Verbotene Früchte

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Sie lernen sich in einer Welt kennen, in der religiöser Wahn und ein grausamer Mord jedes zärtliche Gefühl verbieten. Doch die Macht der Liebe ist stärker ... Wehrlos ist Glory St. Germaine ihrer Mutter ausgeliefert, die in dem dunklen Glauben gefangen ist, ihre Tochter sei vom "Bösen", dem Drang nach hemmungsloser sexueller Ausschweifung besessen. Als sie entdeckt, dass Glory sich in Victor Santos verliebt hat, der als Sohn einer Prostituierten das Leben in New Orleans von seiner härtesten Seite kennt, wird ihr Hass grenzenlos. Über Jahre zerstört sie alles, was mit Glorys zärtlichen Gefühlen zu tun hat, und schließlich erreicht sie ihr Ziel: Glory wird eine eiskalte Geschäftsfrau, scheinbar unfähig, Glück zu empfinden. Doch dann begegnet sie Victor wieder ...


  • Erscheinungstag 19.09.2002
  • ISBN / Artikelnummer 9783862783663
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Vacherie, Louisiana, 1959

Hope Pierron saß auf dem Fenstersitz ihres Schlafzimmers in der zweiten Etage und blickte auf den Mississippi hinab. Begierige Erwartung und Aufregung beherrschte sie mit eiserner Disziplin. Ihr ganzes Leben hatte sie auf diesen Tag gewartet. Sie würde sich jetzt nicht verraten, indem sie zu viel Eifer zeigte.

Sie presste eine Hand gegen das sonnenwarme Glas und wünschte, es zerbrechen und hinausfliegen zu können in die Freiheit. Oft hatte sie sich in ihren vierzehn Jahren, die sie gefangen in den roten Mauern dieses Hauses verbracht hatte, danach gesehnt, wie ein Vogel davonzufliegen. Ab heute brauchte sie sich keine Flügel mehr zu wünschen. Ab heute war sie befreit von diesem Haus und dem Stigma der Sünde. Befreit von ihrer Mutter und allen, die sie kannte.

Heute wurde sie neu geboren.

Hope schloss die Augen, um an ihre Zukunft zu denken. Stattdessen sah sie ihre Vergangenheit und das verhasste Haus. Das Pierron-Haus lag an der River Road und war seit dem Sommer 1917 eine Institution des südlichen Louisiana. Damals war ihre Großmutter Camellia, die erste der Pierron-Frauen, die ein Bordell betrieben, mit ihrer Tochter und ihren Mädchen hierher gezogen. Erstaunlicherweise hatte es weder Empörung noch Aufruhr darüber gegeben. Auch später nicht, als die Gentlemen regelmäßige Gäste wurden. All die Jahre waren das Haus und die Aktivitäten darin akzeptiert worden wie die Hitze und die Moskitos im August – mit resignativer Bestürzung und zuckersüßer Verachtung.

Das war zu erwarten gewesen, schließlich befanden sie sich in Louisiana, wo Essen, Trinken und andere sinnliche Genüsse ebenso zum Alltagsleben gehörten wie die Messe und die Beichte. Die Menschen hier akzeptierten ihre Buße mit ebenso viel joie de vivre wie ihre Vergnügungen. Und irgendwie begriffen sie wohl, dass das Pierron-Haus beides repräsentierte.

Das Gebäude selbst, ein neoklassizistischer Bau mit achtundzwanzig beeindruckenden dorischen Säulen und ausladenden umlaufenden Galerien, war ein architektonisches Meisterwerk. In der Nachmittagssonne strahlte es ironischerweise in jungfräulichem, fast heiligem Weiß. Nach Sonnenuntergang endete die Illusion der Heiligkeit jedoch. Das Haus erwachte zum Leben. Musik erklang, und von den Wänden hallte das Gelächter jener, die gekommen waren, verbotene Früchte zu kosten, und derer, die sie verkauften.

Jeden Abend ihres Lebens hatte Hope dieses Gelächter hören müssen und gesehen, wie die Mädchen ihrer Mutter mit den Männern die geschwungene, mit sinnlich weichem, blutrotem Teppich belegte Treppe zu den sechs Schlafräumen in der ersten Etage hinaufgegangen waren, die man üppig mit Seide, Brokat und großen weichen Betten ausgestattet hatte.

Betten, in denen Männer sich wie Könige oder in besonders guten Nächten wie Götter fühlen sollten.

Zeit ihres Lebens hatte Hope gewusst, was in diesen Zimmern vor sich ging. So wie sie immer gewusst hatte, wer und was sie war – das Hurenkind, der Balg einer Nutte und ihres Freiers, beschmutzt von Sünde.

Von geheimen Plätzen und durch kleine, versteckte Gucklöcher hatte sie mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen beobachtet, was Männer und Frauen miteinander trieben. Und manchmal, während sich ein Paar auf dem Bett wand, hatte sie sich vor und zurück gewiegt, die Beine fest zusammengepresst, flach und unregelmäßig atmend.

In solchen Momenten hatte das Böse sie fest im Griff gehabt und nach sündiger Erlösung verlangt.

Danach hatte sie sich schuldbeladen und beschämt stets bestraft. Dass sie sich selbst berührte, dass sie diese Dinge mit ansah, war falsch. Sündhaft. Sie hatte aus dem Katechismus und in der Messe von ihrer Sünde erfahren. In der Kirche saß sie immer allein, weil sie von anderen Kindern geschnitten wurde, was innerhalb und außerhalb der Kirchenmauern besonders jene Männer förderten, die nachts in ihrem River-Road-Haus lachten und bei Tag den Blick abwandten.

Als die Treppe zu ihrer Etage knarrte, wandte Hope sich vom Fenster ab und der Tür zu. Einen Augenblick später erschien ihre Mutter.

Lily Pierron war eine unglaubliche Schönheit, wie es alle Pierron-Frauen gewesen waren. Gesicht und Figur schienen über die Jahre nicht gealtert zu sein, und ihr Haar war noch so samtig blauschwarz wie in Hopes Kindheit. Die anderen Huren redeten hinter ihrem Rücken darüber, Hope hatte sie tuscheln hören. Sie spekulierten, dass Lily einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe wie alle Pierron-Frauen.

Alle, außer Hope. Hope war nicht annähernd so schön wie ihre Mutter. Ihre Haare waren tiefbraun anstatt schwarz, ihre Augen blass anstatt strahlend blau, und ihre Gesichtszüge scharf anstatt weich.

Sie war nicht so schön, weil die Sünde in ihr nicht so stark war.

„Hallo, Mama“, raunte Hope und setzte ein bittersüßes Lächeln auf.

Ihre Mutter erwiderte es melancholisch und kam einen Schritt näher. „Du siehst sehr erwachsen aus, wie du so dastehst. Einen Moment hätte ich dich fast nicht erkannt.“

Hopes Herz schlug heftig. „Ich bin es aber, Mama.“

Ihre Mutter lachte leise: „Ich weiß. Mir kommt es jedoch vor, als wärst du gestern noch ein Baby gewesen.“

Und eine Ewigkeit eine Gefangene dieses Hauses „Mir auch, Mama.“

Lily ging zum Koffer, der geöffnet auf dem Bett lag. Hope merkte, wie viel Anstrengung es ihre Mutter kostete, nicht in Tränen auszubrechen. Und sie fragte sich, ob ihre Mutter merkte, dass ihre Augen trocken und Hände und Stimme ruhig waren. Was Lily wohl sagen würde, wenn sie die Wahrheit erführe: dass ihre einzige Tochter sie nie wieder sehen wollte.

„Ist das der Letzte?“ fragte ihre Mutter. „Der Wagen wird jede Minute hier sein.“

„Ja, die anderen habe ich schon nach unten gebracht.“

Lily legte sorgfältig die letzten Dinge in den Koffer, klappte ihn zu und sicherte die Verschlüsse. „Das wär’s.“ Sie richtete die tränenfeuchten Augen auf Hope. „Alles fertig zur … Abreise.“ Ihre Stimme brach, und das letzte Wort kam halb erstickt heraus.

Hope zwang sich, zu ihrer Mutter zu gehen. Sie nahm ihre Hand und legte sie sich an die Wange. „Es wird alles gut, Mama. Memphis ist nicht sehr weit weg.“

„Ich weiß. Es ist nur …“ Lily holte zittrig Atem. „Was soll ich nur ohne dich machen? Du bist das Beste … das einzig Gute in meinem Leben. Du wirst mir schrecklich fehlen.“

Hope legte die Arme um ihre Mutter, barg das Gesicht an ihrer Schulter und unterdrückte ein Lächeln. „Du wirst mir auch fehlen. Sehr sogar. Vielleicht sollte ich nicht fortgehen. Vielleicht sollte ich bleiben und helfen …“

„Nein! Niemals!“ Lily nahm Hopes Gesicht zwischen beide Hände. „Du wirst nicht enden wie ich. Das lasse ich nicht zu, hörst du? Dies ist deine Chance zu entkommen. Das habe ich mir immer für dich gewünscht. Deshalb habe ich dich Hope genannt, Hoffnung.“ Sie griff fester zu. „Du warst immer meine Hoffnung für die Zukunft. Du darfst nicht bleiben.“

Diesmal konnte Hope ihr Lächeln nicht zurückhalten. „Du wirst stolz auf mich werden, Mama. Warte es nur ab.“

„Ich weiß.“ Lily ließ die Hände sinken. „Alles fertig. St.-Marys-Academy erwartet dich. Du bist aus Meridian, Mississippi, das einzige Kind wohlhabender Eltern.“

„Die im Ausland reisen“, fügte Hope hinzu. Plötzlich nervös, verschränkte sie die Finger ineinander. „Und wenn jemand die Wahrheit entdeckt? Wenn eine meiner Mitschülerinnen aus Meridian stammt? Was dann?“

„Niemand wird die Wahrheit herausfinden. Mein Freund hat an alles gedacht. Es geht kein anderes Mädchen aus Mississippi auf die Akademie. Sogar die Schulleiterin hält dich für Hope Penelope Perkins. Niemand wird deine Geschichte anzweifeln. Fühlst du dich jetzt besser?“

Hope nickte. Sie wusste, dass der „Freund“ ihrer Mutter niemand anderer war als der Gouverneur von Tennessee. Er kannte ihre Mutter schon ewig lange, und Lily kannte viele – wenn nicht gar alle – seiner finsteren Geheimnisse. Geheimnisse, die sie mit ins Grab nehmen würde. Natürlich verlangte so viel Loyalität manchmal nach Gegenleistungen – in Form von Gefälligkeiten.

Ein Hupton zerschnitt die Stille des feuchtwarmen Nachmittags. Hope lief in freudigem Schrecken ans Fenster. Zwei Stockwerke unter ihr stand der Shuttledienst vom Flughafen in der Einfahrt, und Tom, der Hauswart, half dem Fahrer, ihre Koffer einzuladen.

Lily folgte ihr ans Fenster. „Großer Gott, es ist schon Zeit.“ Sie legte Hope die Hände auf die Schultern und presste die Wange an ihr Haar. „Ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll.“

Hope atmete tief durch, und ihr Herz wollte zerspringen vor Freude. Fast frei. Nur noch ein paar Minuten, und ich sehe Mutter und dieses verhasste Haus nie wieder. Sie hatte Mühe, nicht laut loszulachen.

Seufzend ließ Lily die Hände sinken und trat einen Schritt zurück. „Wir gehen besser.“

„Ja, Mama.“ Hope nahm den Koffer und stieg mit Lily die Treppe hinab. Die Mädchen ihrer Mutter erwarteten sie im Foyer. Alle umarmten und küssten Hope, wünschten ihr alles Gute und nahmen ihr das Versprechen ab, zu schreiben.

Die Jüngste aus der Gruppe, ein Mädchen nicht viel älter als Hope, reichte ihr einen Apfel, prall, rot und reif. „Falls du hungrig wirst“, flüsterte sie, und ihre Augen schwammen in Tränen.

Hope nahm das Geschenk an, obwohl die Frucht ihr wie Säure in der Handfläche brannte. Sie hätte den Apfel gern weggeschleudert und wäre davongelaufen, doch sie zwang sich, der kleinen Hure lächelnd in die Augen zu sehen. „Danke, Georgie. Nett von dir, an mich zu denken.“

Hope trat nach draußen, ihre Mutter ging neben ihr. Die schwache, heiße, jedoch klare Brise vom Fluss schien sie vom Gestank des Hauses und seiner Geschichte – ihrer Geschichte – zu reinigen.

Lily zog Hope in die Arme und klammerte sich an sie. „Mein liebes, liebes Baby. Ich werde dich furchtbar vermissen.“

Hope bekämpfte den Drang, sich loszureißen und zum Wagen zu rennen. Sie gestattete ihrer Mutter, sie ein letztes Mal zu küssen, und schwor sich, diese abstoßende Berührung nie wieder zuzulassen.

Die Berührung der Sünde.

Der Fahrer räusperte sich. Hope dankte ihm im Stillen für die Mahnung zur Eile und löste sich von ihrer Mutter. „Ich muss jetzt los, Mama.“

„Ich weiß.“ Lily schlang die Arme um sich und kämpfte mit den Tränen. „Ruf an, wenn du da bist.“

„Mach ich“, log Hope. „Ich verspreche es.“

Sie ging auf den Wagen zu und zählte die Schritte. Mit jedem schien ein Stück ihrer Vergangenheit von ihr abzufallen wie Lagen erstickender Kleidung aus feuchter, verrottender Wolle.

Der Fahrer öffnete die Tür. Sie wollte einsteigen, verharrte jedoch und blickte über die Schulter zurück auf das Haus, auf ihre Mutter, die in seinem Schatten stand, und die im Eingang versammelten Huren. Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen, zufriedenen Lächeln.

Heute war sie neu geboren worden als Hope Penelope Perkins. Heute ließ sie das Böse hinter sich.

Sie ließ den Apfel aus der Hand gleiten, wandte sich ab und stieg in den Wagen.

TEIL 1

Hope

 

1. KAPITEL

New Orleans, Louisiana, 1967

Blumenduft hing in der Luft, geradezu überwältigend in seiner Süße. Eigenartig vermischt mit dem Geruch der Entbindungsstation, entstand ein neuer, sowohl angenehmer wie abstoßender Duft. Stündlich kamen neue Sträuße an, begeisterte Gaben, um die Geburt des ersten Kindes von Philip St. Germaine III. zu feiern.

Die Aufregung war verständlich. Schließlich würde dieses Kind das Familienvermögen und die gesellschaftliche Position erben und nicht zuletzt das altehrwürdige St. Charles, das kleine Luxushotel, das 1908 vom ersten Philip St. Germaine gebaut worden war.

Für dieses Kind war nichts zu viel.

Hope blickte auf das Neugeborene in der Korbwiege neben ihrem Bett. Bittere Enttäuschung und Verzweiflung beherrschten sie. Sie hatte um einen Sohn gebetet. Sie hatte den Rosenkranz gebetet, und sie hatte Buße getan. Sie war so überzeugt gewesen, einen Sohn zu bekommen, dass sie sich schlicht geweigert hatte, sich einen Mädchennamen auszudenken.

Ihre Gebete waren nicht erhört worden, sie war verflucht.

Ich habe eine Tochter bekommen, keinen Sohn. Genau wie ihre Mutter und Großmutter und alle Pierron-Frauen vor ihr über die Generationen hinweg.

Hope atmete tief durch, und bittere Galle stieg ihr hoch. Sie war dem Pierron-Erbe letztlich nicht entronnen, obwohl sie sich eine Weile eingeredet hatte, sie hätte es geschafft. In den acht Jahren, seit sie das Haus an der River Road verlassen hatte, war jeder ihrer Pläne erfolgreich gewesen. Sie hatte ihre Mutter und damit das Stigma des Hurenkindes hinter sich gelassen und Philip St. Germaine III., einen wohlhabenden Mann aus tadelloser, prominenter Familie, geheiratet. Heute gehörte sie zu den ersten Damen der Gesellschaft von New Orleans.

Sie erkannte jedoch, dass sie ihre Vergangenheit zwar hinter sich lassen, ihr aber nicht entrinnen konnte. Der Fluch der Pierrons war ihr gefolgt.

Das Baby war bereits eine Schönheit mit heller Haut, lebhaften blauen Augen und samtig dunklem Haar. Wie alle Pierron-Frauen würde sie die Männer bezaubern, gar versklaven können. Auch sie würde das große, hässliche Böse in sich tragen, das ein Leben in Sünde und ewige Verdammnis nach dem Tode bedeutete.

Hope schauderte. Trug nicht auch sie dieses Böse in sich. Brach es nicht manchmal durch, obwohl sie heftig dagegen ankämpfte?

Philip kam herein, ein glückseliges Lächeln im Gesicht, die Arme beladen mit einem riesigen Bouquet rosa Rosen. „Mein Liebling. Sie ist wunderschön, einfach perfekt.“ Das Floristenpapier knisterte, als er das Bouquet aufs Bett legte. Er beugte sich hinunter und drückte Hope vorsichtig einen Kuss auf die Stirn, um sein schlafendes Kind nicht zu wecken. „Ich bin so stolz auf dich.“

Hope wandte das Gesicht ab, um ihre wahren Gefühle und die Tiefe ihrer Verzweiflung und Ablehnung zu verbergen.

Er setzte sich auf die Bettkante. „Was ist? Hope, Darling …“ Er drehte ihr Gesicht zu sich her und betrachtete es besorgt. „Ich weiß, dass du dir einen Sohn für mich gewünscht hast, aber das ist egal. Unsere Kleine ist das perfekteste Baby, das je geboren wurde.“

Tränen brannten ihr in den Augen, und sie blinzelte sie fort. Trotzdem rann ihr eine über die Wange.

„Liebes, bitte nicht weinen.“ Philip zog sie an seine Brust. „Es macht wirklich nichts. Verstehst du das denn nicht? Außerdem werden wir weitere Kinder haben. Viele.“

Ihre Qual wurde unerträglich. Hope wusste etwas, das ihr Mann nicht wusste. Sie würden keine weiteren Kinder haben. Genau wie ihre Vorfahrinnen war sie unfähig, ein zweites Kind auszutragen. Das war Teil des Fluches der Pierron-Frauen. Ihnen wurde nur ein Kind gewährt und immer eine Tochter. Der vermachten sie „das Haus“ und das Erbe der Sünde.

Er kann das nicht wissen. Sie schluckte, presste ihr Gesicht an seine Schulter und sog den Regengeruch ein, der seinem Jackett anhaftete. Er war angenehmer als der schwüle Duft im Zimmer. Niemand kann es wissen.

„Ich wünschte nur“, flüsterte sie und bemühte sich, die richtige Mischung aus Trauer und Sehnsucht im Ton zu treffen, „dass meine Eltern es noch erlebt hätten, sie zu sehen. Es ist so unfair. Manchmal schmerzt es so … ich kann es fast nicht ertragen.“

„Ich weiß, Darling.“ Minutenlang wiegte er sie an seiner Brust, dann gab er sie langsam frei und lächelte sie an. „Ich habe etwas für dich.“ Er zog ein Schmuckkästchen aus der Jacketttasche. Auf dem mitternachtsblauen Lederkästchen war der Name des besten Juweliers von New Orleans eingraviert.

Hope öffnete es mit zitternder Hand. Auf weißem Samt lag eine Reihe makelloser Perlen. „O Philip!“ Sie nahm die Kette und hielt sie sich an die Wange. Die Perlen waren kühl und glatt. „Sie sind wunderschön.“

Sein Lächeln verstärkte sich, als er auf das Baby hinabblickte, das sich zu regen begann. „Sie werden eines Tages ihr gehören. Ich hielt es für angemessen.“

Hopes Freude an dem Geschenk war dahin, und sie legte die Kette ins Kästchen zurück. Er verehrt seine Tochter bereits, dachte sie und folgte seinem Blick. Er war bereits verhext, umgarnt vom Bösen, und der Narr merkte es nicht mal.

„Sie hat im Schwesternzimmer für eine Sensation gesorgt“, fuhr er fort, ohne den Blick von der Wiege zu wenden. „Die Schwestern aus allen Etagen haben von ihrer Schönheit gehört und sie sich angesehen. Es gab einen Stau hinter der Fensterscheibe.“ Er wandte sich wieder seiner Frau zu, bedeckte ihre Hand mit seiner und drückte sie. „Ich bin der glücklichste Mann der Welt.“

Das Baby regte sich, wimmerte und begann zu weinen. Hope wich erschrocken in die Kissen zurück. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, ertrug jedoch die Vorstellung nicht, das Kind an ihre Brust zu legen.

Das Weinen des Babys, zuerst nur ein leises, Mitleid erregendes Maulen, wurde zur schrillen, zornigen Forderung.

Philip runzelte verwirrt die Stirn. „Hope, Darling … sie hat Hunger. Du musst sie stillen.“

Hope schüttelte den Kopf und drückte sich tiefer in die Kissen. Zu ihrem Entsetzen begannen ihre geschwollenen, schmerzenden Brüste Milch abzusondern. Der Kopf des Babys rötete sich, je wütender sein Wehgeschrei wurde. Das Gesicht verzerrte sich hässlich und beängstigend. Hope kannte das aus ihren Albträumen.

Das Böse. Lieber Gott, es ist mächtig in diesem Kind.

Philip drückte Hope die Hand. „Darling … sie braucht dich. Du musst sie stillen.“

Als Hope keine Anstalten traf, nahm Philip seine Tochter auf. Er wiegte sie ungeschickt, doch ihr Schreien hörte nicht auf. Er hielt Hope das Kind hin. „Du musst.“

Hope sah sich im Zimmer um und suchte verzweifelt nach einem Fluchtweg. Wohin sie auch blickte, entdeckte sie nur das Böse, das sie erinnerte, wie töricht sie gewesen war.

Ich bin dem Erbe der Pierrons nicht entronnen und werde ihm nie entrinnen.

Gefangen, dachte sie voller Hoffnungslosigkeit. Sie war gefangen wie in all den Jahren ihrer Kindheit.

„Ich kann nicht“, sagte sie hysterisch. „Ich will nicht.“

„Darling …“

„Mrs St. Germaine?“ Eine Schwester eilte herbei. „Was ist los?“

„Sie will sie nicht stillen“, erklärte Philip und wandte sich der Schwester zu. „Sie nimmt sie mir nicht ab. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“

„Mrs St. Germaine“, sagte die Schwester in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Ihre Tochter ist hungrig. Sie müssen sie stillen. Das Schreien hört auf, sobald …“

„Nein!“ Hope zog sich die Bettdecke unters Kinn und verkrampfte die Finger im Stoff, bis sie taub wurden. Panik ergriff sie, dass sie bebte. „Ich kann nicht.“ Sie wandte sich ihrem Mann zu, und Tränen rannen ihr übers Gesicht. „Bitte, Philip, zwing mich nicht dazu. Ich kann nicht. Ich will nicht …“

Er starrte sie an, als wären ihr Hörner gewachsen. „Hope? Was ist los? Liebes, das ist unser Kind, unser Baby. Sie braucht dich.“

„Du verstehst das nicht … du hast …“ Das Letzte ging in einem Schluchzer unter, und sie drückte ihr Gesicht ins Kissen. „Geh … weg. Bitte lass mich einfach allein.“

 

2. KAPITEL

Philip August St. Germaine III. hatte ein idyllisches Leben gehabt, eines, um das ihn seine Mitmenschen beneideten. Er hatte die richtige Familie, besaß alles, was wertvoll und wichtig war, er war gesund, athletisch und gut aussehend. Die Schule hatte er mit Leichtigkeit geschafft, teils durch angeborene Intelligenz, teils durch gute Erziehung und geschliffenen Charme.

In Wahrheit hatte Philip sich nie etwas erarbeiten müssen, weder Schulabschlüsse noch die Zuneigung von Mädchen oder seinen Lebensunterhalt. Alles war ihm nicht nur auf einem Silbertablett serviert worden – wobei das St. Charles das Kronjuwel auf einem Tablett glitzernder Edelsteine war –, sondern auch noch mit einem bewundernden Lächeln. Für Philip flossen die Jahre mühelos dahin.

Weit davon entfernt, es als Manko zu empfinden, dass er sich um nichts bemühen musste, akzeptierte er dankbar, was ihm zustand, und hielt es für sein wunderbares Schicksal. Dabei vergaß er nie die Armen, die sich abmühten und litten. Er spendete – und zwar üppig – an die Kirche als Dank für sein eigenes Los und als Versicherungspolice gegen Schuldgefühle.

Genau genommen hatte Philip August St. Germaine III. bis vor sechsunddreißig Stunden mit verzeihlicher Arroganz geglaubt, dass ihm nie etwas Hässliches oder gar ein Unglück widerfahren könne.

Als er jetzt an der Scheibe der Entbindungsstation eine Fremde sein Baby füttern sah, seine schöne, perfekte Tochter, verspottete diese Arroganz ihn. Er fühlte sein idyllisches Leben auseinander brechen.

Die letzten anderthalb Tage waren ein Albtraum gewesen, aus dem er nicht erwachen konnte. Die normalerweise sanfte, liebevolle Frau, die er verehrte, hatte sich in eine beängstigende Person verwandelt, die er nicht wieder erkannte.

Er legte eine Hand an den vor Stress und Schlafmangel schmerzenden Kopf. Nicht nur, dass Hope ihn verflucht und mit Worten belegt hatte, von denen er nicht annehmen konnte, dass sie sie kannte. Nicht nur, dass sie gesagt hatte, sie hasse ihn, als er sie lediglich sanft drängte, einen Namen für das Kind auszusuchen.

Nein. Es war vor allem ihr Blick gewesen – ein fast wahnsinniges Leuchten in den Augen –, der ihn erschreckt hatte. Als sie ihn so ansah, hatte er tief im Innern gespürt, dass das ihm vertraute Leben vorüber war.

Philip schob die Hände in die Hosentaschen und betrachtete seine Tochter, die gierig an einer Flasche nuckelte. Er konnte nicht verstehen, warum Hope sie mit solchem Entsetzen betrachtete, warum sie davor zurückschreckte, sie zu berühren. Er presste die Handballen auf die brennenden Augen. Was sah Hope, wenn sie ihre zauberhafte Tochter betrachtete, was er nicht sah?

Wenn er es nur verstehen könnte. Wenn er nur begreifen könnte, was in ihrem Kopf vorging, vielleicht könnte er ihr dann helfen. Und vielleicht würde seine Welt dann nicht weiter aus den Fugen geraten.

Ihr absonderliches Verhalten war aus heiterem Himmel gekommen. Sie hatte sich auf die Geburt ihres ersten Kindes gefreut. Ihre Schwangerschaft war problemlos verlaufen. Weder hatte sie unter morgendlicher Übelkeit gelitten noch unter Stimmungsschwankungen. Sie hatten über alles geredet, was dieses Kind tun und sein würde. Abgesehen von ihrer Überzeugung, einen Jungen zu bekommen, war ihre Einstellung zur Mutterschaft völlig normal gewesen.

Und jetzt das. Angst ließ ihn frösteln. Was sollte er tun, falls er sie verlor? Wenn es die Frau, die er kannte und verzweifelt liebte, nicht mehr gab? Wie sollte er weiterleben? Er liebte sie bis zum Wahnsinn, so war es immer gewesen.

Die Kinderschwester beendete das Füttern, ließ das Baby aufstoßen und legte es in die Krippe. Philip sah zu, doch vor seinem geistigen Auge erschien Hope, wie er sie in jener Nacht gesehen hatte, als sie sich kennen lernten. Er war geschäftlich in Memphis gewesen. Freunde hatten sie einander vorgestellt. Sie hatte gelacht, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und ihr langes, seidiges Haar war weich gegen ihre Wange gefallen. Es hatte ihn gereizt, es zu berühren, eine Strähne an seine Lippen zu bringen, um Beschaffenheit und Geschmack zu testen. Er erinnerte sich genau an den Rosaton ihres Lippenstiftes und daran, wie sie amüsiert die Lippen geschürzt hatte. Und er erinnerte sich, dass es ihn schon erregt hatte, ihr nur beim Sprechen zuzusehen.

Sie hatte sich ihm zugewandt und ihm in die Augen gesehen. Er hatte gespürt, dass sie genau wusste, was in ihm vorging, und dass es sie freute. In dem Moment hatte er sich irrsinnig in sie verliebt. So einfach und so kompliziert war das.

In jener Nacht und für den Rest seiner Geschäftsreise waren sie unzertrennlich gewesen. Er hatte ihr alles über sich erzählt, und sie hatte ihm aus ihrem Leben berichtet. Die tragische Geschichte vom Unfalltod ihrer Eltern auf einer Italienreise und wie sie im Alter von siebzehn Jahren völlig auf sich allein gestellt gewesen war, hatte ihn tief bewegt. Er hatte sie vor der rauen Welt und den unerfreulichen Dingen des Lebens schützen und sie in seinen Bannkreis ziehen wollen.

Wenn er ein unvorsichtiger Mann gewesen wäre, hätte er ihr auf der Stelle einen Antrag gemacht. So wartete er sechs quälende Wochen lang.

Familie und Freunde hatten ihn für verrückt erklärt, bis sie sie kennen lernten. Dann erlagen auch sie ihrem süßen Zauber. Sogar seine anspruchsvollen, ewig kritischen Eltern hielten sie für die ideale Wahl.

Nicht, dass ihm ihre Meinung wichtig gewesen wäre. Er hatte sich darauf vorbereitet, ihnen zu trotzen und für Hope notfalls alles aufzugeben.

Ihre Hochzeitsnacht war eine Erfahrung jenseits seiner Vorstellung gewesen. Hope hatte Unglaubliches mit seinem Körper angestellt, und das mit einer so süßen, zaghaften Unschuld, dass es ihm vorgekommen war, als defloriere er eine Jungfrau. Selbst heute noch, da er nüchterner war und sein Leben gerade problematisch wurde, erregte ihn die Erinnerung an jene Nacht augenblicklich.

Manchmal war ihm gewesen, als lebe er nur von Nacht zu Nacht, von einem Beischlaf zum nächsten. Wenn Hope nicht konnte – oder wollte –, war das eine nie erlebte Qual für ihn gewesen. Keine Frau vor ihr hatte ihn so gefesselt. Er fürchtete, ohne Hope höre sein Herz auf zu schlagen.

„Da sind Sie.“ Hopes Arzt kam herbei und stellte sich neben ihn. Harland LeBlanc hatte schon viele St.-Germaine-Babys auf die Welt gebracht. Er war fast sechzig, sah aber zehn Jahre jünger aus. Er galt als bester Gynäkologe in New Orleans, und es tröstete Philip, zu wissen, dass Hope die bestmögliche Betreuung erhielt.

Der Arzt deutete ins Babyzimmer. „Sie haben eine schöne Tochter, Philip. Ich glaube, nie ein hübscheres Baby gesehen zu haben.“

Philip sah den Arzt kurz an und richtete seinen Blick dann wieder durch die Scheibe. „Und doch kann Hope es nicht ertragen, sie anzusehen, geschweige denn, sie zu halten. Sie will sich nicht mal einen Namen für sie ausdenken.“

„Ich weiß, es war schwer, aber …“

„Schwer?“ wiederholte Philip bissig. „Sie verstehen wohl nicht ganz, Harland. Wie sollten Sie auch? Sie waren heute Morgen nicht dabei, als Hope mich verfluchte. Als sie mir sagte, sie hasse mich, nur weil ich einen Namen für unsere Tochter aussuchen wollte.“ Bewegt schöpfte er Atem. „Wie sie mich angesehen hat, war … unheimlich. Ich hätte nie geglaubt, dass meine Frau zu solchen Blicken fähig ist.“

Der Arzt legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter. „Glauben Sie es oder nicht, ich verstehe, was Sie durchmachen. Ich habe solches Verhalten schon früher erlebt, und es geht vorbei. Es wird alles gut werden, Philip.“

„Sind Sie sich dessen so sicher?“ Philip wischte sich mit einer Hand über die Stirn. „Was, wenn es nicht vorübergeht? Ich könnte es nicht ertragen, sie zu verlieren. Sie bedeutet mir alles, sie ist …“ Er räusperte sich, um den Kloß im Hals loszuwerden, und kam sich bloßgestellt und töricht vor.

Er blickte wieder in das Babyzimmer auf seine schlafende Tochter. „Ich liebe meine Frau, Harland. Manchmal denke ich, zu sehr.“

Der Arzt drückte ihm tröstend die Schulter und ließ die Hand sinken. „Was Hope gerade durchmacht, ist nicht so ungewöhnlich, wie Sie glauben. Erstaunlich viele Frauen erleiden nach der Geburt eine Depression. Manchmal ist sie so stark und ausgeprägt, dass sie ihre Familien verlassen. Oder Schlimmeres.“

Philip sah den Arzt wieder an und zog wegen dessen ernster Miene fragend eine Braue hoch. „Schlimmer, Harland?“

„Frauen, die in tiefer Depression gefangen waren, haben schon ihr Neugeborenes umgebracht, Philip. So entsetzlich und abartig das scheinen mag.“

Philip erwiderte ungläubig und schockiert: „Sie wollen doch sicher nicht andeuten, dass Hope … dass sie unser Kind töten könnte?“

„Natürlich nicht“, versicherte Harland rasch. „Aber ich denke, wir sollten sie noch einige Tage hier behalten. Wir müssen sie beobachten. Nur um ganz sicher zu sein.“

Großer Gott. Um sicher zu sein? Wessen?

Angst nahm Philip fast den Atem und raubte ihm den Rest seines Seelenfriedens. Harland LeBlanc, eine Koryphäe auf seinem Gebiet und als Arzt mit allen menschlichen Verhaltensweisen vertraut, war offensichtlich besorgt. Besorgter, als er sich eingestehen wollte.

Philip atmete tief ein, um ruhiger zu werden. Harland kannte Hope nicht so, wie er sie kannte, ihr Ehemann. Was sie brauchte, war Rückkehr zur Normalität. Sie musste von vertrauten Dingen umgeben sein und von fürsorglichen Menschen.

„Halten Sie das wirklich für nötig, Harland? Hope sollte nach Hause. Unser Baby sollte nach Hause. Zu Hause wird Hope sich wieder normal verhalten. Ich weiß das.“

„Und wenn nicht? Eine postnatale Depression wird durch ein enormes hormonelles Ungleichgewicht im weiblichen Körper ausgelöst. Hope hat keine Kontrolle über ihre Gefühle. Sie überschwemmen sie. Sie ist nicht absichtlich schwierig oder unvernünftig.“ Der Arzt schüttelte langsam den Kopf. „Und wenn ich sie nun zu früh heimschicke, und sie verhält sich nicht wieder normal? Was, wenn ich sie heimschicke, und das Unaussprechliche geschieht? Ich möchte das Risiko nicht eingehen.“ Er sah Philip ruhig in die Augen. „Sie, Philip?“

Das Unaussprechliche. Oder Schlimmeres. Philip schluckte trocken. „Nein, natürlich nicht.“

„Gut. Ihre Frau braucht Sie jetzt. Sie sagen, Sie lieben sie. Nun, jetzt ist die Zeit, es zu beweisen.“

Philip verdrängte seine Enttäuschung und seine selbstsüchtigen Ängste. Hope brauchte ihn wirklich. Seine Tochter brauchte ihn. Er musste stark sein. „Was kann ich tun?“ fragte er. „Sagen Sie mir einfach, was ich tun kann.“

„Seien Sie ihr ein Halt, verständnis- und liebevoll. Ich weiß, es ist schwer, aber bedenken Sie, dass Hope keine Kontrolle über ihre Gefühle hat. Im Moment hat sie genauso viel Angst wie Sie. Wahrscheinlich mehr. Sie braucht Zeit. Sie braucht Ihre Geduld und Liebe.“

Philip blickte wieder auf seine Tochter, so winzig und hilflos, es brach ihm fast das Herz. Sie brauchte ihre Mutter. Sie musste heim. „Und wenn meine Liebe und Unterstützung nicht ausreichen? Was dann, Harland?“

Der Arzt schwieg einen Moment, dann seufzte er: „Es muss reichen, Philip. Im Augenblick haben Sie keine andere Wahl.“

 

3. KAPITEL

Hope erwachte mit einem Schrecken. Heftig atmend und schweißnass, ließ sie den Blick durch den schwach erleuchteten Raum wandern und erwartete die Umrisse ihres Zimmers in der zweiten Etage zu sehen, in dem sie aufgewachsen war. Stattdessen sah sie die schlichte, funktionelle Einrichtung ihres Krankenzimmers und begann sich zu erinnern.

Erleichtert atmete sie tief und zittrig ein. Ich bin in New Orleans. Ich bin Hope St. Germaine, das River-Road-Haus ist weit weg. Es gehört zu meinem früheren Leben, dem Leben einer anderen.

Erneut tief durchatmend, versuchte sie vergeblich, den Albtraum abzuschütteln. Sie war wieder im alten Haus gewesen und hatte irgendwo hockend einem Paar beim Sex zugesehen. In ihrem Traum war es allerdings ihre Tochter gewesen, die auf dem Bett den unzüchtigen Akt vollzog.

Als das Hurenkind über die Schulter zurücksah, da es ihren spionierenden Blick spürte, war es jedoch ihr eigenes Gesicht gewesen, in das sie geschaut hatte.

Mit einem hilflosen Angstlaut richtete sie sich auf, umklammerte ihr Bettzeug und versuchte, die Traumbilder loszuwerden. Sie wusste, was mit ihr geschah. Sie wusste, warum sie jede Nacht von Albträumen über ihre längst vergessene Vergangenheit geplagt wurde.

Das Böse, die Sünde, hatte sie wieder im Griff, forderte sie heraus und glaubte, gewonnen zu haben.

Nein! Hope legte zitternd die Hände ans Gesicht. Das Böse durfte nicht gewinnen. Sie konnte das nicht zulassen. Sie hatte zu hart für alles Erreichte gearbeitet, um jetzt aufzugeben.

Hope zog die Knie ans Kinn, umschlang sie mit den Armen und wiegte sich, den Kopf auf die Knie gepresst, vor und zurück. An wen konnte sie sich um Hilfe wenden? Wem konnte sie vertrauen? Philip verlor die Geduld mit ihr. Freunde und Familie verhielten sich seltsam distanziert und argwöhnisch. Sie sah ihre fragenden Blicke, die tadelnden Mienen. Wie lange noch, bis jemand die Wahrheit über ihre Vergangenheit herausfand? Wie lange, bis das Leben, das sie sich aufgebaut hatte, in Scherben zersprang?

Sie musste ihr Kind akzeptieren. Sie musste sich wie eine liebende, hingebungsvolle Mutter verhalten. Sie musste tun, als würde sie den schlechten Kern in ihrer Tochter nicht sehen, als würde sie nicht merken, dass die schöne Frucht von Würmern zerfressen war.

Heiße, bittere Tränen stiegen ihr in die Augen und kullerten über die Wangen hinab. Wie sollte sie ihren Widerwillen verbergen, wenn sie ihre Tochter hielt? Wie sollte sie ihre Verzweiflung verbergen und Zuneigung heucheln? Sie konnte es nicht.

Hope schlug das Laken zurück, stieg aus dem Bett und ging zur halb offenen Tür. Das Linoleum war kalt unter ihren Füßen. Sie blickte den leeren Flur hinunter zur Schwesternstation. Irgendwo im Flur weinte eine Frau, und sie hörte tröstendes Gemurmel.

Diese Vincent hatte ihr Baby verloren. Philip hatte es ihr vorhin erzählt, vermutlich, um ihr klarzumachen, wie dankbar sie für ihr eigenes gesundes Kind sein sollte. Stattdessen wünschte sie, ihr wäre das Baby genommen worden. Hätte der Herr ihre Tochter ausgewählt, wären ihre Probleme gelöst.

Doch die Pierron-Töchter waren stark durch das Böse, das in ihnen pulsierte. Die Pierron-Töchter starben nie.

Ich muss fliehen, dachte sie plötzlich wie im Fieber. Sie musste hier raus und frische Luft atmen. Sie musste der ständigen Aufsicht und dem unerträglichen Mitgefühl des Krankenhauspersonals entkommen. Sie musste jemanden finden, der sie verstand und ihr half.

Die Kirche. Ich kann mich an die Kirche wenden. Der Priester wird mir helfen. Er wird mich verstehen. Und in der Anonymität des Beichtstuhls bin ich sicher. Mein Geheimnis bleibt gewahrt.

Bebend vor Erleichterung wich sie von der Tür zurück und ging zum Schrank. Nervös zog sie in aller Eile ihre Straßenkleidung an. Die Kirche hatte ihr ein Leben lang Trost gespendet, war ihr Zuflucht gewesen in Zeiten des Aufruhrs und der Verwirrung. Sicher würde es diesmal nicht anders sein. Der Priester würde wissen, was sie tun musste.

Aber was, wenn er mir diesmal nicht helfen kann? Was soll ich dann machen?

Angst schnürte ihr die Kehle zu, beraubte sie der Fähigkeit, zu denken und zu handeln. Sie bemühte sich, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Sie durfte jetzt nicht schlappmachen. Wenn sie aufgab, gewann das Böse.

Niemals. Hope atmete tief durch, ging zum Telefon und bestellte sich ein Taxi. Danach nahm sie ihre Handtasche und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Das Glück war ihr hold. Die Schwesternstation war noch leer. Lächelnd huschte Hope aus ihrem Zimmer zum Fahrstuhl. Philip durfte nicht erfahren, dass sie das Krankenhaus verließ. Er würde versuchen, sie aufzuhalten, ebenso das Krankenhauspersonal. Die verstanden eben nichts.

Wie erhofft, war der Fahrstuhl leer. In der Lobby angelangt, ging sie zur gläsernen Eingangstür. Ein Sicherheitsmann flirtete mit der Dame vom Empfang. Beide streiften sie lediglich mit einem Blick.

Hope drückte die Doppeltüren auf und trat in die Nacht hinaus. Die feuchtigkeitsgesättigte Luft umfing sie wie ein Mantel. Hope atmete durch, dankbar für ihre Freiheit.

Sie entfernte sich vom Gebäude, verließ dessen Lichtkreis, und die Dunkelheit verschluckte sie. Mondlicht glitzerte auf dem nassen Gehweg. Tief hängende Äste, die Blätter schwer vom kürzlichen Regen, bespritzten sie, als sie darunter durchging.

Das Taxi hielt am Straßenrand, und Hope stieg ein. „St.-Louis-Kathedrale“, wies sie den Fahrer an und schmiegte sich tief in den abgewetzten Sitz.

In der Hoffnung, die Gläubigen entweder vor Begehung einer Sünde oder in Reue derselben einzufangen, nahm man in der Kathedrale am Jackson Square bis in die Nacht hinein die Beichte ab. Hope hatte es immer für eine Ironie gehalten, dass New Orleans’ älteste und, nach ihrem Empfinden, ehrfurchtgebietendste Kirche Wache im Herzen des Sündenpfuhls hielt.

Hope verschränkte krampfhaft die Hände im Schoß. Im Taxi roch es muffig nach altem Zigarettenrauch und Schimmel. Der Fahrer sprach wenig. Sein Schweigen bewahrte ihn davor, von ihr zurechtgewiesen zu werden. Sie wandte das Gesicht dem Fenster zu und verfolgte, wie die großen Anwesen der Wohnviertel allmählich den Wolkenkratzern der Innenstadt Platz machten, dann folgten die im europäischen Stil erbauten Häuser des Vieux Carré.

Nach wenigen Minuten hielt der Fahrer am Straßenrand vor der Kathedrale. Hope bat ihn zu warten und stieg aus. Als sie den Blick zum mächtigen Kirchturm emporhob, fühlte sie sich bereits erleichtert. Die St.-Louis-Kathedrale hielt Wache über den Jackson Square wie eine Anstandsdame über einen Haufen unternehmungslustiger Teenager. So wie die katholische Kirche stets die unsterblichen Seelen ihrer Gläubigen bewacht hatte. Zwei Mal aus Ruinen wieder aufgebaut, ein Mal nach den Zerstörungen durch einen Hurrikan, standen ihre strengen Linien in deutlichem Kontrast zu den verspielten Gitterwerken der angrenzenden Gebäude. Hope hatte diese Kirche stets für eine Art Anker gehalten, der einen schützenden, ausgleichenden Einfluss auf das Leben der einst im Vieux Carré ansässigen, lebenslustigen Kreolen ausübte.

Sie eilte auf das einladende Portal zu, dass ihre Absätze auf dem Pflaster klapperten. Vom Mississippi, östlich des Platzes gelegen, hörte sie das einsame Tuten eines Schiffes. Aus der nahen Bourbon Street wehten raues Gelächter und die Klänge des Dixieland-Jazz herüber.

Sobald sie die Kirche betrat, verstummten die Geräusche, und es blieb tröstende Stille. Ein Gefühl der Ruhe und Gelassenheit überkam Hope. Aufregung und Verzweiflung der letzten Tage schwanden. Hier konnte das Böse sie nicht anrühren. Hier, in den Armen der Kirche, würde sie ihre Antworten erhalten.

Im Eingang stand ein Marmorbecken. Hope tauchte zwei Finger in das geweihte Wasser, bekreuzigte sich und ging auf die Beichtstühle zu, die den vorderen Teil des Kirchenschiffes zu beiden Seiten flankierten. Sie schlüpfte gleich in den ersten. Kniend und mit gesenktem Kopf wandte sie sich der inneren Wand zu. Gleich darauf wurde das Fensterchen aufgeschoben. Hinter dem Gitterwerk konnte sie die Umrisse des Priesters ausmachen, aber nicht sein Gesicht. Sie blieb ihm ebenfalls verborgen.

„Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt. Seit meiner letzten Beichte sind zwei Wochen vergangen.“

„Welche Sünden hast du zu bekennen, mein Kind?“

Sie rang die Hände, und ihr Herz schlug so heftig, dass es schmerzte. „Vater ich … ich bin unter einem Vorwand zu Ihnen gekommen. Ich wollte eigentlich nicht beichten, ich brauche Ihren Rat. Sehen Sie, ich …“ Angst und neuerliche Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu, drohten sie zu ersticken. „Ich kann mich sonst an niemand wenden, Pater. Wenn Sie mir nicht helfen können, weiß ich nicht, was ich tue. Dann bin ich verloren.“ Hope schlug weinend die Hände vors Gesicht. „Bitte, Pater, bitte helfen Sie mir!“

„Beruhige dich, mein Kind. Natürlich helfe ich dir. Sage mir, was dich bedrückt.“

Hope schauderte. „Die Frauen meiner Familie sind böse und lüstern, Pater. Sie sind Sünderinnen, sie verkaufen sich und ihre Körper. Es war immer so in meiner Familie, wir sind verflucht.“ Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. „Ich bin dem Fluch entkommen, aber jetzt fürchte ich um die unsterbliche Seele meiner neugeborenen Tochter. Ich fürchte, dass auch sie böse und lüstern wird. Ich sehe die Sünde in ihr, Vater, und ich habe solche Angst.“

Der Priester schwieg einen Augenblick. Dann begann er leise, aber mit solcher Kraft und Überzeugung zu sprechen, dass Hope ruhiger wurde.

„Die Sünde oder das Böse steckt in uns allen, mein Kind. Eva reichte Adam den Apfel, er nahm die verbotene Frucht, und die Sünde war geboren. Jeder von uns, der in die Welt kommt, ist mit der Ursünde behaftet. Wir sind alle unrein. Doch Gott schickte seinen Sohn, um für uns und unsere Sünden zu sterben. Christus ist unsere Hoffnung auf Erlösung.“ Der Priester bewegte sich, Hope hörte das Rascheln seines Gewandes und das Klappern der Rosenkranzperlen. „Du musst deiner Tochter helfen. Du musst ihr den richtigen Weg zeigen und sie lehren, die Schlange zu bekämpfen.“

„Aber wie, Vater?“ Hope beugte sich zur Trennwand vor. „Wie kann ich ihr helfen?“

„Du bist ihre Mutter. Du, und nur du, hast die Macht, sie zu einer Frau von hohen moralischen Ansprüchen zu erziehen. Du zeigst ihr den Weg, lehrst sie, was recht und unrecht ist, was heilig und was sündig. Gott hat dir dieses Kind als Prüfung gegeben. Prüfung deiner Stärke und deines Glaubens. Dieses Kind kann dein Triumph oder deine Niederlage werden.“

Hopes Herz schlug wild, doch plötzlich erkannte sie deutlich ihren Weg, ihre Aufgabe. Es war nicht der Herr, der sie auf die Probe stellte, es war die Sünde.

Sie ballte die Hände zu Fäusten, dass sich ihre Nägel in die Handballen bohrten. Sollte die Sünde sie nur auf die Probe stellen, sie herausfordern und verspotten. Sie würde nicht nachgeben, sie würde ihr dieses Kind nicht überlassen. Sie würde diesem Kind, wie sich selbst, die böse Saat austreiben.

Dieses Kind kann mein Triumph oder meine Niederlage werden.

Triumph, entschied sie. Dieses Kind wird mein Triumph.

TEIL 2

Santos

 

4. KAPITEL

New Orleans, Louisiana, 1979

Im French Quarter von New Orleans zu leben gefiel dem fünfzehnjährigen Victor Santos recht gut. Kein anderes Wohnviertel war mit diesem zu vergleichen. Der Stadtteil vibrierte Tag und Nacht erregend und energiegeladen. Es fehlte nie an Betätigungsmöglichkeiten oder Freunden, mit denen man herumhängen konnte. Er mochte die Geräusche und Gerüche und die alten Häuser, deren geborstene Stuckfassaden ständig feucht waren. Er mochte die üppig grünen, verschwiegenen Hinterhöfe und die Balkone mit schmiedeeisernem Gitterwerk.

Am meisten jedoch mochte Santos – so wurde er von allen außer seiner Mutter gerufen – die Menschen. Das French Quarter war Heimat für alle Altersstufen, Überzeugungen und Hautfarben, für die Guten, die Bösen und die Hässlichen. Sogar die Horde, die jede Nacht in die Bourbon Street einfiel, die Neugierigen, die sich am Empörenden ergötzen wollten, faszinierte ihn.

Die Schulberater sagten seiner Mom immer wieder, das French Quarter sei wegen der schlechten Einflüsse kein Ort, ein Kind aufzuziehen. Natürlich würden die seine Mom auch dazuzählen, wenn die wüssten, dass sie Stripteasetänzerin war und nicht Kellnerin, wie sie denen gesagt hatte. Was Santos anging, waren diese Berater nichts weiter als ein Haufen Klugscheißer. Seiner Meinung nach hatten Nutten, Junkies und Herumtreiber viel mehr Herz als ein nichtsnutziger Hurensohn wie sein Daddy. Nein, nach seiner Lebenserfahrung hatten die, die im Leben nichts als Kränkungen und schwere Zeiten erlebt hatten, keinen Platz mehr in sich für Hass.

Santos überquerte die Straße und rief Bubba, dem Türsteher des Club 69, in dem seine Mutter nachts tanzte, einen Gruß zu.

„He, Santos“, rief der bullige Rausschmeißer zurück, „hast du ’n Glimmstängel? Meine sind aus.“

Santos hielt lachend beide Handflächen hoch. „Hab’s aufgegeben, Mann. Weißt du’s noch nicht? Die Dinger bringen dich um.“

Der Mann zeigte Santos freundlich einen Vogel und wandte sich dann einem Touristenpaar zu, das vor dem Club stehen geblieben war und sich die Hälse verrenkte, um einen Blick auf die Show zu erhaschen.

Victor ging weiter die Bourbon Street hinunter und kürzte dann ab nach St. Peter, um einige Minuten zu sparen. Er hatte seiner Mutter versprochen, von unterwegs ein paar Shrimps Po’boys mitzubringen.

Beim Gedanken an die großen saftigen Baguettes lief ihm das Wasser im Mund zusammen, und er legte ein wenig Tempo zu. Allerdings nicht viel. Der August in New Orleans animierte niemand zu sonderlicher Eile. Obwohl die Sonne beinahe untergegangen war, glühte der Asphalt noch so heiß, dass man Eier darauf braten konnte. Und die Luft mit ihren neunzig Prozent Feuchtigkeit konnte einen Übereifrigen glatt ersticken. Erst letzte Woche war ein Pferd vor einer Touristenkutsche tot auf dem Pflaster zusammengebrochen. Ein Opfer des August in New Orleans.

„He, Santos, Baby“, sagte eine Frau hinter ihm. „Wohin so eilig?“

Er blieb stehen, blickte über die Schulter und lächelte. „He, Sugar. Ich muss zum Central Grocery und dann nach Haus. Mom wartet.“ Bis vor sechs Monaten hatte Sugar mit seiner Mutter zusammen im Club getanzt. Seit ihr Mann sie und die drei Kinder sitzen gelassen hatte, war sie gezwungen, ganztags auf der Straße zu arbeiten.

„Deine Mama hatte immer ’ne Vorliebe für die Baguettes. Und ich wette, ein großer Junge wie du auch.“ Lachend tätschelte sie ihm die Wange. „Sag deiner Mama, dass ich Hallo gesagt habe. Sag ihr, Brown Sugar geht’s ganz gut.“

„Mach ich. Sie wird sich freuen, das zu hören.“

Santos sah sie davongehen und setzte seinen Weg fort. Sugar war ein Beispiel für die Leute, die seine klugscheißenden Schulberater für schlechten Einfluss hielten. Wie er das sah, tat sie ihr Möglichstes, um ihre Familie zu versorgen. Wie er das sah, bot einem das Leben manchmal eben nichts Besseres als ein Scheißsandwich. Wenn das so war, konnte man entweder essen oder sterben.

Nicht, dass es keine schlechten Menschen im Quarter gegeben hätte. Die gab es reichlich, wie überall. Er unterteilte die Leute in drei Typen: die Besitzenden, die Habenichtse und die, die alles haben wollten. Wie er das sah, war die Trennlinie zwischen diesen drei Gruppen sehr klar gezogen, sie hieß Sparsamkeit, schlicht und einfach.

Die Besitzenden waren unproblematisch. Die genossen ihr Leben mit all dem Reichtum, und solange die Angehörigen der beiden anderen Gruppen ihnen nicht in die Quere kamen, machten sie keinerlei Ärger.

Die, die alles haben wollten, waren das Problem. Sie kamen aus allen Lebensbereichen, gierten nach Geld und Macht und würden jedem alles antun, um es zu bekommen.

Santos hielt sich für einen ziemlich toughen Burschen, aber um solche Leute machte er einen Bogen. Das hatte ihn die Erfahrung gelehrt. Sein Dad hatte zu diesen Typen gehört. Immer hungrig nach dem, was er nicht hatte. Immer begierig, den Herrn hervorzukehren, bereit, die Fäuste gegen die Kleinen oder Schwachen zu erheben. Als hätte ihn das zu einem Mann gemacht.

Sein Daddy. Santos verzog angewidert den Mund. Er hatte nur schlechte Erinnerungen an Samuel „Willy“ Smith. Der Mann war reiner Ölfeldabfall gewesen, hatte sich aber zu gut gedünkt, seine mexikanische Squawfreundin zu heiraten und ihrem Baby seinen Namen zu geben. Er hatte ihn und seine Mama stets nichtsnutzige illegale Halbblut-Einwanderer geschimpft.

Santos erinnerte sich, die pure Erleichterung empfunden zu haben, als der Sheriff eines Morgens zu ihrem Wohnwagen gekommen war und ihnen mitteilte, dass Willy Smith bei einer Barkeilerei ums Leben gekommen war. Man hatte ihm die Kehle durchschnitten. Trotzdem dachte Santos gelegentlich an seinen alten Herrn und fragte sich, wie es ihm in der Hölle gefiel.

Santos erreichte den Laden, ging hinein und war dankbar für die kühle Luft, die ihm beim Öffnen der Tür entgegenwehte. Er bestellte die Baguettes, plauderte mit dem Mädchen am Tresen, während er wartete, und zehn Minuten später war er wieder auf der Straße, die Po’boys und ein paar Flaschen Barq’s in einer braunen Papiertüte.

Er lebte mit seiner Mutter an der Ursuline, in einem kleinen Apartment im ersten Stock. Die Wohnung war sauber, billig und nicht klimatisiert. Sie ertrugen die Sommermonate mit zwei kleinen Fensterklimaanlagen, eine für jedes Schlafzimmer. Manchmal war es in Küche und Wohnraum so heiß, dass sie auf den Betten aßen.

Santos erreichte ihr Haus, lief die eine Treppe hoch und schloss die Wohnungstür auf. „Mom!“ rief er. „Ich bin zurück.“

Seine Mutter kam aus dem Schlafzimmer, eine Bürste in der Hand, das Gesicht maskenhaft durch das dicke Make-up, das sie zur Arbeit trug. Sie hatte ihm mal erzählt, dass sie sich zum Tanzen gern schminkte, weil es ihr das Gefühl gab, jemand anders zu sein, wenn sie dort auf der Bühne von den Männern angestarrt wurde. Sie hatte auch gesagt, dass die Männer, die in den Club kamen, es liebten, wenn sie billig aussah. Wie eine Nutte oder so was. Das erhöhte den Reiz. Santos fand das ziemlich beschissen und wünschte, seine Mutter müsste das nicht tun.

Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich, um die kühle Luft nicht entweichen zu lassen. „Hallo, Darling, wie war dein Tag?“

„Okay.“ Er legte die Sicherheitskette vor. „Ich habe die Baguettes.“

„Großartig, ich verhungere.“ Sie deutete auf ihr Schlafzimmer. „Lass uns bei mir essen. Es ist heute heiß wie die Hölle.“

Er folgte ihr. Sie setzten sich auf den Boden und begannen zu essen. Victor beobachtete seine Mutter. Lucia Santos war eine schöne Frau. Halb amerikanische Indianerin – Cherokee glaubte sie – und halb Mexikanerin, hatte sie dunkle Haare und Augen und exotisch hohe Wangenknochen. Er hatte bemerkt, wie Männer ihr nachsahen, wenn sie zusammen aus waren, nur sie beide. Sie in Jeans, das Haar zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebunden und das Gesicht ohne dieses übertriebene Make-up, das ihre Züge härter machte.

Er kam ganz nach ihr, das sagten alle. Und bei jedem Blick in den Spiegel war er dankbar dafür. Er hätte es nicht ertragen, durch sein Spiegelbild ständig an Willy Smith erinnert zu werden.

„Mrs Rosewood hat heute angerufen.“

Eine von diesen besserwisserischen Klugscheißern von Schulberatern. „Großartig“, erwiderte Santos. „Das fehlt uns gerade noch.“

Lucia legte ihren Po’boy ab und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette. „Deine Schule beginnt nächste Woche. Du brauchst ein paar Sachen.“

Santos wusste, was das bedeutete, und sein Magen zog sich zusammen. Heute Nacht, morgen oder übermorgen würde sie mit einem „Freund“ heimkommen. Und plötzlich würden sie genügend Geld haben für Kleidung, Arztbesuche und Bücher. Er hasste das. „Ich brauche nichts.“

„Nein?“ Sie nahm noch einen Bissen, kaute langsam und spülte ihn mit einem großen Schluck Rootbeer hinunter. „Und was ist mit den zwei Inches, die du über den Sommer gewachsen bist? Glaubst du nicht, dass deine Hosen ein bisschen kurz sein werden?“

„Mach dir darüber keine Gedanken.“ Er zerknüllte das Einwickelpapier und schob es in die leere Tragetüte. „Ich habe durch meine Jobs ein bisschen Geld gespart. Ich kaufe mir selbst neue Klamotten.“

„Außerdem musst du zum Zahnarzt. Und Mrs Rosewood sagt, deine Berichte zeigen, dass du fällig bist für …“

„Was weiß denn die?“ unterbrach er sie schroff. Er sprang auf und sah seine Mutter wütend an. „Warum kann sie uns nicht in Ruhe lassen? Sie ist eine alte Wichtigtuerin!“

Stirnrunzelnd stand Lucia ebenfalls auf und sah ihn ruhig an. „Wo steckt das Problem, Victor?“

„Schule ist reine Zeitverschwendung. Ich verstehe nicht, warum ich nicht einfach abgehen kann.“

„Weil das nicht in Frage kommt. Solange ich lebe, wirst du nicht vorzeitig von der Schule abgehen.“ Sie sah ihn mit leicht verengten Augen durchdringend an. „Du brauchst eine Ausbildung, wenn du jemals aus diesem Dreck rauskommen willst. Verlass die Schule, und du endest wie dein Daddy. Willst du das?“

Victor ballte die Hände. „Das war gemein, Mom. Ich bin nicht wie er, und das weißt du.“

„Dann beweise es“, konterte sie. „Bleib in der Schule.“

Frustriert spreizte er die Finger. „Ich bin groß genug, um für sechzehn durchzugehen. Ich könnte die Schule verlassen und einen Ganztagsjob annehmen. Wir brauchen das Geld.“

„Wir brauchen das Geld nicht. Es geht uns gut.“

„Na klar.“

Sein Sarkasmus ließ sie zornig erröten. „Was soll das heißen, hä?“ Sie stieß ihm den Zeigefinger in die Schulter. „Was möchtest du, was du nicht hast?“

Schweigend starrte er auf seine Füße und die Reste ihrer Mahlzeit, hässlicher Abfall auf weißem Fleischerpapier. Hässlich wie diese ganze beschissene Situation. Zorn und hilfloser Frust ballten sich in ihm, bis er glaubte zu explodieren.

„Was?“ wiederholte Lucia und stieß ihn heftiger mit dem Finger. „Willst du eine teure Stereoanlage? Oder vielleicht brauchst du eine schicke Markenjeans oder einen Farbfernseher in deinem Zimmer?“

Er hob den Blick, sah ihr in die Augen, und sein Zorn wallte auf. „Was ich vielleicht möchte, was ich vielleicht brauche, ist eine Mutter, die sich nicht jedes Mal flachlegen muss, wenn ihr Sohn ein Paar neue Schuhe braucht oder zum Arzt muss!“

Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als hätte er sie geschlagen. Ihr Gesicht wurde unter Puder und Rouge kalkweiß.

Zerknirscht streckte er ihr eine Hand entgegen. „Tut mir Leid, ich hätte das nicht sagen sollen, Mom.“

„Nein, schon gut.“ Um Fassung ringend, wich sie noch einen Schritt zurück. „Woher weißt du von dem … Flachlegen.“

Santos fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und wünschte, das Thema nie angeschnitten zu haben. „Gib mir ’ne Chance, Mom. Ich bin weder blind noch dumm. Und ich bin kein Kind mehr. Ich weiß das schon lange.“

„Verstehe.“ Sie sah ihn noch einen Moment an, wandte sich ab und ging zum Fenster. Der Blick auf die Straße hinab war durch das kleine Klimagerät behindert. Die Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten, und sie schwieg immer noch.

Santos machte einen Schritt auf sie zu, blieb stehen und verfluchte sich. Warum hatte er nicht den Mund gehalten? Warum hatte er sie nicht einfach in dem Glauben gelassen, dass er ihr kleines Geheimnis nicht kannte? Er konnte das Gesagte nicht zurücknehmen, und ihr Schweigen schmerzte ihn mehr als früher die Schläge seines Dads.

„Was hast du erwartet?“ fragte er leise. „Jedes Mal, wenn ich etwas brauchte, kamst du mit einem Freund nach Hause. Er blieb ein, zwei Stunden, ging dann, und natürlich sahen wir ihn nie wieder.“

Sie senkte den Kopf. „Tut mir Leid.“

Es versetzte ihm einen Stich durchs Herz. Er ging zu ihr, umarmte sie und presste das Gesicht in ihr süß duftendes Haar. Wenn sie heute Nacht von der Arbeit heimkehrte, würde es nach Zigaretten und den schmutzigen alten Männern stinken, die sie angegrapscht hatten. „Was tut dir Leid?“ fragte er mit erstickter Stimme.

„Dass ich eine … Nutte bin. Du musst denken …“

„Bist du nicht! Du bist die Größte! Ich bin nicht …“ Seine Stimme brach, und er bemühte sich, sie wieder in den Griff zu bekommen. „Ich schäme mich nicht für dich. Es ist nur, ich weiß, wie sehr du das alles hasst. Du bist immer ganz still hinterher. Du siehst dann immer so traurig aus.“ Er atmete tief durch. „Und ich verabscheue den Gedanken, dass du es für mich tust. Ich will nicht der Grund dafür sein, dass du dich von diesen Kerlen …“ Seine Worte verebbten.

„Es tut mir Leid“, wiederholte sie mit schwacher, gebrochener Stimme. „Ich wollte nicht, dass du davon erfährst. Ich dachte …“ Sie schüttelte den Kopf. „Das hier ist nicht das Leben, das ich mir für dich gewünscht habe. Ich bin nicht die Mutter, die du verdienst.“

„Sag so was nicht.“ Er schloss sie fester in die Arme und wollte sie beschützen und umsorgen. „Es gibt nichts, was dir Leid tun müsste. Ich wünschte nur, du … wenn ich die Schule verlassen würde, müsstest du es nicht mehr tun.“

Sie drehte sich zu ihm um, Augen und Wangen feucht von Tränen. „Ich würde alles für dich tun, Victor, begreifst du das nicht? Du bist das Beste, was ich je zu Stande gebracht habe, das Beste in meinem Leben.“ Sie nahm sein Gesicht mit beiden Händen. „Versprich mir, dass du in der Schule bleibst.“ Sie griff fester zu und sah ihn intensiv an. „Versprich es mir, Victor. Es ist wichtig.“

Er zögerte und nickte dann. „Ich bleibe in der Schule. Ich versprech’s.“

„Danke.“ Sie lächelte, doch er sah, dass ihre Lippen bebten. „Du hältst deine Versprechen. Das hast du getan, seit du alt genug warst, welche zu geben.“ Mit leichtem Kopfschütteln fügte sie hinzu: „Manchmal frage ich mich, wie du als Sprössling von Willy und mir so ehrenwert werden konntest.“

Sie wollte die Hände sinken lassen, doch er hielt sie fest. „Eines Tages sorge ich für dich“, sagte er eindringlich. „Dann musst du dieses Zeugs nicht mehr auflegen und nicht mehr so arbeiten. Ich sorge für dich“, wiederholte er. „Darauf gebe ich dir mein Wort.“

 

5. KAPITEL

„Victor, Darling, ich bin weg.“

Santos wandte den Blick von dem kleinen Schwarzweißfernseher auf seiner Kommode ab und sah zu seiner Mutter hinüber. „Bis dann.“

Sie schlang sich den Handtaschenriemen über die Schulter. „Würdest du vielleicht aufstehen und deiner Mama einen Kuss geben?“ Er schnitt eine Grimasse, und sie lachte: „Ich weiß, du bist inzwischen zu erwachsen dafür.“

Sie kam zu ihm, küsste ihn leicht auf den Kopf und ließ ihre Finger durch sein Haar gleiten. „Du kennst die Regeln, richtig?“

Er wandte ihr das Gesicht zu und zog erbost die Brauen hoch. „Wie sollte ich die wohl vergessen, wo du sie jeden Abend wiederholst?“

„Sei kein Naseweis, sag sie mir auf.“

„Kette vorlegen“, erwiderte er in seinem aufmüpfigsten Ton, „und niemandem die Tür öffnen, nicht mal Gott.“

Sie pochte ihm mit den Fingerknöcheln auf den Kopf. „Und die Wohnung nicht verlassen, außer sie brennt.“

„Richtig.“

„Sieh mich nicht so an.“ Sie betrachtete ihn ernst. „Du hältst meine Regeln für einen Witz, aber glaube mir, es gibt ein paar echte Verbrecher auf den Straßen. Und wenn die dich nicht erwischen, dann der Staat. Merry unten vom Club hat auf diese Weise ihr Kind verloren. Der Sozialdienst hat es ihr weggenommen, als die herausfanden, dass sie es nachts allein ließ.“

„Yeah, aber Merry ist drogensüchtig, und ihr Kind ist erst sechs.“ Er schwang die langen Beine über die Bettkante und stand auf. „Es wird nichts passieren, Mom. Du machst dir einfach zu viele Sorgen.“

„Ist das so, Mr Allwissend-mit-fünfzehn?“ Die Hände auf den Hüften, beugte sie sich zu ihm vor. „Als ich in deinem Alter war, war ich auch ganz schön kess. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich meinen Lebensunterhalt mal damit verdienen muss, vor einem Saal voller Fremder mit Titten und Hintern zu wackeln. Ich wusste nicht mal, dass es Frauen wie mich überhaupt gibt.“ Plötzlich traurig und resigniert, fuhr sie fort: „Eine falsche Entscheidung, und dein Leben ist ruiniert, Darling. Diese Lektion lehrt dich das Schicksal. Denk daran, wenn du das nächste Mal glaubst, alles zu wissen.“

Santos wusste, auf welche Entscheidung sie sich bezog: Dass sie sich mit Willy Smith eingelassen hatte und schwanger von ihm geworden war. Ihre Familie hatte sie verstoßen, und Willy benutzte sie bald als Punchingball. Eine schlechte Entscheidung allerdings. Ein echter Reinfall. „Ich werde vorsichtig sein, Mom.“

„Okay.“ Liebevoll strich sie ihm leicht mit den Fingerspitzen über die Wange. „Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren, Victor.“

Er öffnete den Mund, um dasselbe zu ihr zu sagen, kam sich jedoch töricht vor und schwieg. „Du verlierst mich nicht“, erwiderte er stattdessen, nahm ihre Hand und drückte sie. „Du hast mich am Hals.“

Lächelnd deutete sie mit dem Kopf zur Eingangstür. „Ich muss los. Du weißt, wie Milton ist, wenn ich mich verspäte.“

Santos nickte, folgte ihr zur Wohnungstür und sah ihr nach, als sie den Flur hinunterging. An der Treppe drehte sie sich noch einmal um und winkte lächelnd. Er spürte einen Kloß im Hals, winkte zurück und schloss die Tür. Als er nach der Sicherungskette griff, hielt er inne und verspürte plötzlich den heftigen Drang, ihr nachzulaufen und ihr die Umarmung und den Kuss zu geben, den sie vorhin erbeten hatte. Er wollte sie drücken, wie er es seit langem nicht getan hatte, und ihr sagen, dass er sie liebte.

Was soll ich tun, falls ich sie verliere?

Er öffnete die Tür, trat in den Flur, blieb jedoch stehen und kam sich albern vor. Er war zu alt, um sich an seine Mutter zu klammern wie ein Baby, das gewiegt und getröstet werden musste. Er lachte vor sich hin. Ihr Gerede, ihn zu verlieren, ihre Sorgen und Warnungen hatten ihn vorübergehend nervös gemacht. Er lachte wieder. Als Nächstes redete sie ihm noch ein, an den Butzemann und Kinder fressende Monster im Schrank zu glauben.

Mit einem verächtlich amüsierten Schnauben legte Santos die Sicherungskette vor und ging direkt ins Schlafzimmer. Er holte seine Schuhe unter dem Bett hervor, zog sie an, setzte sich und wartete.

Er sah auf seine Uhr. Zehn Minuten Vorsprung würde er seiner Mutter geben, ehe er die Wohnung verließ, um sich mit seinen Kumpels zu treffen. Er traf sich jeden Abend mit ihnen in der leer stehenden Grundschule an der Ecke Esplanade und Burgundy, am Nordrand des Quarters.

Die Warnungen seiner Mutter vor dem Sozialdienst und ihre Furcht, ihn zu verlieren, gingen ihm noch einmal durch den Kopf, doch er verdrängte das. Seine Mutter machte sich zu viele Sorgen. Sie behandelte ihn wie ein Baby. Er hatte sich den ganzen Sommer über abends mit seinen Freunden getroffen. Er sah zu, dass er immer vor seiner Mutter wieder zu Hause war. Außerdem hielten er und die anderen sich von den Bullen und allem Ärger fern. Wie er seiner Mutter versprochen hatte, war er immer vorsichtig. Er war nicht mal andeutungsweise in Gefahr geraten, geschnappt zu werden.

Nach genau zehn Minuten schloss Santos die Tür wieder auf und trat in den Flur. Augenblicke später umfing ihn die schwüle Nacht von New Orleans. Er fluchte leise. Halb zehn Uhr abends, und es war immer noch heiß.

Er fuhr sich mit einer Hand über den bereits feuchten Nacken. Das war es, was die Leute hier im Sommer fertig und die langen Monate unerträglich machte: Es kühlte sich einfach nie ab. Sicher, andernorts wurde es im Sommer auch heiß, oft sogar heißer, doch die Kühle nach Sonnenuntergang brachte dort wenigstens Erfrischung.

New Orleans blieb von Mai bis September am Kochen. Im August waren sie alle nur noch gekochte Hummer. Die Touristen, mit denen er sprach, zeigten sich immer erstaunt über die Hitze. Unweigerlich kam die Frage, wie die Bewohner der Stadt das aushielten. Aber ein Einwohner hielt das nicht aus, er gewöhnte sich daran. Seiner Ansicht nach war das ein Unterschied.

Santos hob das Gesicht dem schwarzen Himmel entgegen und atmete tief durch. Die Luft hatte sich in den letzten Stunden zwar nicht abgekühlt, aber sie hatte sich verändert und das Quarter mit ihr. Er fand den Unterschied gering und auffallend zugleich. Wie der Unterschied zwischen natürlichem Licht und Neon, zwischen Blumenduft und Parfüm, zwischen Heiligen und Sündern.

Einkäufer und Geschäftsleute waren mit dem Tageslicht verschwunden und machten Platz für die Nachtmenschen. Davon gab es zwei Sorten: Randgruppen und Aussteiger. Randgruppen waren solche Leute, die wie seine Mutter nicht dem klassischen Typ des Otto Normalverbrauchers entsprachen, obwohl sie es gerne gewesen wären. Aussteiger lebten absichtlich außerhalb der Gesellschaft, weil ihnen das gefiel.

Schwermütige Bluesmusik wehte von einem Balkon über ihm, von einem anderen kam Lustgestöhn. Santos joggte daran vorbei, duckte sich in eine Gasse und benutzte die weniger frequentierten Seitenstraßen, wo die Gefahr, seiner Mutter oder Bekannten zu begegnen, gering war.

Einem Eckrestaurant entströmten das Geklapper von Geschirr und der köstliche Duft von zubereiteten Meeresfrüchten. Santos ging hinter dem Restaurant vorbei und rümpfte die Nase, als er einem besonders reifen Abfalleimer auswich. Ein oder zwei Tage Hitze, und verlockende Hummer oder Shrimps verwandelten sich in ekelhaftes Zeugs.

Die Schule kam in Sicht, und er verlangsamte sein Tempo. Es war nicht angebracht, in dieser Gegend zu laufen. Bei der Armut und der Kriminalitätsrate hier waren die Bullen ständig auf Streife und hielten Ausschau nach jungen Männern auf der Flucht.

Santos ging hinter die Schule. Nachdem er sicher war, unbeobachtet zu sein, duckte er sich hinter eine Reihe wilder Oleander- und Olivenbüsche. Dort fand er, wie erwartet, ein mit einem Stein geöffnetes Fenster. Er hievte sich auf den Fenstersims, schwang die Beine ins Gebäude und sprang auf den Boden. Irgendwo im Innern hörte er Gelächter. Seine Freunde waren schon da.

Ein Zündholz flackerte auf. Erschrocken drehte Santos sich um. Ein Junge, den sie Scout nannten, weil er immer auf Ausschau nach Bullen, Drogendealern und Alkoholikern war, stand in der Ecke, und die Zündholzflamme erhellte sein amüsiertes Gesicht.

„Was gibt’s?“ fragte Santos stirnrunzelnd. „Du hast mir einen Scheißschreck eingejagt.“

Scout zündete sich eine Zigarette an und warf das Zündholz weg. „Tut mir Leid, Mann. Du bist spät heute Abend.“

„Meine Mutter hat mich aufgehalten.“

„Scheißspiel.“ Scout sog an seiner Zigarette und stieß eine beißende Wolke aus. Er deutete auf die Eisenstange an der Wand neben sich. „Bin froh, dass du es warst. ’nen Moment hab ich gedacht, es gäb’ Krieg. Muss unser Revier verteidigen.“

Und das hätte er getan, das wusste Santos. Die meisten Kinder, mit denen Santos zusammen war, lebten ausschließlich auf der Straße. Sie waren weggelaufen, entweder von ihren Familien oder von Pflegeeltern. Einige, so wie Santos, waren Kinder aus der Nachbarschaft, die nachts ohne Aufsicht waren. Sie waren von elf bis sechzehn Jahre alt, und die Gruppe wurde täglich größer oder kleiner. Neue kamen hinzu, andere wurden aufgegriffen und zu denen zurückgebracht, denen sie hatten entkommen wollen. Santos und ein paar andere hatten von Anfang an zur Gruppe gehört.

„Wo sind die alle?“ fragte Santos.

„Heimzimmer. Lenny und Tish haben sich von einem Lieferwagen eine Tüte Krebse gefischt. Sind noch warm, jedenfalls waren sie das vor ’ner halben Stunde.“

Santos nickte. „Kommst du mit?“

„Nee. Ich steh noch ’ne Weile Wache.“

Santos nickte wieder und ging auf den Raum zu, den sie Heimzimmer nannten. Weil die Schule so groß war, hatten sie vier Räume ausgewählt, in denen ihre regelmäßigen Treffen stattfanden, und hatten ihnen Namen gegeben: Theaterclub, Kunsthandwerk, Sexualerziehung und Heimzimmer.

Das Heimzimmer lag in der ersten Etage am Ende des Hauptflures. Auf dem Weg dorthin wich Santos Unrat und Schwachstellen im Boden aus. Wie erwartet, fand er die Gruppe lachend und schwatzend um den Beutel mit Krebsen versammelt. Sie schmatzten, saugten und besudelten sich wie die Ferkel mit den gestohlenen Leckerbissen.

Rasiermesser, der Älteste der Gruppe, entdeckte Santos als Erster und winkte ihn heran. Er trug seinen Spitznamen aus offenkundigen Gründen und lebte am längsten von allen auf der Straße. Er war in Ordnung, aber er ließ sich nichts gefallen, von niemandem. Wenn man auf der Straße lebte, wurde man so. Santos glaubte nicht, dass er noch lange bei ihnen blieb. Mit sechzehn wurde es Zeit für ihn weiterzuziehen.

„Nette Beute, Tish, Lenny.“ Santos begrüßte die beiden Teenager durch Abklatschen der Hände, dann setzte er sich auf den Boden.

Um ihn herum floss die Unterhaltung. Der Sozialdienst hatte Ben wieder aufgegriffen und ihn zu seinen Pflegeeltern zurückgebracht. Ein Lude hatte Claire gestellt und sie einzuschüchtern versucht, damit sie für ihn anschaffen ging. Doreen hatte Sam und Leah beim Knutschen erwischt. Und Tiger und Rick hatten New Orleans verlassen, um sich per Anhalter zum guten Leben in Südkalifornien durchzuschlagen.

Nach einer Weile bemerkte Santos, dass heute Nacht ein neues Mädchen bei ihnen war. Sie saß außerhalb ihres Kreises, beteiligte sich weder am Gespräch noch am Essen und hatte die Arme fest um sich geschlungen. Santos stieß Scout an, der zu ihnen gekommen war und neben ihm saß. Er deutete zu der Neuen hinüber. „Wer ist das?“

„Tina“, erklärte Scout. „Claire hat sie mitgebracht. Seit sie hier ist, hat sie kaum zwei Worte gesprochen.“

„Ist sie neu auf der Straße? Weggelaufen?“

„Yeah, glaub schon.“

Da braucht man nichts zu glauben, dachte Santos, als er sie mit leicht schief gelegtem Kopf betrachtete. Verloren, allein und Todesangst standen ihr geradezu ins Gesicht geschrieben. Sie hielt den Blick gesenkt und biss sich gelegentlich auf die Unterlippe, um sie am Beben zu hindern. Vor was sie auch weggelaufen war, er wettete seine kargen Ersparnisse, es war etwas Schlimmes gewesen.

Er fühlte mit ihr wie mit all seinen Freunden. Im Laufe der Jahre hatten sie ihm Geschichten erzählt, wogegen sich die Prügeleien seines Vaters geradezu harmlos ausnahmen. Santos knackte einen Krebs und schob sich das Schwanzstück in den Mund. Kopf und Schalen warf er zu den anderen auf einen Haufen und griff nach einem neuen. Bei jeder schlimmen Geschichte, die er von einem Kind hörte, war er dankbar für sein Leben und seine Mutter.

Er dachte an die Diskussion, die er vorhin mit ihr gehabt hatte, und an ihre Scham, weil er wusste, dass sie sich manchmal verkaufte. Er verstand das nicht. Sie war vielleicht nicht gerade eine Vorzeigemutter, aber sie liebte ihn. Sie hatten vielleicht nicht viel, aber sie hatten einander. Und die Geschichten seiner Freunde machten ihm klar, dass es in dieser meist verkommenen Welt etwas Besonderes war, jemanden zu haben, den man liebte, und dass es sich lohnte, diese Liebe zu bewahren.

Nachdem die Krebse verzehrt waren, begann sich der Kreis aufzulösen. Es bildeten sich kleinere Gruppen. Einige gingen wieder auf die Straße, andere legten sich pennen. Tina regte sich nicht. Sie saß wie festgefroren, zweifellos vor Angst und Unsicherheit.

Santos stand auf und ging zu ihr. „Hi“, murmelte er und lächelte sie unbefangen an. „Ich bin Santos.“

Sie sah ihn kurz an und senkte sofort wieder den Blick. „Hi.“

Ihre Stimme war sanft und süß … und ängstlich. Zu sanft und zu süß für ein Mädchen von der Straße. Die Stimme würde rasch härter werden, genau wie sie selbst. Sofern Tina überleben will. Er setzte sich neben sie und achtete darauf, genügend Abstand zu halten. „Du heißt Tina, richtig?“

Sie nickte und schwieg.

„Scout sagte, Claire hat dich mitgebracht.“ Sie nickte wieder. „Das Erste, was du über uns lernen musst, ist: Scout weiß alles“, fügte er lächelnd hinzu. „Das Zweite ist, wir sind eine gute Gruppe und passen aufeinander auf.“ Da sie immer noch nicht aufsah, glaubte er, sie wolle lieber allein sein, und machte Anstalten, sich zu erheben. „Wenn du in Schwierigkeiten steckst, lass es mich wissen. Ich werde versuchen, dir zu helfen.“

Sie hob das Gesicht, und er sah, dass ihre Augen und Wangen feucht waren. Er sah auch, dass sie hübsch war, mit hellbraunem Haar und großen blauen Augen. Vermutlich war sie etwa in seinem Alter, vielleicht etwas älter.

„D…danke“, stammelte sie.

„Kein Problem!“ Er lächelte wieder. „Wir sehen uns dann.“

„Warte!“

„Ich …“ Ihre Stimme brach, und Tina rang um Fassung. „Ich weiß nicht, wo ich hinsoll. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Kannst du mir … helfen?“

„Ich versuch’s“, erwiderte Santos, obwohl er bezweifelte, ihr geben zu können, was sie wirklich brauchte: einen sicheren Platz zum Schlafen und Angstfreiheit. Er setzte sich wieder. „Wohin möchtest du denn, Tina?“

„Nach Hause“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Sie verkrampfte die Hände im Schoß und kämpfte gegen die Tränen an. „Aber ich kann nicht.“

Er verstand und schürzte nachdenklich die Lippen. „Woher kommst du?“

„Algiers. Meine Mutter und …“

Das Heulen einer Polizeisirene zerriss die stille Nacht und störte wie eine Obszönität.

„O mein Gott!“ Tina sprang auf. Sie sah sich wild um wie ein gefangenes Tier, als sehe sie ihre Umgebung zum ersten Mal.

Santos stand ebenfalls auf. „He, Tina … beruhige dich. Es ist okay. Es ist nur …“

Eine zweite Sirene folgte der ersten, dann eine dritte. Die Einsatzwagen fuhren nah am Gebäude vorbei. Rotes Alarmlicht erhellte die Dunkelheit, drang durch Ritzen und Fugen und schuf ein sonderbares, beängstigendes Kaleidoskop. Es war, als wären ein Dutzend Polizeiautos auf sie herabgefallen.

„Nein!“ schrie Tina und bedeckte sich die Ohren. „Nein!“

„Es ist okay … Tina …“ Santos legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie wirbelte zu ihm herum, das Gesicht eine Maske des Entsetzens. Im nächsten Moment riss sie sich von ihm los und rannte zur Tür. Santos folgte ihr, erwischte sie kurz vor der Tür, schloss sie in die Arme und hielt sie fest.

Sie wehrte sich hysterisch, trat, schrie und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. „Lass das! Du musst mich gehen lassen. Du musst!“

„Du tust dir nur weh!“ Santos wich ihren Schlägen so gut es ging aus und stöhnte auf, als sie ihn seitlich am Hals traf. „Verdammt, Tina, die Treppe ist …“

„Sie kommen … er hat sie geschickt. Sie …“

„Wer, er?“ Santos packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie. „Tina, niemand kommt. Niemand wird dir etwas tun. Hör nur, die Sirenen sind weg.“

Schluchzend lehnte sie sich an ihn und zitterte so heftig, als hätte sie Zuckungen. „Du verstehst nicht.“ Sie krallte die Finger in sein T-Shirt. „Er wird sie schicken … er hat es gesagt.“

Nach einer Weile beruhigte sie sich. Völlig erschöpft sank sie gegen ihn. Santos führte sie in eine Zimmerecke, wo eine Matratze lag. Sie ließ sich darauf nieder und rollte sich verzweifelt zu einem Ball zusammen.

Santos setzte sich neben sie, die Knie angezogen. „Möchtest du darüber reden?“

Obwohl sie schwieg, verriet ihm etwas an ihrer Atmung, an der Art, wie sie immer wieder wie zum Sprechen Luft holte, dass sie reden wollte. Schließlich begann sie resigniert und verzweifelt: „Ich dachte … sie kämen mich holen. Ich dachte, er hätte sie geschickt.“

„Die Bullen? Du dachtest, die Bullen kämen deinetwegen?“

Sie nickte und rollte sich noch fester zusammen.

„Aber warum?“ murmelte Santos mehr zu sich selbst. „Du dachtest, er hätte sie geschickt. Wer?“

„Mein Stiefvater. Er ist ein Cop.“ Tina bebte, dass ihr die Zähne klapperten, und schlang die Arme fester um sich. „Er sagte mir, wenn ich je versuchen sollte … ihm zu entkommen, würde er mich finden. Er sagte, er würde mich finden und …“

Sie ließ den Satz unbeendet, und Santos konnte nur mutmaßen, was er gedroht hatte, ihr anzutun. Nach ihrer Angst zu urteilen, musste es schlimm sein.

Noch schlimmer als das, was er ihr vermutlich schon angetan hat, der Bastard.

Santos verschränkte die Finger ineinander. „Ich lebe mit meiner Mutter. Sie ist ziemlich cool, aber mein Dad war ein echter Mistkerl. Er hat mich immer geschlagen. Er ist tot.“ Tina sagte nicht, dass es ihr Leid tue, denn sie wusste, dass es ihm nicht Leid tat. Kinder, die die Hölle durchgemacht hatten, verstanden einander ohne Worte. „Ich vermute, dein Stiefvater ist auch ein Mistkerl.“

„Ich hasse ihn!“ stieß sie heftig hervor, die Stimme tränenerstickt. „Er … tut mir weh. Er … fasst mich an.“

Santos krampfte sich der Magen zusammen. „Also bist du weggelaufen.“

„Andernfalls hätte ich mich umgebracht.“ Sie setzte sich hin und sah Santos an. Er erkannte an ihrem Gesicht, dass sie es ernst meinte. Sie hatte den Tod als einen möglichen Ausweg in Betracht gezogen. „Ich hatte nicht den Mut.“

„Hast du jemand davon erzählt?“

„Meiner Mutter.“ Tina reckte das Kinn vor. „Sie hat mir nicht geglaubt. Sie nannte mich eine Lügnerin … und eine Schlampe.“

Santos fluchte. Er war nicht überrascht, er hatte solche Geschichten schon häufiger gehört. „Und was war mit Lehrern, einer Nachbarin oder so?“

„Er ist ein Cop, vergiss das nicht? Ein richtiger Spitzencop noch dazu.“ Sie biss sich hart auf die Unterlippe. „Wer hätte mir geglaubt? Meine eigene Mutter hat es nicht.“

Santos drückte ihr die Hand. „Tut mir Leid.“

„Ja, mir auch.“ Sie wandte den Blick ab. „Ich bedaure, dass ich nicht den Mut hatte, diese Pillen zu nehmen. Ich hatte sie in der Hand, aber ich konnte es nicht.“

„Sag das nicht. Ich bin froh, dass du sie nicht genommen hast.“ Sie sah ihm in die Augen, und er zwang sich zu einem Lächeln. „Es wird alles wieder gut, Tina.“

„Ja natürlich. Es wird alles wieder gut. Ich habe kein Geld und keinen Platz, wo ich hingehen kann.“ Sie begann wieder zu weinen und schlug die Hände vors Gesicht. „Ich habe solche Angst. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Sie wandte ihm ihr tränennasses Gesicht zu. „Was soll ich nur tun?“

Santos wusste es nicht, also tröstete er sie auf die einzige ihm mögliche Weise: Er legte den Arm um sie und hielt sie, bis sie sich ausgeweint hatte, bis der Raum still wurde und einer nach dem anderen aus der Gruppe an den Ort ging, den er Zuhause nannte. Und Santos hielt sie weiter, obwohl er sich der verrinnenden Zeit bewusst wurde. Seine Mutter würde bald heimkommen. Wenn sie entdeckte, dass er weg war, war er erledigt.

Bedauernd zog er sich schließlich von ihr zurück. „Tina, ich muss gehen. Ich …“

„Lass mich nicht allein!“ Sie klammerte sich an ihn. „Ich habe solche Angst. Bleib noch ein bisschen. Bitte, Santos!“ Sie presste ihr Gesicht an seine Brust. „Geh noch nicht!“

Santos seufzte. Er konnte sie nicht verlassen. Sie hatte niemanden und konnte nirgendwohin. Seine Mutter würde es verstehen müssen. Und das würde sie auch – nachdem sie ihn umgebracht hatte.

Sie redeten. Santos erzählte ihr aus seinem Leben, von Mutter und Vater, der Schule und dem Leben im Quarter. Sie erzählte ihm von ihrem leiblichen Vater, wie sehr sie ihn geliebt habe und wie er gestorben war.

Santos hörte ihrer Stimme den durchlittenen Schmerz und die Sehnsucht an. Zum ersten Mal dachte er darüber nach, wie schwer es war, einen geliebten Menschen zu verlieren, wie weh das tun musste.

Er war so froh gewesen über das Wegbleiben seines Vaters, dass er nie einen Gedanken daran verschwendet hatte, wie es gewesen wäre, wenn man ihm die Mutter genommen hätte.

Es wäre die Hölle gewesen. Ich bezweifle, dass ich das überstanden hätte.

Sie redeten weiter über ihre Träume und Hoffnungen für die Zukunft. Als sie schließlich beide ganz erschöpft waren, zog Santos sich zurück und betrachtete forschend ihr Gesicht. „Ich muss gehen, Tina. Meine Mutter bringt mich um.“

Tina wurde blass vor Angst, nickte jedoch tapfer. „Ich weiß, du musst gehen.“

„Ich erzähle ihr von dir“, sagte er und nahm Tinas Hand. „Ich frage sie, ob du eine Weile bei uns unterkriechen kannst, das verspreche ich.“

Sie schluchzte auf, und er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. „Warte hier. Ich komme morgen zurück.“ Er griff fester zu. „Ich verspreche, ich sehe morgen nach dir.“

Er beugte sich vor und küsste sie. Sie stieß einen leisen Laut des Erstaunens aus, und Santos war selbst ganz verblüfft über sein Tun. Er wich kurz zurück, sah ihr tief in die blauen Augen und küsste sie wieder, tiefer, inniger. Die Brust wurde ihm eng und der Atem knapp vor Erregung.

Tina schlang ihm die Arme um den Hals und presste sich an ihn. „Bleib bei mir. Bitte! Lass mich nicht allein!“

Santos erwog einen Moment, ihr nachzugeben. Er kam schon zu spät heim und steckte bereits in den größten Schwierigkeiten seines Lebens.

Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren, hörte er noch die Worte seiner Mutter. Sie würde glauben, dass er geschnappt worden war. Vielleicht hatte sie schon die Bullen angerufen und sich selbst auf die Suche nach ihm gemacht.

„Ich kann nicht“, flüsterte er. „Ich möchte bleiben, aber es geht nicht.“

Er presste seine Lippen auf ihre, befreite sich dann von ihren Armen und stand auf. „Ich komme morgen zurück. Ich verspreche es, Tina. Morgen bin ich wieder da.“

 

6. KAPITEL

Santos kam an einem Laden mit einer Neonuhr im Schaufenster vorbei. Gelbgrünes Licht fiel auf den Gehweg und färbte seine Haut unheimlich. Die Uhr zeigte vier Uhr morgens.

Ich bin so gut wie tot.

Im Gegensatz zum Hinweg legte er nun keinen Wert mehr auf Unauffälligkeit. Er nahm den schnellsten und geradesten Weg nach Hause und wechselte zwischen Joggen und Sprinten. Sogar die normalerweise sehr belebten Straßen waren inzwischen menschenleer.

Während er lief, dachte er an den Zorn seiner Mutter und wie er sie trotz seines Fehlverhaltens überreden konnte, Tina eine Weile bei sich aufzunehmen. Er dachte an Tinas Lippen auf seinen, an ihre Angst und ihr Flehen, er möge bei ihr bleiben. Frustriert spreizte er die Finger und konnte sich nicht entscheiden, ob er richtig gehandelt hatte.

Er hätte Tina mit nach Hause nehmen und darauf beharren sollen, dass sie bei ihnen blieb. Hätte das nicht geklappt, hätte er immer noch betteln können. Seine Mutter hatte ein weiches Herz. Ein Blick in Tinas verzweifelte, ängstliche Augen, und sie hätte gestattet, dass sie blieb.

Er verlangsamte seine Schritte und erwog zurückzugehen, entschied sich jedoch dagegen. Die Morgendämmerung brach fast an. In der Schule war Tina sicher. Er wollte erst die Sache mit seiner Mutter ausstehen und die Wogen glätten. Am Morgen konnte er dann zu Tina zurückgehen.

Er bog in eine Gasse seitlich der Dauphine Street ab. Die Abkürzung brachte ihn zur Ursuline, zwei Blocks von seinem Haus entfernt. Vor ihm erhellten Polizeilichter die Dunkelheit. Drei Einsatzwagen und eine Ambulanz standen mit blinkenden Lichtern vor einem Gebäude des übernächsten Blocks. Einer neben seinem Haus.

Santos verlangsamte seine Schritte und sah genauer hin. Der Wagen stand nicht neben seinem Haus, sondern davor. Vor seinem Zuhause!

Santos begann zu laufen.

Die Polizei hatte das Gebiet abgesperrt. Trotz der unchristlichen Stunde hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Er entdeckte die alte Frau aus dem Erdgeschoss. „Was ist hier los?“ fragte er atemlos, mit heftig pochendem Herzen.

„Keine Ahnung.“ Sie sah ihn argwöhnisch an. „Jemand ist tot. Ermordet, glaube ich.“

„Wer?“ Einer Panik nahe, schnappte er nach Luft und wollte sein Herz zwingen, langsamer zu schlagen.

Achselzuckend zündete sie sich eine Zigarette an und blinzelte gegen den Rauch. „Keine Ahnung. Vielleicht niemand.“

Santos wandte sich von der Frau ab und suchte in der Menge nach seiner Mutter. Sie war nicht da. Seine Panik wuchs.

Autor

Erica Spindler
Erica Spindler studierte zunächst Kunst. Als erfolgreiche Malerin stellte sie in namhaften Galerien aus. 1982 begann sie mit dem Schreiben, als sie mit einer Erkältung das Bett hüten musste. 1987 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Zunächst tat sie sich als Autorin romantischer Geschichten hervor, wandte sich aber ab 1996 dem...
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