seit Jahren schon träumte sie davon, als Brautmodendesignerin Fuß zu fassen.

Ihr Job als Flugbegleiterin machte ihr zwar Spaß, füllte sie aber nicht wirklich aus. Irgendwann hatte sie damit begonnen, glamouröse Abendroben zu entwerfen und eines Tages schließlich Brautkleider. Sie liebte die Vorstellung, dass Frauen am wichtigsten Tag ihres Lebens von ihr entworfene Kleider trugen. Sie sollten sich darin wie eine Königin fühlen.

Nach Feierabend zeichnete sie oft bis spät in die Nacht. Sie hatte schon einige Modelle selbst geschneidert und genäht. Nach und nach war ihr Wunsch, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, größer geworden. Sie war endlich so weit und hoffte, den Einstieg in die Branche zu schaffen.

Erschöpft ließ sie sich auf das Bett fallen, das von einem Baldachin aus goldbedrucktem Seidendamast geziert wurde, und reckte die Arme. Herrlich! Ja, vielleicht hatte Lucio recht und sie war tatsächlich mal eine venezianische Prinzessin gewesen. Ihr gefiel diese Vorstellung.

Mit geschlossenen Augen träumte sie sich in eine frühere Zeit hinein, in eine Zeit, in der sie auf prachtvollen Bällen tanzte. Während sie überlegte, welche Kleider sie damals wohl getragen haben könnte, welche Schnitte, welche Farben, wurde sie von Müdigkeit übermannt und war schon bald eingeschlafen.

Charlie mochte es überhaupt nicht, unsanft geweckt zu werden. Missmutig schlug sie die Augen auf. Wer brüllte denn da so? Sie erhob sich langsam von ihrem Kissen und stellte erstens fest, dass sie in ihrem Kleid geschlafen hatte und zweitens, dass die lauten Stimmen durch das offene Fenster hereindrangen.

Dem Tonfall nach waren die Menschen, die sich unten auf der Straße anschrien, kurz davor, sich an die Gurgel zu gehen. Es erinnerte sie an den völlig außer sich geratenen Taxifahrer von gestern. Wie er sich mit der Radfahrerin bekriegt hatte. Ihr waren solche Ausbrüche fremd, aber anscheinend war das hier an der Tagesordnung. Italienisches Temperament.

Ob Lucio auch derart in Rage kommen konnte? Sie hoffte, es nie herausfinden zu müssen. Und überhaupt, hoffentlich kamen sie sich in den nächsten Wochen nicht allzu oft in die Quere.

Belüg dich doch nicht selbst! Charlie sank in das Kissen zurück und starrte an die Decke. Belüg dich doch nicht selbst!

Schon wieder! Was wollte diese Stimme in ihrem Kopf? Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, aber das hätte natürlich nichts genützt.

Um bloß nicht weiter über Lucio nachdenken zu müssen, entschloss sie sich, sich möglichst schnell in die nächsten Entwürfe zu stürzen. Nicht mehr lange, und dann war ihre erste Brautmodenkollektion fertig. Sie konnte es kaum erwarten.

Schnell suchte sie T-Shirt, Rock und Unterwäsche aus ihrem Koffer, außerdem ihren Kulturbeutel, und trat dann auf den Gang hinaus. Unsicher blieb sie stehen. In welche Richtung ging es doch gleich zum Badezimmer? Der Palazzo war derart groß, dass vorprogrammiert war, sich darin zu verlaufen.

Zögernd ging sie los und versuchte, anhand der Türen herauszufinden, ob sich dahinter ein Badezimmer befinden könnte. Aber es war schier aussichtslos, denn eine Tür sah aus wie die andere. Daher blieb ihr nichts weiter übrig, als sie zu öffnen. Immerhin war sie sich sicher, dass dieser Trakt der Bereich war, den Lucio ausschließlich ihr zugeteilt hatte. Also würde es keine unangenehmen Überraschungen geben. Nicht auszudenken, Lucio dabei anzutreffen, wie er gerade unter die Dusche stieg.

Belüg dich doch nicht selbst!

Charlie stampfte wütend auf. Ihre innere Stimme ging ihr mächtig auf die Nerven. Was sollte das? Ja, Lucio war ein unfassbar attraktiver Mann, aber das war noch lange kein Grund, sich in romantischen Tagträumereien zu verlieren. Und ja, es hatte diese elektrisierenden Momente zwischen ihnen gegeben, aber mehr auch nicht.

Was bedeutete das schon! Und überhaupt, mit Männern hatte sie bisher immer nur Pech gehabt. Nie würde sie vergessen, wie sie von Harry am Tag ihrer Hochzeit sitzen gelassen wurde. Was für eine Demütigung! Nein, sie wollte lieber nicht mehr daran denken.

Genervt riss sie die nächste Tür auf, an der sie vorbeikam, und blickte in einen riesengroßen Raum, der voller Bücherregale war, die bis an die Decke reichten. Das musste die Bibliothek des Hauses sein. Sie ging weiter und legte gerade die Hand auf die nächste Klinke, als sich hinter ihr eine Tür öffnete.

Sie riss den Kopf herum. Lucio stand grinsend da, einen Stapel Handtücher unter den Arm geklemmt.

„Ich glaube, in deinem Badezimmer liegen noch keine Handtücher, deshalb…“, setzte er an.

„Deshalb betrittst du meinen Bereich?“, fuhr Charlie ihm dazwischen. Sie konnte nicht vermeiden, dass ihr Tonfall hart klang. Ihr gefiel nun mal nicht, dass er sich nicht an die oberste Regel hielt, die sie vereinbart hatten. Die lautete, dass niemand den Bereich des anderen betrat, wenn derjenige ihm das nicht ausdrücklich erlaubte.

„Kommt nicht wieder vor“, beteuerte er schnell.

Anscheinend lag ihm daran, keinen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen. Ihr konnte das nur recht sein.

„Versprochen?“, hakte sie nach.

„Hoch und heilig“, versicherte er ihr. „Es ist nur so … so ungewohnt. Ich kenne das Haus seit meiner Kindheit, wie du weißt, und eine Situation wie diese hatte ich noch nie.“

Charlie nickte und griff nach den Handtüchern, die er ihr reichte. Dabei achtete sie darauf, dass sich ihre Finger nicht berührten. Und sie strengte sich an, bloß nicht auf seine muskulösen Oberarme zu schauen, die unter seinem T-Shirt zum Vorschein kamen.

„Danke.“

„Gerne geschehen.“

Statt zu gehen, blieb Lucio weiterhin vor ihr stehen. Er wirkte, als würde er auf etwas warten. Eine Weile verging, und Charlie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Sie war eigentlich nicht der Typ, dem schnell die Worte fehlten, aber jetzt kam sie sich so unbeholfen vor, als könnte sie nicht mal bis drei zählen.

„Also, dann“, sagte er.

„Also, dann“, erwiderte sie.

„Dir noch einen schönen Tag.“

„Dir auch.“

„Falls du was brauchst, ich bin unten im Keller, in meinem Labor. Du kannst jederzeit runterkommen.“

„Ich komme schon zurecht“, versicherte sie ihm.

„Dann ist ja alles bestens.“

„Ist es.“

Lucio nickt ihr zu, ging durch die Tür, durch die er gekommen war, und schloss sie leise hinter sich.

Kaum war er weg, fiel Charlie siedend heiß ein, dass sie ihn hätte fragen können, wo das Bad lag. Anscheinend hatte seine Anwesenheit ihre normalen Denkvorgänge blockiert. Kein gutes Zeichen. Peinlich genug, wie sie eben dagestanden hatte. Sie mochte es ganz und gar nicht, sich unbeholfen zu fühlen. Wenn sie nicht aufpasste, würde Lucio ihre Gefühle mehr durcheinanderbringen, als ihr lieb war.

Doch nun sehnte sie sich nach einer Dusche, und zwar mehr als nach irgendetwas anderem. Sie riss ungeduldig die nächste Tür auf. Eigentlich rechnete sie gar nicht damit, überhaupt noch das Bad zu finden, und war umso erleichterter, festzustellen, dass sie endlich die richtige Tür aufgestoßen hatte.

Sie legte die Handtücher und ihre Sachen auf einer weißen, kunstvoll verzierten Kommode ab. Dann blickte sie in den Spiegel. Täuschte sie sich oder waren ihre Wangen geröteter als sonst? Jedenfalls sah sie frischer aus, als sie erwartet hatte. Unerwartet gut gelaunt zog sie sich aus, stellte sich unter die Dusche und drehte den Wasserhahn auf.

Während sie genoss, wie das Wasser über ihren Körper rann, war sie in Gedanken erneut bei Lucio. Die Bilder, die plötzlich auftauchten, konnte sie nicht verhindern, sosehr sie es auch wollte. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn er zu ihr unter die Dusche käme. Sie dachte an seinen muskulösen Körper, an seine sehnigen Hände, an seine leidenschaftlichen Lippen. Eine Vorstellung, die sie derart erregte, dass sie den Wasserstrahl kälter stellte, um sich abzukühlen. Die feinen Härchen auf ihren Armen richteten sich sofort auf. Die Eiseskälte war wie ein harter Schlag.

Charlie stöhnte auf. Sie war genervt, weil Lucio sich einfach so in ihre Gedanken einschleichen konnte. Und sie war genervt von ihren widerstreitenden Gefühlen.

Es muss aufhören!

Die große Frage war jedoch, ob sie das wirklich steuern konnte. Sie hatte da so ihre Zweifel.

3. KAPITEL

Lucio ging in seinem Labor unruhig auf und ab. Er hatte sich seit drei Tagen kaum woanders aufgehalten. Was daran lag, dass er mit seiner Duftkollektion nicht so richtig vorankam. Irgendwo hakte es, er wusste aber nicht, wo genau, und das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Wie immer, wenn er nicht weiterwusste, verbiss er sich regelrecht darin, das Problem zu lösen.

In der Regel vergaß er darüber sogar, etwas zu essen, sondern trank stattdessen Unmengen von Kaffee. Als er sich gestern in der Küche Nachschub organisiert hatte, war er mit Charlie zusammengestoßen, die sich gerade eine Portion Mozzarella mit Tomaten zubereitet hatte.

Auch sie hatte sehr gedankenversunken gewirkt und war ähnlich schweigsam wie er gewesen. Sie hatten nur ein paar belanglose Worte gewechselt und waren dann wieder auseinandergegangen. Ansonsten waren sie sich bisher nicht mehr über den Weg gelaufen.

Ihre Vereinbarung schien also gut zu funktionieren. Allerdings musste er zugeben, dass er das sehr bedauerte. Ihm tat Charlies Anwesenheit gut. Sie löste etwas in ihm aus, von dem er geglaubt hatte, es längst verloren zu haben.

Andererseits war es gut, keine Ablenkung zu haben. Er musste unbedingt mit seiner Kollektion vorankommen. Sie sollte alle anderen übertrumpfen. Nicht nur seine eigenen, sondern auch die seiner Konkurrenten. Er wollte etwas Unvergessliches schaffen. Und das hatte seinen guten Grund: Es würde seine letzte Kollektion sein. Er wollte aus der Branche aussteigen. Bisher hatte er mit niemandem darüber gesprochen, aber sein Entschluss stand fest.

Lucio blieb stehen und strich sich durchs Haar. Er ließ seinen Blick über die knapp tausend Fläschchen schweifen, die auf den Regalbrettern standen. Wenn er nur wüsste, welche Duftnote noch fehlte, um das Ganze abzurunden. Ambra? Jasmin? Wasserlilie?

Er hatte den Duft, den er kreieren wollte, wie immer ganz genau im Kopf. So wie ein Komponist, der ein Lied zuerst im Gedächtnis hatte, bevor er die Noten zu Papier brachte. Trotzdem war es selten so, dass er sofort das Ergebnis erzielte, das ihm vorschwebte.

Nicht immer brachte ihn das Grübeln weiter. Und wie es aussah, steckte er gerade in einer Sackgasse. Vielleicht sollte er einfach mal einen Tag Pause machen, um den Kopf wieder freizubekommen. Er könnte nach Torcello fahren und seinen alten Jugendfreund Amando besuchen, der dort als Fischer arbeitete. Ja, das würde ihm sicher guttun. Entschlossen streifte er seinen Kittel ab und nahm die Treppe nach oben.

Als er das Kaminzimmer durchquerte, fiel ihm der fruchtig-vanillige Geruch auf, der zart in der Luft lag. Sein Puls beschleunigte sich schlagartig. Charlie musste ganz in der Nähe sein. Tatsächlich hörte er ein Klappern, das aus Richtung Küche kam. Als er darauf zusteuerte, kam Charlie ihm bereits entgegen, eine Schale frischer Erdbeeren in der Hand. Ihre Kleidung bestand aus einem langen weißen Rock, der seitlich geschlitzt war, und einer rosa Bluse, die auf Höhe der Hüfte geknotet war. Dass sie darunter augenscheinlich keinen BH trug, machte ihn ein wenig nervös.

Schnell lenkte er auf ein möglichst unverfängliches Thema: „Na, gut geschlafen? So ein Gewitter wie gestern Nacht habe ich schon lange nicht mehr erlebt.“

Charlie nickte. „Das war heftig. Ich hatte das Gefühl, gleich geht die Welt unter.“

Sie schob sich eine Erdbeere in den Mund. Lucio folgte ihrer Bewegung mit seinem Blick und der blieb an ihren sinnlichen Lippen hängen. Das trug nicht gerade zu seiner Beruhigung bei, sondern elektrisierte ihn regelrecht. Wie es wohl wäre, sie zu küssen, schoss es ihm durch den Kopf. Was war nur los mit ihm? Reiß dich zusammen!

Er bemerkte, dass sie ihn fragend ansah. Anscheinend hatte er irgendetwas verpasst.

„Kein Interesse?“, erkundigte sie sich.

Interesse? Woran denn? Natürlich habe ich Interesse, hätte er am liebsten gesagt, und zwar an dir. Aber das war ganz offensichtlich nicht das Thema.

Sie hielt ihm die Schale mit den Erdbeeren hin.

„Nimm dir, wenn du willst.“

„Na klar“, sagte er und versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Er steckte sich eine Erdbeere in den Mund und kaute sie genüsslich.

„Ich bin regelrecht süchtig nach Erdbeeren“, gestand Charlie.

„Geht mir genauso“, erwiderte er lächelnd.

Jetzt erst fiel ihm auf, dass ihr Gesicht müde wirkte. Ob das Gewitter sie wachgehalten hatte? Oder arbeitete sie womöglich ähnlich besessen an ihrer Kollektion wie er an seiner? Sie hatte ihm erzählt, dass sie sich als Modedesignerin ausprobieren wollte und daher an diversen Entwürfen arbeitete, wobei sie ziemlich geheimnisvoll getan hatte. Er verstand das, denn er sprach ebenfalls nicht gerne über seine Arbeit, wenn er noch mittendrin war.

Vielleicht täte auch ihr eine kleine Abwechslung gut. Lucio überlegte, ob er ihr vorschlagen sollte, ihn auf seinen Ausflug zu begleiten. Das entsprach zwar nicht ihrer Verabredung, möglichst getrennte Wege zu gehen, aber womöglich war das zum jetzigen Zeitpunkt genau das, was sie brauchte.

Zugegeben, seine Idee war nicht ganz uneigennützig. Ihm gefiel die Vorstellung, und zwar sehr, mehr Zeit mit Charlie zu verbringen, als zufällige Begegnungen zwischen Tür und Angel es ermöglichten.

„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich brauche mal eine Pause“, tastete er sich vor.

Charlie seufzte tief. „Ehrlich gesagt, ich habe das Gefühl, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Egal, was ich zeichne, es ist einfach nicht gut genug. Keine Ahnung, warum ich so auf dem Schlauch stehe. Als hätte sich irgendwas in meinem Gehirn verknotet.“

Lucio sah sie teilnahmsvoll an. „Kommt mir bekannt vor. Auch bei mir läuft es gerade alles andere als rund. Das Schlimme ist, je mehr ich grüble, desto hoffnungsloser wird es.“

„Und was tust du dagegen?“, wollte sie wissen und kaute nachdenklich auf einer Erdbeere herum.

„Ich fahre nach Torcello.“

„Torcello?“

„Eine der vielen Inseln Venedigs, und wenn es nach mir geht, die schönste. Ich habe mir überlegt, morgen einen Ausflug dorthin zu machen.“

„Na dann, eine gute Zeit.“ Charlie stellte sich betont aufrecht und mit zurückgezogenen Schultern hin. „Ich muss dann mal wieder los, zurück ans Zeichenbrett. Und auf in den nächsten Kampf.“ Sie lachte und wandte sich zum Gehen.

Lucio spürte, dass er jetzt schnell sein musste. „Komm doch mit, wenn du magst“, schlug er ihr vor. Sein Herz klopfte bis zum Anschlag, kaum hatte er ausgesprochen. Hoffentlich merkte sie nicht, wie aufgeregt er war.

Ihr Gesicht hellte sich schlagartig auf. Zu seiner Überraschung zögerte sie nicht eine Sekunde.

„Ja, warum nicht“, gab sie lächelnd zurück. „Das bringt mich sicher auf andere Gedanken. Ich kann ja nicht den ganzen Tag in der kreativen Hölle schmoren.“

Lucio hätte sie am liebsten umarmt und sie durch die Luft gewirbelt, so sehr freute er sich über ihre Zusage. Ihm fiel es schwer, seine Begeisterung zurückzuhalten. Trotzdem antwortete er so gelassen wie möglich: „Dann also bis morgen. Sagen wir so gegen neun Uhr.“

Charlie nickte. „Passt perfekt.“

4. KAPITEL

Der Himmel war fast wolkenfrei, die Sonne strahlte. Charlie trug ihr rotes Lieblingskleid und genoss den leichten Wind, der ihr ins Gesicht wehte. Ihr gegenüber saß Lucio, er hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt und sich ein modisches Tuch lässig ins Haar gebunden.

Er sah, wie Charlie befand, wie ein italienisches Männermodel aus. Es war schwer, sich der Faszination, die von ihm ausging, zu entziehen. Zum Glück bot die Umgebung genug Ablenkung.

Sie waren mit dem Wasserbus Richtung Torcello unterwegs und Charlie konnte sich gar nicht sattsehen an den zahlreichen Prunk-Palästen und romantischen Brücken, an denen sie vorbeifuhren. Dass sie sich zu diesem Ausflug hatte überreden lassen, bereute sie keine einzige Sekunde. Die Abwechslung kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Ihr gelang es, sich völlig in den Moment hineinfallen zu lassen. Es lag eine Leichtigkeit in der Luft, die automatisch gute Laune machte.

Das Vaporetto verlangsamte sein Tempo, sie waren dabei, auf der Insel anzulegen.

„Herzlich willkommen, wir sind da“, sagte Lucio lächelnd, stand auf und hielt ihr die Hand hin, um sie nach oben zu ziehen.

Charlie wurde sofort nervös. Sollte sie seine ausgestreckte Hand wirklich ergreifen oder riskierte sie damit ein nächstes unkontrolliertes Gefühlsbombardement? Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, lag ihre Hand schon in seiner. Ein wohliger Schauer durchströmte sie.

Sie verabschiedeten sich vom Fahrer, gingen von Bord und hielten sich immer noch an den Händen, als sie das Land betraten. Sosehr sie Lucios Nähe auch genoss, sosehr irritierte sie, nun mit ihm dazustehen, als wären sie ein Paar.

Neben ihr fing ein kleines Mädchen an zu weinen und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es rief nach seiner Mama. Charlie ließ Lucio los und ging die wenigen Schritte auf das in Tränen aufgelöste Kind zu. Gerade als sie sich hinunterbücken wollte, um es zu trösten, stürzte eine ganz in Weiß gekleidete Frau herbei und zog die Kleine zu sich in die Arme, wobei sie in besorgtem Ton auf sie einredete – ganz offensichtlich die Mama.

Charlie drehte sich zu Lucio um, der seine Sonnenbrille abgenommen hatte und ihr zuzwinkerte.

„Gerade noch mal gut gegangen“, sagte er.

Charlie nickte langsam. „Wenn Kinder weinen, schneidet das sofort in mein Herz. Außerdem weiß ich genau, wie es sich anfühlt, wenn man verloren geht. Ich war vier oder fünf Jahre alt, als mir das auf einem Rummel passierte. Es war die Hölle.“

„Na, hoffentlich gehst du mir nicht verloren.“

Er sagte das mit sanfter Stimme und schenkte ihr einen zärtlichen Blick, der sie beinahe aus der Balance brachte. Sie musste wirklich auf der Hut sein, um sich nicht von ihm verwirren zu lassen.

„Ich habe gelesen, dass Torcello bei vielen Schriftstellern und Adeligen sehr beliebt war“, sagte sie, um auf ein unverfängliches Thema zu lenken. Sie setzte sich in Gang, Lucio schlenderte lächelnd an ihrer Seite.

„Da hat sich jemand informiert“, entgegnete er anerkennend.

„Es war die erste bewohnte Insel in der Lagune.“

„Auch das ist richtig.“

„Im zehnten Jahrhundert hatte Torcello vermutlich mindestens zehntausend Einwohner und war größer und reicher als Venedig. Kaum mehr vorstellbar. Heute haben hier angeblich nur noch vierzehn Menschen ihren festen Wohnsitz.“

„Note eins. Du solltest dich als Reiseführerin bewerben.“

„Als Flugbegleiterin ist es für mich ganz normal, das Wichtigste über die Orte zu wissen, an die ich reise.“

„Bin gespannt, welche Überraschungen sonst noch so in dir stecken.“

Er sagte das in einem flirtenden Tonfall, den Charlie geflissentlich überging. Seine Annäherungsversuche schmeichelten ihr trotzdem. Sie war alles andere als abgeneigt, ihn besser kennenzulernen, aber sie wollte nichts überstürzen.

„Du sagtest heute Morgen, du kennst Torcello seit deiner Kindheit?“, hakte sie nach.

„Mit acht Jahren war ich zum ersten Mal hier, und es gab damals nur ein einziges Kind hier, und das war Amando. Wir haben uns sofort angefreundet.“ Lucio deutete auf ein entfernt liegendes, hellblau gestrichenes Haus. „Er wohnt immer noch dort.“

„Er muss diesen Ort sehr lieben.“

„Amando ist nie von hier weggegangen. Heute arbeitet er als Fischer. Er liebt das einfache Leben.“

Charlie lächelte versonnen. „Es muss schön sein, wenn man etwas gefunden hat, das einen glücklich macht.“

Ein Schatten fiel über Lucios Gesicht. „Ja, das muss schön sein“, sagte er geistesabwesend.

Unverkennbar hatte sie da einen wunden Punkt getroffen. Sie wollte nicht weiter nachbohren, aber sie wüsste nur allzu gerne, was jetzt in seinem Kopf vorging. Für einen Moment fühlte es sich so an, als hätte sich leise Melancholie auf sein Gemüt gelegt. Sie glaubte, herauszuhören, dass er wohl nicht besonders glücklich war, wie sein Leben gerade verlief.

Um die Stimmung aufzuheitern, fuhr sie betont heiter fort: „Ich bin schon richtig neugierig, Amando kennenzulernen. Du meintest, er hätte uns zu sich eingeladen.“

„Du wirst ihn mögen“, erwiderte Lucio und sein Gesicht hellte sich wieder auf. „Ich kenne keinen Menschen, der ständig so gut gelaunt ist. Außerdem kann niemand in ganz Italien Fisch so gut zubereiten wie er, ach, was sag ich, niemand auf der ganzen Welt.“

Er zwinkerte ihr zu. „Aber bevor wir ihm einen Besuch abstatten, zeige ich dir erst mal dieses schöne Fleckchen Erde.“

Sie nickte. „Dann mal los.“

Auf der Insel war von der üblichen Touristenhektik Venedigs nichts zu spüren. Charlie genoss die friedliche Stimmung. Sie schlenderten an blühenden Gärten vorbei und an einigen hübschen und typisch venezianischen Restaurants und Osterias. Auf den Tischen und Stühlen, die draußen aufgestellt waren, saßen vereinzelt Pärchen, die ziemlich verliebt aussahen.

Charlie ertappte sich bei dem Gedanken, wie schön es wäre, zu ihnen dazuzugehören. Im nächsten Moment verwarf sie diese Vorstellung sofort. Wovon träumte sie da eigentlich? Es kam gar nicht infrage, sich jemals wieder auf eine Beziehung einzulassen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Lucio in ihre Gedanken hinein.

„Klar“, beeilte sie sich zu versichern. Gut, dass er keine Ahnung hatte, was gerade in ihr vorging.

Sie waren bei einer schmalen, fast unscheinbaren Steinbrücke angekommen. Eigentümlich war, dass es kein Geländer gab, um sich festhalten zu können.

„Und nun, Frau Reiseführerin, was gibt es über diese Brücke zu sagen?“, forderte er sie lächelnd auf.

Tatsächlich hatte Charlie überhaupt keine Ahnung. Als sie die wichtigsten Informationen über Torcello durchgelesen hatte, war sie nicht darauf gestoßen.

„Dieses Mal muss ich leider passen“, gestand sie. „Ich übergebe also an dich.“

Lucio reckte sein Kinn vor. „Meine Damen, meine Herren, hier sehen Sie die legendäre Ponte del Diavolo, die Teufelsbrücke“, verkündete er im gespielten Tonfall eines Touristenführers. „Nehmen Sie sich in Acht, hier könnte der Teufel auf Sie lauern. Aber Achtung, er verkleidet sich gerne als schwarze Katze.“

„Was sind denn das für Gruselgeschichten?“ Charlie lachte.

„Meine Dame, Ihnen kann freilich nichts passieren, wenn Sie in meiner Nähe bleiben“, versicherte er ihr und nahm ihre Hand.

Charlie fühlte erneut, wie ein warmer Schauer durch ihren Körper rieselte. Es war zwar irritierend, aber sehr wohltuend, also ließ sie geschehen, dass er sie an seiner Hand über die Brücke führte.

Nach nur wenigen Schritten waren sie auf der anderen Seite angekommen.

Lucio beugte sich nahe zu ihr. „Ich passe gut auf dich auf“, flüsterte er ihr ins Ohr, sodass sein warmer Atem ihre Wange streichelte.

Es war ein sehr intimer Moment. Und so, wie Lucio sie nun ansah, hatte sie den Eindruck, er wäre nahe dran, sie zu küssen. Es verwirrte sie, zu spüren, dass sie sich genau danach sehnte. Sie tauchte regelrecht in das leuchtende Grün seiner Augen ein und es schien ihr, als würde sie in eine völlig andere Welt davongetragen.

Dieser Moment wurde allerdings jäh von einem streitenden Paar unterbrochen, das an ihnen vorbeiging. In lautem Italienisch warfen sie sich die übelsten Beschimpfungen an den Kopf. Das versetzte der eben noch romantischen Stimmung einen gehörigen Dämpfer.

„Schade“, sagte Lucio und lächelte sie an.

„Was ist schade?“ Charlie lächelte zurück.

Statt zu antworten, drehte er sich ruckartig um und deutete auf einen Turm, der aus der Umgebung ragte.

„Da will ich jetzt mit dir rauf.“

Sie zwinkerte ihm zu. „Und warum beantwortest du meine Frage nicht?“

„Welche Frage?“ Lucio tat ahnungslos.

„Schon gut“, gab sie nach. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie dem innigen Moment zwischen ihnen nachtrauerte. Was wäre wohl geschehen, wären sie nicht unterbrochen worden?

Während sie auf einen wunderschönen venezianisch-byzantinischen Bau zugingen, war Charlie wieder in ihrem Element als Reiseführerin. „Das ist die Basilika Santa Maria Assunta“, erklärte sie. „Sie ist eines der ältesten Gebäude der Insel.“

„Dem habe ich nichts hinzuzufügen“, erwiderte Lucio grinsend.

Als sie die Basilika betraten, kamen ihnen angenehme Kühle und leichter Weihrauchgeruch entgegen. Sie waren fast die einzigen Menschen weit und breit. Nur in der vordersten Bank kniete ein Mann und betete. Einige Meter entfernt stand eine alte Frau vor einer Madonnenstatue und wirkte völlig gedankenversunken. Wohin Charlie auch schaute, sie erblickte zahlreiche kunstvoll gearbeitete Mosaike. Es herrschte eine fast schon heilige Atmosphäre. Nachdem sie einige Minuten schweigend umhergegangen waren, deutete Lucio auf den Ausgang.

„Nun will ich dich aber unbedingt auf den Glockenturm entführen“, flüsterte er ihr zu.

Charlie nickte. „Gerne.“

Über eine schon ziemlich abgenutzte Holztreppe gingen sie nach oben. Charlie wusste nicht, was sie eigentlich erwartete, aber mit dem umwerfenden Ausblick, der sich ihr bot, hatte sie nicht gerechnet. Die umliegende Lagune breitete sich vor ihr aus und wirkte unendlich. Das in der Sonne glitzernde Wasser schien mit dem fröhlichen Blau des Himmels zu verschmelzen.

Sie spürte, dass Lucio sie neugierig von der Seite musterte.

„Ich bin überwältigt“, brach es schließlich aus ihr heraus.

„Wusste ich doch, dass du begeistert sein wirst“, stellte er zufrieden fest.

„Wer sollte davon nicht beeindruckt sein“, gab sie zurück und atmete tief durch.

Eine Weile gaben sie sich genießerisch dem Anblick hin. Charlie war wie berauscht und hätte sich am liebsten in Lucios Arme gekuschelt. Sie hatte Herzklopfen und fühlte sich fast wie eine verliebte Teenagerin. Was machte dieser Mann nur mit ihr? Und warum sah er nur so verdammt sexy aus! Alleine sein sinnlicher Mund, seine männlichen Hände …

Ihre schwärmerischen Gedanken endeten abrupt. Es war wie verhext. Erneut drangen Geschrei und Geschimpfe zu ihnen. Es kam von unten. Als sie sich über die Brüstung beugte, erkannte sie das streitende Paar, das ihnen bereits an der Brücke begegnet war.

Sie blickte zu Lucio, der mit den Augen rollte.

„Bei manchen Paaren frage ich mich wirklich, warum sie zusammen sind“, sagte er und atmete leicht genervt aus.

„Allerdings“, stimmt sie ihm zu.

„Es wird Zeit, dass wir zu Amando gehen, da haben wir garantiert unsere Ruhe“, schlug er vor.

Charlie nickte. „Ja, das ist jetzt genau das Richtige.“ Sie blickte noch einmal in die Weite. Es war schwer, sich der Magie, die von diesem Ausblick ausging, zu entziehen. Schließlich riss sie sich davon los. „Lass uns gehen.“

Als sie sich Amandos Haus näherten, wurde Lucio von Erinnerungen eingeholt. Vor seinem inneren Auge tauchte se...

Autor

Nikki Logan
Nikki Logan lebt mit ihrem Partner in einem Naturschutzgebiet an der Westküste Australiens. Sie ist eine große Tierfreundin. In ihrer Menagerie tummeln sich zahlreiche gefiederte und pelzige Freunde. Nach ihrem Studium der Film- und Theaterwissenschaften war Nikki zunächst in der Werbung tätig. Doch dann widmete sie sich ihrem Hauptinteresse: dem...
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Janice Lynn
Janice Lynn hat einen Master in Krankenpflege von der Vanderbilt Universität und arbeitet in einer Familienpraxis. Sie lebt mit ihrem Ehemann, ihren 4 Kindern, einem Jack-Russell-Terrier und jeder Menge namenloser Wollmäuse zusammen, die von Anbeginn ihrer Autorenkarriere bei ihr eingezogen sind.
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