Verflucht verliebt

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Biss-Fans, aufgepasst - hier kommt die Fortsetzung des paranormalen Vampir-Love-Romans von Gena Showalter - in der ersten Woche auf Platz 6 der New York Times-Bestsellerliste!

Endlich hat der 16-jährige Aden Stone beste Freunde und das Mädchen seiner Träume. Aber wie lange noch? Die Hexen haben sie alle zum Tode verflucht!

Eigentlich will Aden nur eins: Zeit mit seiner Vampirprinzessin verbringen! Zärtlich will er Victoria halten, küssen - und muss hoffen, dass sie ihn nicht beißt. Denn obwohl er nach dem Sieg über den Vampirkönig Anspruch auf dessen Thron hat, ist Aden immer noch ein Mensch. Und er muss sich, seine Geliebte, seine beste Freundin Mary-Ann und Werwolf Riley vom Todesfluch der Hexen befreien! Nur dann können sie verhindern, dass die Wesen der Finsternis ihren Krieg in Crossroads austragen. Gemeinsam müssen die vier einen Gegenzauber finden. Doch ausgerechnet jetzt haben Mary-Ann und Riley eigene Sorgen …
Ob es Aden gelingt, Ordnung in das Chaos zu bringen, um sich und die anderen vor dem Tod zu retten?


  • Erscheinungstag 10.02.2012
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781560
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Aden Stone wälzte sich im Bett herum, bis seine Decke auf den Boden rutschte. Zu heiß. Er war schweißgebadet, seine Boxershorts, sein einziges Kleidungsstück, klebte an den Oberschenkeln. Zu viel. Sein Verstand … oh, sein armer, verwüsteter Verstand. So viele flackernde Bilder vermischten sich mit verzehrender Dunkelheit, entsetzlichem Chaos und brutalen Schmerzen.

Ich ertrage das … nicht mehr lange … Er war ein Mensch, aber durch seine Adern floss brennend heißes Vampirblut. Es war Blut, das Macht verlieh und ihm ermöglichte, durch die Augen des Spenders zu sehen, wenn auch nur für kurze Zeit. Das allein wäre nicht so schlimm gewesen, er hatte es auch schon einmal erlebt, aber in der vergangenen Nacht hatte er Blut von zwei verschiedenen Vampiren getrunken. Natürlich aus Versehen, aber das war seinem verwirrten Hirn egal.

Eine Quelle war seine Freundin, Prinzessin Victoria, gewesen; die andere Dmitri, ihr mittlerweile toter Verlobter.

Jetzt konkurrierten beide Blutsorten brutal um seine Aufmerksamkeit. Es war ein mörderisches Hin und Her. Keine große Sache, was? Im Laufe der Jahre hatte er gegen Zombies gekämpft, Zeitreisen unternommen und mit Geistern gesprochen, da sollte er über ein paar Konzentrationsprobleme doch lachen können. Tja, falsch. Er fühlte sich, als hätte er eine Flasche Säure getrunken und mit Glassplittern nachgespült. Das eine brannte, das andere zerfetzte ihn innerlich.

Und jetzt war er …

Wieder verschob sich seine Sicht.

„Oh Vater“, hörte er Victoria plötzlich flüstern.

Er zuckte zusammen. Sie hatte zwar geflüstert, aber zu laut. Seine Ohren waren eben so empfindlich wie der Rest seines Körpers.

Irgendwie gelang es ihm, sich durch die Schmerzen zu kämpfen und seinen Blick zu fokussieren. Grober Fehler. Zu hell. Die tiefe Finsternis um Dmitri war den strahlenden Farben von Victorias Umgebung gewichen. Jetzt sah Aden durch ihre Augen und konnte nicht einmal blinzeln.

„Du warst der stärkste Mann, der je gelebt hat“, sagte sie ernst, und Aden hatte das Gefühl, als würde er mit rauer Kehle diese Worte aussprechen. „Wie konntest du so schnell besiegt werden?“ Und wieso wusste ich nicht, was vor sich ging, dachte sie.

Sie, ihr Leibwächter Riley und ihre gemeinsame Freundin Mary Ann hatten Aden in der vorigen Nacht nach Hause gefahren. Victoria hatte bei ihm bleiben wollen, aber er hatte sie weggeschickt. Er wusste nicht, wie er auf das Blut von zwei Vampiren reagieren würde, und sie musste in dieser Zeit der Trauer bei ihrem Volk sein. Er hatte zu schlafen versucht, sich aber nur im Bett herumgewälzt, während sein Körper sich von den Schlägen erholte, die er ausgeteilt – und eingesteckt – hatte. Vor einer Stunde schließlich hatte das Hin-und-her-Gezerre angefangen. Zum Glück war Victoria gegangen. Es wäre ein echter Albtraum gewesen, sich selbst durch ihre Augen zu sehen, so jämmerlich, wie es ihm gerade ging, und zu wissen, was sie dachte.

Wenn Victoria an ihn dachte, sollte ihr dabei vor allem das Wort „unbesiegbar“ einfallen. Wenn das nicht ging, wäre er auch mit „heiß“ zufrieden. Auf alles andere konnte er verzichten. Er fand sie nämlich in jeder Hinsicht perfekt.

Perfekt und süß und wunderhübsch. Und sie gehörte zu ihm. Er sah sie im Geiste vor sich. Sie hatte langes dunkles Haar, das ihr bis auf die blassen Schultern fiel, blaue Augen, die wie Kristalle funkelten, und kirschrote Lippen. Kusslippen. Lippen zum Lecken.

Er hatte sie erst vor ein paar Wochen getroffen, doch er hatte das Gefühl, er würde sie schon ewig kennen. Auf eine verdrehte Art tat er das sogar. Zumindest seit sechs Monaten, denn er hatte eine Vorwarnung von einer der Seelen bekommen, die in seinem Kopf lebten. Als wären Vampire und Blut, das einem telepathische Fähigkeiten verlieh, noch nicht seltsam genug, teilte Aden sich den Kopf mit drei anderen menschlichen Seelen. Und mehr noch, jede Seele besaß eine übernatürliche Fähigkeit.

Julian konnte Tote auferstehen lassen.

Caleb konnte sich in andere Körper hineinversetzen.

Und Elijah konnte die Zukunft vorhersagen.

Durch Elijah hatte Aden schon gewusst, dass Victoria kommen würde, bevor sie in Crossroads, Oklahoma, eintraf. Früher hatte er die Stadt für die Hölle auf Erden gehalten, aber jetzt fand er sie großartig, auch wenn sich hier alle möglichen mythischen Wesen tummelten. Hexen, Kobolde, Elfen – allesamt Victorias Feinde – und natürlich Vampire. Ach ja, und Werwölfe, die Beschützer der Vampire.

Es war wirklich eine verrückter Haufen von Wesen. Aber wenn ein Mythos stimmte, war es irgendwie naheliegend, dass alle stimmten.

„Was mache ich nur mit …“, setzte Victoria an, und ihre Worte holten ihn zurück in die Gegenwart.

Er wollte wirklich gern hören, wie dieser Satz zu Ende ging. Aber bevor sie weitersprechen konnte, verschob sich seine Wahrnehmung. Schon wieder. Plötzlich umfing ihn Dunkelheit, sie verschlang ihn und unterbrach seine Verbindung zu Victoria. Wieder wälzte sich Aden auf dem Bett hin und her, Schmerzen durchzuckten ihn, bevor er Kontakt zu Dmitri, dem anderen Vampir, aufnahm. Dem toten Dmitri.

Aden wollte die Augen öffnen, um etwas zu sehen, irgendwas, aber seine Lider waren wie zugeklebt. Zwischen keuchenden Atemzügen roch er Erde und … Rauch? Ja, das war Rauch. Dicker, widerlicher Rauch, der in der Kehle kratzte. Er hustete immer wieder – oder hustete Dmitri? Lebte Dmitri noch? Oder reagierte Dmitris Körper nur, weil Adens Gedanken durch sein totes Hirn sirrten?

Aden versuchte, Dmitris Lippen zu bewegen, Wörter zu formen, jemanden auf sich aufmerksam zu machen, aber seine Lungen krampften sich zusammen, um nicht die aschehaltige Luft einzuatmen, und dann bekam er gar keine Luft mehr.

„Verbrennt ihn“, sagte jemand mit kalter Stimme. „Sorgen wir dafür, dass der Verräter auch tot bleibt.“

„Ist mir ein Vergnügen“, antwortete jemand anderer mit einem freudigen Unterton.

Im Dunkeln konnte Aden die Sprecher nicht sehen. Er wusste nicht, ob sie Menschen oder Vampire waren. Auch nicht, wo er war oder … Die Worte des ersten Mannes drangen schließlich bis zu ihm durch und vertrieben jeden anderen Gedanken. Verbrennen …

Nein. Nein, nein, nein. Nicht solange Aden hier war. Was, wenn er jede Flamme spürte?

Nein! versuchte er zu schreien. Wieder brachte er keinen Ton heraus.

Dmitris Körper wurde hochgehoben. Aden fühlte sich, als würde er an einem Drahtseil hängen, sein Kopf baumelte herab, Arme und Beine schlackerten. Die gefürchteten Flammen hörte er ganz in der Nähe prasseln. Hitze schlug ihm entgegen.

Nein! Er wollte um sich schlagen, sich wehren, aber der Körper rührte sich nicht. Nein!

Im nächsten Moment berührten ihn die Flammen. Und ja, er spürte sie. Die ersten strichen über seine Füße, dann ergriffen sie ihn und breiteten sich aus. Es waren Schmerzen, wie er sie noch nie gespürt hatte. Haut schmolz. Muskeln und Knochen wurden flüssig. Blut zersetzte sich. Großer Gott.

Immer noch versuchte er zu kämpfen, wegzulaufen, und immer noch gehorchte der leblose Körper seinen Befehlen nicht. Nein! Hilfe! Dann das Unmögliche, die Schmerzen wurden noch schlimmer … das schwelende Feuer fraß ihn Stückchen für Stückchen auf. Was würde passieren, wenn die Verbindung zu Dmitri bis zum Ende hielt? Was würde passieren, wenn er …

Lichtpunkte blitzten in der Dunkelheit auf, sie schwollen an und vereinten sich, bis er die Welt wieder durch Victorias Augen sah. Ein neuer Wechsel. Gott sei Dank. Er rang nach Luft und war regelrecht schweißgebadet. Obwohl er nun in einem anderen Körper steckte, peitschten immer noch Schmerzen von seinen Füßen zum Hirn – viel größere Schmerzen als von seinen eigenen Adern, die sich anfühlten, als seien sie mit Säure gefüllt. Am liebsten hätte er geschrien.

Er merkte, wie er zitterte. Nein, Victoria zitterte.

Ihm – ihr – legte sich eine sanfte warme Hand auf die Schulter. Sie blickte mit tränenverschleiertem Blick auf. Der Mond leuchtete am Himmel, und die Sterne funkelten. Einige Nachtvögel flogen kreischend über sie hinweg. Hatten sie Angst? Wahrscheinlich. Sie spürten wohl die Gefahr unter sich.

Victoria senkte den Blick, und Aden musterte die Vampire vor ihr. Sie waren groß, blass und gut aussehend. Lebendig. Die meisten waren nicht die Ungeheuer aus den Geschichten. Sie blieben einfach nur unter sich, und Menschen sahen sie als Nahrungsquelle, für die sie sich keine Gefühle leisten konnten.

Immerhin lebten Vampire jahrhundertelang, während Menschen schwach wurden und starben. So wie Aden bald sterben würde.

Elijah hatte seinen Tod schon vorausgesagt. Dass er diese Vorahnung hatte, war wirklich mies, aber noch mieser war die Art, auf die er sterben würde: durch ein scharfes Messer in seinem Herzen.

Er hatte immer inständig gehofft, dass sich seine Todesart auf wundersame Weise änderte. Bis jetzt. Denn ein Messer im Herzen war um Längen besser, als in einem Körper verbrannt zu werden, der nicht mal der eigene war. Und wann zum Teufel bekam er endlich mal eine Pause? Keine Qualen, keine Kämpfe gegen übernatürliche Wesen, kein Warten auf das Ende, nur Klassenarbeiten schwänzen und seine Freundin küssen.

Aden riss sich am Riemen, bevor er sich noch in eine unbezwingbare Wut hineinsteigerte. Hinter den Vampiren ragte das Herrenhaus in die Höhe, das sie bewohnten; unheimlich und voller Schatten, wie eine Mischung aus einem Geisterhaus und einer romanischen Kathedrale. Victoria hatte ihm erzählt, das Haus sei über hundert Jahre alt, und die Vampire hätten es sich vom Besitzer „geliehen“, als sie nach Oklahoma gekommen waren. Was heißen dürfte, dass der frühere Besitzer den Vampiren ein nettes Mittagsbüfett bereitet hatte – mit seinen Körperteilen.

„Er war stark, das stimmt“, sagte ein Mädchen, das so alt wie Victoria aussah. Ihr Haar hatte die Farbe von frisch gefallenem Schnee, ihre Augen waren grasgrün, und ihr Gesicht glich dem eines Engels. Sie trug ein schwarzes Gewand, das eine blasse Schulter frei ließ, also traditionelle Vampirkleidung, aber irgendwie wirkte sie fehl am Platz. Vielleicht weil sie gerade eine Kaugummiblase zum Platzen gebracht hatte.

„Ein großer König“, fügte ein weiteres Mädchen hinzu und legte Victoria eine Hand auf die andere Schulter. Auch ihr Haar war sehr hell, sie hatte kristallblaue Augen wie Victoria und dazu das Gesicht eines gefallenen Engels. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen trug sie ein bauchfreies Top aus schwarzem Leder und eine schwarze Lederhose. Um die Hüften hatte sie sich Waffen geschnallt, und um ihre Handgelenke wand sich Stacheldraht. Und nein, der Stacheldraht war kein Tattoo.

„Ja“, antwortete Victoria leise. Meine lieben Schwestern.

Schwestern? Aden hatte von Victorias Schwestern gehört, sie aber nie getroffen. Während des Balls, mit dem die offizielle Auferstehung von Vlad dem Pfähler nach seinem hundertjährigen Schlaf gefeiert werden sollte, hatte man die beiden in ihren Zimmern eingesperrt. Aden fragte sich, ob auch Victorias Mutter da war. Sie hatte einem Menschen die Geheimnisse der Vampire verraten und war deshalb in Rumänien gefangen gewesen. Und zwar auf Vlads Befehl hin. Ein echt netter Typ, dieser Vlad.

Aden war ein Mensch, und er wusste viel mehr, als er sollte. Manche Vampire, zum Beispiel Victoria, konnten sich teleportieren, sie konnten nur durch ihre Gedanken an einen anderen Ort gelangen.

Und wenn die Nachricht, dass der Vampirkönig gestorben war, Rumänien erreicht hatte, war die Vampirmutter bestimmt schon im nächsten Moment in Crossroads eingetroffen.

„Aber er war ein mieser Vater, oder?“, meinte das Mädchen mit dem Kaugummi.

Die drei lächelten sich schief an.

„Allerdings“, sagte Victoria. „Unnachgiebig, anspruchsvoll. Brutal seinen Feinden gegenüber – und manchmal zu uns. Und trotzdem ist es schwer, sich zu verabschieden.“

Sie blickte auf Vlads verkohlte Überreste. Er war der erste Mensch, der sich je in einen Vampir verwandelt hatte. Zumindest der erste, von dem man wusste. Sein Körper war noch intakt, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Auf seinem haarlosen Schädel saß verrutscht eine Krone.

An den Fingern trug er mehrere Ringe, ein schwarzes Samttuch bedeckte Brust und Beine.

Seine Leiche lag noch dort, wo Dmitris Helfer sie hatten fallen lassen. Schrieb das Protokoll vor, dass man eine königliche Leiche nicht wegbringen durfte? Oder waren seine Untertanen nur zu geschockt, um ihn zu berühren?

Sie hatten ihren König in der Nacht verloren, in der sie ihn zurückbekommen sollten. Dmitri hatte Vlad kurz vor der Zeremonie getötet, indem er ihn verbrannte, und den Thron der Vampire für sich beansprucht. Dann hatte Aden Dmitri getötet, und jetzt sollte er selbst die Blutsauger anführen. Ausgerechnet Aden, ein Mensch; das war wirklich Irrsinn. Er würde einen schrecklichen König abgeben. Er wollte es nicht mal versuchen.

Er wollte Victoria. Nicht mehr, nicht weniger.

„Trotz unserer Gefühle bekommt er einen Ehrenplatz, selbst im Tod“, sagte Victoria. Sie blickte an ihren Schwestern vorbei auf die Vampire, die immer noch den Garten bevölkerten. „Sein Begräbnis …“

„… kann erst in ein paar Monaten stattfinden“, unterbrach ihre zweite Schwester.

Victoria blinzelte, einmal, zweimal, als wollte sie ihre Gedanken ordnen. „Wieso?“

„Er ist unser König. Er war immer unser König. Und er ist der Stärkste von uns allen. Was ist, wenn er unter dem ganzen Ruß noch lebt? Wir müssen abwarten und ihn beobachten. Um sicherzugehen.“

„Nein.“ Aden spürte, wie Victorias Haar über ihre Schulter strich, als sie heftig den Kopf schüttelte. „Das weckt in allen nur falsche Hoffnung.“

„Ein paar Monate sind zu lange, stimmt“, sagte die Kaugummi kauende Schwester. Sie hieß Stephanie, wenn er Victorias Gedanken richtig las. „Aber eine Weile zu warten, bevor wir ihn ganz verbrennen, wäre schon klug. Dann können sich alle an den Gedanken gewöhnen, einen Menschen als König zu haben. Schließen wir doch einen Kompromiss. Lasst uns … ich weiß nicht … einen Monat warten. Wir können ihn in die Krypta unter unseren Füßen legen.“

„Erstens ist die Krypta nur für unsere menschlichen Toten. Zweitens ist auch ein Monat zu lange“, sagte Victoria zähneknirschend. „Wenn wir überhaupt warten müssen …“ Sie zögerte, bis ihre Schwestern nickten. „… dann warten wir … einen halben Monat.“ Sie hätte lieber einen Tag oder zwei vorgeschlagen, aber ihr war klar, dass sie damit nur Widerspruch geerntet hätte. Und so konnte sich auch Aden an den Gedanken gewöhnen, König zu sein.

Ihre andere Schwester fuhr sich mit der Zunge über die extrem scharfen, extrem weißen Zähne. „Na gut, einverstanden. Wir warten vierzehn Tage. Und wir bahren ihn in der Krypta auf. Da können wir ihn einschließen, damit ihm nicht irgendwelche Rebellen noch mehr zusetzen.“

Victoria seufzte. „Ja, in Ordnung. Ihr habt meinem Vorschlag zugestimmt, also stimme ich eurem zu.“

„Wow. Wir mussten uns gar nicht prügeln, um uns zu einigen. Die Wachablösung hat schon was gebracht.“ Stephanie drückte ihren Schwestern die Schulter. „Aber zurück zu unserem alten Herrn. Wisst ihr, er hat Glück. Er ist hier gestorben, also bleibt er auch hier. Hätte er drüben in Rumänien ins Gras gebissen, würde die restliche Familie auf sein Grab spucken.“

Nach einem Moment betroffener Stille ging ein empörtes Getuschel durch die Menge.

„Was denn?“ Stephanie breitete ganz unschuldig die Arme aus. „Ihr denkt doch genau das Gleiche.“

Was für ein Glück, dass Victoria für die Beerdigung nicht in ihre Heimat reisen würde. Aden hätte sie nicht begleiten können, denn er lebte auf der D&M-Ranch, wo jede seiner Bewegungen beobachtet wurde. Die Ranch war ein Wohnheim für schwer erziehbare Jugendliche, man könnte auch sagen, für nirgendwo erwünschte Straftäter.

Er galt allgemein als schizophren, weil er mit den Seelen sprach, die in seinem Kopf lebten. Das hatte ihm ein Leben mit Medikamenten in psychiatrischen Anstalten eingebracht. Die Ranch war der letzte Versuch des Systems, ihn zu retten, und wenn er diese Chance vermasselte, würde man ihn einsperren. Tür zu, aus, vorbei. Willkommen in der Gummizelle für den Rest seines Lebens.

Er würde Victoria für immer verlieren.

„Halt den Mund, Stephanie, sonst sorge ich dafür. Vlad hat uns beigebracht, zu überleben, und er hat dafür gesorgt, dass die Menschen nichts von uns wissen. Zumindest die meisten nicht. Er hat eine Legende aus uns gemacht, einen Mythos. Und er hat unseren Feinden gezeigt, dass sie uns fürchten müssen. Schon dafür respektiere ich ihn.“ Die Schwester mit den blauen Augen – Lauren, sie hieß Lauren – legte den Kopf schief und wurde plötzlich nachdenklich. „So, und was machen wir mit dem Sterblichen, während unsere zwei Wochen Schonfrist verstreichen?“

„Mit Victorias … Aden?“ Stephanie runzelte die Stirn. „So heißt er doch, oder?“

„Haden Stone, die Leute nennen ihn Aden, ja“, antwortete Victoria. „Aber ich …“

„Wir folgen seinen Befehlen“, unterbrach sie eine Männerstimme. „Vielleicht ist es euch entgangen, aber er ist unser Herrscher.“ Die Stimme gehörte Riley, einem Werwolf und Victorias vertrauenswürdigstem Leibwächter. Er kam auf die Mädchen zu und sah Lauren finster an. „Sag Bescheid, wenn du das nicht verstehst, dann hole ich die Handpuppen raus. Er hat Dmitri getötet, also hat er das Sagen. Ende der Diskussion.“

Lauren erwiderte seinen Blick böse, ihre Zähne waren noch schärfer geworden. „Pass auf, wie du mit mir redest, Köter. Ich bin eine Prinzessin. Du bist nur die Aushilfe.“

Wieder ging ein Raunen durch die Menge.

Aden hatte die versammelten Vampire immer wieder aus dem Blick verloren, aber jetzt sah er sie genau vor sich, als Victoria sie beobachtete. Sie war bereit, einzuschreiten, falls jemand ihre Schwester angreifen sollte. Den Vampiren gefiel ganz offensichtlich nicht, dass Lauren den Wolf beleidigt hatte. Und Victoria auch nicht. Wölfe hatten Respekt verdient – viel mehr sogar, als für Vlad eingefordert wurde. Wölfe konnten …

Aden fluchte, als Victoria ihre Gedanken verscheuchte und sich auf das konzentrierte, was um sie herum geschah. Wölfe sollten wichtiger sein als Vampire? fragte er sich. Wichtiger als der Vampirherrscher? Warum?

Riley lachte amüsiert. „Man merkt dir deine Eifersucht an, Lore. An deiner Stelle würde ich mich vorsehen.“

Dieses Mal ignorierte Lauren ihn. Sie hatte den Blick ihrer kristallblauen Augen wieder auf Victoria gerichtet und meinte zickig: „Bring Aden morgen Abend her. Dann können ihn alle offiziellkennenlernen.“

Und ihn umbringen, bevor die vierzehn Tage verstrichen waren? „In Ordnung.“ Victoria nickte, ließ sich aber mit keiner Geste oder Silbe anmerken, wie unruhig sie plötzlich wurde. „Also gut. Morgen lernt ihr euren neuen König kennen. Bis dahin werden wir trauern.“

Nach diesem Rüffel war das Gespräch beendet.

Victoria betrachtete seufzend die Leiche ihres Vaters. Was hieß, dass auch Aden ihren Vater betrachtete. Er überlegte, wie der König wohl früher ausgesehen hatte. Er war groß und stark gewesen, keine Frage. Hatte er blaue Augen gehabt wie Victoria? Oder grüne wie Stephanie?

Vlads Finger krümmten sich zu einer Faust zusammen.

Aden war perplex; er war sicher, dass er sich die Bewegung nur eingebildet hatte. Es musste so sein, denn Victoria hatte sie offenbar nicht bemerkt, und er sah durch ihre Augen.

Dann streckten sich Vlads Finger.

Wieder wartete Aden gespannt, sein Herz hämmerte wie wild. Er hatte sich das nicht nur eingebildet, denn als er das noch dachte, zuckten die Finger bereits wieder, als wollten sie sich zur Faust ballen. Das war eine Bewegung, eine echte Bewegung, und das bedeutete Leben. Oder?

Warum hatte Victoria das nicht gesehen? Oder jemand anders? Vielleicht waren sie zu tief in ihrer Trauer versunken. Oder vielleicht stieß Vlads Körper nur die letzten Funken Lebenskraft aus. Auf jeden Fall musste er Victoria sagen, was er gesehen hatte.

Victoria, versuchte Aden mit ganzer Kraft, ihr seine Gedanken zu übermitteln.

Nichts. Keine Antwort.

Victoria!

Sie tätschelte Vlad den Arm, dann stand sie auf, um den stärksten Vampiren zu sagen, sie sollten ihn ins Haus tragen und für das Begräbnis vorbereiten. Offenbar hörte sie Aden nicht.

Und dann war es zu spät. Seine Welt verschob sich, orientierte sich neu, dann umschloss ihn wieder Dunkelheit. Nein, nicht Dunkelheit, sondern Licht, gleißendes Licht. Blauweiße Flammen bedeckten Dmitris Körper und damit auch Adens Körper, sie verbrannten ihn.

Dieses Mal schrie Aden.

Er schlug um sich.

Und er starb.

1. KAPITEL

Mary Ann Gray betrachtete sich in dem großen Spiegel in ihrem Zimmer. Make-up – unaufdringlich und nicht verschmiert. Dunkles Haar – glatt gekämmt, vielleicht sogar, sie wagte es kaum zu denken, seidig. Kleidung – ein faltenfreies Spitzenshirt und eine saubere enge Jeans. Schuhe – Wanderstiefel. Sie trug dicke rosafarbene Schnürsenkel statt den schlichten weißen, damit sie etwas weiblicher wirkten.

Also gut, sie war offiziell bereit.

Sie atmete tief durch, dann packte sie leicht zittrig ihre Bücher in ihren Rucksack, warf ihn über die Schulter und ging nach unten in die Küche. Dort wartete ihr Vater auf sie. Mit Frühstück, das sie würde essen müssen.

Ihr Magen protestierte schon. Sie würde so tun müssen, als ob sie aß, denn wahrscheinlich konnte sie keinen Bissen bei sich behalten. Dazu war sie einfach zu nervös.

Vom Wohnzimmer aus hörte sie Töpfe klappern, Wasser in die Spüle rauschen und einen Mann seufzen. Er klang niedergeschlagen.

Vor der letzten Ecke blieb sie stehen und lehnte sich gedankenverloren an die Wand. Vor ein paar Wochen hatten sie und ihr Vater neues Territorium betreten. Scheußliches, trügerisches Territorium. „Wir sind immer ehrlich miteinander“, hatte ihr Vater früher oft gesagt. Sogar ständig. Dabei hatte er ihr gleichzeitig Lügen über ihre leibliche Mutter aufgetischt. Die Frau, die sie großgezogen hatte, war gar nicht ihre Mutter gewesen, sondern ihre Tante.

Mary Anns leibliche Mutter hatte die Fähigkeit besessen, in die Vergangenheit zu reisen, in jüngere Versionen ihrer selbst. Aber er hatte ihr nicht geglaubt und sie für geistig labil gehalten. Sie konnte ihm auch nicht mehr das Gegenteil beweisen, weil sie gestorben war und auch ihr Geist Abschied genommen hatte. Mary Ann hatte sie für immer verloren.

Und das tat immer noch weh.

Mary Ann hatte einen Tag mit ihr verbringen können. Einen erstaunlichen, wunderbaren Tag, denn Eve, ihre Mutter, hatte zu den Seelen in Adens Kopf gehört. Und dann war Eve mit einem Mal verschwunden.

Ihr standen brennende Tränen in den Augen, als sie an ihren Abschied dachte, aber sie blinzelte sie weg. Sie durfte nicht weinen. Dann würde ihre Wimperntusche verlaufen, und sie würde aussehen wie ein Opfer häuslicher Gewalt, wenn Riley sie abholen kam.

Riley.

Mein Freund. Genau, sie würde an ihn denken und sich auf die Zukunft freuen, statt sich an die Vergangenheit zu klammern. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, während ihr Herz wild klopfte. Sie hatte ihn zuletzt auf dem Vampirball gesehen, als sein König ermordet und Aden zum neuen Herrscher der Vampire ernannt worden war. Nicht dass Aden diesen Titel haben wollte – oder die Verantwortung, die er mit sich brachte.

Gut, das war erst Samstag passiert. Aber wenn es um Riley ging, kamen ihr zwei Tage ohne ihn wie eine Ewigkeit vor. Normalerweise sah sie ihn jeden Tag in der Schule und an jedem Abend, wenn er sich in ihr Zimmer schlich.

Und ehrlich gesagt hatte sie noch nie jemanden so gemocht wie ihn. Vielleicht weil Riley einzigartig war. Er hatte Ausstrahlung, war klug, lieb (zu ihr) und fürsorglich. Und sexy. Schon diese Muskeln … Er war durchtrainiert, nachdem er jahrelang als Werwolf gerannt war und als Leibwächter der Vampire gekämpft hatte. Durch beides hatten sich unterschiedliche Seiten seiner Persönlichkeit entwickelt.

Als Leibwächter war er nüchtern und distanziert (zu allen außer ihr). Für einen so brutalen Job musste er das sein. Aber als Werwolf war er sanft, warm und kuschelig. Ich kann es kaum abwarten, mich wieder an ihn zu kuscheln, dachte sie und grinste noch breiter.

„Bleibst du den ganzen Tag da stehen?“, rief ihr Dad.

Sie landete wieder in der Gegenwart, und ihr Lächeln verblasste. Woher hatte er gewusst, dass sie dort stand?

Jetzt geht’s aufs emotionale Schlachtfeld. Sie hob das Kinn, marschierte in die Küche und ließ ihren Rucksack fallen, während sie sich an den Tisch setzte. Als ihr Vater einen Teller Pfannkuchen vor sie stellte, stieg der Duft von Blaubeeren und Sirup auf. Ihre Lieblingssorte. Ihr Magen hatte sich beim Gedanken an Riley weitgehend beruhigt, aber sie glaubte trotzdem nicht, dass sie etwas essen konnte. Besser gesagt wollte sie die möglichen Folgen nicht riskieren. Etwa, sich vor ihrem neuen Freund zu übergeben.

Ihr Dad ließ sich auf den Stuhl gegenüber sinken. Sein blondes Haar stand zu Berge, als wäre er tausendmal mit den Fingern durchgefahren, und seine sonst funkelnden blauen Augen wirkten matt. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Mit den angespannten Fältchen um die Mundwinkel sah er aus, als hätte er seit Wochen nicht geschlafen. Vielleicht hatte er das auch nicht.

Trotz allem sah sie ihn nicht gern so. Er liebte sie, das wusste sie. Aber gerade deshalb versetzte sein Verrat ihr einen solchen Stich. Und mit Stich meinte sie das Gefühl, durch den Fleischwolf gedreht worden zu sein und als Fischfutter zu enden.

„Dad“, sagte sie, während er gleichzeitig „Mary Ann“ sagte.

Erst sahen sie einander an, dann grinsten sie. Das war seit Wochen der erste unbeschwerte Moment, und es war … nett.

„Du zuerst“, sagte sie. Er war Arzt, klinischer Psychologe, und ganz schön schwierig. Er konnte sie mit wenigen Worten dazu bringen, ihre Gefühle auszuplaudern – bevor sie auch nur merkte, dass sie den dummen Mund aufgemacht hatte. Aber das Risiko würde sie heute eingehen, weil sie keine Ahnung hatte, wo sie anfangen sollte.

Er schaufelte sich ein paar Pfannkuchen auf den Teller. „Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut. Jede einzelne Lüge und alles andere auch. Und dass ich dich nur beschützen wollte.“

Ein guter Anfang. Sie nahm sich auch Pfannkuchen, schob sie auf dem Teller hin und her und tat so, als würde sie essen. „Beschützen. Wovor?“

„Du solltest nicht glauben, dass deine Mutter nicht ganz bei sich gewesen ist. Oder dass du sie … dass du …“

„… dass ich sie umgebracht habe?“ Mary Ann schnürte sich plötzlich die Kehle zusammen.

„Ja“, sagte er leise. „Das hast du natürlich nicht. Es war nicht deine Schuld.“

Ihre echte Mutter Anne – die Aden als Eve gekannt hatte – war bei ihrer Geburt gestorben. So was kam vor, oder? Kein Grund für ihren Vater, ihr einen Vorwurf zu machen. Aber er kannte ja auch nicht die ganze Wahrheit. Er wusste nicht, dass Mary Ann übernatürliche Fähigkeiten unterdrückte.

Sie hatte das selbst gerade erst herausgefunden und wusste auch nur, dass sie Menschen – und andere Wesen – mit ihrer bloßen Anwesenheit davon abhielt, ihre Gaben zu benutzen.

Ohne Aden hätte sie nicht einmal das herausgefunden. Er war für alles Übernatürliche der größte Magnet aller Zeiten. (Zumindest konnte Mary Ann sich keinen stärkeren vorstellen.) Ihre Mutter war während der Schwangerschaft mit jedem Tag schwächer geworden. Die kleine Mary Ann hatte ihr regelrecht das Leben ausgesaugt. Und nach der Geburt war Anne/Eve einfach fortgeschwebt.

Und direkt in Adens Kopf gelandet, dachte Mary Ann seufzend. Aden war am selben Tag und im selben Krankenhaus zur Welt gekommen. Außer ihr hatte er noch drei weitere menschliche Seelen – Geister – angezogen.

Allerdings hatte sich Anne/Eve nicht sofort an Mary Ann erinnert. Ihr Gedächtnis war ausgelöscht worden, als sie in Adens Kopf eingedrungen war. Als ihnen alles klar geworden war, hatte ihre Mutter bekommen, was sie sich am meisten gewünscht und was der Tod ihr verwehrt hatte: einen Tag mit Mary Ann. Und nachdem sich dieser Wunsch ihrer Mutter erfüllt hatte, war sie verschwunden. Hatte nichts mehr von sich sehen oder hören lassen. Mir ist schon wieder ganz flau …

Auch davon wusste Mary Anns Vater nichts, und sie würde es ihm nicht erzählen. Er würde es auch nicht glauben. Er würde glauben, sie wäre nicht ganz bei sich, genau wie ihre Mutter.

„Mary Ann?“, fragte ihr Vater. „Sag mir bitte, wie du dich fühlst! Sag mir, was du gedacht hast, als ich …“

Es klingelte an der Tür, womit ihm erspart blieb, den Satz zu Ende zu bringen, und ihr erspart blieb, eine Antwort zu finden. Mit pochendem Herzen sprang sie auf. Riley. Er war hier. „Ich gehe schon“, sagte sie schnell.

„Mary Ann.“

Aber da lief sie schon zum Eingang. Als sie die massive Kirschholztür geöffnet hatte und Riley hinter dem Fliegengitter stehen sah, beruhigte sich ihr Magen schlagartig.

Er lächelte auf seine Böse-Jungen-Art, halb gefährlich und halb richtig gefährlich. „Hallo.“

„Hallo.“ So was von sexy. Er hatte dunkles Haar und hellgrüne Augen. Dazu war er groß und hatte den Körperbau eines leidenschaftlichen Footballspielers, der auf Gewichtheben stand. Er hatte breite Schultern und ein Sixpack … das sie unter seinem schwarzen T-Shirt leider nicht sehen konnte. Seine kräftigen Beine steckten in einer weiten Jeans, und an seinen Stiefeln klebte Dreck.

Moment mal, hatte sie ihn gerade von oben bis unten abgecheckt? Ja. Ihr brannten die Wangen, als sie ihm ins Gesicht sah. Ganz offensichtlich gab er sich Mühe, nicht zu lachen.

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragte er.

Ihre Wangen wurden noch heißer. „Ja, aber ich war noch nicht fertig“, sagte sie und versuchte, nicht weiter zu erröten. Er war kein Modeltyp, aber auf eine raue Art attraktiv, mit einer etwas schiefen Nase – wahrscheinlich weil er sie sich so oft gebrochen hatte – und markantem Kinn. Und einmal hatte sie ihn geküsst, genau auf die wunderbaren Lippen.

Wann küssen wir uns wohl wieder?

Sie war mehr als bereit. So viel Spaß hatte ihre Zunge noch nie gehabt.

Sie wollte schon etwas sagen, doch dann hörte sie hinter sich Schritte und drehte sich um. Ihr Vater kam auf sie zu, ihren Rucksack in der Hand. Sie ging ihm entgegen, nahm ihm den Rucksack ab, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm schnell einen Kuss auf die Wange – bevor sie es sich noch anders überlegte.

„Bis später, Dad. Danke für das Frühstück.“

Seine Miene wirkte ein bisschen weniger angespannt. „Bis später, Kleines. Ich wünsche dir einen tollen Tag!“

„Ich dir auch.“

Dann sah er den Jungen an, der immer noch vor der Tür stand. „Riley“, grüßte er ihn schroff.

Sie hatten sich schon einmal getroffen, aber nur kurz. Ihr Dad wusste es nicht, aber Riley war älter als er. So um die hundert Jahre älter. Wie alle Gestaltwandler alterte Riley langsam, sehr, sehr langsam.

„Dr. Gray“, antwortete Riley respektvoll wie immer.

„Mary Ann?“ Ihr Vater wandte sich wieder an sie. „Nimm lieber eine Jacke mit!“

Es war der erste November, jeden Tag wurde es etwas kälter. Trotzdem sagte sie: „Brauche ich nicht, bestimmt nicht.“ Riley würde sie warm halten. Nach diesem Austausch von Nettigkeiten drückte Mary Ann mit der Schulter die Fliegengittertür auf und nahm Rileys warme, schwielige Hand. Sie erschauerte. Sie berührte ihn so gern. Als Mensch genauso wie als Wolf.

Unterwegs nahm er ihr mit der freien Hand den Rucksack ab.

„Dan ke.“

„Kein Pro blem.“

Obwohl der Morgen längst angebrochen war, versteckte sich die Sonne noch matt hinter Wolken, und der Himmel war dunkelgrau verhangen. In der frischen, kühlen Luft kreischten Amseln, die das ganze Jahr über in Crossroads blieben. Hand in Hand liefen sie an den Nachbarhäusern vorbei.

Die Häuser sahen aus wie alte Bahnhofsgebäude, mit Säulen, Veranden, farbigen Holzfassaden und Schrägdächern. Hinter dem letzten Haus hielten sie auf eine Ziegelmauer in etwa achthundert Metern Entfernung zu. Direkt dahinter begann ein dichter Wald mit mächtigen Bäumen, deren Laub sich gelb und rot gefärbt hatte.

Ihr Vater ging davon aus, dass sie und Riley den langen Weg zur Schule nahmen, entlang der asphaltierten Straße voller Menschen und nicht durch den Wald. Ihr Vater irrte sich. Manchmal musste ein Mädchen einfach mit seinem Freund allein sein, ohne neugierige Augen oder Ohren. Die einen zum Beispiel auf dem Weg zur Crossroads High überraschen konnten.

„Ich kann kaum glauben, wie lange wir uns nicht gesehen haben“, sagte sie.

„Ich weiß. Tut mir leid. Mir kommt es auch wie eine Ewigkeit vor. Ich wollte ja zu dir kommen, glaub mir, aber wegen der Vorbereitung für Vlads Begräbnis sind ständig neue Vampire im Haus aufgetaucht.“

„Mir tut es leid“, sagte sie und drückte sanft seine Hand. „Mir tut leid, dass er tot ist. Ich weiß, dass du ihn respektiert hast.“

„Danke. Wir müssen mit dem Begräbnis vierzehn Tage warten – na ja, jetzt wohl dreizehn. Danach wird Aden offiziell zum König gekrönt.“

„Wieso wartet ihr so lange?“ Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie eine Leiche nach vierzehn Tagen wohl aussah.

Riley zuckte mit den Schultern. „Er war der König. Man will sichergehen, dass er wirklich tot ist.“

„Moment mal. Er könnte noch leben?“

„Nein.“

„Aber du hast doch gerade gesagt …“

„… dass die Leute sichergehen wollen, ich weiß. Sie sind geschockt und hoffen einfach. So was haben sie noch nie erlebt.“

Das konnte sie verstehen. Sie war am Boden zerstört gewesen, nachdem ihre Mutter gestorben war. „Wenigstens wird Aden froh sein, dass er eine Galgenfrist bekommt. Ich glaube kaum, dass er sich darauf freut, König zu werden.“

„Er ist schon König, das ist gar keine Frage. Von so schlimmen Verbrennungen könnte sich nicht einmal Vlad erholen.“

Wieder meinte sie: „Du hast doch gerade gesagt …“

„Ich weiß, ich weiß. Es ist nur so: Ob tot oder lebendig, Vlad herrscht nicht mehr über uns, und wir brauchen einen Herrscher, sonst kommt es zu Chaos, Abtrünnigen und Umsturzversuchen.“

Dazu würde es mit einem menschlichen Herrscher wahrscheinlich trotzdem kommen.

„Und alle sind schon gespannt darauf, Aden kennenzulernen“, fuhr er fort, „und zu hören, welche Pläne er für die Vampire hat.“

Gespannt. Ja, sicher. Tut mir leid, Aden, dachte sie – weil sie annahm, dass er die Nachricht nicht gern hören würde –, da wirst du wohl den Kopf hinhalten müssen.

„Nachdem wir die Frage nach Leben und Tod abgehakt haben, sag mir erst mal, wie es dir geht. Ist alles in Ordnung?“ Er warf ihr einen besorgten Blick zu. „Nach allem was du erlebt hast … Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Mir geht’s gut, wirklich.“ Und das stimmte. Sicher, bei dem Ball hatte sie mit angesehen, wie die Blutsauger Menschen zu wandelnden Mahlzeiten degradiert hatten. Sie hatte gesehen, wie Aden mit einem der Vampire gekämpft, ihn verbrannt und ihm dann einen Dolch ins Auge gerammt hatte. Und ja, diese blutrünstigen Bilder würden sie vielleicht ihr Leben lang verfolgen.

Aber sie lebte noch, dank Aden und Riley, und verglichen damit erschien ihr alles andere irgendwie unwichtig.

„Geht es dir denn auch gut?“, fragte sie. Er war ein Krieger, und wahrscheinlich war es eine Beleidigung, ihn so etwas zu fragen, aber sie musste es von ihm hören.

„Jetzt ja“, antwortete er, dann lächelte er sie an. Bei seinem Lächeln schmolz sie förmlich dahin wie Eis in der Sonne.

Also gut. Erinnere ihn an die zweite Sache, bei der es um Leben und Tod geht, damit ihr euch nachher auf was anderes konzentrieren könnt. Zum Beispiel auf wildes Rumgeknutsche. „Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass sich bei den Vampiren in den nächsten zwei Wochen nichts tut. Wir müssen zu dem Treffen mit den Hexen gehen. Zumindest Aden muss das.“ Sie hasste schon den Gedanken an die Hexen. Sie waren so mächtig und so gefühllos. Und Mary Ann würde sterben, wenn Aden es nicht zu diesem Treffen schaffte.

Vor ein paar Tagen hatten die Hexen sie mit einem Zauber belegt. Mit einem verdammten Todesfluch. Wenn Aden in fünf Tagen nicht bei so einer Zusammenkunft der Hexen erschien, würden Mary Ann, Riley und Adens Freundin Victoria sterben.

So einfach war das. Und so kompliziert.

Niemand wusste, wo das Treffen stattfinden sollte, oder auch nur, wo sich die Hexen aufhielten. Was es unmöglich machte, sich mit ihnen zu treffen.

Vielleicht war das von Anfang an ihr Plan gewesen.

Mir wird schon wieder übel …

Trotzdem wirkte die Aussicht unwirklich. Die Hexen hatten Mary Ann mit einem Todesfluch belegt, falls Aden nicht zu ihrem Treffen kam, aber sie fühlte sich gut. Sie war so gesund, als lägen noch Jahrzehnte vor ihr statt nur einiger Tage.

Würde ihr Herz einfach aufhören zu schlagen? Oder machte sie sich etwas vor? Würde gar nichts passieren, weil der Fluch nur ein Scherz war? Ein Mittel, um ihr Angst zu machen?

Sie hatte die ganze letzte Nacht lang recherchiert, über Hexen und Zaubersprüche und Möglichkeiten, ihnen die Macht zu nehmen. Die Informationen unterschieden sich von Quelle zu Quelle. Aber die glaubwürdigste Quelle war für sie Riley, und er hatte gesagt, dass Zaubersprüche ein Eigenleben entwickelten, wenn sie einmal ausgesprochen waren, und nicht gebrochen werden konnten.

Ein Zucken von Rileys Hand holte sie wieder in die Gegenwart zurück. „Du kannst mir glauben, das Treffen habe ich nicht vergessen.“ Seine Stimme klang tonlos.

Weil er ihr keine Angst machen wollte? Zu spät. Auch wenn ihr die Vorstellung selbst unrealistisch erschien, war sie außer sich vor Angst. Riley glaubte ohne Frage an die Macht der Hexen. Was hieß: Er ging ernsthaft davon aus, dass ihre ganze Gruppe bald sterben würde.

„Irgendeine Ahnung, wo das Treffen stattfinden soll?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.

„Noch nicht, aber ich arbeite daran.“

Wie frustrierend! Nicht dass sie seinetwegen frustriert war, natürlich nicht, aber wegen der ganzen Situation.

„Es kommt schon in Ordnung“, sagte Riley, als hätte er ihre Unruhe gespürt. Hatte er wahrscheinlich auch. Er konnte Auren lesen und damit auch Gefühle. „Wir überlegen uns etwas. Versprochen. Ich würde nie zulassen, dass dir etwas passiert.“

Sie vertraute ihm, wirklich. Mehr als jedem anderen. Er log sie nie an, sondern sagte ihr die Wahrheit, ungeschönt und geradeheraus, wie schlimm es auch war.

Als sie die Mauer erreichten, blieben sie stehen. Ohne Vorankündigung sprang Riley auf die gut zwei Meter hohe Mauerkrone, so geschmeidig, dass es mühelos wirkte. Grinsend beugte er sich herunter und streckte ihr eine Hand entgegen.

Trotzdem brauchte Mary Ann ihre ganze Kraft, um seine Hand zu erreichen – und sah dabei wahrscheinlich aus wie ein Hase, der unter Strom stand, wie sie so auf und ab hüpfte und sich nach ihm reckte. Doch sobald sie seine Finger zu fassen bekommen hatte, zog er sie problemlos nach oben.

„Danke, für alles“, sagte sie, während sie auf der Mauer stand und das Gleichgewicht hielt. „Ich will ja nicht das Thema wechseln, aber glaubst du, Tucker kommt klar?“

Tucker war ihr Exfreund. Sie hatten ihn auf dem Vampirball gerettet, wo er als Snack des Abends gedient hatte.

Riley sprang auf der anderen Seite zu Boden. Wieder bewegte er sich anmutig, die Wucht des Aufpralls schien ihm nicht das Geringste auszumachen. „Er wird’s überleben. Leider.“ Sie meinte, einen Hauch Eifersucht herauszuhören. „Er ist zum Teil ein Dämon, weißt du noch?“ Er breitete die Arme für sie aus. „Dämonen erholen sich schneller als Menschen.“

Das hatten sie schon so oft gemacht, dass sie vor dem Absprung nicht einmal zögerte. Er fing sie auf und ließ sie langsam hinunter. Als sie an seinem schönen Körper hinunterglitt, trafen sich ihre Blicke. Sie legte ihm die Hände flach auf die Brust. Sein Herz hämmerte, genau wie ihres.

„Als könnte ich das vergessen.“ Tuckers Dämonenblut war der einzige Grund gewesen, warum er mit ihr zusammen sein wollte. Nach der Trennung hatte er ihr gestanden, dass sie auf ihn beruhigend wirkte. Er hatte die Trennung nicht gewollt. Nicht weil er sie liebte, sondern weil er sich weiter von ihr einlullen lassen wollte, als wäre sie ein Beruhigungsmittel.

Manchmal fragte sie sich, ob auch Riley deshalb mit ihr zusammen war. Ihn beruhigte sie schließlich auch. Er war immerhin ein übernatürliches Wesen, und ihre bloße Anwesenheit musste das wilde Tier in ihm besänftigen.

Aber selbst wenn das stimmte, wollte sie mit ihm zusammen sein. Sie war schon süchtig nach ihm, sie genoss seine Wildheit. Trotzdem wünschte sie, dass er sie um ihrer selbst willen wollte, nicht wegen ihrer Fähigkeiten. Immerhin konnte sie sich damit trösten, dass sie andere jetzt beruhigte und ihnen nicht die Kraft nahm – wie sie sie ihrer eigenen Mutter genommen hatte.

„Du siehst traurig aus.“ Riley legte den Kopf schief und musterte sie. „Warum?“

Wenn sie an ihre Mutter dachte, wurde sie immer melancholisch. Aber jetzt war sie aus einem anderen Grund niedergeschlagen. „Ich …“ Was konnte sie sagen? Sie wollte ihn nicht anlügen, aber sie wollte ihm auch nicht ihre Angst davor gestehen, dass ihm ihre Fähigkeiten wichtiger waren als sie. Damit würde sie jämmerlich dastehen, als hätte sie kein Selbstbewusstsein. Und, stimmt das?

Ohne Vorwarnung wirbelte Riley sie herum. Sie schrie leise auf, als sich plötzlich die ganze Welt um sie zu drehen schien. Starke Hände hielten sie fest, dann wurde sie mit dem Rücken gegen einen Baum gedrückt, sodass sie nicht wegkonnte. Nicht dass sie weggewollt hätte.

Riley stand direkt vor ihr und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen.

„Werden wir angegriffen?“, fragte sie. Wurden sie von etwas – oder jemandem – bedroht? Hatte …

„Du bist so schön, weißt du das?“, sagte er mit heiserer Stimme.

Also keine Bedrohung. Sie schmolz dahin. „Danke.“ Dabei war sie nicht sicher, ob sie ihm recht geben konnte. An ihren besten Tagen konnte man sie vielleicht als süß bezeichnen. Sie hatte, na ja, ein kindliches Gesicht. Etwas rundlich, mit Grübchen. Leicht gebräunte Haut wie ihre Mutter – das Einzige, was sie an sich mochte – und hellbraune Augen. „Du auch. Du bist auch schön, meine ich.“

„Bin ich nicht.“ Es klang abfällig, aber seine Augen funkelten wie Smaragde. „Ich bin männlich.“

Sie musste lachen. „Männlich. Auf jeden Fall. Was habe ich mir nur dabei gedacht, dich schön zu nennen.“ „Umwerfend“ war die bessere Bezeichnung für seine herben Gesichtszüge. „Verzeihst du mir?“

„Immer.“ Er beugte sich vor, drückte die Nase an ihren Hals und schnupperte. „Habe ich dir schon mal gesagt, wie gut du riechst? Wie Zuckerplätzchen und Vanille.“

„Das ist meine Hautcreme.“ War diese atemlose Stimme wirklich ihre eigene?

„Na, dann ist deine Hautcreme schuld, wenn du gleich angeknabbert wirst.“

Das war ihr Plan gewesen. „Ach ja?“

„Ja.“

Er hob leicht den Kopf, bis sich ihre Nasenspitzen berührten. Sein Atem ging schwer, genau wie ihrer, und so nahm sie ihn mit jedem Atemzug wahr. Sie mochte ja nach Keksen riechen, aber er roch nach dem Wald um sie herum. Wild und erdig und unwiderstehlich.

Wieder ließ sie die Hände über seine Brust gleiten, eine bis zu seinem Nacken, die andere legte sie flach über sein Herz. Es hämmerte so schnell, dass sie die Schläge nicht zählen konnte. Seine Wärme umhüllte sie wie ein kuscheliger Mantel.

„Riley?“

„Ja?“ Das Wort klang wie ein tiefes, grollendes Knurren.

„Was magst du an mir?“ Oh Gott, hatte sie das wirklich gefragt?

Das klang echt jämmerlich.

„Bist du auf Komplimente aus? Sollst du haben. Ich bin mit dir zusammen, weil du mutig bist. Und süß. Weil du dich um deine Freunde sorgst. Weil mein Herz jedes Mal wie wild hämmert, wenn ich dich sehe, das kannst du ja fühlen. Und weil ich dann nur noch daran denken kann, länger bei dir zu bleiben.“

„Oh, das ist nett.“ Eine alberne Antwort, aber Mary Ann wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Er stellte ihre ganze Welt auf den Kopf. Und jetzt wollte sie seine auf den Kopf stellen. „Küss mich!“ Langsam streckte sie ihm den Kopf entgegen.

„Aber gern.“ Dann trafen sich ihre Lippen.

Instinktiv öffnete sie den Mund, seine Zunge glitt über ihre Lippen, und sie fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Wie schön. Er schmeckte so gut, wie er roch, genauso wild, genauso erdig. Und genauso unwiderstehlich.

Mit den Fingern glitt er unter den Saum ihres T-Shirts und legte sie auf ihre Hüften. Auf ihrer empfindlichen Haut fühlten sich seine Hände brennend heiß an. Er zog sie näher an sich, und sie ließ ihn nur zu gern gewähren. Wie schön, dachte sie wieder.

Das war ihr zweiter Kuss, und er war viel besser als der erste. Sie hätte nicht gedacht, dass so etwas möglich war. Der erste Kuss hatte sie verzehrt. Dieser brannte sich bis in ihre Seele.

Minutenlang standen sie so da, sahen nur einander, schmeckten nur einander, bewegten die Hände über den Körper des anderen – ohne zu viel zu wagen – und genossen den Augenblick.

„Ich liebe es, dich zu küssen“, sagte er mit rauer Stimme.

„Ich auch. Ich meine, ich liebe es, dich zu küssen. Nicht mich.“

Als er kicherte, strich ihr sein warmer Atem über die Wange, sodass Mary Ann eine Gänsehaut bekam. „In der Schule kann ich bestimmt an nichts anderes denken. Nur an das hier. Nur an dich.“

Leise stöhnend zog sie ihn wieder näher. Seine Zunge zu spüren war aufregender als alles, was sie je erlebt hatte. Seinen Körper zu fühlen, so stark und sicher, war großartig. Andere Mädchen konnten ihn anstarren und sich nach ihm sehnen, aber er wollte nur sie.

Schon, aber weil er wirklich dich will oder weil du den Wolf in ihm zähmst?

Dämliche Angst.

Sie erstarrte, und Riley löste sich von ihr. Sein Atem ging schwer, auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen. „Was ist los?“, fragte er.

„Nichts.“

„Das glaube ich dir nicht, aber sag es mir nachher, wenn ich wieder klar denken kann. Okay?“

Er konnte nicht klar denken? Sie musste fast grinsen. „Ja.“ Vielleicht.

„Außerdem müssen wir jetzt aufhören.“

Das Gleiche hatte er schon mal gesagt.

Wäre sie nicht so außer Atem gewesen, hätte sie geseufzt. „Ja, ich weiß.“ Enttäuschend, aber nicht abzustreiten. „Sonst kommen wir noch zu spät zur Schule.“

„Oder gar nicht.“

Außerdem wollte sie ihr erstes Mal nicht im Freien erleben. Aber das würde sie ihm natürlich nicht sagen.

Widerstrebend ließen sie einander los und liefen weiter Richtung Crossroads High. Aber Mary Ann konnte nicht anders, sie hob die Hand und fuhr mit den Fingerspitzen über seine Lippen. Sie waren geschwollen, wahrscheinlich gerötet und auf jeden Fall feucht. Würde jeder auf den ersten Blick erkennen, was Riley und sie getan hatten?

Zwanzig Minuten später, also viel zu früh, erreichten sie den Waldrand und betraten das Schulgelände. Vor ihnen tauchte ein wuchtiges dreistöckiges Gebäude auf, dessen Form an einen Halbmond erinnerte. An mehreren Stellen zeigte das Dach Richtung Himmel. Die lachsfarbenen Ziegelwände waren mit schwarzgoldenen Transparenten geschmückt, auf denen „Go Jaguars“ stand.

Die Rasenfläche war gepflegt, das grüne Gras bleichte langsam und wurde gelblich. Autos fuhren über den Parkplatz, Kinder liefen die Betontreppe hinauf und am Fahnenmast vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Vor den geschlossenen Türen wartete Victoria. Allein. Sie lief händeringend auf und ab. Zu einem schwarzen T-Shirt trug sie einen passenden Minirock, das dunkle Haar wallte offen über ihre Schultern. Ein Sonnenstrahl badete sie in Licht, als würde er von ihr angezogen, und ließ ihre blauen Augen strahlen.

Je jünger ein Vampir war, desto länger hielt er es in der Sonne aus. Je älter er wurde, desto stärker schmerzte die Sonne und verbrannte seine Haut. Eine überraschend sensible Reaktion, denn Vampirhaut war sehr dick und hart wie Marmor, nicht einmal ein Messer konnte sie durchdringen.

Victoria war noch in einem Alter – um die einundachtzig –, in dem die Sonne ihr nichts anhaben konnte. So wie Wölfe alterten auch Vampire langsam.

Zum ersten Mal beunruhigte diese Vorstellung sie. Victoria und Riley würden beide langsam altern, während Mary Ann alt und hinfällig werden würde. Gott, wie schrecklich! Jetzt hätte sie die Vampirin am liebsten ein bisschen herumgeschubst, rein aus Prinzip.

„Habt ihr Aden gesehen?“, fragte Victoria, als sie sie erreicht hatten. Blass war sie immer, aber heute war sie kreidebleich.

„Nein“, antworteten Mary Ann und Riley wie aus einem Mund. Sie dachte an das letzte Mal zurück, als sie ihn gesehen hatte. Sie hatten ihn unbemerkt in sein Zimmer auf der Ranch geschafft, und er war auf sein Bett gesunken. Blass, zitternd und schwitzend hatte er um jeden Atemzug kämpfen müssen.

Sie hatte gedacht, er würde sich ausruhen und wieder gesund werden. Was, wenn …

„Auf der Ranch war er heute Morgen jedenfalls nicht“, sagte Victoria. „Aber er sollte da sein, wir wollten zusammen zur Schule gehen.“

„Vielleicht ist er drinnen“, meinte Riley.

Die Vampirin wurde nicht ruhiger, sie rang nur noch stärker die Hände. „Ist er nicht. Ich habe nachgesehen. Und gleich klingelt es zum letzten Mal. Ihr wisst doch, dass er nicht zu spät kommen darf. Dann bekommt er Ärger und fliegt raus, und er würde doch alles tun, um das zu vermeiden.“

„Vielleicht ist er krank“, sagte Mary Ann, obwohl sie es selbst nicht glaubte. Dann hätte er noch auf der Ranch sein und im Bett liegen müssen. Und Victoria hatte recht, Aden kam nie zu spät zur Schule. Nicht aus Angst, man würde ihn wegschicken, sondern weil er keine Gelegenheit ausließ, mit seiner Prinzessin zusammen zu sein. Er verehrte dieses Mädchen regelrecht.

„Ich suche ihn.“ Riley sah Mary Ann an, bevor sie sagen konnte, sie würde ihn begleiten. „Du bleibst hier bei Victoria.“

„Nein, ich …“

„Ich bin ohne dich schneller.“

Peinlich, aber wahr. „Na schön. Aber sei vorsichtig!“

„Riley, ich …“, setzte Victoria an.

„Du bleibst auch hier“, unterbrach er sie.

Er ließ Mary Ann also nicht schutzlos zurück, solange so viele Wesen die Straßen ihrer kleinen Stadt unsicher machten. Sie fand seinen Beschützerinstinkt genauso anziehend wie sein Sixpack.

Victoria nickte angespannt. „Du bist mein Soldat, weißt du noch? Eigentlich solltest du mir gehorchen.“

„Ich weiß, aber da draußen ist mein König. Tut mir leid, Liebes, aber er kommt zuerst.“ Mit einem letzten Blick auf Mary Ann drehte sich Riley auf dem Absatz um und verschwand bald zwischen den Bäumen.

2. KAPITEL

Aden schreckte aus dem Schlaf auf, ein Schmerzensschrei blieb ihm in der Kehle stecken. Mit wirrem Blick sah er sich um. Schlafzimmer. Schreibtisch. Kommode. Schlichte weiße Wände. Holzfußboden.

Also sein Zimmer auf der Ranch.

Er lebte, er war nicht restlos verbrannt. Gott sei Dank. Aber …

War er noch ganz? Er klopfte sich ab und sah an sich hinunter. Haut? In Ordnung. Glatt und warm; gebräunt, nicht verkohlt. Zwei Arme? Da. Zwei Beine? Da. Und das Wichtigste: War er jetzt ein Mädchen? Nein. Gott sei Dank, Gott sei Dank. Er seufzte erleichtert, ließ sich auf die Matratze zurückfallen und machte eine weitere Bestandsaufnahme.

Er war schweißgebadet. Das Haar klebte ihm am Kopf, und seine Boxershorts sahen aus, als wären sie … als hätte er … Seine Wangen wurden heiß. Wenn sein Zimmergenosse Shannon ihn so sah, würde er Aden aufziehen, er hätte wohl einen feuchten Traum gehabt. Wenn auch gutmütig. So war das nun mal unter Freunden. Trotzdem konnte Aden darauf verzichten. Er …

Als er die Unterseite von Shannons Etagenbett sah, riss er die Augen auf. Das Holz war von tiefen Rillen durchzogen, als hätte er am Bett seines Freundes gekratzt und dagegengetreten, wieder und wieder. Ein Blick auf seine Fingernägel bestätigte das. Sie waren eingerissen und blutig, und er hatte sich Holzsplitter eingezogen.

Na klasse. Was hatte er noch gemacht, als er auf Vampirblut gewesen war?

Darum kannst du dir später Sorgen machen.

„Elijah?“, fragte er. Zeit für den Morgenappell.

Anwesend, sagte der Hellseher; er kannte das schon.

Der Erste. „Julian?“ Ihn nannten sie den Leichenflüsterer. Ein einziger Schritt auf einen Friedhof, und schon kamen die Toten heraus.

Hier.

Sehr gut. Zwei da, fehlte noch einer. „Caleb?“ Er konnte sich in andere hineinversetzen.

Yep.

Großartig. Alle waren da.

Früher hatte Aden sie loswerden wollen. Er hatte sie sehr ins Herz geschlossen – aber ehrlich, ein bisschen Privatsphäre wäre schon nett. Aber dann hatte er Eve verloren. Auch wenn sie im echten Leben Anne geheißen hatte, würde sie für Aden immer Eve bleiben.

Er vermisste seine mütterliche Zeitreisende. Er vermisste sie schrecklich. Jetzt war er nicht mehr sicher, ob er es verkraften würde, auch die anderen zu verlieren. Sie waren ein Teil von ihm. Seine besten Freunde, seine ständigen Begleiter. Er brauchte sie.

Wie immer bekam er bei diesem Gedanken ein schlechtes Gewissen. Sie hatten ihre Freiheit verdient, und sie wünschten sie sich auch. Vielleicht. Seit Eves Verschwinden hatten sie ihn nicht wieder gebeten, herauszufinden, wer sie waren, bevor sie es sich in seinem Kopf gemütlich gemacht hatten. Es war, als hätten sie Angst, es könnte ihm gelingen und auch sie müssten dann ins Unbekannte gehen.

Wohin Eve verschwunden war, wusste keiner von ihnen. Sie wussten nur, dass sie gegangen und nicht zurückgekommen war.

Was ist eigentlich los?, fragte Julian.

Er will sagen: Wir hatten heiße Träume, sagte Caleb. Und nicht heiß in einem guten Sinne. Wir haben gebrannt, Mann. Gebrannt.

Und normalerweise träumen wir nicht das Gleiche wie du, fügte Julian hinzu.

Elijah schon, aber nur, weil Elijah hellsichtig war und seine Visionen mit Aden teilte. Doch die letzte Nacht war keine Vision gewesen. Es war wirklich geschehen, ihre Gedanken waren miteinander verschmolzen, aber jetzt fehlten ihm zum Teil die Erinnerungen. Er konnte sich noch an Victoria erinnern, an die Flammen und daran, dass er ihre … Schwestern? … getroffen hatte. Genau, ihre Schwestern. Aber sonst war da nichts Konkretes. Alles andere blieb unscharf, als könnte sein Verstand nicht verarbeiten, was er gesehen hatte.

Aber wieso konnte er sich dann daran erinnern, wie er lebendig verbrannt war? Und warum erinnerten sie sich alle daran? Wäre das nicht etwas, das man vergessen sollte? War das nicht zu schmerzhaft, um sich daran zu erinnern?

Und?, hakte Julian nach. Eine Erklärung wäre nett. „Vampirblut“, erinnerte er sie. Er konnte die Antworten nicht nur denken, weil sie seine innere Stimme bei dem Durcheinander nicht heraushören konnten. „Wir haben durch die Augen von zwei Vampiren gesehen.“

Ach ja, sagte Caleb. Und wo wir gerade bei Vampiren sind, wo ist denn unsere Prinzessin?

Er meinte Victoria. Sie gehört mir, hätte Aden ihn am liebsten angeranzt, aber er tat es nicht. Der lüsterne Caleb konnte nicht anders. Für ihn drehte sich alles um Mädchen und „Vögeleien“, die er vielleicht nie erleben würde. „Wir wollten uns hier treffen und zusammen zur Schule gehen.“ Wie spät war es?

Bevor er auf die Uhr sehen konnte, die auf dem Schreibtisch stand, wurde seine Tür geöffnet, und Seth und Ryder kamen herein.

„Shannon hat bestimmt nichts dagegen“, sagte Seth. Sein Nachname war Tsang, aber er sah nicht besonders asiatisch aus. Er trug rote Strähnchen im schwarzen Haar, hatte blaue Augen und blasse Haut.

Ryder Jones, der hinter ihm hereinkam, zog eine Augenbraue hoch. Auch er hatte dunkles Haar, dazu aber braune Augen. „Sicher? Du weißt doch, wie kleinlich er mit seinem Zeug ist.“

Aden zog sich schnell die Decke über den verschwitzten Unterkörper. „He, Leute. Wie wär’s mit Anklopfen?“

Sie ignorierten ihn.

„Was sucht ihr denn?“, grummelte er.

Wieder beachteten sie ihn nicht. Sie sahen nicht mal in seine Richtung.

„Schau mal auf dem Schreibtisch nach“, sagte Seth, und Ryder schlurfte gehorsam hinüber.

Aden runzelte die Stirn. Früher hatten die beiden ihn nicht ausstehen können, aber das war vorbei. Sie hatten einen Waffenstillstand geschlossen, nachdem ihr großes Idol Ozzie von der Ranch geflogen war. Ozzie hatte alle wie Dreck behandelt – und am vergangenen Wochenende hatten Vampire ihn ausgesaugt. Davon wussten die Jungs allerdings nichts. Sie hatten so wenig Ahnung von dieser anderen Welt wie auch Aden noch vor kurzer Zeit.

Also wieso sprachen sie jetzt nicht mit ihm?

„Wo ist es?“, murmelte Seth. Er hockte im Wandschrank und durchwühlte die Kleidung, die auf der Erde lag. Als er das Handgelenk drehte, war sein Schlangentattoo zu sehen.

„Wo ist was?“, wiederholte Aden und setzte sich auf.

Aber sie ignorierten ihn weiterhin.

T-Shirts und Jeans flogen über Seths Schulter, gefolgt von ein paar Schuhen. Auf dem Schreibtisch raschelte Papier unter Ryders Händen. Minutenlang redete Aden auf sie ein – „… das ist nicht witzig, versucht doch mal was Originelles, wieso redet ihr nicht mit mir?“ –, aber es brachte nichts. Schließlich stand er auf, ließ die Decke einfach fallen und ging zum Schreibtisch.

Er holte aus, um Ryder etwas Verstand einzuhämmern, doch seine Hand fuhr einfach durch den Körper des Jungen hindurch.

Das gab’s doch nicht! Das konnte nicht sein.

Mit hämmerndem Herzen versuchte er es noch einmal. Wieder glitt seine Hand einfach durch Ryder hindurch, und er konnte nur mit aufgerissenen Augen dastehen. Wie war das möglich? Wie zum Teufel konnte das sein? Er war verbrannt, sicher, aber doch nicht in seinem eigenen Körper. Er hatte gedacht … Er hatte angenommen … War er nun selbst tot? Richtig tot, ohne Rückfahrkarte?

Nein. Das war unmöglich. Aber … Das Blut gefror ihm in den Adern, als er zu Seth ging.

„Ich hab’s“, sagte Seth und stand auf. Triumphierend hielt er ein Buch hoch. Ein Buch über Vampire. In jedem anderen Moment wäre Aden über Shannons Lektürewahl verblüfft gewesen. „Shannon ist echt komisch, Alter. Er liest ständig diesen Müll. Wir können uns die Fahrt in die Bibliothek sparen, aber mal ehrlich. Diese Spinner mit Fangzähnen haben mich noch nie interessiert, und jetzt sollen wir auch noch eine Arbeit drüber schreiben.“

„Dieser Mr.. Thomas hat ja’nen Knall. Wir sollen darüber schreiben, wie böse die Blutsauger sind, als ob sie echt wären. Ich kann diesen Trottel echt nicht ernst nehmen. Wahrscheinlich falle ich durch, aber das ist mir so was von egal.“

Aden versuchte zitternd, Seths Handgelenk zu packen. Nichts. Keine Berührung. Ätzende Galle stieg ihm in der Kehle hoch. Sein Arm sackte schwer herunter, er stolperte zurück, dann wurde ihm schwindlig und schwarz vor Augen.

Die Antwort auf seine Frage? Tot. Er war wirklich tot. Das war die einzige Antwort, die einen Sinn ergab.

Dann gingen die Jungs hinaus und grummelten dabei über neue Lehrer und blöde Hausaufgaben. Aden blieb einfach stehen. War er dazu verdammt, auf ewig ein Geist zu bleiben?

Fühlten sich so seine Seelen? Gefangen, machtlos, verloren?

„Leute“, flüsterte er. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Wenn er ein Geist war, konnte er ihnen nicht helfen, herauszufinden, wer sie früher waren, und sie konnten nie befreit werden. Falls sie das überhaupt noch wollten. „Ich glaube … ich … Das ist …“

„Hallo, Aden“, sagte eine Männerstimme hinter ihm.

Aden drehte sich um. In der Tür stand der neue Lehrer der D&M-Ranch. Er unterrichtete weder ihn noch Shannon, weil sie beide die Crossroads High besuchten, aber die anderen Jungs auf der Ranch. Mr.. Thomas war am Tag des Vampirballs aufgetaucht, und Dan hatte ihn vom Fleck weg eingestellt. So etwas sah Adens Betreuer gar nicht ähnlich. Er hatte keine Erkundigungen über ihn eingezogen, kein langes Bewerbungsgespräch geführt, sondern nur gesagt: „Sie sind perfekt.“

Noch komischer war, dass die Jungs sich benahmen, als würden sie ihn schon ewig kennen, sie trauten sich sogar schon, über ihn zu lästern. Offiziell kannte Aden ihn noch nicht, aber Victoria hatte ihn Aden heimlich gezeigt. Wie sich herausstellte, war Mr.. Thomas nicht einfach ein normaler Lehrer. Er war ein Elf und damit Victorias Feind, und er wollte hier herausfinden, wer ihr half.

Der Mann sah nicht so aus, wie Aden sich Elfen vorgestellt hatte – als geflügelte ätherische Wesen weiblichen Geschlechts. Stattdessen war er groß und schlank, seine Haut hatte einen Goldton und glitzerte sogar ein wenig (was immerhin passte). Dafür hatte Aden noch nie ein so perfektes Gesicht gesehen. Es wies nicht den geringsten Makel auf. Die blauen Augen standen in perfektem Abstand zueinander, die Nase war perfekt geformt, genau wie die Lippen, die weder zu voll noch zu schmal waren.

Und es war höllisch peinlich, dass Aden das überhaupt aufgefallen war. Wenn das jemand mitbekam, würden ihn die Männer der Welt aus ihrem Club schmeißen oder etwas von der Sorte.

„Sie können mich sehen?“ Er schluckte schwer. „Und mich hören?“

„Ja.“

„Bin ich … tot?“ Das auszusprechen war schwerer, als es zu denken. Wieso konnte der Elf ihn sehen und hören, obwohl Seth und Ryder es nicht gekonnt hatten?

Der Elf kicherte leise, was beinahe klang, als hätte jemand eine Harfe angeschlagen. „Wohl kaum.“

Aden wünschte, das könnte ihn trösten. „Wo bin ich denn dann? Wie bin ich hierhergekommen?“ Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Was ist hier los?“

Aden, sagte Elijah mit einem warnenden Unterton. Ich habe ein ungutes Gefühl.

Sofort verspürte Aden Angst. Elijahs ungute Gefühle waren, na ja, nicht gut.

„So viele Fragen.“ Der Mann schnalzte mit der Zunge. Dann winkte er Aden zum Schreibtischstuhl herüber. „Setz dich bitte, dann werde ich dir antworten. Natürlich erst, nachdem du mir ein paar Antworten gegeben hast.“

Die einfache Bitte klang für Aden wie eine Drohung. Und da Elijah auch noch misstrauisch war, rechnete er schon mit einem Kampf. Er überlegte, wo seine Waffen waren. Er trug keine bei sich, aber in seinen Stiefeln steckten Dolche. Allerdings trug er die Stiefel nicht, und vielleicht kam er nicht einmal an sie heran. Dann sah er, dass sie schön ordentlich unter dem Bett standen.

„Setz dich, Aden“, befahl der Elf.

Dieses Mal gehorchte Aden. Ohne seine Dolche zu holen. Dieses – mögliche – Ass wollte er nicht ausspielen, wenn es nicht unbedingt nötig war.

Bevor das hier vorbei ist, wird Blut fließen, sagte Elijah. Unseres?, fragte Caleb verärgert und mit einem Anflug von Angst. Ich mag nämlich unser Blut, und ich will keinen Tropfen davon abgeben.

„Ich heiße Mr. Thomas“, stellte sich der Mann vor, bevor Elijah antworten konnte. Er kam näher und blieb dicht vor Adens Stuhl stehen. Breitbeinig verschränkte er die Hände hinter dem Rücken. Eine kriegerische Haltung.

Aden kannte sie gut. So hatte er selbst oft dagestanden – bevor er sich auf jemanden gestürzt hatte, der ihn bedrohte. Der schlichte Name passte nicht zu den glatten Gesichtszügen des Mannes, er war bestimmt ein Pseudonym. Wenn nicht, würde Aden ihm einen dicken fetten Schmatzer direkt auf den Mund geben.

„Sie wollen Antworten haben“, sagte er und fragte sich dabei, worauf. „Dann müssen Sie mir sagen, was ich wissen will. Und zwar zuerst. Wieso sind wir hier und doch nicht hier? Wieso bin ich unsichtbar, wenn ich noch lebe?“

Einen Moment lang herrschte tiefes Schweigen. Zuerst dachte Aden, Thomas wollte ihn schlagen, weil er dessen eigene Taktik gegen ihn verwendete. Mit jeder Sekunde wuchs die Wut in seinen blauen Augen. Wut und Empörung.

Schließlich sagte der Elf: „Dein Volk würde diesen Ort als andere Dimension beschreiben, aber eigentlich ist er das Reich der Elfen.“ Trotz seiner wütenden Miene klang seine Erklärung ruhig.

Eine andere Dimension? War so etwas überhaupt möglich? In dem Moment, als die Frage in ihm aufkam, wollte er auch schon die Augen verdrehen über seine eigene Blödheit. Nach dem zu urteilen, was er in letzter Zeit gesehen und getan hatte, war alles möglich. „Nur um das noch mal klarzustellen: Ich bin also nicht tot?“

„Dieser Drang, sich alles bestätigen zu lassen, ist wirklich ermüdend. Also hör gut zu, ich sage das nur einmal. Du bist quicklebendig. Allerdings bist du in einer anderen Dimension, deshalb können dich die Menschen weder sehen noch hören.“

Wenn man Thomas glauben durfte, war Aden kein Geist. Er konnte zu Victoria und zu seinen Freunden zurückkehren. „Haben Sie mich hierhergebracht?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Ja.“

„Warum?“

Wieder trat eine angespannte Pause ein. Offenbar würde Aden ihm jede Antwort aus der Nase ziehen müssen.

Schließlich erwiderte Thomas mit einem Seufzen: „Weil ich schon alle Schüler kennengelernt habe, nur dich nicht.“ Wieder lag Wut in seinen Augen, dieses Mal vermischt mit Abscheu.

Oh ja, es wird Blut fließen, sagte Elijah zittrig.

„Durch ein Messer?“ Bitte, bitte, sag nicht, durch ein Messer.

Keine Ahnung. Ich sehe nur das Blut strömen.

„Was soll das heißen, durch ein Messer?“, fragte Thomas.

Offenbar hatte ihm noch niemand erzählt, dass Aden ständig „Selbstgespräche“ führte. „Tut mir leid, ich habe nicht mit Ihnen geredet.“

„Mit wem dann?“

Die Frage hatten ihm schon tausend andere Leute gestellt. Vielleicht sollten wir abhauen, sagte Caleb kleinlaut. Solange wir noch nicht bluten.

Das sehe ich auch so. Wir wissen ja nicht mal, wie man gegen einen

Elfen kämpft.

Caleb kicherte, er war so amüsiert, dass er einen Moment lang seine Angst vergaß. Gegen einen Elf kämpfen. Klingt echt großartig, Jules.

„Ruhe jetzt, bitte“, schimpfte Aden. Thomas sog scharf die Luft ein.

„Rede nicht in diesem Ton mit mir, Junge.“

Statt die Sache zu erklären, massierte Aden sich die Schläfen, um seinen einsetzenden Kopfschmerz zu vertreiben. „Sie mussten mich nicht kennenlernen. Sie unterrichten mich ja gar nicht.“ Er konnte nicht weglaufen, wie Calebes vorgeschlagen hatte. Wohin sollte er gehen? Außerdem hatte er keine Angst. Noch nicht. Er hatte immer noch seine Dolche. Vielleicht.

„Das nicht.“ Thomas trat einen Schritt vor, einen zweiten, dann blieb er nachdenklich stehen. „Aber ich werde dich töten.“

Jetzt bekam Aden doch Angst. Er sprang auf. Wenn Thomas ihn noch einmal bedrohte oder einen weiteren Schritt auf ihn zukam, würde er sich auf die Stiefel werfen. Und wenn er nicht an die Dolche herankam, würde er rennen wie der Teufel, auch wenn er nicht wusste, wohin.

„Denk nicht einmal daran wegzulaufen, Haden Stone.“

„Niemand nennt mich Haden.“ Nicht seit er seinen eigenen Namen als Kind unabsichtlich verhunzt hatte und alle anderen das übernommen hatten. „Den letzten Typen, der mich so genannt hat, habe ich umgebracht. Ungelogen.“

Kein bisschen eingeschüchtert blaffte Thomas ihn an: „Setz dich. Ich habe deine Fragen beantwortet, jetzt beantwortest du meine.“

Aden dachte nicht daran. Er wollte nicht auf die zweite Todesdrohung warten. Der Elf war noch wütender geworden. „Ja, klar.“ Aden täuschte links an, Thomas ging auch in die Richtung, dann warf Aden sich nach rechts, duckte sich an dem Lehrer vorbei und langte nach seinen Stiefeln. Seine Hand fuhr geisterhaft durch das Leder.

Mit einem unterdrückten Fluch rannte er Richtung Tür, ohne sich einen Moment Enttäuschung oder Angst zu erlauben. Aber eine unsichtbare Wand hielt ihn auf. Er prallte mit Wucht dagegen und wurde zurückgeschleudert. Im nächsten Moment stand Thomas über Aden, drückte ihn ganz zu Boden und stellte einen Fuß in seinen Nacken.

Instinktiv packte Aden den Mann am Knöchel und wollte ihn von sich stoßen, aber der Fuß rührte sich nicht.

Der Elf starrte mit strahlend blauen Augen auf ihn herab, als wollte er ihn allein mit seinem Blick in kleine Stückchen hacken. „Vor einigen Wochen hat eine Art Energieblitz ein Tor von meiner Welt zu deiner aufgestoßen, und wir können es nicht wieder schließen. Wir haben die Energie zurückverfolgt und sind bei dieser Ranch gelandet. Und jetzt bei dir. Sogar in diesem Moment spüre ich, wie du Energie ausstrahlst, die mich anzieht. Sie verleiht mir sogar mehr Kraft.“ Der letzte Satz war ein trunkenes, gieriges Flüstern.

Aden verlieh ihm mehr Kraft? Warum wollte er ihn dann umbringen?

Aden wollte etwas antworten, brachte aber nicht mehr als ein Keuchen heraus. Er wehrte sich, schlug gegen das Bein des Mannes, versuchte, ihn wegzuschieben. Atmen, ich muss atmen …

Er konnte hier nicht sterben. Nicht in dieser … Dimension? Das durfte einfach nicht passieren. Niemand würde wissen, was mit ihm geschehen war. Man würde nur annehmen, der verrückte Aden habe einen Rückfall erlitten und sei abgehauen.

Beim Ersticken fließt kein Blut, sagte Elijah. Bleib ruhig. Auf diese Art stirbst du nicht, das weißt du doch.

Mach ihn fertig, rief Caleb.

Aber richtig, stimmte Julian zu.

Ihnen fehlte Eve, ihre Stimme der Vernunft. Aber auch Elijahs Worte drangen teilweise bis zu Aden durch, trotz seiner Panik. Die Vision hatte ihm ein anderes Ende vorhergesagt. Thomas wollte ihm nur Angst machen.

„Wir hatten gehofft, wir könnten dich leben lassen und durch dich dieses Tor zwischen den Welten schließen“, fuhr Thomas fort. „Aber dann komme ich in dein Zimmer, um mich vorzustellen, und was finde ich? Es stinkt nach Vampiren. Unsere größten Feinde. Das Volk, das einmal versucht hat, uns abzuschlachten.“

„Sie hatten … bestimmt … einen guten Grund.“

Der Kiefermuskel des Elf zuckte. „Gib es zu, Haden Stone. Hilfst du ihnen? Willst du sie in unsere Dimension bringen, um uns anzugreifen?“

Wie sollte Aden die Vampire denn hierherbringen, wenn er keine Ahnung hatte, wie er selbst hier gelandet war? „Kann … nicht … reden.“

Der Druck auf seinem Hals ließ nach. „Du musst meine Frage gar nicht beantworten. Ich kenne die Wahrheit. Du hilfst ihnen, und deshalb musst du sterben.“

Aden hielt immer noch Thomas’ Knöchel umklammert. Er rang nach Luft und sah sich unauffällig im Zimmer nach einer Waffe um.

Doch ihm blieb nichts außer seiner eigenen Entschlossenheit. Im Laufe der Jahre hatte er gegen zahllose Leichen gekämpft, ihr Gift hatte sich durch seinen Körper gefressen, ihn geschwächt und krank gemacht. Trotzdem hatte er gewonnen. Jedes Mal. Er würde sich jetzt nicht von einem Elf besiegen lassen.

Benutz deine Hände, riet Elijah. Bring ihn aus dem Gleichgewicht.

Aden schob die Finger unter Thomas’ Stiefel und zog ihn mit ganzer Kraft zur Seite. Der Schwerpunkt des großen Mannes verlagerte sich, und er krachte zu Boden. Im nächsten Moment war Aden aufgestanden und hatte eine ebenso kriegerische Haltung eingenommen wie zuvor der Elf.

„Das war nicht klug von dir, Junge.“

Er hatte nicht einmal gesehen, dass Thomas aufgestanden war, trotzdem erklang die Stimme hinter ihm. Direkt hinter ihm. Er zuckte zusammen, als ihm warmer Atem über den Nacken strich. Aden drehte sich langsam um, weil er wusste, dass der Elf bei einer raschen Bewegung sofort zuschlagen würde. Sie starrten einander an. Aden war groß für sein Alter, gute eins achtzig, aber Thomas überragte ihn.

„Ich sehe Menschen nicht gern leiden, und eigentlich wollte ich es kurz und schmerzlos machen. Aber …“ Thomas verzog die Lippen zu einem furchterregenden Lächeln. „Ich habe dir gesagt, dass du nicht gegen mich kämpfen sollst. Du hast nicht gehorcht. Jetzt werde ich keine Gnade zeigen.“

Blut, keuchte Elijah.

Jetzt war es also so weit.

„Dann los“, sagte Aden.

Plötzlich zerbarst das einzige Fenster im Zimmer, und ein riesiger schwarzer Schatten sprang herein. Es war Riley in seiner Wolfsgestalt. Seine grünen Augen funkelten, er hatte die Lefzen zurückgezogen und bleckte die scharfen weißen Zähne. Sein grimmiges Knurren hallte von den Wänden wider.

Zurück, Aden.

Rileys geflüsterter Befehl vermischte sich direkt in seinem Kopf mit den anderen Stimmen, trotzdem verstand Aden ihn. „Kannst du mich sehen?“, fragte er, obwohl er wusste, dass der Wolf für eine Antwort zu abgelenkt war. Wenn ja, konnte Riley dann auch Thomas sehen? Und umgekehrt?

„Das war ein Fehler, Wolf“, sagte Thomas und wandte sich Riley zu. Seine Miene war mörderisch.

Offenbar passte auf beide Fragen die gleiche Antwort. Ja, verdammt.

Dann sprangen die beiden ohne weitere Vorwarnung aufeinander zu. In der Mitte des Zimmers trafen sie aufeinander, ein Gewirr aus Klauen, zuschnappenden Zähnen, seltsamen hellen Lichtern und funkelnden Klingen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren.

Keine Frage, wie Elijah schon gesagt hatte: Es würde Blut fließen.

Und: Dieser Kampf würde tödlich enden.

3. KAPITEL

Wie Elijah vorausgesagt und Aden vermutet hatte, floss Blut.

Riley schnappte mit den Zähnen nach Thomas’ Hals und zog ihm die scharfen Krallen über die Brust. Blutend griff Thomas in das Fell des Wolfes und schleuderte ihn von sich. Das Tier prallte gegen Aden, der selbst gegen die Wand geworfen wurde.

Der Putz bekam Risse, und kleine Farbplättchen rieselten herab. Der Aufprall verschlug Aden den Atem.

Riley war im nächsten Moment aufgesprungen und stürzte sich wieder auf den Elfen. Sie gingen zusammen zu Boden. Der Wolf schlug mit seinen Krallen zu, und Blut spritzte. Ein paar Tropfen trafen Aden im Gesicht, sie fühlten sich seltsam kalt an, wie Eissplitter. Als der Elf blitzschnell mit seinen Messern zustach, spritzte Rileys Blut. Es war so heiß wie flüssiges Feuer.

Hilf ihm, rief Julian.

Ich hab’s immer schon gesagt: Liebe ist besser als Krieg, meinte Caleb, der sich wieder mutiger fühlte, nachdem der Wolf für sie die Prügel einsteck te.

Aden rappelte sich auf, nur mit Mühe konnte er ein paar Atemzüge machen. Ihm war so schwindlig, dass er schwankte. „Elijah?“

Der Hellseher wusste natürlich, was Aden ihn fragen wollte: Wie konnte er helfen? Er hatte keine Waffen, und er konnte das Zimmer nicht verlassen, um welche zu holen.

Ich weiß nicht, sagte Elijah kläglich.

„Wird Riley denn gewinnen?“, fragte er leise, damit er den Wolf nicht ablenkte und noch zum Grund für seine Niederlage wurde.

Ich weiß nicht, wiederholte Elijah ebenso kläglich. Ich sehe das ganze Zimmer voller Blut, es ist überall.

So viel? Von diesem Kampf? Oder von etwas Schlimmerem?

Thomas schleuderte Riley immer wieder von sich, und immer wieder kam Riley zurück, ein Geschoss aus Zorn und gefletschten Zähnen. Möbel gingen zu Bruch, die Wände wurden beschädigt, sogar die unsichtbare Wand. Die Kämpfer stürzten erst in den Flur, dann zerschmetterten sie eine Tür in unzählige Teile und gelangten so in den nächsten Raum. Aden folgte ihnen. Ein paarmal wollte er sich in den Kampf stürzen, aber Wolf und Elf bewegten sich unglaublich schnell. Dass er danebengeschlagen hatte, merkte Aden erst, wenn sie längst woanders waren.

Und wieso konnten sie Wände, Türen und Möbel demolieren, ohne aufzufallen?

Seth, Ryder, RJ, Terry und Brian, die auf der D&M-Ranch lebten, saßen im Vorraum, jeder mit einem Buch in der Hand. Einige lasen, die anderen gaben nur vor zu lesen. Keiner bemerkte den erbitterten Kampf.

Nicht einmal, als ihre Stühle scheinbar umgeworfen und zerschmettert wurden. Sie blieben einfach sitzen, mitten in der Luft. Riley und Thomas glitten unbemerkt durch sie hindurch, sie waren weder zu hören noch zu spüren. Die Jungs wurden sogar mit Blut vollgespritzt, aber auch das merkten sie nicht. Wahrscheinlich konnten sie es nicht einmal sehen.

Das war alles so irre. Thomas blutete heftig aus mehreren Wunden, aber er wirkte stärker denn je. Riley schien dagegen schwächer zu werden, er sprang langsamer, sein Knurren klang undeutlich, aber seine Verletzungen waren schon verheilt.

Was nahm ihm die Kraft?

Aden fiel auf, dass Thomas nur Rileys Schnauze wegschlug, wenn der Wolf ihn biss. Dann legte Thomas den Kopf in den Nacken, als wollte er Riley die Kehle darbieten, statt sich nur an der Hand erwischen zu lassen. Warum?

Und statt Riley sofort abzuwehren, legte Thomas ihm sekundenlang die Hände flach auf den Körper, in denen der Wolf tun konnte, was er wollte. Das war dumm. Das war … war es nötig?

Konnte Thomas Riley so schwächen? Das würde erklären, warum er seine Hände unbedingt freihalten wollte und kaum auf seine eigenen Verletzungen achtete. Was waren schon ein paar Wunden, wenn der Gegner bald so schwach war, dass er einen nicht mehr abwehren konnte?

„Was kann ich nur … machen?“ Aden stockte. Die Antwort war ihn schon angesprungen, und sie war nicht schön.

Autor