Sommer der Herzen

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Vier sommerlich-romantische Romane in einem Band!

SUSAN WIGGS - Ein Sommerinseltraum:
Die sonnige Insel soll jedem Workaholic Entspannung schenken. Einzig Mitchell glaubt sich dagegen immun. Der harte Unternehmer will dort fix sein Projekt beenden und dann abreisen. Aber er hat nicht mit der attraktiven Rosalinda gerechnet.

MAYA BANKS - Es geschah in einer sternenklaren Nacht:
Am Strand tanzt Jewel mit einem sexy Fremden. Und obwohl sie sonst vorsichtig ist, nimmt sie eine Einladung in seine Suite an. Doch dann folgt das böse Erwachen, als sie seinen Namen erfährt ...

DORIEN KELLY - Alles ist möglich:
Ausgerechnet auf ihre Jugendliebe Steve, der sie hat abblitzen lassen, trifft Hallie bei ihrer Rückkehr. Aber sie ist nicht mehr der naive Teenager, was auch Steve auffällt - und plötzlich scheint in diesem Sommer alles möglich!

JESSICA BIRD - Glaub an das Glück, Madeline:
In den Armen des attraktiven Spike beginnt Madeline wieder an das wahre Glück zu glauben. Da eröffnet er ihr, dass es keine Zukunft für sie beide geben kann! Will er nur eine Sommeraffäre?


  • Erscheinungstag 10.08.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493232
  • Seitenanzahl 544
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sommer der Herzen

Susan Wiggs

Ein Sommerinseltraum

Maya Banks

Es geschah in einer sternenklaren Nacht

Dorien Kelly

Alles ist möglich

Jessica Bird

Glaub an das Glück, Madeline

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Island Time

Copyright © 1998 by Susan Wiggs

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

The Tycoon’s Secret Affair

Copyright © 2009 by Maya Banks

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

The Girl Least Likely To …

Copyright © 2003 by Dorien Kelly

erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

A Man In A Million

Copyright © 2007 by Jessica Bird

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-323-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Susan Wiggs

Ein Sommerinseltraum

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Sarah Heidelberger

1. KAPITEL

Es gab nichts, was Mitchell Baynes Rutherford III. mehr hasste als geplatzte Termine. Zähneknirschend beobachtete er, wie die letzten Frachtstücke von der Fähre aus Anacortes entladen wurden. Während eine tiefergelegte Corvette von der Rampe fegte, gefolgt von einem Wohnmobil, das in etwa die Größe eines afrikanischen Kleinstaates hatte, begann er, ungeduldig auf und ab zu laufen. Als Nächstes verließ ein mit plärrenden Kindern und entnervten Eltern vollgestopfter Kombi die Fähre, danach ein Cabrio voller College-Studenten. Und dann … nichts.

Jedenfalls nicht die Person, auf die er seit einer geschlagenen Stunde in der glühenden Augustsonne gewartet hatte. Keine Spur von dem „Experten“, den er angefordert hatte.

Mitch blieb stehen und holte sein Handy aus der Brusttasche seines Jacketts. Die Nummer seines Büros in Seattle war über Schnellwahl eingespeichert, allerdings war er nicht sicher, ob das unzuverlässige Netz auf der Insel diesmal funktionieren würde.

„Rutherford Enterprises“, drang die vertraute Stimme seiner Sekretärin aus dem Hörer.

„Miss Lovejoy, dieser ominöse Dr. Galvez ist nicht aufgetaucht.“

„Oh, hier ist alles bestens, Mr Rutherford, danke der Nachfrage. Und wie geht es Ihnen heute?“, erwiderte seine Sekretärin spitz.

Mitch zog ein finsteres Gesicht und beobachtete währenddessen, wie ein verbeulter VW-Käfer in einer Wolke aus garantiert hochgiftigen Abgasen als Nachzügler von der Fähre tuckerte. Aus den offenen Fenstern des orangeroten Kleinwagens dröhnte Salsamusik. Er musste sich sein freies Ohr zuhalten, um dem Telefonat weiter folgen zu können.

„Tut mir leid, dass ich so kurz angebunden bin“, sagte er, auch wenn es ihm eigentlich kein bisschen leidtat. „Aber dieser Meeresbiologe, den Sie herschicken wollten, ist nicht gekommen.“

„Ach du liebes Lieschen“, erwiderte Miss Lovejoy betont betroffen, doch Mitch kannte sie zu gut, um ihr das Theater abzukaufen. In Wahrheit musterte sie wahrscheinlich gerade gelangweilt ihre Fingernägel oder guckte aus dem Fenster auf die Skyline von Seattle hinab. Vor ihr lag vermutlich eine mit Nadeln durchbohrte Voodoo-Puppe, die ihn darstellen sollte, weil er wegen des laufenden Projekts ihren Augusturlaub gestrichen hatte, den sie eigentlich jedes Jahr nahm.

„Was da wohl passiert sein mag?“, fügte Miss Lovejoy hinzu, ganz die Unschuld in Person.

Der Käfer kroch von der Rampe, sein Auspuff knallte, der Motor gab noch ein paar letzte Stotterer von sich und starb dann keine zehn Meter von ihm entfernt direkt neben dem Kartenschalter ab. Die Fahrerin, die einen großen Hut und eine strassbesetzte Sonnenbrille trug, hieb mit den Fäusten aufs Lenkrad ein und gab auf Spanisch eine Schimpftirade von sich. Zwei glupschäugige, magere Hunde steckten den Kopf aus einem der Wagenfenster und kläfften über das dumpfe Dröhnen der Musik hinweg.

Mitch wandte sich von der Szene ab und drückte die Hand noch fester auf sein Ohr. „Was haben Sie gesagt, Miss Lovejoy? Ich konnte Sie leider nicht verstehen. Wahrscheinlich hab ich gleich keinen Empfang mehr.“

„Ich sagte, dass die Fähren diesen Sommer ganz besonders unzuverlässig sind. Mein Schwiegersohn musste in Victoria zwölf Stunden lang wart …“

Es rauschte in der Leitung, dann wurde die Verbindung unterbrochen.

„Miss Lovejoy?“, rief Mitch, aber sie war weg. Fluchend klappte er das Handy zu. Die Frau aus dem Käfer war ausgestiegen und öffnete gerade die Motorhaube, unter der ein dampfender, ziemlich widerspenstig aussehender Motor zutage kam. Es bereitete ihm ein perverses Vergnügen, jemanden zu beobachten, der noch tiefer in der Tinte steckte als er selbst. So nervig es auch sein mochte, dass sein neuster Angestellter die Fähre verpasst hatte, im Grunde hatte er sich fast schon an solche Überraschungen gewöhnt.

Das Inselzeit-Syndrom, so nannte man diesen Zustand. Die ersten Tage über hatte er den Ausdruck nicht ernst genommen, aber zu seinem Entsetzen fing er langsam an zu verstehen, was es damit auf sich hatte. Die Bewohner der San Juan Islands folgten ihrer eigenen inneren Uhr, nicht irgendwelchen Normen, die – Gott bewahre! – von der Wirtschaftswelt vorgegeben wurden. Die Handwerker kamen und gingen, wie es ihnen passte, und ließen Aufträge unbeendet, wenn ihnen eine bessere Beschäftigung über den Weg lief – zum Beispiel Muscheln von irgendeiner Kaimauer kratzen oder auf den Cattle-Point-Leuchtturm klettern, um eine vorbeischwimmende Walschule zu beobachten.

Die Touristen schienen das lasche Tempo ganz reizend zu finden, aber er hatte einen Job zu erledigen, und zwar innerhalb einer begrenzten Zeitspanne. Er hatte die Rainshadow Lodge für den gesamten August gebucht. Was bedeutete, dass er für sein aktuelles Projekt – die Planung eines neuen Jachthafens auf Spruce Island mit vierzig Liegeplätzen – nur vier Wochen Zeit hatte.

Der Inspektor vom örtlichen Bauplanungsamt hatte ihn kommentarlos versetzt, dann hatte der Architekt merkwürdige Pläne gefaxt – danach war alles zum Stillstand gekommen. Die Insel lag wie ein Smaragd im kristallklaren Wasser eines hochempfindlichen Ökosystems. Ehe hier irgendwelche Arbeiten ausgeführt werden durften, musste ein Experte die gesamte Umgebung untersuchen, damit sichergestellt war, dass die Tier- und Pflanzenwelt durch das Projekt keinen Schaden nahm.

Genau das wäre eigentlich die Aufgabe seines neuen Mitarbeiters gewesen, der offenbar ebenfalls beschlossen zu haben schien, ihn hängen zu lassen. Die Uhr dagegen tickte unerbittlich weiter.

Mitch machte sich auf den Weg zurück zu seinem Boot, einer vierzehn Meter langen Bayliner, die er für den Monat gechartert hatte, doch als er am Heck des Käfers vorbeikam, hielt er mitten in der Bewegung inne.

Die Fahrerin trug ein knapp sitzendes rotes Kleid, das von einem dünnen Band in ihrem grazilen Nacken gehalten wurde. Der Rock war so kurz, dass sie damit in einigen Gegenden der Welt vermutlich gegen das Gesetz verstoßen hätte. Das war auf den San Juan Islands, wo alles erlaubt war, was gefällt, natürlich nicht der Fall. Die hochhackigen Sandalen unterstrichen die Wirkung ihrer langen schlanken, in einem hellen Olivbraun gebräunten Beine, die in der Sonne schimmerten. Als die Frau sich vorbeugte, um einen Blick auf den Motor zu werfen, wurde Mitchs Kehle schlagartig staubtrocken.

Und dabei hatte er noch nicht mal ihr Gesicht gesehen.

Ach bitte, wen interessieren schon Gesichter, fragte der Halbwüchsige in ihm.

Offenbar war er nicht der Einzige, dessen Halbwüchsigenmentalität bei diesem Anblick erwacht war, denn eine Handvoll Fährenarbeiter eilte auf die rot gewandete Jungfer in Bedrängnis zu. Getrieben vom primitiven Instinkt, sein Revier abzustecken, machte Mitch ein paar Schritte auf die Käferfahrerin zu, sodass er als Erster bei ihr ankam. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe, Miss?“, fragte er.

„Ja, ich schätze schon“, erwiderte sie.

Sie hatte einen Arm gegen die hochgeklappte Motorhaube gestützt und klackerte ungeduldig mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf dem Metall herum. Die Köter im Auto drehten völlig durch, als er näher trat.

„Freddy“, sagte die Frau streng. „Selena! Ruhe jetzt. Silencio!

Zu seiner Überraschung gehorchten die Tölen. Allerdings hörten sie nicht auf, ihm argwöhnische Blicke zuzuwerfen.

„Also …“, sagte sie und schob sich den Hut in den Nacken, wodurch ihr Gesicht zum Vorschein kam, das ihrem Körper mehr als nur gerecht wurde. Dann nahm sie die Sonnenbrille ab und steckte einen der Bügel hinter den Ausschnitt ihres Kleids und damit zwischen ihre Brüste. Aus dunklen Augen musterte sie ihn unverhohlen von Kopf bis Fuß. Sein Erscheinungsbild schien sie zu amüsieren. Irgendetwas in ihrem Blick weckte bei ihm den Wunsch, er hätte ein weniger streng geschnittenes Hemd gewählt und eine Hose mit einer nicht ganz so perfekten Bügelfalte und Schuhe, die nicht auf Hochglanz poliert waren.

„Sie können also Automotoren reparieren?“, schloss sie.

„Ich weiß rein gar nichts über Autos“, gab er zu. „Aber ich glaube, dass wir Ihren Wagen aus der Fahrspur befördern sollten.“

Sie klappte die Motorhaube herunter. „Gute Idee.“ Dann schwang sie sich auf den Fahrersitz, wodurch eine Sekunde lang noch ein paar Zentimeter mehr von ihren sensationellen Beinen sichtbar wurden, und stellte die Musik ab. „Sie schieben, ich lenke.“

Na toll, dachte er und schlüpfte aus seinem Jackett, das er über die zur Hälfte heruntergekurbelte Fensterscheibe auf der Beifahrerseite legte. Die Flohsäcke auf der Rückbank fingen umgehend an, neugierig daran herumzuschnüffeln. Mitch verbot sich, auch nur darüber nachzudenken, dass einer der Chihuahuas beschließen könnte, sein Territorium darauf zu markieren.

„Am besten bringen wir den Wagen zum Parkplatz am Ufer“, sagte er und wies in die entsprechende Richtung.

Die Frau nickte und legte den Sonnenhut auf den Beifahrersitz. Mitch warf einen Hilfe suchenden Blick zu den Fährenarbeitern. Kommt schon, Jungs, dachte er, aber da er ihnen zuvorgekommen war, schienen sie jegliches Interesse an der Jungfer in Not verloren zu haben.

„Okay, der Gang ist raus“, rief sie durchs offene Fenster.

Ihr Akzent war einfach hinreißend, kaum wahrnehmbar, außer beim R und wenn sie die Vokale in die Länge zog. Mitch legte die Hände auf das kochend heiße Heck und schob. Als der zerbeulte kleine Käfer losrollte, wurde der Widerstand geringer und kurz darauf hatten sie den Wagen in eine Parklücke am Ufer bugsiert.

„Platz, ihr zwei“, befahl die Frau den Hunden, dann stieg sie aus und kam zu ihm herum. „Danke.“ Sie nickte ihm zu.

„Keine Ursache.“ Er gab sich Mühe, sie nicht allzu unverfroren anzustarren, aber sie war einfach umwerfend. Volle rote Lippen, dunkles seidiges Haar, die Augen noch dunkler, die Wimpern noch seidiger. Ein einzelner Schweißtropfen verschwand zwischen ihren Brüsten. Auf der glatten Haut über ihrem Dekolleté ruhte ein winziges Goldkreuz an einer zarten Kette. Mitch musste ein Stöhnen unterdrücken. „Ähm, gibt es jemanden, den Sie anrufen können? Sind Sie Mitglied in einem Automobilklub?“

Sie lachte fröhlich und abgehackt. „Dieses Auto ist älter als ich. Ich dachte immer, wenn es mal liegen bleibt, lasse ich es einfach stehen und suche das Weite.“

Er war sich nicht ganz sicher, ob das ein Witz sein sollte. „Wollen Sie sonst jemanden kontaktieren?“

„Ja, das sollte ich wohl besser. Ich verpasse nämlich gerade einen Termin.“

Sie drehte sich um und schaute suchend über den Anlegeplatz. Im selben Moment ertönte das Horn und die Fähre legte wieder ab. Die Frau biss sich auf die Unterlippe und der Halbwüchsige in ihm meldete sich augenblicklich zurück.

„Ich sollte hier abgeholt werden, aber es scheint niemand gekommen zu sein“, erklärte sie.

Er zwang seinen Blick weg von ihrem erdbeerroten Mund und schaltete sein Gehirn ein. „Sie können doch unmöglich Dr. Galvez sein.“

Auf ihren Lippen breitete sich ein Lächeln aus, strahlend und großzügig wie die Sommersonne. Mitch kannte nicht viele Frauen, die so spontan und offen lächelten.

Sie hielt ihm die Hand hin. „Dr. Rosalinda Galvez. Meine Freunde nennen mich Rosie. Dann müssen Sie Mr Rutherford sein.“

„Mitch“, korrigierte er hastig und versuchte, seine Gehirnleistung an die neuen Umstände anzupassen. Im Fax von Miss Lovejoy hatte nur gestanden, dass er eine Person namens R. Galvez, Ph. D. treffen sollte, die mit der Nachmittagsfähre aus Anacortes ankäme. Aus diesen wenigen Informationen hatte sein fantasieloser Verstand gefolgert, dass irgend so ein Professorentyp auf der Insel aufkreuzen würde. Im mittleren Alter, natürlich männlich, mit lichtem Haar und ein bisschen speckig in der Bauchregion. Dicke Brille auf der Nase, weil das ganze Geglotze durchs Mikroskop schädlich für die Sehkraft war. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ein Wörtchen mit Miss Lovejoy zu reden. Garantiert hatte sie ihn am Telefon nur nicht auf seinen Irrtum hingewiesen, als er von einem Mann sprach, um sich für ihren verpatzten Urlaub zu rächen.

„Mr Rutherford“, sagte die dunkelhaarige Schönheit, dann korrigierte sie sich: „Mitch. Gibt es ein Problem?“

„Ja, mich“, platzte er heraus.

„Wie bitte?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig.“

Sie langte in den Wagen, nahm einen der beiden Hunde auf den Arm und streichelte ihn geistesabwesend. Der Chihuahua kuschelte sich an ihren Bauch. „Ich kann Ihnen gerade nicht folgen.“

Er gab sein Bestes, seine Eifersucht auf diese kleine Ratte im Zaum zu halten. „Sie sind einfach nicht ganz das, was ich erwartet hatte.“

„Oh.“

Wieder machte sie diese Sache mit ihren Lippen, das machte wiederum ihn fast wahnsinnig. Mit vielsagendem Blick musterte sie sein maßgeschneidertes Hemd, die Anzughose von Armani, die italienischen Loafers.

„Sie sind es schon.“

Trotzig stemmte er die Hände in die Hüften, wobei er spürte, wie er schwitzte. „Ich bin für einen Geschäftstermin gekleidet. Alte Gewohnheiten sind hartnäckig.“

„Ich denke, ich sollte dann wohl mein Gepäck aus dem Auto nehmen, oder?“, fragte sie und neigte den Kopf zur Seite. „Ihre Sekretärin meinte, dass wir per Privatboot nach Spruce Island übersetzen.“

„Genau.“ Er nickte in Richtung der Bayliner. „Es liegt da drüben. Warten Sie, ich hole einen Wagen für Ihre Sachen.“

„Toll, danke.“

„Sie müssten da hinten einen Parkschein lösen“, erklärte er. „Für Langzeitparker.“

Wieder warf sie ihm dieses strahlende Lächeln zu. „Es gefällt mir, wie das klingt.“

„Es ist doch nur ein Monat.“

Sie verdrehte die Augen. „So, wie mein Leben bisher ausgesehen hat, ist ein Monat eine halbe Ewigkeit.“

„Dann darf ich also davon ausgehen, dass Sie es sich mit dem Auftrag nicht anders überlegt haben?“

Sie lachte unbeschwert und setzte den Hund wieder im Auto ab. „Dürfen Sie. Und das wird ganz sicher so bleiben, Mr … Mitch.“

Auch ein paar Minuten später hatte er die neuen Informationen noch nicht vollkommen verarbeitet. Seine Meeresbiologin sah aus wie Jennifer Lopez. Sie fuhr einen VW-Käfer, der älter war als sie selbst, inklusive Marienstatue aus Plastik auf dem Armaturenbrett und einem Plüschwürfel, der vom Rückspiegel baumelte. Sie hatte zwei Chihuahuas, die nach verstorbenen Latino-Sängern benannt waren, und ein Lächeln, so schön, dass man darüber glatt das Atmen vergaß. Mitch wusste nicht, ob er gerade das große Los gezogen hatte oder ob ihm das Schicksal einen fiesen Streich spielte.

Während er beobachtete, wie sie den Frontkofferraum des Käfers öffnete, wobei er die geschmeidigen Bewegungen ihrer langen, sehnigen Muskeln unter der gebräunten Haut bewunderte, beschloss er, dass er durchaus bereit war, für diesen Anblick die Chihuahuas in Kauf zu nehmen.

„Das ist alles, was ich dabeihabe“, sagte sie.

Er rollte den Handwagen neben das Auto. Im Kofferraum lagen ein mittelgroßer Koffer, ein Sack Hundefutter und eine Kiste voller technischer Apparate. „Sie reisen mit ganz schön leichtem Gepäck“, bemerkte er.

„Ich hatte noch einen großen Koffer“, sagte sie ein bisschen wehmütig, „aber …“ Dann verstummte sie.

„Aber was?“

„Ich hab ihn einer Frau an der Fährenanlegestelle in Anacortes geschenkt.“

Mitch runzelte die Stirn und verstaute das Hundefutter auf dem Wagen. „Warum denn das?“

„Sie braucht die Kleidung dringender als ich.“

Er blinzelte verwirrt. Obdachlose waren dieser Tage so allgegenwärtig, dass sie kaum mehr wahrgenommen wurden. Es war ungewöhnlich, dass überhaupt noch jemand zu helfen versuchte. „Das war ziemlich nett von Ihnen“, sagte er.

„Ich hab das nicht getan, weil ich nett sein wollte. Ich hab es getan, weil sie die Sachen gebraucht hat.“ Sie knallte die Motorhaube zu. „Freddy, Selena, auf geht’s.“ Die Chihuahuas sprangen vom Beifahrersitz, und Rosie holte ihren Hut und eine Schachtel voller CDs und Musikkassetten aus dem Auto, dazu noch eine kleine Kühlbox mit Wasser. „Für die Hunde“, erklärte sie. Als Letztes kramte sie eine riesige Kiste aus dem Fußraum, aus der Ringordner, Mappen und lose Zettel quollen.

„Und das?“, fragte Mitch und nahm sie ihr ab.

„Meine persönlichen Unterlagen.“ Sie wich seinem Blick aus. „Ich … ähm … ich habe meine Wohnung aufgegeben.“

„Aber dieser Job hier ist nicht von Dauer“, erinnerte er sie. Sie zwinkerte. „Wie gesagt, für meine Verhältnisse ist ein Monat eine Ewigkeit.“

Er half ihr, die Autofenster hochzukurbeln. „Und das ist wirklich alles?“

„Schätze schon“, sagte sie und ließ ihren Schlüsselbund in eine XXL-Einkaufstüte fallen, auf die das ausgeblichene Logo eines Chemiekonzerns gedruckt war.

„Wollen Sie das Auto gar nicht abschließen?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Achseln. „Hey, wenn jemand findet, dass dieser Schrotthaufen einen Diebstahl wert ist, kann er gerne zuschlagen. Die Lautsprecher sind seit Jahren durchgebrannt.“

Was für eine seltsame Frau, dachte Mitch, während er den Handwagen zum Boot schob. Materieller Besitz schien für sie keinerlei Bedeutung zu haben.

Er hielt ihr das Tor auf, durch das es zu den Liegeplätzen ging. „Ladies first“, sagte er.

Wieder bedachte sie ihn mit diesem verwirrend schönen Lächeln, in das er schon jetzt ein bisschen verliebt war, und lief ihm voraus die Rampe hinab. Die Hunde jagten sich gegenseitig und sprangen glücklich um ihre Füße herum.

Gott, dachte Mitch, ehe er sich eines Besseren belehren konnte, wie sehen diese Beine erst aus der Perspektive der Chihuahuas aus?

2. KAPITEL

Mitchell Rutherford war ein Ritter in schimmernder Rüstung. Er wusste zwar nichts davon, aber er hatte ihr das Leben gerettet.

Allerdings würde sie einen Teufel tun, ihm etwas darüber zu erzählen. Schließlich hatte er diese ganz bestimmte Aura. Diesen Blick, der ihr verriet, dass er einer war, der sofort die Beine in die Hand nahm, sobald er erfuhr, dass sie kein Zuhause hatte, kein Geld, keine Aussichten und auch sonst nichts, was über die einmonatige Tätigkeit für sein Unternehmen hinausging.

Der freie Fall ohne Netz und doppelten Boden war nichts Neues für Rosie Galvez. Als Mitglied einer achtköpfigen Familie hatte sie schon früh gelernt, blind darauf zu vertrauen, dass das Universum es letztendlich immer gut mit ihr meinte. Die letzte Katastrophe hatte sie allerdings in ihren Grundfesten erschüttert. Diesmal war sie nur um Haaresbreite davongekommen.

„Sagen Sie Bescheid, wenn wir ablegen können“, rief sie zur Brücke hoch, wobei sie den Kopf in den Nacken legte. Über dem grünen Bimini-Verdeck der Bayliner spannte sich ein strahlend blauer Himmel, in dem Seemöwen schwebten. Wie Mitchell Rutherford dort oben am Steuerrad stand, erinnerte er sie an ein Motiv für eine Aftershave-Werbung. „Ich kann die Leinen lösen.“

„Danke.“

Der Doppelmotor erwachte tief grollend zum Leben.

Rosie löste die Leinen an Bug und Heck, warf sie aufs Deck und stieß das Boot von der Kaimauer ab. Im letzten Moment sprang sie an Bord und verzog das Gesicht, als sie sich bei der Landung den Knöchel verdrehte. Die hohen Absätze waren eindeutig ein Fehler gewesen. Blieb zu hoffen, dass sich ihre Turnschuhe nicht in dem großen Koffer befanden, den sie der Obdachlosen geschenkt hatte.

Eine weitere Sternstunde in ihrem wahnwitzigen Leben.

Als sie sich über die Reling beugte, um die dicken blauen Fender einzuholen, erklang aus Richtung der Anlegestelle laut imitiertes Wolfsgeheul. Sie sah auf und entdeckte zwei Mitglieder des Jachtklubs, die sie anzüglich beäugten.

„Beruf oder Vergnügen?“, rief der eine und stieß seinem Freund mit dem Ellenbogen in die Rippen.

Idioten, dachte sie und warf den Kopf in den Nacken. Die Vorstellung, dass man Mitch und sie für einen reichen Schnösel mit seiner Latina-Geliebten hielt, gefiel ihr überhaupt nicht. Wobei ihr Bruder Carlito jetzt eingeworfen hätte, dass sie nicht erwarten konnte, in ihrem Aufzug mit Doktor Galvez angesprochen zu werden.

Das Problem bestand darin, dass sie nun mal gerne High Heels trug, dass es ihr Spaß machte, in einem zerbeulten alten Auto herumzufahren und dabei viel zu laute Musik zu hören, und dass sie es liebte, ihre Haare zu lang und ihre Kleider zu kurz zu tragen. Alles in allem war sie einfach am liebsten sie selbst.

Abgesehen davon jedenfalls, dass sie in der Regel völlig pleite war.

Sie warf Mitch, der sich darauf konzentrierte, das Boot sicher aus dem Hafen zu manövrieren, einen schuldbewussten Blick zu. „Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?“, rief sie.

„Nein, alles bestens, danke. Wir legen in etwa vierzig Minuten auf Spruce Island an.“

Die Hunde, die sich Gott sei Dank so gut wie überall wohlfühlten, hatten es sich schon im Schiffssalon gemütlich gemacht, der mit einem kleinen Sofa und einem Sessel eingerichtet war. Rosie streifte ihre Sandalen ab und kletterte die Leiter hoch auf die Brücke. Als sie sich zu Mitch gesellte, strich die warme Brise über ihre Haut und ihre Laune hob sich merklich.

„In der Kühltasche da drüben sind ein paar Getränke“, sagte er. „Bitte bedienen Sie sich.“

Sie holte sich eine Flasche stilles Mineralwasser. „Möchten Sie auch etwas?“

„Für mich ein Bier, bitte.“ Er setzte seine Sonnenbrille auf und lenkte das Boot in Richtung Kanal. Nördlich von ihnen glitt eine Flotille Segelboote durchs glitzernde Wasser, anmutig wie Vögel, die Segel vom Wind gebläht. Der Sommertag war so rein und strahlend wie ein Diamant. Nirgendwo war der Himmel so blau wie im August über den San Juans.

„Es ist wunderschön hier.“ Sie seufzte und hielt das Gesicht in den Fahrtwind.

Mitch drehte nach Südwesten ab. „Ja, schätze, da haben Sie recht.“

Es klang nicht so, als ob er es auch so meinte. Meistens fiel es Rosie leicht, Menschen zu durchschauen, also nippte sie hin und wieder an ihrem Wasser und versuchte, ihre analytischen Fähigkeiten auf Mitchell Baynes Rutherford III. anzuwenden. Er sah ziemlich gut aus, wirkte aber nicht so, als ob er viel Zeit auf sein Äußeres verwendete. Er strahlte diese ganz bestimmte angeborene Anmut aus. Während sie seine erfreulich breiten Schultern musterte, kam sie zu dem Schluss, dass er von Natur aus athletisch veranlagt war. Schließlich war er allem Anschein nach viel zu beschäftigt damit, Geld zu verdienen, um sich im Fitnessstudio herumzutreiben oder in diesen gruseligen Beautysalons für Männer, die neuerdings so in Mode waren.

Das Geld, sein Aussehen und die Aura des Erfolgs mussten ihn zwangsläufig zum reinsten Frauenmagneten machen, trotzdem war sie sich absolut sicher, dass er nicht vergeben war.

„Sie gucken mich an, als wäre ich ein Forschungsobjekt“, sagte er.

Sie lachte. „Erwischt. Ich habe gerade darüber nachgedacht, dass Sie wahrscheinlich weder Frau noch Freundin haben.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Feldstudien sind meine Spezialität.“

Er nahm einen Schluck Bier. „Haben Sie Interesse an dem freien Posten?“

Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. „Suchen Sie denn nach einer geeigneten Kandidatin?“

„Nein.“

„Dann nicht.“

Er grinste. „Gut. Schön, dass wir das klären konnten.“

Sie grinste zurück. „Find ich auch.“

Ihrer Meinung nach war es besser, solche Themen so schnell und direkt wie möglich abzuhaken. Sie mussten zusammenarbeiten, und die Spannung, die unausgesprochenes gegenseitiges Interesse mit sich brachte, wäre dafür nicht unbedingt förderlich. Dass diese Spannung vorhanden war, ließ sich nicht mehr leugnen, seit sie von ihrem kaputten Automotor aufgeblickt und Mitch entdeckt hatte, der über den Parkplatz auf sie zukam und aussah, als wäre er dem Cover der Men’s Vogue entstiegen.

Solange sie die Grenzen wahrten, würden sie bestens miteinander auskommen, da war sie sich sicher. Mitch in seiner Welt der Selfmademillionäre, sie in ihrer politisch korrekten Akademikerwelt. Sie erkannte intuitiv, dass sie ihn nur verschrecken würde, falls sie ihm erzählte, was für schwere Zeiten sie gerade durchlebte. Mitch Rutherford war definitiv der Typ Mann, dem gegenüber man besser keine Schwäche zeigte. Sollte er jemals erfahren, wie hilfsbedürftig und verzweifelt sie im Augenblick war, würde er die Flucht ergreifen.

Und wenn er wüsste, wie unfassbar einsam sie war, bräche er ihr vermutlich das Herz. Das konnte sie sich eindeutig nicht leisten, so mittellos, wie sie derzeit ansonsten schon dastand.

„Wie haben Sie eigentlich von dem Job erfahren?“, fragte er und sah müßig einem rostbraunen japanischen Tanker hinterher, der durch die Fahrrinne Richtung Seattle pflügte.

„Per Internet. Ihre Assistentin hat ein Gesuch auf dem Schwarzen Brett der University of Washington gepostet. Die Jobbeschreibung klang vielversprechend.“ Eine Notlüge. Routinestudien über Umweltauswirkungen waren superlangweilig und bestanden aus nichts weiter als immer gleicher Laborarbeit und jeder Menge bedeutungslosem Papierkram. Auf eine Doktorin der Meeresbiologie, die gerade die Kündigung ihres Lehrauftrags aus dem Briefkasten gefischt hatte, übte der Job jedoch ungefähr so viel Anziehung aus wie eine schimmernde Golddublone auf dem Meeresgrund.

Da es zu den Jobbedingungen gehörte, einen Monat lang an einem Ort namens Rainshadow Lodge zu wohnen, und sie sich Schlimmeres vorstellen konnte, als auf einer idyllischen Insel anspruchslose Arbeit zu verrichten, hatte sie die Chance ergriffen, sich neu zu orientieren und den ersten Schritt in eine neue Zukunft zu wagen. Sie war nie sonderlich gut im langfristigen Planen gewesen, aber den besten Job zu verlieren, den sie jemals gehabt hatte, war wie ein Schlag in die Magengrube. Vielleicht war es ja ein Hinweis des Universums. Ein Wink, dass sie endlich beginnen sollte, sich wie eine Erwachsene zu benehmen, ihr Leben in den Griff zu bekommen und herauszufinden, was sie mit dem Rest eben dieses Lebens anfangen wollte.

Während sie von der Brücke der Bayliner aus beobachtete, wie die Inseln Smaragden gleich aus der See auftauchten, schwor sie sich, ihre Aufgabe so gut zu erledigen, dass ihr neuer Arbeitgeber sie anbetteln würde, auf Dauer für sein Unternehmen zu arbeiten.

„Dann kennen Sie sich also aus mit dieser Art von Studien?“, unterbrach er ihren enthusiastischen Gedankengang.

Sie nickte, holte eine Packung Kaugummis aus ihrer Handtasche und bot ihm eines an, doch er lehnte ab. Sie faltete den Wrigley’s-Streifen viermal und schob ihn sich in den Mund. „Während meines Studiums und der Promotion habe ich jede Menge Feldstudien durchgeführt. Die machen großen Spaß, aber ich nehme sie natürlich trotzdem ernst. Ich hatte mich auf Ornithologie spezialisiert.“

„Was ist das?“

„Vogelkunde. Besonders interessieren wir uns natürlich für die, die selten vorkommen – Kraniche und so weiter.“ Sie streckte den rechten Arm aus und drehte ihn, damit Mitch die gezackte blaurote Narbe in ihrer Armbeuge sehen konnte.

„Um Himmels willen“, entfuhr es ihm. „Wie ist das denn passiert?“

„Als ich Doktorandin an der Uni in San Diego war, hatte ich eine kleine Auseinandersetzung mit einem Hai über einen Teil des Kamerazubehörs.“

Er stieß einen leisen Pfiff aus. „Und wer hat gewonnen?“

Sie lachte, warf den Kopf in den Nacken und ließ den Wind mit ihrem Haar spielen. „Ich würde nie einen Hai gewinnen lassen, Mitch. Nie.“

3. KAPITEL

Während Mitch das Boot am Privatsteg der Rainshadow Lodge festmachte, betete er sich wieder und wieder vor, dass Rosie Galvez eine Angestellte war – und selbst das bloß für kurze Zeit. Das Problem war nur, dass es an dieser kurvenreichen, aufsehenerregenden Frau rein gar nichts gab, das er nicht durch und durch faszinierend fand. Ganz besonders faszinierte ihn ihre Reaktion auf das Sommerhaus.

Die Hunde tobten schon längst auf der Wiese vor dem Anwesen, doch Rosie stand einfach nur reglos auf dem Anlegesteg und sah zu der alten viktorianischen Villa hinauf, als hätte sie gerade einen Blick auf ein Stück vom Himmel erhascht. Die Sandalen baumelten ihr scheinbar vergessen von den Fingern und ihre zierlichen nackten Füße ruhten auf dem sonnenwarmen Holz des Stegs. Mitch wartete mit ihrem Koffer in der Hand ab und beobachtete sie. Etwas geschah mit ihrer extravaganten, leuchtenden Schönheit, während sie den Ort musterte, an dem sie die nächsten vier Wochen verbringen würde. Ein weicher Zug beherrschte ihr Gesicht, eine Verletzlichkeit, die bei ihm ganz und gar seltsame und unerwünschte Gefühle weckte.

Er wollte das nicht sehen. Nicht die Sehnsucht, nicht die Einsamkeit und nicht das bare Unglück, das der Anblick des Hauses bei ihr heraufzubeschwören schien. Er wollte nicht darüber nachdenken müssen, was es mit dieser Sehnsucht auf sich hatte. Und vor allem wollte er nicht derjenige sein, der diese Sehnsucht stillte, weil es nichts als Ärger bedeutete, sich mit einer Mitarbeiterin einzulassen.

„Es ist einfach perfekt“, verkündete sie und musterte mit einem fast schon gierigen Blick die bemalten Balken, die die umlaufende Veranda schmückten. „Als würde die Zeit hier stillstehen, finden Sie nicht?“

„Was die Rohrleitungen betrifft, war das bis vor Kurzem definitiv der Fall“, erwiderte er. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“

Sie lief vor ihm her die lange Holztreppe hinauf, die vom Steg in den Garten führte. Der ausgestellte Saum ihres roten Kleids flatterte einladend in der Brise. Mitch gab sich alle Mühe, Manieren an den Tag zu legen und nicht zu starren, aber der Halbwüchsige in ihm sah trotzdem hin.

Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, stand ihm der Schweiß auf der Stirn, außerdem war er in Sachen Affären mit Angestellten zu einer neuen Meinung gelangt. Im Endeffekt war Rosie doch wie gemacht für eine Ausnahme. Sie hatte einen Vertrag unterschrieben, laut dem sie genau einen Monat und keinen Tag länger für ihn arbeiten würde.

Warum also nicht, verdammt noch mal? Im Prinzip wäre es nichts anderes als ein One-Night-Stand, nur eben für einen ganzen Monat. Und solange sie sich in dieser Hinsicht beide einig waren, war es durchaus möglich, dass die vier Wochen in der Rainshadow Lodge nicht nur lukrativ, sondern auch verdammt unterhaltsam wurden.

Das Problem bestand darin, dass sie vermutlich wie alle Frauen war, mit denen er sich bisher eingelassen hatte. Und das bedeutete, dass sie am Ende des Monats Probleme haben würde loszulassen. Er selbst war nicht unbedingt der Meinung, dass er es wert war, an ihm festzuhalten. Frauen sahen das offenbar anders. Sie klammerten. Und zwar sehr viel länger, als gut für sie war, dann war jedes Mal er am Zug und musste irgendetwas tun, was sie verletzte, nur damit sie verschwanden.

Er hasste es, Leuten wehzutun, aber wenn es keine andere Möglichkeit gab, seine Grenzen zu wahren, war er selbst dazu bereit. Widerwillig gab er den kurzen Traum von einer wilden Affäre mit Rosie auf. Er hatte sowieso zu viel zu tun.

„Warten Sie, es ist abgesperrt.“ Er stellte den Koffer ab. Die Chihuahuas fetzten durch den Garten und markierten ihr Territorium. So viel zum Thema Krocket, dachte Mitch. Er lächelte reumütig und zuckte die Achseln, er war sowieso nicht der Typ für Krocket.

Er drehte den Schlüssel im Schloss herum und hielt Rosie die Tür auf. Die Absätze ihrer Schuhe, die sie inzwischen angezogen hatte, klackerten über den Boden der Vorhalle.

„Wunderschön“, sagte sie in fast schon ehrfürchtigem Ton. „Wie haben Sie dieses Juwel nur gefunden, Mitch?“

„Eigentlich war das Miss Lovejoy. Hat sie Ihnen gar nicht davon erzählt?“

„Sie hat nur gesagt, dass Kost und Logis inbegriffen sind. Ich hatte keine Ahnung, dass die Logis so aussieht.“

Ihre Reaktion war absolut fesselnd. Als er selbst das Haus zum ersten Mal betreten hatte, waren keinerlei erwähnenswerte Gefühle in ihm hochgekommen – bis auf leisen Ärger, weil es trotz der vielen Räume nur einen einzigen Telefonstecker gab. Er zog es vor, seinen Computer, das Telefon und das Fax separat anzuschließen, aber die altmodische Lodge war für solche Ansprüche nicht ausgestattet.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Reich“, bot er an.

Sie nahmen die Treppe nach oben. Er hatte den Raum für Rosie im dritten Stock eher willkürlich ausgewählt, weil er ein eigenes Bad mit einem riesigen Jacuzzi hatte, den er im Leben nicht benutzt hätte. Als sie sich nun zu ihm umwandte und ihm ein strahlendes Lächeln zuwarf, war er froh, dass er sich dafür entschieden hatte.

„Ich schließe daraus, dass es Ihnen gefällt?“

„Kann man wohl sagen.“ Sie trat ans Fenster und schob die Vorhänge zur Seite. In der Ferne erhoben sich die selbst im Sommer schneebedeckten Cascades wie weiße Zähne über die Meerenge. „Was für ein schöner Ausblick. Und dann noch der ganze Luxus. Wirklich, Mitch, mehr kann man nicht verlangen.“

Er musste aufhören, sie anzustarren, aber wie sie dastand, in Sonnenlicht getaucht und mit diesem umwerfenden Lächeln auf den Lippen und diesem Ausdruck in den Augen, der ihn mitten ins Herz traf, war das so gut wie unmöglich.

„Dann lasse ich Sie mal in Ruhe ankommen“, sagte er verlegen. „Schreien Sie einfach, wenn Sie irgendwas brauchen.“

„Ich schreie wahrscheinlich so oder so“, sagte sie und lachte ihr unbeschwertes, unkompliziertes Lachen.

Als Mitch sich abwandte, um die körperliche Auswirkung ihrer Nähe bei ihm, mit der man Nägel in Wände hätte hämmern können, zu verbergen, gewann er den Eindruck, dass auch das Schicksal lachte. Und zwar über ihn.

4. KAPITEL

Mitch erwachte von wummernder Salsamusik und dem Dröhnen der Jacuzzi-Düsen. Er starrte an die Decke und stellte sich die grazile Rosie in der riesigen Wanne vor. Sein Körper reagierte mit gnadenloser Direktheit auf die Bilder in seinem Kopf. Während er eilig duschte und sich anzog, grübelte er, welche weiteren Herausforderungen der Tag wohl mit sich bringen würde.

Er war fest entschlossen, vor Rosie in der Küche zu erscheinen. Er war derjenige, der alles im Griff hatte. Er war der Auftraggeber.

Das Haus war mit einer neuen Luxusküche ausgestattet worden, die die meisten Sommergäste mit Sicherheit zu schätzen wussten. Ihm war sie vollkommen gleichgültig. Genauso wie die importierte Espressomaschine aus Kupfer und Chrom. Er hatte kein Verständnis dafür, wie man freiwillig fünf Minuten lang an einem Fingerhut voll dickflüssigem, bitterem Kaffee herumdoktern konnte, wo es doch Instantpulver gab.

Was sie wohl zum Frühstück aß? Er hatte nur das Junggesellenprogramm auf Lager: Pop-Tarts, Bananen, Milch. Wenn sie mehr wollte als das, war sie auf sich gestellt.

Mitch fand, dass das ziemlich souverän klang. Was Rosie Galvez betraf, musste er rabiat vorgehen. Die Grenzen wahren. Sich immer wieder vorbeten, dass er einen Job zu erledigen hatte, und zwar innerhalb eines Monats, und dass sie sich danach nie wiedersehen würden.

Nicht, dass dieses Gesetz in Stein gemeißelt gewesen wäre, aber es war das, was er wollte. Seine Art zu leben. Eine andere kannte er nicht.

Die Chihuahuas tollten die Treppe herunter, doch als sie ihn entdeckten, blieben sie stehen und hoben vorsichtig die Pfötchen. Als er ihnen einen Blick zuwarf, wichen sie sogar ängstlich vor ihm zurück. „Weicheier“, murmelte er in sich hinein. Dann öffnete er den Sack Hundefutter, den Rosie mitgebracht hatte, und schüttete etwas von dem Inhalt in eine Müslischale. Die Hunde wieselten geduckt in Richtung Schüssel, schnüffelten misstrauisch daran herum und ließen sich schließlich auf die Hinterteile fallen. „Bedient euch“, sagte Mitch und wandte sich ab, um seinen Kaffee zu machen und durch das Fenster über der Spüle aufs Meer zu starren. Man hatte ihm erzählt, dass es in der Gegend Schwertwale gab. „Und wo in der Nahrungskette steht ihr zwei so?“

„Das habe ich gehört.“

Rosie erschien in der Tür, als er gerade Kaffeegranulat mit heißem Wasser verrührte. Sie war frisch gebadet und ihr lächelndes Gesicht wurde von feuchten Locken eingerahmt. Sie sah aus wie aus seinen Träumen aus der Zeit, in der er noch gewusst hatte, wie man träumt.

„Guten Morgen“, sagte sie. „Die beiden sind zweisprachig erzogen, Sie sollten also aufpassen, was Sie in ihrer Gegenwart sagen. Mögen Sie keine Hunde?“

Mitch hob eine Braue. „Ach, das sind Hunde? Ich hatte sie erst für Fischköder und bei genauerem Hinsehen für geschorene Hamster gehalten.“

„Sehr witzig. Ich wette, Sie haben nicht mal das kleinste Haustier.“

„Doch, einen Keramikdalmatiner. Ein Schirmhalter. War ein Werbegeschenk.“

„Passt zu Ihnen.“ Sie bückte sich, um die Chihuahuas zu streicheln, dann richtete sie sich wieder auf. „Sie sind ganz schön früh wach.“

„Es ist ja auch ein Werktag. Kaffee?“ Er hielt ihr einen hin.

Sie spähte in Richtung Instantpulverbehälter, nahm die Tasse und kippte den Inhalt ins Spülbecken. „Ich bitte Sie. Ein Hauch von Niveau muss schon sein.“

„Instant geht schneller“, erwiderte er verärgert.

Sie wies auf die Espressomaschine. „Stört es Sie, wenn ich mir einen Latte macchiato mache?“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber machen Sie fix.“

„Ein Latte macchiato braucht seine Zeit.“

„Gut, dann machen Sie eben langsam“, zwang er sich zu sagen.

„Das hab ich auch vor.“

Sie sah auf seine Füße und grinste. Mitch hatte nicht mal bemerkt, dass er ungeduldig wippte. „Wir sollten loslegen, ehe es zu spät wird.“

„Nach meinem Kaffee gehöre ich ganz Ihnen.“ Sie nahm eine Tüte Milch und eine Packung Kaffeebohnen aus dem Kühlschrank.

Er wünschte, sie hätte es anders formuliert. Irgendwie war alles an ihr zweideutig, obwohl sie heute Denimshorts, ein Tanktop und abgetragene Turnschuhe trug. Seltsamerweise fand er ihr Outfit kein bisschen weniger provokativ als das rote Sommerkleid vom Tag zuvor.

„Danach bringe ich Sie zum Baugelände …“

„Dem eventuellen Baugelände“, korrigierte sie ihn.

„Wie auch immer, ich bringe Sie hin. Und dann können Sie mir unser weiteres Vorgehen erläutern.“ Mitch hoffte sehr, dass sie ihn richtig verstand. Wenn sie sich so benahm wie die anderen Prüfer und Beamten aus dem Baugewerbe, würde sie einen großzügigen Scheck für ihre Bemühungen entgegennehmen, alle Papiere unterzeichnen und das Projekt damit für akzeptabel erklären. Allerdings sah sie absolut nicht so aus wie die übrigen Inspektoren, mit denen er bisher zusammengearbeitet hatte. Dennoch, die Macht seines Scheckhefts hatte bislang noch immer Wirkung gezeigt.

Mit geübten Handgriffen bereitete sie für jeden von ihnen einen perfekten Latte macchiato zu. Mitch probierte von seinem. Als er aufblickte, bemerkte er, dass sie ihn beobachtete.

„Und?“, fragte sie.

„Was und?“

„Jetzt geben Sie schon zu, dass das viel besser schmeckt als Instantkaffee.“

„Schmeckt besser als Instantkaffee.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Aber dafür sind wir nun zu spät dran.“

„Haben wir eine Verabredung?“, fragte sie und leckte sich einen feinen Streifen Milchschaum von der Oberlippe.

„Nein, doch es gibt einen Zeitplan und den müssen wir einhalten. Sind Zeitpläne etwas, womit Sie vertraut sind, Rosie?“

Sie lachte. „Was, wenn ich jetzt Nein sage?“

„Jedenfalls würde ich Ihnen glauben. Bitte vergessen Sie nicht, dass das hier kein Urlaub, sondern ein Arbeitsaufenthalt ist.“

Ihr Lächeln flackerte und wurde etwas weniger strahlend und Mitch fühlte sich unangenehm schuldig. „Was ich damit meine“, schob er nach, „ist, dass meine Investoren gewisse Erwartungen an dieses Projekt haben. Die Insel steckt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Hafen könnte der einzige Ausweg sein. Ich kann es mir einfach nicht leisten zu trödeln.“

„Ich verstehe.“ Sie setzte sich an den Küchentisch, der in einem achteckigen Alkoven mit Sprossenfenstern stand, die aufs Meer hinausgingen. „Aber eine Tasse Kaffee wird nicht über Gedeih und Verderb Ihres Projekts entscheiden.“ Sie atmete tief durch. „Der Schlüssel zum Erfolg ist die Sicherheit, dass Ihr Hafen nicht all das zerstört, was diese Insel so besonders macht.“

Er gab sich geschlagen und nahm bei ihr am Tisch Platz. Da sie offenbar nicht zur Eile zu bewegen war, konnte er es sich genauso gut gemütlich machen. Sie warf ihm über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg ein Lächeln zu, dessen Wirkung ihn erneut erstaunte. Es setzte etwas in ihm frei, das ihn wünschen ließ, einfach nur dazusitzen und sie anzustarren, während die Minuten davontickten. „Brauchen Sie sonst noch was?“, fragte er.

„Nein danke, normalerweise frühstücke ich gar nicht. Und ich wette, Sie essen normalerweise im Stehen. Oder im Gehen.“

„Richtig geraten.“

„Sie leben alleine, oder?“

„Auch richtig. Ich habe eine Wohnung in der Stadt.“

„Und ich rate noch mal: in einem von den Wolkenkratzern mit Blick auf die Elliot Bay.“

Mitch schüttelte in gespieltem Unglauben den Kopf. „Was bin ich nur durchschaubar.“

Sie lachte. „Vielleicht bin ich ja auch nur besonders klug.“

„Deswegen hat Miss Lovejoy Ihnen schließlich den Auftrag gegeben.“

Sie stellte die Kaffeetasse ins Spülbecken, verschwand im ersten Stock und kam wenige Minuten später mit ihrem Laborkoffer und einem Clipboard zurück. „Ich wäre dann so weit.“

Sie traten nebeneinander auf die Veranda hinaus. Rosie atmete tief ein und genoss das Prickeln der Meeresluft in ihrer Lunge. „Wunderschön, wirklich. So schön, dass es fast nicht zum Aushalten ist.“

Mitch sah sie stirnrunzelnd an. „Was ist wunderschön?“ „Na, das hier. Alles!“ Mit einer ausholenden Geste wies sie auf das Wasser, das in der Morgensonne wie Juwelen glitzerte, auf die schneebedeckten Gipfel in der Ferne, auf die grünen Inseln, die sich aus der Meerenge erhoben. „Wie lange sind Sie eigentlich schon hier?“

„Zwei Tage.“

„Zwei Tage, und Sie haben immer noch nicht bemerkt, wie schön die Landschaft ist?“

„Ich bin hier, um zu arbeiten, Rosie.“

Sie gingen den Kiesweg und die Treppe zum Meer hinab, dann folgten sie der Küstenlinie Richtung Norden. Am Ufer lagen Treibholzstämme, so dick wie Telefonmasten, und unter ihren Füßen klackerten vom Wasser glattpolierte Kieselsteine. Kormorane schwebten über den Klippen, die die Küste säumten. Rosie hatte das Gefühl, dem wahren Wesen der Insel langsam näherzukommen, das sich umso zaghafter offenbarte, weil Spruce Island so ein abgelegenes Fleckchen war. Das Eiland war zwar schon seit Ewigkeiten bewohnt, aber es war der Menschheit niemals gelungen, es zu zähmen. Es wirkte vielmehr so, als ob Spruce Island seine Bewohner zähmte. Genau das war vermutlich das große Geheimnis dieser Insel.

Der Ursprung ihres ganz besonderen Reizes, ihres Zaubers.

Während ihres Spaziergangs führte Rosie Buch über das Ökosystem, registrierte die Anzeichen für Muschel- und Krabbenvorkommen und die erstaunliche Vielfalt von See- und Greifvögeln. Trotzdem ging ihr Blick immer wieder zu Mitch. Auch er hatte etwas Unbegreifliches, Weltfernes an sich. Eine gewisse Distanziertheit. Sie fragte sich, ob dieser Hauch von stiller Melancholie, der sich durch sein Leben zu ziehen schien, tatsächlich vorhanden oder nur ein Produkt ihrer ausschweifenden Fantasie war, die versuchte, sich so Mitchs Anziehungskraft zu erklären.

Und, Grundgütiger, was fühlte sie sich zu ihm hinzogen! An diesem Morgen war er ein klein bisschen weniger seriös gekleidet und trug kurze Kakis, ein Polohemd von Hilfiger und Segelschuhe. Dennoch strahlte er kühle Förmlichkeit aus. Selbst ihre hyperaktive Fantasie reichte nicht aus, um sich einen Mitch mit zerzaustem Haar vorzustellen. Jede Strähne saß an ihrem Platz, sogar seine Rasur war makellos und seine Fingernägel waren kurz und vollkommen sauber.

„Was macht man hier denn so in seiner Freizeit?“, fragte sie.

„Freizeit?“

„Ja, Sie wissen schon, wenn man mal Spaß haben will, etwas Schönes erleben. Angeln? Krabben pulen?“

„Nie probiert.“

„Tauchen? Radfahren? Picknicken?“

Er schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich bin nicht zum Vergnügen hier, Rosie.“

„Als ob die Welt untergehen würde, wenn Sie sich aus Versehen für ein paar Stunden amüsieren.“

„So eng sehe ich das nun auch wieder nicht. Ich bin doch kein Nazi.“

„Sie haben aber schon mal davon gehört, dass Arbeit allein nicht glücklich macht?“

„Vielleicht bin ich ja gerne unglücklich“, murrte er und Rosie musste lachen.

Den weiteren Weg legten sie in erstaunlich einvernehmlichem Schweigen zurück. Rosie wollte die unvergleichliche Schönheit der Gegend in sich aufnehmen – die kristallklaren Wellen, die an den Kieseln leckten, den Anblick der Zedern und der Douglastannen, die in den blauen Himmel ragten und sie vom Rest der Welt abschirmten. Es war, als gäbe es nur noch sie beide – einen Mann und eine Frau allein auf dieser Erde.

Sie folgten einer engen Biegung, hinter der kein Treibholz mehr zu sehen war. Die Kiesel wurden immer spärlicher und gingen schließlich vollständig in zuckerfeinen Sand über, der die Farbe von gemahlenen Mandeln hatte. Eine zerklüftete Klippe bildete eine kleine Bucht, die wie verzaubert wirkte. Zwischen den Felsbrocken sprudelte ein Bach hervor und floss als plätscherndes Rinnsal über den Strand ins Meer.

„Ein Lachsfluss“, sagte sie und trug ihren Fund in die topografische Karte auf ihrem Clipboard ein. „Mein Gott, es ist einfach sagenhaft hier.“ Sie konnte nicht widerstehen und streifte die Leinenturnschuhe ab. Ihre Füße versanken im warmen Sand. Das Gefühl war fast so intensiv wie bei einem kleinen Orgasmus. Mitch warf ihr einen schiefen Blick zu.

„Es ist noch ein Stückchen bis zum Baugrundstück.“

„Ich hab’s nicht eilig“, erwiderte sie.

Er grinste. „Sie haben ja nicht sonderlich lange gebraucht, um sich das Inselzeit-Syndrom einzufangen.“

„Was ist denn das Inselzeit-Syndrom?“

„Eigentlich eine falsche Bezeichnung. Hier auf der Insel leben die Leute nämlich so, als würde es überhaupt keine Zeit geben. Nie scheint es jemand eilig zu haben.“

„Außer Ihnen“, sagte sie. Es gelang ihr nicht, den vorwurfsvollen Beiklang in ihrer Stimme zu unterdrücken.

„Tja, irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass hier mal etwas passiert.“

5. KAPITEL

Mitch hätte sich denken können, wie Rosie auf das Baugelände reagieren würde, und trotzdem war er überrascht. Alles an ihr überraschte ihn und das hier war keine Ausnahme. Er hatte erwartet, dass sie sich gleich an die Arbeit machen würde, stattdessen begab sie sich für den Rest des Tages in eine Art meditativen Trancezustand und erkundete das umliegende Gelände, um ein Gefühl für den Ort zu bekommen, wie sie es nannte.

Er selbst hatte so etwas noch nie getan. Er konnte den Nutzen darin nicht erkennen. Für ihn waren Orte nichts, für das man Gefühle entwickelte. Sie waren einfach nur … da. Zudem bedurften die meisten Orte, und dazu zählte auch diese Insel, seiner Meinung nach einiger Verbesserungen.

Am nächsten Morgen, Mitch hatte sich bereits damit abgefunden, dass Rosies Kaffee besser schmeckte als sein eigener, wartete er in der Küche darauf, dass sie nach unten kam und Latte macchiato zubereitete. Danach setzten sie sich an den in Sonnenlicht getauchten Tisch und gingen ihre Karten durch und Seiten über Seiten voller hingekritzelter Notizen.

„Wann haben Sie das alles gemacht?“ Er blätterte in den mit ihrer wilden Schrift bedeckten Unterlagen.

„Schätze, da war wohl die Inselzeit mit im Spiel“, antwortete sie mit einem Hauch von Ironie in der Stimme.

Er musste lächeln. Also war sie doch fleißig. Er schob ihr ein mehrseitiges Formular hin. „Das ist das erste Dokument, das die Planungskommission von uns benötigt. Ich habe alles ausgefüllt, was ich beantworten konnte, aber es sind sehr viele Fragen und die Informationen über Populationen und Biotope und so weiter gehen fachlich ziemlich in die Tiefe. Schätze, das ist Ihre Baustelle.“

Sie musterte das Formular einen Moment lang und nippte nachdenklich an ihrem Latte. „Ich muss noch eine Menge Messungen durchführen, bis ich das ausfüllen kann.“

„Könnten Sie bei ein paar Punkten nicht einfach einen Schätzwert angeben? Ich meine, ist es wirklich wichtig, dass wir exakte Informationen über die Dichte der Vogelpopulation eintragen?“

Sie stellte ihre Tasse ab und sah ihn direkt an. „Sie haben mich eingestellt, damit ich meine Arbeit erledige, Mitch. Und ich habe vor, sie gründlich zu machen. Ich werde in dieser Studie nichts vertuschen. Sie wird korrekt bis ins letzte Detail.“

Sie zögerte und knabberte wieder auf diese sexy Art auf ihrer Unterlippe herum.

„Und ich denke, Sie sollten wissen, dass ich keine Empfehlung ausspreche, falls ich den Eindruck gewinne, dass Ihr Hafen einen negativen Einfluss auf die Umgebung hier haben könnte.“

Mitch knirschte mit den Zähnen. Während seiner gesamten Karriere hatte er kein einziges Mal einen Kunden enttäuschen, kein einziges Projekt aufgeben müssen. Er war stolz darauf, Dinge aufzubauen, Arbeitsplätze zu erschaffen, Gemeinschaften zu bilden und auch noch verdammt gut darin zu sein. Auf Spruce Island konnte er genau das tun – und er würde nicht zulassen, dass irgendeine selbstgerechte Wissenschaftlerin ihm einen Strich durch die Rechnung machte.

„Die Region liegt im Sterben, Rosie. Die Einwohner verlassen die Insel in Scharen, weil sie hier keine Arbeit finden. Allein der Hafen wird Dutzende von Arbeitsplätzen bieten und indirekt werden noch viele weitere entstehen.“ Finster blickend stand er vom Tisch auf. „Es war nicht ich, der die Idee hatte, hier eine Hafenanlage zu bauen. Die Inselbewohner sind von selbst zu mir gekommen.“

„Das weiß ich doch. Ich will mich dem Fortschritt nicht in den Weg stellen, aber die Inselbewohner sind die Wächter dieses Ortes. Und ich bin mir sicher, sie würden nicht wollen, dass wir ihrem Zuhause schaden, nur um ein paar Jobs zu schaffen. Sie könnten hier auch eine Kupferschmelze errichten lassen, in der ein paar Tausend Menschen Arbeit finden, aber wäre das das Beste für die Insel?“

„Wir reden allerdings nicht von einer Kupferschmelze“, erwiderte er gereizt.

„Okay, okay, tut mir leid. Ich will einfach nur, dass Ihnen bewusst ist, dass ich gewissenhaft arbeiten werde.“

„Fantastisch.“ Er war sich nicht sicher, ob er das auch wirklich so meinte.

An diesem Tag beobachtete er sie aus der Ferne. Er arbeitete im Vorderzimmer, dessen Fenster auf die Bucht hinausging, und sah viel zu häufig von seinem Computermonitor auf. Rosies Gang wirkte selbstsicher und bestimmt, aber hin und wieder verlangsamte sich ihr Schritt auf eine Weise, die ihn faszinierte. Manchmal marschierte sie stramm an der Wasserlinie entlang, nur um ganz plötzlich innezuhalten, weil sie irgendetwas untersuchen wollte.

Als die Sonne unterging und sie sich, in den feinen Abenddunst gehüllt, ans Ufer setzte, bemerkte er eine merkwürdige Ruhe in ihren Bewegungen. Rosie schien bis in ihr tiefstes Inneres von einem stillen Frieden erfüllt zu sein, der ihn an die unbewegten Gezeitenbecken erinnerte, an denen sie bei ihrer Erkundungstour vorbeigekommen waren. Es war beruhigend, diese Frau um sich zu haben. Auf einmal empfand er keine Eile mehr, hatte ausnahmsweise mal nicht das Bedürfnis, so schnell wie möglich irgendwo anders zu sein. Sein sonst so ungeduldiges Wesen fand die Geduld, sich zurückzunehmen und Rosie ihre Arbeit auf ihre Weise erledigen zu lassen.

Du tust mir gut, Rosie.

Der Gedanke geisterte durch seinen Kopf, so verlockend wie ihr Lachen, als sie in die Hände klatschte, um die Chihuahuas zu sich zu rufen. Die quirligen Fellknäule flitzten über den Rasen auf sie zu und sprangen in ihre Arme. Für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte Mitch sich eine kleine Träumerei, er und Rosie zusammen, genauso wie jetzt, nur eben wirklich zusammen. Nicht nur wegen eines Arbeitsprojekts, sondern weil sie einander kennenlernen wollten, erfahren wollten, wie der andere redete und lachte, entspannt und ungezwungen.

Er verjagte die Vorstellung aus seinem Kopf, schlug sie platt wie einen Moskito, der ihn zu stechen drohte. Zwischen Rosie Galvez und ihm lagen Welten. Sie war nicht sein Typ, so gerne er es auch anders gehabt hätte. Wenn er ehrlich war, hatte er so etwas wie einen „Frauentyp“ gar nicht. Darauf wies Miss Lovejoy ihn schon seit Jahren immer wieder hin, so als wäre das eine Art Schwäche. Dass er zu wählerisch sei, sagte sie, und dass seine Ansprüche unrealistisch hoch seien.

Er zwang seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm und versuchte, den Gedanken zu verbannen, aber er nagte an ihm und verursachte das Gefühl, unvollständig zu sein und es für immer zu bleiben, weil er dafür sorgte, dass die passende Partnerin für ihn nicht existierte.

Seine Vorstellung von der perfekten Frau entsprach in etwa einer Barbiepuppe mit Gehirn, jedoch ohne eigenen Kopf. Und trotzdem – schon wieder gehorchte ihm sein Blick nicht – sah er ständig aus dem Fenster, beobachtete diese in sich ruhende, glutäugige Amazone und fragte sich, was wäre, wenn …

„Ich möchte eine Kajaktour machen“, verkündete Rosie am nächsten Morgen.

„Aber wir müssen beide arbeiten“, erwiderte Mitch automatisch.

„Ja. Im Kajak.“

Er spürte, wie sich seine Augenbrauen missbilligend senkten, als er von dem Brief an den Finanzkonzern aufblickte, an dem er arbeitete.

„Kajakfahren läuft für Sie unter Arbeit?“

„Das habe ich doch gerade gesagt, jefe.“

„Nennen Sie mich nicht so. Das ist beleidigend.“

„Wie Sie wünschen, Boss.“

„Dann erklären Sie mir die Sache mit der Kajakarbeit bitte mal.“

„Wir müssen rausfahren und die Riffe und Küstenstreifen erkunden. Und das geht im Kajak nun mal am besten, da wir nah an der Wasseroberfläche sind und das Meer so wenig aufrühren, dass wir die Tiere nicht stören.“

Er musterte sie lange und gründlich. Er, der sein Leben von Disziplin regieren ließ, wollte mit genau dieser Disziplin plötzlich nichts mehr am Hut haben. Er wollte in einem Kajak fahren. Mit einer wunderschönen Frau. Und weil er es sich so wahnsinnig gerne wünschte, sagte er: „Nein.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich muss arbeiten, Rosie. Was auch immer Sie im Kajak erledigen wollen – Sie sind auf sich gestellt.“

Sie verschränkte die Arme unter ihren Brüsten, was seinen Blick gegen seinen Willen auf ihr Dekolleté lenkte.

„Aber es ist ein Zweimannkajak.“

„Ich habe trotzdem zu tun.“

Ein gefährlicher Ausdruck flackerte in ihren Augen auf. Mitch gewann den Eindruck, dass Rosies liebenswertes Naturell im Handumdrehen in einen Temperamentausbruch umschlagen würde, doch der Wutanfall, den er erwartet hatte, entfaltete sich in Form eines strahlenden Lächelns.

„Na gut, ich kann ja warten, bis Sie Ihre Arbeit erledigt haben.“

„Aber das …“

Ehe es ihm gelang, seinem Protest Luft zu verschaffen, war sie schon verschwunden. Unter leisem Fluchen stürzte er sich wieder auf seine Unterlagen. Ein paar Minuten später registrierte er eine Bewegung am Rand seines Sichtfelds. Er wusste, dass es Rosie war, und ignorierte den Drang, genauer hinzusehen, solange er konnte, was ungefähr zehn Sekunden dauerte. Dann blickte er von seinem Rechner hoch und beobachtete, wie sie über den Rasen hinunter zum Strand lief.

Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sie hatte einen schillernden Bikini an, der ziemlich effizient dafür sorgte, dass er keinen Augenblick mehr an Arbeit denken würde. Rosie ließ sich auf einer Sonnenliege nieder, holte eine Flasche Sonnencreme hervor und trug die schimmernde Flüssigkeit auf ihre langen Beine, ihre Schultern und ihren Bauch auf. Während Mitch die trägen Bewegungen ihrer Hände auf ihrer sonnenwarmen Haut beobachtete, stöhnte er laut auf. Als sie fertig war, war er dem Wahnsinn nahe.

Sie stand auf und schlenderte, die Chihuahuas zu ihren Füßen, ans Ende der Anlegestelle. Als sie sich vom Steg abstieß und ins Meer sprang, begannen die Hunde hysterisch zu kläffen. Sie brach wieder durch die Wasseroberfläche, strich sich ihr jetzt tintenschwarz wirkendes nasses Haar aus dem Gesicht und fing an, träge zu paddeln. Keine Frage, solange Rosie einen Bikini trug und sich im Wasser aalte, würde er den Computer keines Blickes mehr würdigen. Also klappte er den Laptop zu und ging zur Anlegestelle hinunter, legte aber einen Zwischenstopp bei Rosies Liegestuhl ein, um das dicke grüne Strandhandtuch mitzunehmen. „Sie haben gewonnen“, rief er. „Wir machen eine Kajaktour.“

Sie lachte und der helle Klang schwebte über das Wellengekräusel zu ihm herüber.

„Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich muss hier drinnen erfrieren.“

Sie schwamm an die Holzleiter, die zum Steg hinaufführte, und kletterte zu ihm hoch. Und wieder starrte Mitch sie an, obwohl er wusste, wie unhöflich er sich benahm. „Das Wasser scheint wirklich ziemlich kalt zu sein“, bemerkte er und hielt ihr das Handtuch hin.

„Sie Lüstling.“

Sie stellte sich vor ihn, und für einen kurzen Augenblick hielt er sie von hinten im Arm, während er ihren kurvenreichen, zitternden Körper in den dicken Frotteestoff hüllte. Sie roch nach Salzwasser und Sonnencreme, und als sie den Kopf herumdrehte, um ihn anzusehen, hätte er fast vergessen, sie wieder loszulassen.

„Dieser Moment hier“, gestand er, „ist ganz schön seltsam, finden Sie nicht?“

Sie zuckte die Achseln und kuschelte sich in das Handtuch. „In einer Viertelstunde bin ich unten am Bootshaus.“ Sie war bereits auf dem Weg zur Villa, da drehte sie sich noch einmal um. „Und Mitch? Die Antwort auf Ihre Frage lautet nein.“

„Was nein?“

„Nein, ich fand das nicht seltsam. Ich dachte nur, das sollten Sie wissen.“

Er konnte gar nicht anders, als zu grinsen. Allerdings versuchte er es auch nicht wirklich.

6. KAPITEL

Während Rosie das Paddel in das stille, kristallklare Wasser tauchte, durchrieselte sie ein Gefühl absoluten Wohlbefindens. An und für sich mochte sie pleite, arbeits- und wohnungslos sein, aber gerade jetzt war das unerheblich. Im Augenblick paddelte sie durchs Paradies, hinter sich einen umwerfenden Mann, über sich zwei Weißkopfseeadler, die über den strahlend blauen Himmel segelten.

„Gott, ist das schön“, sagte sie. Selbst die Meereswelt unter dem Kajak war atemberaubend. „Ich habe nicht genug Zeit mit Feldarbeit verbracht.“ Endlich! Sie hatte ihn gefunden, den Silberstreif am Horizont. Sie hatte gewusst, dass sie ihn finden würde, wenn sie nur genau hinsah. „Zum Glück hat sich das ja nun geändert.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Mitch von hinten.

Sie zuckte schuldbewusst die Achseln. „Na ja, solange ich hier auf der Insel bin“, antwortete sie ausweichend. „Die letzten Jahre habe ich fast ausschließlich in Unterrichtsräumen verbracht. Es tut gut, wieder praktisch zu arbeiten.“ Als sie eine zerklüftete Felsformation auf dem Meeresboden passierten, hielt sie eine Hand über den Bootsrand ins Wasser. Seeanemonen in allen Farben des Regenbogens wogten träge im sonnendurchfluteten Ozean. „Ich war in meinen ersten Studienjahren mal einen Sommer lang hier oben und habe das Reproduktionsverhalten von Röhrenwürmern untersucht.“

Mitch lachte. „Das ist ein Witz, oder?“

„Nein, kein bisschen. Es war ein toller Sommer. Mein erster ohne meine Familie.“

„Wo lebt Ihre Familie denn?“

Sie freute sich, dass er ihr eine persönliche Frage stellte. Normalerweise wirkte er völlig geistesabwesend. Ihre Versuche, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, waren einigermaßen schamlos gewesen, aber Schamlosigkeit funktionierte nun mal häufig. „In Wenatchee, gleich auf der anderen Seite der Cascades. Meine Eltern arbeiten in der Apfelbranche.“

„Wie so ziemlich jeder in Wenatchee.“

„Ja, so ungefähr. Darunter auch meine fünf Geschwister. Ich bin sozusagen das schwarze Schaf der Familie, weil ich mich für etwas anderes interessiere – und dann auch noch ausgerechnet für Meeresbewohner. Meine Leute dachten immer, das legt sich mit dem Alter, stattdessen habe ich einen Beruf daraus gemacht. Es war manchmal beängstigend, meinen eigenen Weg zu gehen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie vor irgendetwas Angst haben, Rosie.“

„Danke, aber an der Sache mit dem Mut arbeite ich derzeit noch. Und wie steht es so um Ihre Familie?“

„In der Hinsicht haben Sie mir einiges voraus. Meinen Vater habe ich das letzte Mal gesehen, als ich neun war. Ein paar Jahre später hat meine Mutter wieder geheiratet. Sie lebt jetzt mit einem Wertpapieranalysten in La Jolla. Die drei haben es mit vereinten Kräften geschafft, mich zum Therapiefall zu machen. Bis ich es dann irgendwann satthatte, für 375 Dollar die Stunde meine ‚Emotionen zu verarbeiten‘.“

Er scherzte zwar, aber Rosie hörte trotzdem auf zu rudern und drehte sich um, damit sie ihn ansehen konnte. Eingehend musterte sie seine markanten Gesichtszüge und die eisblauen Augen. Sie versuchte, den einsamen kleinen Jungen in ihm zu sehen, der er einmal gewesen war, den Jungen mit zu viel Geld und zu wenig Liebe. „Tut mir leid für Sie, Mitch.“

„Das muss es nicht. Ist lange her – und nach Jahren auf der Analytikercouch habe ich eine ziemlich einfache Lösung für meine Probleme gefunden.“

„Wirklich? Und verraten Sie mir auch, welche?“

„Dieser Job“, sagte er. „Dinge aufbauen. Es ist unglaublich, wie klein und bedeutungslos die eigenen Probleme plötzlich werden, wenn man keine Zeit mehr hat, über sie nachzudenken. Ich hatte mich sowieso nie richtig wohl in der Rolle des überprivilegierten, jammernden Oberschichtenkindes gefühlt“, fügte er selbstironisch lächelnd hinzu.

„Sie meinen das tatsächlich ernst, oder?“, fragte Rosie ungläubig. „Sie halten Ihre Arbeit wirklich für die Lösung!“

„Rumsitzen, Däumchen drehen und meine Gefühle verarbeiten war jedenfalls keine.“

„Aber was, wenn Sie nichts mehr zu tun haben? Was dann?“

„Darüber brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Ich habe genug Eisen im Feuer, um mich beschäftigt zu halten, bis ich eines Tages umkippe.“

„Macht Ihnen das nie zu schaffen? Der Gedanke ans Umkippen?“

„Nein.“

Sie drehte sich wieder nach vorne, verwirrt und irgendwie traurig über das, was sie gerade von ihm erfahren hatte. „Kommen Sie, wir fahren zum President Channel“, sagte sie. „Ein Jachthafen würde das Verkehrsaufkommen da sicherlich verstärken. Wir sollten uns dort umsehen.“

Sie paddelten in einem gemütlichen Rhythmus. Das Sommerwetter machte das Wasser klar und fast bewegungslos und das Licht konnte bis in drei Faden Tiefe vordringen. Rosie spürte, wie sich die leichte Brise in ihrem Haar verfing, und legte den Kopf in den Nacken, versuchte, all das in sich aufzunehmen. Es war herrlich, alles hier, die Auen und Marschen, die bis zum Meeresrand hinabreichten, die Schiffe, die träge an ihnen vorbeiglitten, die Schwärme von Alken und Kormoranen, die an den Bergflanken nisteten, die dunklen Schatten der Fischschulen, die unter dem Kajak vorbeizogen.

Sie weigerte sich, sich runterziehen zu lassen von dem, was Mitch ihr erzählt hatte, dass er seine seelische Gesundheit unablässiger harter Arbeit zu verdanken hatte.

Wenn das tatsächlich die Lösung sein sollte, dann war sie selbst dem Untergang geweiht.

Der Gedanke, nach Seattle zurückzukehren und sich dem demoralisierenden Prozess der Arbeitssuche zu unterwerfen, deprimierte sie sogar noch mehr. Sie hatte gerne gelehrt. Sie war gut darin, anderen etwas beizubringen, aber in den letzten Jahren hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Wände der Vorlesungssäle immer enger um sie zusammenrückten. Jetzt, wo sie einen glitzernden Kanal im Puget Sound entlangglitt, begriff sie, was ihr gefehlt hatte. Die Feldarbeit. Draußen auf dem Meer zu sein, nicht eingepfercht in einen Hörsaal. Lebensräume statt Laborproben zu studieren.

Einen Feldjob zu ergattern war aber sogar noch schwieriger, als an einen Lehrstuhl berufen zu werden. Klar, sie hätte die Möglichkeit, sich bei einem der öffentlichen Meereszentren oder Aquarien zu bewerben, doch sie fühlte sich in Gegenwart eingesperrter Lebewesen immer klaustrophobisch. Alternativ konnte sie sich als Saisonarbeiterin probieren und bei Mermaid Whale Watching Expeditions Touren gegen Trinkgeld anbieten. Das Trinkgeld war gar nicht mal übel, wie sie gehört hatte. Vor allem wenn die Guides Bikini trugen.

Die bloße Vorstellung ließ sie schaudern, also schüttelte sie sie ab, weil sie sich davon nicht den Tag vermiesen lassen wollte. Sie glitten weiter durchs Wasser. Ihr Schweigen war noch immer so einvernehmlich wie vorhin am Strand. Rosie fragte sich, woran das lag, warum sie sich so entspannt und wohl in Gegenwart dieses Mannes fühlte, der so anders war als sie, der nichts an sich heranließ.

In der Ferne, vor der Küste von Waldron Island, waren direkt unter der Wasseroberfläche Schatten zu erkennen.

„Ist es das, was ich denke?“, fragte Mitch leise.

Sie nickte. Die Begeisterung über ihre Entdeckung ließ ihr Herz heftiger schlagen. „Man weiß von drei Walschulen, die in dieser Gegend zu Hause sind. Die Gruppe dort vorne besteht aus etwa zwanzig Individuen.“ Einige Rückenfinnen brachen durch die Wasseroberfläche und Rosie stockte der Atem.

„Machen wir ihnen Angst?“, fragte Mitch.

„Nicht wenn wir langsam fahren und entspannt bleiben.“

„Werden sie versuchen, uns aufzuessen?“

„Solange wir nicht leichter zu fangen sind als ein Lachs, nein.“

Je näher das Kajak herankam, desto mehr schwarz-weiße Wale sahen sie. Es waren vor allem Weibchen mit Kälbern in verschiedenen Altersstadien.

„Wow“, sagte er. „Da schau mal einer an. Die sind ja gemustert wie riesige Golfschuhe.“

„So kann man das natürlich auch sehen.“ Rosie würde sich niemals an der Schönheit der Orcas sattsehen können. Sie liebte ihre Färbung, ihren engen Familienzusammenhalt, ihre Mäuler, die zu einem ständigen Lächeln verzogen zu sein schienen, und ihr präzises, zielgerichtetes Jagdverhalten.

„Hey“, sagte Mitch, „schauen Sie mal – whoa!“

Ein riesiges Weibchen schoss aus dem Wasser und brach nur wenige Meter vom Kajak entfernt wieder durch die Oberfläche. Hohe Fontänen spritzten in die Luft und durchnässten das kleine Boot und seine Insassen von Kopf bis Fuß.

„Oh … mein … Gott“, rief Mitch. „Haben Sie das gesehen? Der war ja so groß wie ein Reisebus!“

Rosie betrachtete die Schaumspur, die der Wal auf der Wasseroberfläche hinterlassen hatte, und plötzlich fühlte sie sich überwältigt. Sie war machtlos dagegen, konnte sich einfach nicht zusammenreißen. Und auch wenn sie Mitch den Rücken zuwandte, würde sie nicht vor ihm verbergen können, wie ihre Stimmung kippte. Sie legte das Paddel auf die Spritzdecke über ihrem Schoß und senkte den Kopf, wünschte sich, dass dieser Monat ewig währte, dass sie nicht in ihr wahres Leben zurückkehren müsste.

„Hey, was ist los?“

Mitch klang vage misstrauisch und auch ein bisschen verängstigt.

„Ich … es ist einfach … so schön“, stammelte sie und kam sich dabei unendlich dumm vor. Sie versuchte, die Kontrolle trotzdem nicht zu verlieren.

„Sie meinen den Wal?“

„Alles. Einfach alles.“

„Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Rosie. Aber hey, reißen Sie sich doch bitte ein bisschen zusammen. Es macht mich nämlich verdammt nervös, wenn die Leute emotional werden.“

Sie hörte ihn unter seiner Spritzdecke herumkramen, dann reichte er ihr ein marineblaues Bandana-Tuch.

„Hier, Rosie. Bitte nicht weinen.“

Seine Geste machte alles nur schlimmer. Er murmelte ungeduldig etwas vor sich hin, paddelte los und steuerte das Kajak in Richtung des nächstgelegenen Ufers. Nur wenige Augenblicke später setzte das Boot auf Grund und Mitch stieg aus. Dann entfernte er die vordere Spritzdecke, die sie schützte, und umfasste ihre Schultern, um ihr beim Aufstehen zu helfen.

„Besser?“, fragte er und nahm ihr das Bandana aus der Hand. Unbeholfen wischte er ihr damit die Tränen von den Wangen.

Sie schluckte, der Kloß in ihrem Hals wollte jedoch nicht verschwinden. „Ach Mitch“, sagte sie und ließ sich gegen ihn sinken. Sie spürte, wie er die Arme um sie legte. „Wahrscheinlich werden Sie mir nicht glauben, doch das ist mein schönster Tag seit sehr langer Zeit. Und all das habe ich nur Ihnen zu verdanken.“

„Hey“, unterbrach er sie hastig, „Sie waren es, die mich zum Kajakfahren gezwungen hat.“

„Aber Sie sind der Grund, aus dem ich überhaupt hier bin.“ Sie war kurz davor, es ihm einfach zu erzählen, die ganze Geschichte, wie sie trotz ihrer harten Arbeit ihren Job verloren hatte. Bevor es dazu kam, wurde sie von ihren Tränen überwältigt, ohne dass sie genau hätte sagen können, warum. Sie vermutete, dass es mit dem Kontrast zwischen der funkelnden Herrlichkeit dieses Tages und dem schäbigen Chaos zusammenhing, zu dem ihr Leben geworden war.

Armer Mitch. Sie hätte ihm gerne eine Erklärung für ihr Verhalten gegeben, aber sie konnte es nicht mal sich selbst erklären. Sie war sich auch gar nicht sicher, ob sie es überhaupt wollte. Also schmiegte sie sich einfach an seine bemerkenswert Trost spendende Brust und ließ es bleiben.

7. KAPITEL

Das Klirren der Gläser und das Gluckern in der Weinflasche waren zunächst die einzigen Geräusche, die man im Esszimmer der Rainshadow Lodge hörte. Die letzten Abende hatten sie sich Gerichte vom Feinkostladen unten im Ort liefern lassen, die, liebevoll in kleine Kartons verpackt, von einem schlaksigen Teenager in einem alten Kombi geliefert wurden. Wie sonst auch richtete Mitch alles auf dem charmant zusammengewürfelten Geschirr an, dann schenkte er den Wein ein, einen Jahrgangsburgunder, den er aus seinem privaten Weinkeller in Seattle mitgebracht hatte.

Anschließend wartete er. Und wartete.

Sein Magen knurrte und seine Gedanken schweiften umher. Er konnte einfach nicht aufhören, an Rosie zu denken. Als ihm das klar wurde, stutzte er. War es überhaupt schon jemals vorgekommen, dass er seinen Gefühlen so vollständig nachgegeben hatte? Wenn ja, dann erinnerte er sich nicht daran. Sie hatte sich nach dem Erlebnis mit den Walen an ihn sinken lassen, als würde das Gewicht der Welt auf ihren Schultern lasten. Außerdem hatte sie ihm gestanden, dass der Tag mit ihm ihr schönster seit Langem gewesen war.

Das machte ihn höllisch nervös. Bisher hatte ihm niemals jemand so etwas gestanden.

Große Gefühlsbekundungen weckten Unbehagen bei ihm. Nach Rosies Geständnis hatte er sie eine Weile ungeschickt umarmt, dann hatte er sie von sich geschoben. „Es freut mich, dass Sie Ihre Arbeit mögen“, hatte er gesagt. Selbst jetzt noch zuckte er zusammen bei dem Gedanken daran, wie lahm das geklungen haben musste. „Kommen Sie, es war ein langer Tag. Lassen Sie uns wieder zur Lodge fahren.“

Sie hatte genickt und war vor ihm zurückgewichen. „In Ordnung. Es tut mir leid. Ich wollte mich nicht so vor Ihnen gehen lassen, aber in letzter Zeit stand ich unter ziemlichem Druck.“

Auf dem Rückweg hatte sie sich in Schweigen gehüllt, eine Ruhe ausgestrahlt, die er auch in ihr hatte wahrnehmen können, als würde sie die Welt um sich herum nicht einfach nur beobachten, sondern ihren Kern, das Wesen, erfassen. Er fragte sich, ob ihr bewusst war, wie außergewöhnlich diese Fähigkeit war. Vermutlich nicht. Was einem leichtfiel, empfand man nie als etwas Besonderes.

Das leise Knarren einer Stufe warnte ihn vor. Er stellte die Weinflasche ab und beobachtete, wie Rosie das Esszimmer betrat. Sie hatte gebadet, das Haar hing ihr in feuchten Strähnen den Rücken hinab, und sie strahlte eine so durch und durch feminine Weichheit aus, dass es fast schon wehtat. Sie war barfuß und trug das rote Kleid und auf den Lippen ein schüchternes Lächeln.

„Na?“, sagte er und rückte ihr einen Stuhl zurecht. „Haben Sie Hunger?“

„Wie ein Löwe.“

Als sie sich setzte, hatte er den kurzen, fast unbezwingbaren Impuls, seine Hände auf ihre Schultern zu legen, um über ihre goldbraune Haut zu streichen und ihre Wärme zu spüren.

Er tat es nicht. Dass er sie im Arm gehalten hatte, war schon verwirrend genug gewesen. Es war besser für ihn, Abstand zu wahren. Er nahm ihr gegenüber Platz und reichte ihr den Nudelsalat.

„Danke“, sagte sie und probierte. „Der ist wirklich gut.“

„Ja, was für ein Glück, dass es auf der Insel einen guten Feinkostladen gibt. Hier, das Rosmarinhühnchen müssen Sie unbedingt ebenfalls probieren.“

Sie nahm einen Bissen, lächelte anerkennend und bemerkte: „Ich nehme mal an, dass Sie nicht kochen können.“

„Hin und wieder erwischt man mich beim Braten eines Steaks, aber das war’s dann auch schon. Es gibt hier übrigens ein Fischrestaurant, das recht gut sein soll. Wir sollten es mal ausprobieren.“

„Ich bin ziemlich talentiert in der Küche“, sagte sie. „Irgendwann werde ich mal für Sie kochen.“

„Abgemacht.“ Er hob sein Weinglas, um den Deal zu besiegeln.

Gerade als er anfing, sich in ihrer Gegenwart wieder wohlzufühlen, legte sie ihre Gabel ab, beugte sich vor und sagte: „Mitch, wegen heute Nachmittag …“

„Machen Sie sich keine Gedanken“, unterbrach er sie.

Als sie sich mit ernster Miene noch weiter vorbeugte, begann das kleine Goldkreuz um ihren Hals sich an seiner Kette zu drehen.

„Ich mache mir keine Gedanken. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich meinem Job zwar mit Leidenschaft nachgehe, dass meine Professionalität darunter aber nicht leidet. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Niemand hat Ihre Professionalität infrage gestellt“, erwiderte er, es entsprach der Wahrheit. Ja, sie hatte ihn erschreckt, sie war auch nicht das, was er erwartet hatte, doch die Arbeit, die sie bis jetzt geleistet hatte, verriet, dass sie ein Vollblutprofi war. Er grinste. „Ihre Leidenschaft ist letzten Endes eine Art Bonus.“

Sie lehnte sich zurück und seufzte tief. Das Kreuz verschwand im Schatten ihres Dekolletés. Das Ding trieb ihn in den Wahnsinn.

„Freut mich, dass Sie das so sehen. Ich hatte Angst, dass Sie mich für melodramatisch halten.“

„Mit Drama kann ich umgehen“, log er.

„Gut. Wenn man aus einer Familie kommt, die so groß ist wie meine, lernt man ziemlich schnell, wie man sich in den Mittelpunkt stellt. Ansonsten könnte es nämlich passieren, dass man einfach übersehen wird.“

Er sah sie über den Tisch hinweg an, musterte ihre sinnliche Figur, die leuchtenden Farben, das bezaubernde Lächeln. „Ich bezweifle, dass Sie jemals übersehen werden, Rosie.“

Danach aßen sie eine Weile in einvernehmlichem Schweigen. Später, als sie nur noch an ihrem Wein nippten, besprachen sie den Ablauf des folgenden Tages.

„Ich finde, wir sollten schnorcheln gehen“, sagte Rosie.

„Um was genau zu suchen?“

„Das wissen wir, wenn wir es gefunden haben.“

Mitch hatte nicht mehr geschnorchelt, seit er ein Kind gewesen war und ihn seine Eltern in ein Sommerzeltlager auf Kauai abgeschoben hatten. Das Wasser in der Bucht war kalt, doch er erinnerte sich daran, wie unerschrocken sich Rosie in die Fluten gestürzt hatte. „Okay“, sagte er. „Wollen wir morgen Abend dann auswärts essen?“

Kurz blitzte ihr unverwechselbares Lächeln auf, doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war. „Ähm, lieber nicht. Ich habe nicht viel Gepäck dabei und fürchte, ich habe nichts Passendes zum Anziehen.“

„Das Kleid hier ist doch perfekt.“

„Aus Männersicht vielleicht. Aus Frauensicht ist es kein Restaurant-Kleid.“

„Sie könnten sich mal unten im Ort umsehen. Es gibt ein paar Läden und Boutiquen auf der Insel.“

Die meisten Frauen, die er kannte, waren sofort Feuer und Flamme, sobald es um Shopping ging, aber Rosie fixierte weiter ihren Teller.

„Ich geh nicht gerne einkaufen.“ Sie schob ihr Weinglas von sich.

Plötzlich bekam er ein ganz und gar ungutes Gefühl. Verdammt. Aus genau solchen Gründen verkomplizierte er sein Leben nicht mit Beziehungen. Sie bedeuteten einen ständigen Tanz auf dünnem Eis. Man wusste nie, wo das nächste Loch lauerte.

„Rosie? Was ist das Problem? Jetzt mal ehrlich.“

Sie trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum und wich seinem Blick aus.

„Ich bin gerade nicht so gut bei Kasse.“

Ah. Endlich mal etwas, womit er sich auskannte. Nicht, dass er jemals persönliche Erfahrungen mit finanziellen Engpässen gemacht hätte, doch wenn es um Geld ging, war er in seinem Element. „Wie schlecht ist ‚nicht so gut‘?“, fragte er.

„Der Vorschuss für diesen Job ist für meine Kreditkartenabrechnung draufgegangen. Die Bank hat mich noch nicht angerufen, um mir mitzuteilen, dass ich den Dispo überzogen habe, aber ich schätze mal, ich bin nahe dran.“

„Können Sie das nicht anhand Ihres letzten Kontoauszugs nachvollziehen?“

Sie brach in schallendes Gelächter aus. „Der war echt gut!“

„Hab ich etwas Witziges gesagt?“

Sie ließ sich gegen die Stuhllehne sinken und nippte an ihrem Wein. „Vermutlich werden Sie jetzt gleich vom Glauben abfallen, aber ich würdige meine Kontoauszüge keines Blickes.“

Sie stieß den Satz in einem Atemzug hervor und hielt ihre Serviette wie einen Schild vor sich. Im ersten Moment dachte Mitch, dass sie scherzte, doch dann begriff er, dass das nicht der Fall war. Nicht mal ansatzweise.

„Sie kontrollieren die Zahlungsein- und -ausgänge nicht?“

„Nö, tut mir leid, da muss ich passen.“

„Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen. Es ist Ihr Leben. Aber verdammt noch mal, halten Sie das nicht für ein bisschen verantwortungslos?“

„Manchmal, ja. Doch sobald ich beschließe, dass ich mich um meine Finanzen kümmern sollte, finde ich irgendeine Ausrede. Ich sage mir immer, dass ich eines Tages irgendwie wieder auf Kurs komme, bislang hat sich dieser Tag allerdings nicht blicken lassen.“

„Ich könnte Ihnen helfen“, hörte er sich sagen. Noch während er sprach, hätte er sich am liebsten in den Hintern getreten, das Angebot lohnte sich jedoch alleine schon für ihren Gesichtsausdruck.

„Tatsächlich? Ich meine, das wäre wirklich viel verlangt …“

„Nein, gar nicht, das ist kein Problem. Nach dem Abendessen zeigen Sie mir einfach alle Unterlagen, die Sie bei sich haben, wir trinken einen Port und sorgen für ein bisschen Ordnung.“

„Vermutlich brauchen Sie etwas Stärkeres als Portwein, wenn Sie den Zustand meiner Buchführung sehen.“

Er lachte. „Wie schlimm kann es schon sein?“

„Ihr Kontostand beträgt neun Cent“, sagte Mitch eine Stunde später.

Rosie faltete bedächtig die Hände auf der Tischplatte. Das war eigentlich nicht der Moment, um Mitch sexy zu finden, perverserweise tat sie es trotzdem. Mit seinem dichten Haar, das völlig zerzaust war, weil er so oft mit den Fingern hindurchgefahren war, seiner Hornbrille auf der Nasenspitze und den bis zu den Ellenbogen hochgekrempelten Hemdsärmeln sah er sündhaft gut aus. Fast hätte sie ihm verziehen, was er gerade herausgefunden hatte, nämlich dass sich ihr Wert auf ganze neun Cent belief.

„Sind Sie sich sicher?“, hakte sie vorsichtig nach.

„Ich habe alles doppelt und dreifach geprüft. Es fehlen zwar eine Menge Unterlagen, aber ausgehend von dem, was mir vorliegt, halte ich die Zahl für ziemlich realistisch.“

„Neun Cent.“ Sie trank einen Schluck Portwein. Nachdem sie die erste Flasche geleert hatten, waren sie auf einen interessanten Whidbey Island Port umgestiegen. Rosie war sich noch nicht ganz schlüssig, ob er ihr schmeckte, wenigstens half er ihr dabei, die Sache mit den neun Cent etwas besser zu verkraften. „Ich schätze, so wie meine Buchführung aussieht, hab ich nicht mehr verdient“, sagte sie und lächelte schuldbewusst. In der Vergangenheit hatte sie schon häufiger harte Zeiten durchlebt, aber sie war jedes Mal auf den Füßen gelandet. Also warum hatte sie dieses Mal plötzlich Angst? Lag es daran, dass sie hart auf die dreißig zuging und nun erwachsen war? Oder hatte es damit zu tun, dass sie so oft auf ihr Glück hatte vertrauen können, dass jetzt nicht mehr viel davon übrig sein konnte?

Mitch durchstöberte den Stapel aus Abrechnungen und Kontoauszügen, den sie ihm überreicht hatte. Als sie auf die Insel aufgebrochen war, hatte sie einfach alles in eine alte Schuhschachtel gestopft.

„Und was ist mit Ihren anderen Konten? Sind die in ähnlich schlechter Verfassung?“

Rosie konnte nicht anders, sie musste wieder lachen. „Sind Sie bereit für den nächsten Schock?“

Er nahm die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel. „Legen Sie los.“

„Ich habe keine anderen Konten. Das ist alles.“

„Sehr witzig, Frau Doktor.“ Er tippte wahllos auf den Tasten seines Taschenrechners herum.

„Das ist kein Witz, Mitch.“

Langsam schob er die Brille wieder nach oben. Eine einzelne Haarsträhne hing ihm in die Stirn wie bei einem der Beach Boys, und Rosie musste an die Songs denken, die ihre Eltern immer beim Autofahren gehört hatten, als sie noch klein war.

„Wollen Sie damit sagen, dass das hier Ihr gesamter irdischer Besitz ist?“ Er fing an, mit einem Bleistift herumzuspielen, und rollte ihn zwischen den Handflächen hin und her.

„So ziemlich, ja. Ich hatte mich am Pensionsfonds der Uni beteiligt, aber da ich dort nur zwei Jahre lang angestellt war, dürften meine Ansprüche sehr gering ausfallen. Außerdem komme ich an das Geld auch gar nicht ran, bis ich in Rente gehe. Und falls doch, müsste ich alles zurückzahlen, sobald ich jemals wieder einen Lehrauftrag ergattere, und … oh.“ Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, es war jedoch zu spät. Der Stift in Mitchs Händen zerbrach in zwei Hälften.

„Moment mal. Ich dachte, Sie sind Angestellte an der UW?“

„War ich auch. Ich habe nicht gelogen.“

„Aber jetzt sind Sie es nicht mehr?“

Sie wollte seinem Blick ausweichen, diesen leuchtend blauen Augen, seinen kontrollierten, fein gemeißelten Zügen, doch sie zwang sich, seine Frage zu beantworten. Im Lügen war sie noch nie gut gewesen, sie hatte keinerlei Talent dazu. „Ich bin weggekürzt worden. Ja, ich glaube, so haben sie es bezeichnet. Mein Department hat einfach nicht genug Zuschüsse erhalten, um Lehrkräfte wie mich weiterbezahlen zu können.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Sie sehen, es war ein Geschenk des Himmels, dass ich Miss Lovejoys Anzeige entdeckt habe. Meine Wohnung hätte ich sowieso aufgeben müssen.“

Er legte die Bleistiftstückchen weg. „Ich komme gerade nicht mehr so ganz hinterher. Sie sagen also, dass Sie neun Cent auf dem Konto, keinen Job und keine Wohnung haben?“

„Ja, das ist eine ziemlich gute Zusammenfassung“, erwiderte sie und fragte sich, ob er absichtlich so grausam war. „Nur das Auto haben Sie vergessen.“

„Oh, stimmt. Außerdem besitzen Sie ein fahruntüchtiges Auto.“

Sie glaubte gerade, einen Anflug von Sarkasmus in seiner Fassungslosigkeit wahrzunehmen, da verblüffte er sie, indem er sagte: „Und trotz allem sind Sie so ungefähr die glücklichste, ausgeglichenste Person, der ich jemals begegnet bin.“

„Mal abgesehen von meinen Finanzen, versteht sich.“

„Ja, davon mal abgesehen. Ich kapier das einfach nicht, Rosie. Warum sind Sie nicht völlig panisch?“

Sie stützte einen Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte nachdenklich das Kinn in die Hand. „Würde Panik denn etwas an meiner Situation ändern?“

„Nein, aber …“

„Also warum sollte ich panisch werden?“

Er starrte sie lange wortlos an. Sie kam sich vor wie ein besonders exotisches Tier im Zoo, eines, das er noch nie gesehen hatte. Es war offensichtlich, dass er nicht recht wusste, was er von ihr halten sollte.

„Ich glaube einfach, dass Panik in diesem Fall eine angemessene Reaktion wäre. Oder wenigstens ein gewisser Anflug von Stress.“

„Irgendetwas wird sich schon für mich ergeben, Sie werden sehen.“

„Wie können Sie in Ihrer Situation nur so ruhig bleiben?“ Er ordnete die Unterlagen und den Ordner mit den Kontoauszügen zu einem Stapel.

„Mitch, verstehen Sie doch. Ich bin die Tochter von Apfelbauern. Ich habe fünf Geschwister. Glauben Sie, dass ich magere Zeiten nicht aus meiner Kindheit kenne? Mehltau, Pilzbefall, Feuer – hatten wir alles. In manchen Jahren lief es sogar zu gut, und die Ernte fiel so üppig aus, dass der Marktpreis in den Keller sackte. Ich schätze, ich habe von klein auf gelernt, dass es nichts bringt, wegen Geld in Panik zu verfallen. Ich bin dankbar, dass ich gesund bin, dass ich studieren durfte, dass ich eine Familie und meine Hunde habe.“ Sie warf den beiden Chihuahuas, die sich auf der Häkeldecke zusammengerollt hatten, die sie vorsorglich auf dem Sofa ausgebreitet hatte, ein Lächeln zu.

„Und was, wenn der Tag kommt, an dem Sie sich kein Hundefutter mehr leisten können?“, stichelte er. „Ich weiß, dass diese Zwerge da nicht viel fressen, aber irgendetwas müssen sie essen.“

„Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“, schoss sie zurück. „Sie um eine Gehaltserhöhung anhauen?“

„Sie könnten damit anfangen, sich in Zukunft etwas mehr für Ihre Finanzen zu interessieren.“

„Richtig. Damit ich so glücklich und ausgeglichen werde wie Sie, Mitch Rutherford?“

„Was, zur Hölle, soll das denn jetzt bitte heißen?“

Sie sprang auf, verschränkte die Arme unter den Brüsten und begann auf und ab zu laufen.

„Sie haben alles Geld der Welt“, sagte sie aufgebracht. „Und wenn Sie so weitermachen, haben Sie bald auch alles Geld der kommenden Welten. Sie können sich alles kaufen, was Sie haben wollen. Überall leben, alles tun, was Sie wollen. Und was machen Sie? Sie arbeiten. Und wenn Sie mit der Arbeit fertig sind, arbeiten Sie noch ein bisschen mehr. Das ist alles, was Sie tun, Mitch. Mal ehrlich. Finden Sie wirklich, dass so ein erfülltes Leben aussieht?“

Seine Miene wurde einen Hauch finsterer, ansonsten rührte er sich nicht.

„Ich errichte Dinge. Gebe Menschen Arbeit. Ich würde nicht behaupten wollen, dass so ein verschwendetes Leben aussieht.“

„In dieser Hinsicht nicht, nein“, gab sie zu. Sie wusste, dass sie jetzt besser hätte aufhören sollen, es war jedoch zu spät. Ihr Mund war schneller als ihr gesunder Menschenverstand. „Aber es gibt noch etwas anderes, was ein Mensch braucht. Ein Innenleben.“ Sie blieb stehen, baute sich vor ihm auf und musterte ihn durchdringend. Irgendetwas an ihm brach ihr das Herz. Er hatte die gleiche hypnotisierende Wirkung wie die Sonne. War so stark wie ein Baum. Und doch spürte sie, irgendwo tief in ihm, etwas Zartes, Zerbrechliches. Etwas, das sie hegen und pflegen wollte.

Nicht er. Verlieb dich nicht in ihn. Er liegt ganz und gar daneben, und zwar mit allem.

„Wenn ich Sie ansehe, Mitch“, sagte sie, „sehe ich jemanden, der vollkommen leer ist. Ich glaube, irgendetwas fehlt Ihnen.“

„Dann sehen Sie wohl nicht sonderlich gut, mir geht es nämlich prächtig.“

„Ach, ist das so? Ich will Sie ja nicht beleidigen, doch ich muss Ihnen trotzdem sagen, dass Sie sich nicht nur mit Oberflächlichkeiten abgeben sollten.“

„Und woher wollen Sie wissen, dass ich das tue?“

„Ich … ich weiß es eben. Mir entgeht nicht, wie geschickt Sie mit Geld und Ihrem Unternehmen umgehen. Wie organisiert und effizient Sie sind. Aber wenn Sie auf den heutigen Tag zurückblicken, welcher Moment war für Sie am wichtigsten?“ Sie hob eine Hand, um ihn vom Sprechen abzuhalten. „Denken Sie nicht über die Antwort nach. Sagen Sie mir einfach, welcher Augenblick der wichtigste war.“

„Der, in dem ich Sie im Arm gehalten habe“, platzte er heraus.

8. KAPITEL

Mitch konnte nicht glauben, dass er das gerade wirklich gesagt hatte.

Rosie offensichtlich auch nicht, denn ihre Wangen überzog auf einmal das hübscheste Rot, das er jemals gesehen hatte.

„Das war nicht die Antwort, die ich erwartet habe.“

Er beeilte sich, seinen Ausrutscher zu überspielen. „Sie müssen zugeben“, sagte er lachend, „dass Sie viel weniger Angst einflößend sind als ein Killerwal.“

„Na, da bin ich aber erleichtert“, erwiderte sie. „Ich hatte mir deswegen nämlich schon Sorgen gemacht.“

„Immerhin geben Sie endlich zu, dass Sie sich manchmal doch Sorgen machen.“

Sie faltete die Hände. „Mitch, was ich gerade gesagt habe, tut mir leid. Das war wirklich unangebracht. Ich bin überhaupt nicht in der Position, Ihre Lebensentscheidungen zu kritisieren. Das ist eine meiner schlechtesten Angewohnheiten, und ich befürchte, dass ich mit meiner Einschätzung auch noch völlig danebenlag.“ Zögernd nahm sie wieder am langen Tisch aus Ahornholz Platz. „Und? War es so?“

„War was wie?“

„Lag ich daneben? Wer weiß, vielleicht haben Sie ja ein Häuschen in der Vorstadt, sind Diakon in der Kirche und leisten jede Woche ehrenamtliche Arbeit.“

„Und was, wenn ich sage, dass das tatsächlich alles zutrifft?“

Sie lächelte schelmisch. Mittlerweile gefiel ihm ihr Lächeln viel zu gut.

„Tut es das denn?“

„Nein.“

„Hm, wieso nur habe ich mir das schon gedacht?“

„Glauben Sie, das sind Dinge, die ich mir wünschen sollte?“

„Vielleicht nicht genau in dieser Form. Aber ein Mensch braucht Kontakt zu anderen Menschen. Und zwar nicht nur Geschäftskontakte.“

„Wofür?“

„Weil man sonst nicht … ansonsten ist man nicht mehr als Ihr Computer da.“ Sie wies auf das schlanke Thinkpad auf dem Tisch.

„Mein Computer ist außerordentlich glücklich.“

„Mitch …“

„Okay, okay, ich weiß ja, was Sie meinen. Aber ich habe Sie beauftragt, um eine Umweltstudie durchzuführen, und nicht, um mich zu therapieren.“

„Tja, genau deswegen sind wir hier.“ Sie wies auf den Unterlagenstapel. „Und was machen Sie? Frühjahrsputz in meiner Buchhaltung, um den ich nicht gebeten habe.“

„Dann sind wir ja quitt. Wir haben uns beide in Angelegenheiten eingemischt, die uns nichts angehen.“ Er schnappte sich einen neuen Bleistift. „Tun Sie mir einen Gefallen, Rosie. Lassen Sie sich von mir ein paar Tricks zeigen, wie Sie geschickter mit Ihrem Geld umgehen. Es ist wirklich keine Zauberei und Sie werden sich dadurch auf lange Sicht besser fühlen.“

Autor

Dorien Kelly
Als sie akzeptiert hatte, dass sie niemals ein Jockey sein würde, entschied Dorien sich für eine Karriere als Autorin, als sie erwachsen war. Sie behielt diese Überzeugung während der High School und dem College. Ein Bachelor – Abschluss in Englisch bestätigte sie darin. Nach dem College fand Doreen einen Job...
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