Wo das Glück wartet

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4 Romane in einem Band!

Zwischen Sehnsucht und Verlangen - NORA ROBERTS:
Rafe MacKade ist wieder in der Stadt! Die Gerüchteküche brodelt. Der Bad Boy von einst sieht noch immer so gut aus wie eh und je. Selbst die stolze Regan Bishop ist gegen seinen Charme nicht immun.

Heißes Wiedersehen - BJ JAMES:
Dreizehn Jahre sind vergangen - doch wieder nimmt das Verlangen Paige den Atem, als sie Adam unerwartet gegenübersteht.

Der Mann in Schwarz - JUSTINE DAVIS:
Schwarze Kleidung, goldener Ohrring, heißes Motorrad: Alle warnen die sanfte Amelia vor dem berüchtigten Luke. Doch sie verliebt sich total in den Draufgänger. Wird er ihr Herz brechen?

Endlich wieder im Paradies -
JUDITH DUNCAN:
Brodie war Edens große Liebe - bis ihre Eltern sie zwangen, ihn aufzugeben. Jetzt, 18 Jahre später, liebt sie ihn immer noch. Aber in seinem Blick sieht sie nur Verachtung. Gibt es dennoch eine zweite Chance?


  • Erscheinungstag 10.04.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783955763343
  • Seitenanzahl 560
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Wo das Glück wartet

Nora Roberts

Zwischen Sehnsucht und Verlangen

BJ James

Heißes Wiedersehen

Justine Davis

Der Mann in Schwarz

Judith Duncan

Endlich wieder im Paradies

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

The Return Of Rafe MacKade

Copyright © 1995 by Nora Roberts

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

The Return Of Adams Cade

Copyright © 2000 by BJ James

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

The Return Of Luke McGuire

Copyright © 2000 by Janice Davis Smith

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

The Return Of Eden McCall

Copyright © 1995 by Judith Mulholland

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

ISBN eBook 978-3-95576-334-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Nora Roberts

Zwischen Sehnsucht und Verlangen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Emma Luxx

PROLOG

Die MacKade-Brüder hielten wieder einmal Ausschau nach jemandem, mit dem sie sich anlegen konnten. Das hatten sie sich beinahe schon zur Gewohnheit gemacht. Ein geeignetes Objekt zu finden war in dem kleinen Städtchen Antietam allerdings gar nicht so einfach, doch war ihnen das erst gelungen, war es schon der halbe Spaß.

Wie üblich kabbelten sie sich vor dem Losfahren darum, wer das Steuer des schon leicht hinfälligen Chevys übernehmen durfte. Zwar gehörte der Wagen Jared, dem ältesten der vier Brüder, dieser Umstand war jedoch keineswegs gleichbedeutend damit, dass er ihn notwendigerweise auch fuhr.

Diesmal hatte Rafe darauf bestanden, den Wagen zu steuern. Ihn dürstete nach dem Rausch Geschwindigkeit, er wünschte sich, die dunklen kurvigen Straßen entlangzujagen, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Fahren, nur fahren, um woanders anzukommen.

Irgendwo ganz anders.

Vor zwei Wochen hatten sie ihre Mutter begraben.

Vielleicht, weil seine Brüder erkannten, in was für einer gefährlichen Stimmung sich Rafe befand, hatten sie sich gegen ihn als Fahrer entschieden. Devin hatte das Steuer übernommen, mit Jared als Beifahrer. Rafe brütete nun auf dem Rücksitz, neben sich seinen jüngsten Bruder Shane, düster vor sich hin und starrte mit finsterem Blick auf die Straße.

Die MacKade-Brüder waren ein rauer Haufen. Alle waren sie hochgewachsen, schlank und sehnig wie Wildhengste, und ihre Fäuste waren nur allzu schnell und gern bereit, ein Ziel zu finden. Ihre Augen – die typischen MacKade-Augen, die alle Schattierungen von Grün aufwiesen – waren imstande, einen Mann auf zehn Schritt Entfernung in Angst und Schrecken zu versetzen. Waren sie schlechter Laune, war es klüger, ihnen aus dem Weg zu gehen.

In Duff’s Tavern angelangt, orderte jeder ein Bier – trotz Shanes Protest, der Angst hatte, nicht bedient zu werden, weil er noch nicht einundzwanzig war –, und dann steuerten sie geradewegs auf den Billardtisch zu.

Sie liebten die schummrige, rauchgeschwängerte Atmosphäre der Bar. Das Geräusch, das die Billardkugeln verursachten, wenn sie klackernd aneinanderprallten, war gerade erregend genug, um die innere Anspannung, unter der sie standen, noch ein bisschen weiter in die Höhe zu treiben, und Duff Dempseys Blick, der sie immer wieder streifte, war nervös genug, um sie zu belustigen. Die Wachsamkeit, die sich bei ihrem Anblick in den Augen der anderen Gäste spiegelte, die sich den neuesten Klatsch erzählten, war ihnen Beweis genug dafür, dass sie lebten.

Und auch heute hegte niemand Zweifel daran, dass die MacKade-Jungs wieder einmal auf Streit aus waren. Und natürlich würden sie schließlich auch finden, wonach sie suchten.

Rafe klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel, griff nach seinem Queue, beugte sich über den Billardtisch, spähte mit zusammengekniffenen Augen durch den Qualm, zielte und stieß zu. Die vielen dunklen Bartstoppeln an seinem Kinn – er hatte es bereits seit Tagen nicht für nötig gehalten, sich zu rasieren – spiegelten seine Stimmung wider.

Volltreffer! Seine Kugel schoss über die Bande, prallte ab und beförderte die Sieben wie vorausberechnet mit einem satten Klackern ins Loch.

„Glück für dich, dass es wenigstens eine Sache gibt, die du kannst.“ Joe Dolin, der an der Bar saß, griff nach seiner Bierflasche und starrte aus trüben Augen zu Rafe hinüber. Er war wieder einmal betrunken, was bei ihm um diese Tageszeit schon fast üblich war. Wenn er sich in diesem Zustand befand, wurde er meistens über kurz oder lang bösartig. In der Highschool war er eine Zeit lang der Star des Footballteams gewesen und hatte mit den MacKade-Brüdern um die Gunst der schönsten Mädchen der Stadt gewetteifert. Doch bereits jetzt, mit Anfang zwanzig, war sein Gesicht vom Alkohol aufgeschwemmt, und sein Körper zeigte erste Anzeichen von Schlaffheit.

Seelenruhig rieb Rafe seinen Queue mit Kreide ein und zog es vor, Joe zu übersehen.

„Jetzt, wo deine Mama tot ist, musst du schon ein bisschen mehr auf die Beine stellen, MacKade. Um ’ne Farm am Laufen zu halten, muss man mehr können, als den Queue zu schwingen.“ Während Joe die Flasche zwischen zwei Fingern hin und her drehte, machte sich ein gemeines Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Hab schon gehört, dass ihr verkaufen müsst, weil ihr Steuern nachzuzahlen habt.“

„Da hast du falsch gehört.“ Cool ging Rafe um den Tisch herum und berechnete seinen nächsten Stoß.

„Glaub ich kaum. Die MacKades sind doch schon immer eine Bande von Lügnern und Betrügern gewesen.“

Shane setzte bereits zum Sprung an, doch Rafe hielt ihn zurück. „Er hat mit mir gesprochen“, sagte er ruhig und sah seinem jüngeren Bruder einen Moment zwingend in die Augen, bevor er sich umwandte. „Oder irre ich mich da, Joe? Du hast doch mit mir gesprochen, oder?“

„Ich hab mit euch allen gesprochen.“ Während er seine Bierflasche wieder an die Lippen setzte, glitt Joes Blick über die vier MacKades. Erst über Shane, den Jüngsten, der zwar durchtrainiert war von der Arbeit auf der Farm, aber noch immer eher aussah wie ein Junge, dann über Devin, dessen verschlossener Gesichtsausdruck nichts preisgab. Jared stand lässig gegen die Musikbox gelehnt und war ganz offensichtlich gespannt auf das, was als Nächstes geschah.

Joes Blick wanderte wieder zu Rafe zurück, dem die ungezügelte Wut aus den Augen leuchtete. „Aber wenn du meinst, dann hab ich eben mit dir geredet. Du bist doch sowieso die größte Niete von euch allen, Rafe.“

„Findest du, ja?“ Rafe nahm die Zigarette aus dem Mund, drückte sie aus und nahm gelassen einen langen, genießerischen Schluck von seinem Bier. Es wirkte wie ein Ritual, das er absolvierte, bevor die Schlacht begann. Die übrigen Gäste verrenkten sich fast die Hälse, um besser zu sehen, was vor sich ging. „Und wie läuft’s in der Fabrik, Joe?“

„Immerhin krieg ich jeden Monat Kohle auf die Kralle, um meine Miete bezahlen zu können“, erwiderte Joe aggressiv. „Mir will niemand das Haus unterm Hintern wegziehen.“

„Zumindest nicht, solange deine Frau bereit ist, in Zwölfstundenschichten Tabletts zu schleppen.“

„Halt’s Maul. Meine Frau geht dich gar nichts an. Ich bin der, der das Geld nach Haus bringt. Ich brauch keine Frau, die mir Geld gibt, so wie das bei deinem Dad und deiner Mama war. Er hat doch ihre ganze Erbschaft durchgebracht und ist dann auch noch vor ihr gestorben.“

„Stimmt, er starb vor ihr.“ Wut und Trauer kochten in Rafe hoch und drohten ihn hinwegzuschwemmen. „Aber er hat sie nie geschlagen. Sie jedenfalls hat es niemals nötig gehabt, ihre Augen hinter einer Sonnenbrille zu verstecken, damit man die blauen Flecke nicht sieht. Sie musste auch niemandem erzählen, dass sie wieder mal die Treppe runtergefallen ist. Jeder weiß aber, dass das Einzige, worüber deine Mutter jemals gestürzt ist, die Faust deines Vaters war, Joe.“

Mit einem Krachen, dass die Flaschen auf dem Regal über der Theke klirrten, setzte Joe seine Bierflasche auf dem Tresen ab. „Das ist eine dreckige Lüge! Ich ramm sie dir in deinen dreckigen Hals zurück, damit du dran erstickst!“

„Versuch’s doch.“

„Er ist besoffen, Rafe“, murmelte Jared.

Rafe sah seinen Bruder an. Seine Augen sprühten gefährliche Funken. „Na und?“

„Ist keine große Kunst, ihm in diesem Zustand die Fresse zu polieren. Damit machst du bestimmt keinen Punkt.“ Jared hob eine Schulter. „Lass gut sein, der Kerl ist doch den ganzen Aufwand gar nicht wert, Rafe.“

Doch Rafe ging es gar nicht darum, einen Punkt zu machen. Er brauchte jetzt einfach den Kampf. Langsam hob er seinen Queue, unterzog die Spitze einer ausgiebigen Betrachtung und legte ihn dann quer über den Billardtisch. „Du willst dich also mit mir anlegen, Joe.“

„Nicht hier drin.“ Obwohl ihm klar war, dass sein Protest zwecklos war, machte Duff eine Bewegung mit dem Daumen hin zum Telefon, das an der Wand hing. „Wenn ihr Ärger macht, ruf ich auf der Stelle den Sheriff an. Dann könnt ihr euch im Knast abkühlen.“

„Lass bloß deine verfluchten Finger vom Telefon.“ Rafes Augen glitzerten kalt und angriffslustig, doch der Barkeeper, der Erfahrung mit Raufbolden hatte, blieb standhaft.

„Ihr geht sofort nach draußen“, wiederholte er.

„Aber nur du gegen mich“, verlangte Joe und starrte die übrigen MacKades finster an, während er seine Hände bereits zu Fäusten ballte. „Nicht dass mir die anderen dann noch zusätzlich in den Rücken fallen.“

„Mit dir werde ich schon noch allein fertig.“ Wie um es zu beweisen, landete Rafe sofort, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, mit seiner Rechten einen Kinnhaken, der es in sich hatte. Beim Anblick des dicken Bluttropfens, der sich auf Joes Unterlippe bildete, verspürte er eine grimmige Befriedigung.

Er hätte nicht einmal genau sagen können, warum er diesen Kampf gewollt hatte. Joe bedeutete ihm nicht mehr als der Staub auf der Straße. Es tat einfach gut. Auch wenn Joe jetzt besser in Deckung ging als zu Anfang und hin und wieder sogar einen Volltreffer landete, tat es gut. Fäuste und Blut waren eine klare Sache. Das Krachen, das ertönte, wenn Knochen auf Knochen traf, war ein befreiendes Geräusch; wenn er es hörte, konnte er alles andere vergessen.

Als Devin das blutige Rinnsal sah, das sich vom Mund seines Bruders über sein Kinn hinabzog, zuckte er kurz zusammen, rammte dann aber entschlossen die Hände in die Hosentaschen. „Fünf Minuten gebe ich ihnen noch“, erklärte er seinen Brüdern.

„Quatsch, in drei Minuten ist Joe fertig.“ Mit einem Grinsen beobachtete Shane die beiden Gegner, deren Boxkampf mittlerweile in ein erbittertes Ringen übergegangen war.

„Zehn Dollar.“

„Rafe! Los, auf! Mach ihn fertig!“, feuerte Shane seinen Bruder an.

Genau drei Minuten und dreißig hässliche Sekunden dauerte es, bis Joe in den Knien einknickte. Breitbeinig stellte sich Rafe vor ihn hin und verpasste ihm methodisch einen Kinnhaken nach dem anderen. Als Joe begann, die Augen zu verdrehen, sodass man nur noch das Weiße sah, machte Jared rasch einen Schritt vor und zog seinen Bruder weg.

„Er hat genug.“ Jared packte Rafe, um ihn zur Besinnung zu bringen, bei den Schultern und schüttelte ihn. „Er hat genug, kapiert?“, wiederholte er. „Lass ihn jetzt in Ruhe.“

Nur langsam wich der rasende Zorn aus Rafes Augen. Er öffnete seine Fäuste und starrte auf seine Hände. „Lass mich los, Jared. Ich mach nichts mehr.“

Rafe blickte auf den vor sich hinwimmernden Joe, der halb bewusstlos auf dem Boden lag. Über ihn gebeugt stand Devin und zählte ihn aus.

„Ich hätte in Betracht ziehen müssen, wie besoffen er ist“, gab er gegenüber Shane zu. „Aber glaub mir, wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte Rafe fünf Minuten gebraucht.“

„Ach, niemals! Du glaubst doch nicht, dass Rafe fünf Minuten an so einen Schwachkopf verschwendet.“

Jared legte seinen Arm kameradschaftlich um Rafes Schultern. „Wie wär’s mit einem abschließenden Bier?“

„Nein.“ Rafes Blick wanderte zu den Fenstern der Kneipe hinüber, wo sich sensationslüstern eine Menschentraube zusammendrängte. Geistesabwesend wischte er sich das Blut aus dem Gesicht. „Vielleicht sollte jemand von euch ihn auflesen und nach Hause schaffen“, schrie er Duffs Gästen zu und wandte sich dann an seine Brüder. „Los, lasst uns abhauen.“

Als er schließlich im Auto saß, machten sich seine Platzwunden und Prellungen unangenehm bemerkbar. Nur mit halbem Ohr hörte er Shanes mit Begeisterung vorgetragener Wiederholung des Kampfes zu, während er sich mit Devins Halstuch das Blut, das immer wieder von Neuem von seiner Unterlippe tropfte, abwischte.

Du hast kein Ziel, dachte er. Willst nichts. Tust nichts. Bist nichts. Seiner Meinung nach bestand der einzige Unterschied zwischen ihm und Joe Dolin darin, dass Joe ein Trinker war und er nicht.

Er hasste die verdammte Farm ebenso wie diese verdammte Stadt hier. Er kam sich vor wie in einer Falle, in einem Morast, in dem er mit jedem Tag, der zu Ende ging, tiefer versank.

Jared hatte seine Bücher und seine Studien, Devin seine absonderlich schwerwiegenden Gedanken und Fantasien und Shane das Land, das ihm offensichtlich alles geben konnte, was er zu seiner Befriedigung brauchte.

Nur er hatte nichts.

Am Ortsausgang, wo die Straße anzusteigen begann und der Baumbestand dichter wurde, stand ein Haus. Das alte Barlow-Haus. Düster und verlassen lag es da. Es gab Leute im Ort, die steif und fest behaupteten, in dem alten Gemäuer würde es spuken, weshalb die meisten Einwohner von Antietam sich bemühten, das Haus möglichst nicht zur Kenntnis zu nehmen, oder aber ein wachsames Auge darauf hatten.

„Halt mal kurz an.“

„Himmel, Rafe, wird dir womöglich zu guter Letzt noch schlecht?“

„Nein. Halt an, Jared, verdammt noch mal.“

Sobald der Wagen stand, sprang Rafe hinaus und kraxelte den steinigen Abhang zu dem Haus hinauf. Überall wucherten Büsche und Sträucher, und dornige Zweige verfingen sich in seinen Hosenbeinen. Er brauchte nicht erst hinter sich zu sehen, um die Flüche zu hören, die seinen Brüdern, die hinter ihm herstolperten, über die Lippen kamen.

Er blieb stehen und blickte versonnen auf das zweistöckige düstere Gemäuer, dessen Quader wahrscheinlich, wie er vermutete, aus dem Steinbruch, der nur ein paar Meilen entfernt lag, stammten. Da die Scheiben längst zu Bruch gegangen waren, hatte man die Fenster mit Brettern vernagelt. Da, wo vermutlich früher ein Rasen gewesen war, wucherten jetzt Disteln, wilde Brombeeren und Hexengras. Inmitten des Gestrüpps erhob eine abgestorbene knorrige alte Eiche ihre kahlen Äste.

Doch als sich nun der Mond zwischen ein paar Wolken hervorstahl und einen warmgoldenen Mantel über das Haus warf, während eine leichte Brise leise flüsternd durch die Sträucher und die hohen Gräser strich, bekam das alte Gemäuer für Rafe plötzlich etwas Zwingendes. Es hatte Wind und Wetter getrotzt und, was am wichtigsten von allem war, auch dem Geschwätz und dem Misstrauen, das ihm die Einwohner der Stadt entgegenbrachten.

„Hältst du etwa Ausschau nach Gespenstern, Rafe?“ Shane trat neben ihn, und seine Augen glitzerten in der Dunkelheit.

„Kann sein.“

„Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir damals, um uns unseren Mut zu beweisen, die Nacht hier draußen verbracht haben?“ Geistesabwesend riss Devin ein paar Grashalme ab und rollte sie zwischen seinen Fingern hin und her. „Vor zehn Jahren oder so, schätze ich. Jared hatte sich ins Haus reingeschlichen und quietschte mit den Türen, während Shane, der nichts davon wusste, draußen stand und sich vor Angst in die Hosen machte.“

„Einen Teufel hab ich getan.“

„Aber sicher, genauso war’s.“

Die beiden älteren Brüder ignorierten den Wortwechsel der beiden jüngeren, der voraussehbar in einem Gerangel enden würde.

„Wann wirst du weggehen?“, erkundigte sich Jared ruhig. Er hatte es schon eine ganze Weile geahnt, aber nun erkannte er es deutlich. Die Art, wie Rafe das Haus betrachtete, war ganz eindeutig ein Abschiednehmen.

„Heute Nacht. Ich muss hier weg, Jared. Ich muss irgendwo anders hin und ganz neu anfangen, etwas anderes machen. Wenn ich es nicht mache, werde ich so enden wie Dolin. Oder noch schlimmer. Mom ist tot, sie braucht mich nicht mehr. Zum Teufel, sie hat niemals jemanden gebraucht.“

„Weißt du schon, wohin du willst?“

„Nein. Vielleicht gehe ich in den Süden. Für den Anfang zumindest.“ Es gelang ihm kaum, seinen Blick von dem Haus loszureißen. Er hätte schwören können, dass es ihn genau beobachtete. Und auf ihn wartete. „Wenn ich kann, werde ich versuchen, euch Geld zu schicken.“

Obwohl es ihm wirklich nicht ganz leichtfiel, zuckte Jared gelassen mit den Schultern. „Wir kommen schon zurecht.“

„Du musst dein Jurastudium beenden. Mom hätte das so gewollt, das weißt du.“ Rafe blickte über die Schulter nach hinten, wo das Gerangel, das zu erwarten gewesen war, bereits beste Fortschritte erzielt hatte. „Die beiden kommen schon klar, wenn sie erst mal genau wissen, was sie wollen.“

„Shane weiß, was er will. Die Farm.“

„Stimmt.“ Mit einem dünnen Lächeln holte Rafe ein Zigarettenpäckchen aus seiner Hemdtasche, schüttelte sich eine Zigarette heraus und zündete sie an. „Denk darüber nach. Verkauf so viel Land wie notwendig, aber lass dir nichts wegnehmen. Das, was uns gehört, werden wir auch behalten. Und eines Tages werden sich die Leute im Ort auch wieder daran erinnern, wer die MacKades eigentlich sind.“

Rafes dünnes Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. Zum ersten Mal seit Wochen verspürte er den bohrenden Schmerz, der sein Inneres zu zerfressen schien, nicht mehr. Seine jüngeren Brüder, die ihren Kampf beendet hatten, hockten leicht ramponiert auf dem Erdboden und lachten sich halb tot.

So behältst du sie alle in Erinnerung, nahm er sich vor. Genau so. Die MacKades, wie sie nebeneinander auf einem steinigen Grund und Boden saßen, auf den niemand Rechtsansprüche hatte und den keiner wollte.

1. KAPITEL

Der schlimme Junge war zurückgekehrt. Die Gerüchteküche in Antietam brodelte.

Was schließlich serviert wurde, war eine dicke Brühe, scharf gewürzt mit Skandalen, Sex und süßen Geheimnissen. Rafe MacKade war nach zehn Jahren wieder da.

Das bedeutete Ärger, davon waren einige Leute felsenfest überzeugt. Ärger hing Rafe MacKade am Hals wie einer Kuh die Glocke. Rafe MacKade, der keinem Streit aus dem Weg ging und der den Pick-up seines toten Daddys zu Schrott gefahren hatte, noch bevor er überhaupt im Besitz eines Führerscheins gewesen war.

Nun war er zurückgekommen und parkte seinen Superschlitten unverfroren wie immer direkt vor dem Büro des Sheriffs.

Sicher, die Zeiten hatten sich sehr geändert. Seit fünf Jahren war sein Bruder Devin der Sheriff von Antietam, aber es hatte auch Zeiten gegeben – und die meisten konnten sich noch gut daran erinnern –, in denen Rafe MacKade selbst eine oder zwei Nächte in einer der Zellen, die sich an der Rückseite des Gebäudes befanden, hatte verbringen müssen.

Oh, er war attraktiv wie eh und je – zumindest war das die uneingeschränkte Meinung der Frauen am Ort. Geradezu verteufelt gut sah er aus – ein Geschenk, das alle MacKades in die Wiege gelegt bekommen hatten.

Sein Haar war schwarz und dicht, die Augen, grün und hart wie die Jade der kleinen chinesischen Statuen, die in der Auslage des Antiquitätengeschäfts Past Times standen, funkelten angriffslustig wie in alten Zeiten. Sie trugen nichts dazu bei, um dieses kantige, scharf geschnittene Gesicht mit der kleinen Narbe über dem linken Auge weicher erscheinen zu lassen.

Wenn sich jedoch seine Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben bogen, machte jedes Frauenherz einen Satz. Dieser Meinung war zumindest Sharilyn Fenniman von der am Ortseingang liegenden Tankstelle Gas and Go gewesen, als er sie angelächelt hatte, während er ihr einen Zwanzigdollarschein für Benzin in die Hand drückte. Noch bevor er den Gang hatte einlegen können, war Sharilyn zum Telefon gerast, um Rafes Rückkehr zu verkünden.

„Sharilyn hat natürlich sofort ihre Mama angerufen.“ Während sie sprach, füllte Cassandra Dolin Regan Kaffee nach. Es war Nachmittag, und in Ed’s Café war nicht viel los. Wahrscheinlich lag das an dem Schnee, der in dicken Flocken vom Himmel fiel und die Straßen und Bürgersteige im Nu weiß werden ließ. Cassie, die über Regans Tasse gebeugt stand, richtete sich vorsichtig auf und zwang sich, den schmerzhaften Stich, der sich an ihrer rechten Hüfte bemerkbar gemacht hatte, zu ignorieren.

Regan Bishop zauderte kurz, bevor sie den Löffel in ihren Eintopf eintauchte und lächelte. „Er stammt doch von hier, stimmt’s?“

Auch nach den drei Jahren, die sie nun schon hier lebte, verstand sie noch immer nicht, was die Leute am Kommen und Gehen ihrer Mitmenschen so faszinierte. Irgendwie gefiel ihr aber die Anteilnahme und amüsierte sie auch, allerdings konnte sie das alles nicht so recht verstehen.

„Ja, sicher, aber er war doch so lange weg. Während der ganzen Zeit ist er nur ein- oder zweimal hier gewesen, für ein oder zwei Tage in den letzten zehn Jahren.“ Während Cassie hinausschaute auf das Schneetreiben, überlegte sie, wo er wohl gewesen war, was er gemacht und erlebt hatte. Ja, und sie versuchte sich vorzustellen, wie es woanders wohl sein mochte.

„Du siehst müde aus, Cassie“, murmelte Regan.

„Hm? Ach, nein, ich träume nur gerade ein bisschen. Das hält mich immer aufrecht. Ich habe den Kindern gesagt, dass sie direkt von der Schule hierherkommen sollen, aber …“

„Dann werden sie es bestimmt auch tun. Du hast großartige Kinder.“

„Ja, das stimmt.“ Als sie lächelte, wich die Anspannung aus ihren Augen, zumindest ein bisschen.

„Warum holst du dir nicht auch eine Tasse? Komm, setz dich doch zu mir und trink einen Schluck.“ Mit einem raschen Blick durch das Café hatte sich Regan davon überzeugt, dass der Moment günstig war. Rechts hinten in der Nische saß ein Gast, der über seinem Kaffee eingedöst zu sein schien, und das Pärchen am Tresen schien ebenfalls wunschlos glücklich. „Du bist ja im Augenblick mit Arbeit nicht gerade eingedeckt.“ Als sie sah, dass Cassie zögerte, zog sie kurz entschlossen die Trumpfkarte. „Ich bin doch so neugierig. Erzähl mir was über Rafe MacKade.“

Cassie kaute, noch immer unentschlossen, auf ihrer Unterlippe herum. „Na gut“, willigte sie schließlich ein. „Ed“, rief sie, „ich mach jetzt Mittagspause, okay?“

Auf ihr Rufen hin kam eine hagere Frau in einer weißen Schürze, auf dem Kopf eine wirre rote Dauerwellenpracht, aus der Küche. „Alles klar, Honey.“ Ihre dunkle Stimme klang rau von den zwei Päckchen Zigaretten, die sie täglich konsumierte, und ihr sorgfältig geschminktes Gesicht glühte von der Hitze, die der Herd, an dem sie arbeitete, ausstrahlte. „Hallo, Regan“, sie grinste breit. „Sie haben Ihre Mittagspause schon um fünfzehn Minuten überzogen.“

„Ich lasse das Geschäft heute Nachmittag geschlossen“, gab Regan zurück. Sie wusste, dass Edwina Crump ihre Öffnungszeiten immer wieder von Neuem amüsierten. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Leute bei diesem Wetter Lust haben, Antiquitäten zu kaufen.“

„Es ist wirklich ein harter Winter.“ Cassie, die gegangen war, um sich eine Tasse zu holen, kam an den Tisch zurück und schenkte sich Kaffee ein. „Jetzt haben wir noch nicht mal den Januar hinter uns, und die Kids haben schon gar keine Lust mehr, Schneemänner zu bauen und Schlitten zu fahren.“ Sie seufzte und achtete sorgfältig darauf, nicht vor Schmerz zusammenzuzucken, als sie sich setzte. Sie war zwar erst siebenundzwanzig – ein Jahr jünger als Regan –, aber im Moment fühlte sie sich alt.

Nach drei Jahren Freundschaft konnte Regan Cassies Seufzer sehr gut einordnen. „Die Dinge stehen nicht zum Besten, stimmt’s?“, fragte sie leise und legte ihre Hand auf die von Cassie. „Hat er dich wieder geschlagen?“

„Nein, nein. Mir geht’s gut“, beeilte sich Cassie zu versichern und starrte in ihre Kaffeetasse. Sie fühlte sich von Scham, Angst und Schuld wie zerfressen, Gefühle, die mehr schmerzten als jeder Schlag, den ihr Joe je versetzt hatte. „Ich habe keine Lust, über Joe zu reden.“

„Hast du dir die Sachen über Gewalt gegen Frauen und das Frauenhaus in Hagerstown durchgelesen, die ich dir mitgebracht habe?“

„Ja … ich hab mal reingeschaut. Regan, ich habe zwei Kinder, verstehst du? Ich muss zuerst an sie denken.“

„Aber …“

„Bitte.“ Cassie hob den Blick und sah Regan flehentlich an. „Ich will einfach nicht darüber sprechen.“

„Na gut.“ Regan musste sich bemühen, sich ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Sie drückte Cassies Hand. „Also los, erzähl mir was über diesen legendären MacKade.“

„Rafe.“ Cassies Gesicht hellte sich auf. „Ich hatte immer eine Schwäche für ihn. Eigentlich für alle MacKades. Es gab nicht ein Mädchen in der ganzen Stadt, das nicht wenigstens einmal von einem der MacKades geträumt hätte.“

„Ich mag Devin.“ Regan nippte an ihrem Kaffee. „Er erscheint mir solide, manchmal vielleicht ein bisschen geheimnisvoll, aber absolut zuverlässig.“

„Ja, auf Devin kann man sich verlassen“, stimmte Cassie zu. „Hätte doch keiner gedacht, dass er jemals ein so guter Sheriff werden würde. Er ist immer gerecht. Jared hat eine gut gehende Anwaltspraxis in Hagerstown. Auch Shane ist absolut in Ordnung – na ja, er hat vielleicht seine Ecken und Kanten, doch er arbeitet auf seiner Farm mindestens für zwei. Als die MacKades noch jünger waren, mussten die Mütter ihre Töchter förmlich einsperren, wenn die Jungs von der Ranch runter in die Stadt kamen.“

„Sind alle gute Bürger geworden, hm?“

„Ja. Früher hatten sie immer eine Riesenwut im Bauch. Bei Rafe war es am schlimmsten. In der Nacht, als er die Stadt verließ, hat er sich mit Joe geprügelt. Er hat ihm das Nasenbein gebrochen und zwei Zähne ausgeschlagen.“

„Tatsächlich?“ Regan beschloss, Rafe genau dafür zu mögen, wie auch immer er sonst sein mochte.

„Ihr Vater starb, als sie noch Kinder waren“, erzählte Cassie weiter. „Ich muss damals so etwa zehn gewesen sein. Rafe verließ kurz nach dem Tod ihrer Mutter die Stadt. Sie war zuvor ein Jahr lang krank gewesen, der Grund dafür, dass die Dinge auf der Farm nicht zum Besten standen. Die Leute hier waren fast alle fest davon überzeugt, dass die MacKades verkaufen müssten, aber sie hielten durch.“

„Zumindest drei von ihnen.“

„Mmm …“ Cassie genoss ihren Kaffee. Sie hatte so selten Zeit, sich einmal hinzusetzen. „Sie waren ja alle noch nicht richtig erwachsen. Jared muss damals dreiundzwanzig gewesen sein, und Rafe zehn Monate jünger. Devin ist vier Jahre älter als ich, und Shane ist der Jüngste.“

„Das klingt so, als sei Mrs MacKade eine fleißige Frau gewesen.“

„Sie war großartig. Stark. Sie hielt alles zusammen, egal wie schlimm und verfahren die Situation auch war. Ich habe sie immer bewundert.“

„Nicht in jedem Fall ist es gut, durchzuhalten bis zum bitteren Ende“, murmelte Regan und dachte dabei an Cassie. Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte sich vorgenommen, Cassie nicht zu drängen. Die Dinge brauchten ihre Zeit. „Warum, glaubst du, ist er zurückgekommen?“

„Keine Ahnung. Ich habe gehört, dass er in den vergangenen Jahren eine Menge Geld mit Haus- und Grundstücksverkäufen verdient haben soll. Er hat wohl jetzt eine Immobilienfirma. MacKade hat er sie genannt. Einfach nur MacKade. Meine Mutter war immer der Meinung, dass er eines Tages im Gefängnis landen würde, aber …“ Sie unterbrach sich mitten im Satz und starrte wie gebannt aus dem Fenster. „Oh Gott“, murmelte sie hingerissen. „Sharilyn hatte recht.“

„Hm?“

„Er sieht besser aus als je zuvor.“

Gerade in dem Moment, in dem Regan neugierig den Hals reckte, um einen Blick auf ihn zu erhaschen, bimmelte die Türglocke, und er trat ein. Selbst wenn er noch heute das schwarze Schaf sein sollte, als das er von hier fortgegangen ist, so ist er doch zumindest ein Prachtexemplar, dachte Regan anerkennend.

Er schüttelte sich den Schnee aus dem dichten Haar, das die Farbe von Kohlenstaub hatte, und schälte sich aus seiner schwarzen sportlichen Lederjacke, die mit Sicherheit nicht die richtige Bekleidung für einen harten Ostküstenwinter darstellte. Er hat das Gesicht eines Kriegers, dachte Regan – die kleine Narbe über dem linken Auge, der Dreitagebart und die leicht gekrümmte Nase, die sein Gesicht davor bewahrte, allzu ebenmäßig zu erscheinen.

Sein Körper wirkte, als sei er hart wie Granit, und seine Augen waren auch nicht weicher. Er trug ein Flanellhemd, ausgewaschene Jeans und ramponierte Stiefel. Dass er reich und erfolgreich aussah, konnte man nicht gerade behaupten.

Rafe amüsierte die Tatsache, und gleichzeitig war er erfreut darüber, dass sich Eds Lokal während der zehn Jahre seiner Abwesenheit um keinen Deut verändert hatte. Vermutlich waren das noch immer jene Barhocker, die er als Junge bereits angewärmt hatte, während er auf seinen Eisbecher oder seinen Softdrink wartete. Ganz sicher aber lag noch immer der gleiche Geruch in der Luft, ein Gemisch aus Fett, dem Duft gebratener Zwiebeln und Zigarettenrauch, das alles angereichert mit einem Schuss Reinigungsmittel, das nach Kiefernnadel roch.

Sicher stand Ed wie immer hinten in der Küche und wendete Burgers oder stocherte in den Pommes herum, um zu überprüfen, ob sie schon knusprig genug waren. Und ebenso sicher war der Alte, der da drüben in der Nische über seinem mittlerweile kalt gewordenen Kaffee döste, Tidas. Er schnarchte friedlich vor sich hin, ganz so, wie er es immer getan hatte.

Rafes kühl taxierender Blick erfasste den leuchtend weißen Tresen, auf dem mit Plastikfolie abgedeckte Kuchenplatten standen, wanderte weiter über die Wände, wo Schwarzweiß-Drucke der berühmtesten Schlachten aus dem Bürgerkrieg hingen, hin zu einer Nische, in der zwei Frauen vor ihren Kaffeetassen saßen.

Die eine der beiden hatte er noch nie gesehen. Am liebsten hätte er einen anerkennenden Pfiff ausgestoßen. Das schimmernde braune Haar, auf Kinnlänge geschnitten, umrahmte ein weiches Gesicht, dessen Haut die Farbe von Elfenbein hatte. Lange, dichte dunkle Wimpern beschatteten dunkelblaue Augen, die ihm mit unverhüllter Neugier entgegenblickten. Über dem vollen Mund saß direkt in der Ecke ein winziger frecher Leberfleck.

Bildschön, dachte er. Als wäre sie gerade einem Hochglanz-Modemagazin entstiegen.

Sie starrten einander einen Moment lang an und taxierten sich so, wie man ein begehrenswertes Schmuckstück in einem Schaufenster einschätzt. Dann ließ er seinen Blick weiterwandern zu der kleinen, zerbrechlich wirkenden Blondine mit den traurigen Augen und dem zögernden Lächeln.

„Teufel noch mal.“ Ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht, ein Umstand, der die Raumtemperatur schlagartig in die Höhe zu treiben schien. „Die kleine, süße Cassie Connor.“

„Rafe. Ich habe schon gehört, dass du wieder da bist.“ Als er sie am Handgelenk packte und hochzog, um sie besser anschauen zu können, lachte sie perlend. Regan hob erstaunt die Augenbrauen. Es war wirklich selten, dass Cassie so frei herauslachte.

„Hübsch wie immer“, sagte Rafe und küsste sie ungeniert auf den Mund. „Ich hoffe, du hast den Trottel rausgeschmissen, damit ich jetzt freie Bahn habe.“

Sie wich einen Schritt zurück und bemühte sich ganz offensichtlich, ihre Zunge sorgsam im Zaum zu halten. „Ich habe jetzt zwei Kinder!“

„Ja. Hab’s schon gehört. Einen Jungen und ein Mädchen, stimmt’s?“ Er zog scherzhaft am Träger ihrer Latzschürze, während er leicht bestürzt registrierte, dass sie noch schmaler und zerbrechlicher wirkte als früher. Sie war viel zu dünn. „Du arbeitest immer noch hier?“

„Ja. Ed ist hinten in der Küche.“

„Ich geh gleich mal hin, um sie zu begrüßen!“ Während seine Hand noch immer wie zufällig auf Cassies Schulter ruhte, fiel sein Blick wieder auf Regan. „Und wer ist deine Freundin?“

„Oh, entschuldige. Das ist Regan Bishop. Ihr gehört das Past Times, ein Antiquitätengeschäft, ein paar Häuser weiter die Straße hinunter. Regan, das ist Rafe MacKade.“

„Einer der MacKade-Brüder.“ Sie bot ihm die Hand. „Ich habe schon von Ihnen gehört.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Er nahm ihre Hand und hielt sie fest, während er ihren Blick suchte. „Antiquitäten? Was für ein Zufall. Das interessiert mich sehr.“

„Ach ja? Geht es Ihnen um eine bestimmte Epoche?“

„Mitte bis spätes neunzehntes Jahrhundert. Ich habe mir gerade ein Haus hier gekauft, das ich ganz im Stil dieser Zeit einrichten will. Glauben Sie, dass Sie mir dabei behilflich sein können?“

Vor Verblüffung blieb ihr fast der Mund offen stehen. Ihr Geschäft ging recht gut, sie lebte von den Touristen, und ab und an kauften sich auch die Einheimischen ein schönes Stück. Dieses Angebot aber, das er ihr eben unterbreitet hatte, würde ihr normales Einkommen schlagartig verdreifachen. „Selbstverständlich.“

„Du hast dir ein Haus gekauft?“, schaltete sich Cassie nun überrascht ein. „Ich dachte, du wohnst bei deinem Bruder auf der Farm.“

„Stimmt. Bis jetzt zumindest. Dieses Haus habe ich mir allerdings auch nicht gekauft, um darin zu wohnen. Ich will ein Hotel daraus machen. Es ist das alte Barlow-Haus.“

Überrascht drehte Cassie die Kaffeekanne in ihren Händen hin und her. „Das Barlow-Haus? Aber dort …“

„Spukt es?“ Seine Augen funkelten. „Da hast du verdammt recht. Wie steht’s, Cassie, könnte ich denn vielleicht auch ein Stück von diesem Kuchen hier haben und einen Kaffee? Wenn ich das alles hier sehe, bekomme ich richtig Appetit.“

Obwohl Regan kurz darauf gegangen war, hatte Rafe noch etwa eine Stunde in Ed’s Café vertrödelt. Gerade als er aufbrechen wollte, kamen Cassies Kinder hereingestürmt. Cassie veranstaltete einen Riesenwirbel, weil der Junge vergessen hatte, seine Handschuhe anzuziehen, und dann begann das kleine Mädchen mit den großen Augen feierlich und ernsthaft von den Ereignissen des Tages zu erzählen.

Vieles war über den Zeitraum von zehn Jahren hinweg gleich geblieben. Aber es hatte sich auch eine Menge verändert. Er war sich klar darüber, dass die Neuigkeit seiner Rückkehr im Moment durch die Telefondrähte schwirrte. Und er freute sich darüber. Er wollte, dass die ganze Stadt wusste, dass er wieder da war und dass er nicht geschlagen zurückgekommen war, wie so mancher es vorausgesagt hatte.

Er hatte genügend Geld in der Tasche und Pläne für seine Zukunft. Das Barlow-Haus war das Herzstück seiner Pläne. Es hatte ihn die ganzen Jahre über nicht losgelassen. Nun gehörte es ihm, jeder Stein, jeder Balken – und alles, was sonst noch darin sein mochte. Er würde es neu erschaffen, ebenso wie er sich selbst neu erschaffen hatte.

Eines Tages würde er am Dachfenster stehen und auf die Stadt hinunterschauen. Er würde es allen beweisen – und auch sich selbst –, dass Rafe MacKade alles andere als ein Niemand war.

Er ließ ein großzügiges Trinkgeld liegen, wobei er darauf achtete, dass es nicht so großzügig ausfiel, dass es Cassie beschämen könnte. Sie ist viel zu dünn, dachte er wieder wie vorhin schon einmal, und ihre Augen blicken allzu wachsam. Ihm war aufgefallen, dass sie diese Wachsamkeit nur gegenüber Regan abgelegt hatte.

Die schien ihm eine Frau zu sein, die wusste, was sie wollte. Ruhige, entschlossene Ausstrahlung, ein energisches Kinn und weiche Hände. Sie hatte mit keiner Wimper gezuckt, als er ihr sein Angebot unterbreitet hatte. Oh, natürlich konnte er sich gut vorstellen, wie es sie innerlich durchzuckt hatte, aber anmerken lassen hatte sie sich nichts.

„Wo ist denn dieses Antiquitätengeschäft? Zwei Häuser weiter?“

„Genau.“ Cassie brühte gerade eine Kanne frischen Kaffees auf, wobei sie die ganze Zeit ein Auge auf ihre Kinder hatte. „Auf der linken Seite. Aber soweit ich weiß, hat sie heute Nachmittag geschlossen.“

Rafe schlüpfte in seine Lederjacke und grinste. „Das glaube ich kaum.“

Er schlenderte hinaus, die Jacke offen, als wäre draußen das herrlichste Frühlingswetter. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter seinen Schuhsohlen. Ganz wie erwartet, brannte bei Past Times das Licht. Doch statt gleich in der Wärme des Ladens Schutz vor der Kälte zu suchen, blieb er nun vor dem Schaufenster stehen und studierte interessiert die Auslage, die er sehr ansprechend fand.

Das gesamte Fenster war mit einer Flut von blau schimmerndem Brokatstoff ausgelegt, auf dem ein zierlicher Kinderschaukelstuhl stand, in den man eine Porzellanpuppe mit riesigen himmelblauen Augen hineingesetzt hatte. Ihr zu Füßen türmte sich ein raffiniert angerichtetes Durcheinander von antikem Kinderspielzeug. Auf einem Sockel bäumte sich züngelnd, das Maul weit aufgerissen, ein Drache aus Jade auf. Daneben stand ein auf Hochglanz poliertes Schmuckkästchen, aus dessen geöffneten Schubladen perlmuttschillernde Perlenketten, mit funkelnden Steinen besetzte Armbänder, goldene Reifen, Ringe und Ohrgehänge quollen, gerade so, als ob eine Frauenhand auf der Suche nach dem passenden Stück alles durchwühlt hätte.

Nicht schlecht gemacht, dachte er anerkennend.

Als er den Laden betrat, bimmelten die Schlittenglöckchen, die über der Tür hingen, melodisch, und ihm schlug ein Duft nach Zimt, Äpfeln und Nelken entgegen. Und noch etwas hing in der Luft, das er sofort erkannte und das ihn veranlasste, ganz tief Atem zu holen: der unaufdringliche, aber unverkennbare Duft von Regan Bishops Parfüm.

Er ließ seine Blicke durch den Raum schweifen. Eine Couch hier, ein Tisch da, alles stand wie zufällig herum, aber ihm war klar, dass die Anordnung der Dinge Methode hatte. Lampen, Schüsseln, Vasen waren bewusst ausgestellt und erweckten doch den Anschein, als wären sie Dekoration. Ein Esstisch war sorgfältig gedeckt mit feinem chinesischen Porzellangeschirr, handgeschliffenen Gläsern und Kristallkaraffen, feierlich breitete ein Kerzenleuchter seine Arme über der Festtafel aus, und ein frischer, zartfarbiger Blumenstrauß ließ in dem Betrachter das Gefühl aufkommen, als müssten die erwarteten Gäste jeden Moment eintreffen.

Der Laden hatte drei große Ausstellungsräume. Nirgendwo entdeckte er Trödel, altes Gerümpel oder auch nur ein Stäubchen. Alles glänzte, funkelte und war auf Hochglanz poliert. Er blieb vor einem roh gebeizten Küchenschrank aus hellem Holz stehen, in dem große dunkelblaue Teller, Tassen und Krüge aus Ton standen.

„Ein schönes Stück, nicht wahr?“, bemerkte Regan, die hinter ihn getreten war.

„Wir haben einen ähnlichen Schrank in unserer Küche auf der Farm.“ Er drehte sich nicht um. „Meine Mutter bewahrte das Alltagsgeschirr darin auf. Und die Gläser. Aber dicke, die nicht so leicht zerbrechen konnten. Die warf sie dann nach mir, wenn ich wieder einmal unverschämt und aufsässig war.“

„Hat sie Ihnen denn auch ab und zu mal eine Ohrfeige verpasst?“

„Nein, aber sie hätte es bestimmt getan, wenn sie der Meinung gewesen wäre, dass es nötig ist.“ Nun drehte er sich um und präsentierte ihr ein geradezu verheerend charmantes Grinsen. „Und sie hatte verdammt viel Kraft in den Armen, das können Sie mir glauben. Und – was machen Sie eigentlich hier mitten im Nirgendwo, Regan Bishop?“

„Antiquitäten verkaufen, Rafe MacKade.“

„So, so. Und sie sind tatsächlich gar nicht mal so schlecht. Was möchten Sie denn für den Drachen draußen im Schaufenster?“

„Fünfundfünfzig. Sie haben einen exzellenten Geschmack, das muss ich schon sagen.“

„Fünfundfünfzig. Sie scheinen ja ziemlich gesalzene Preise zu haben.“ Seelenruhig streckte er die Hand aus und öffnete einen der goldenen Knöpfe ihrer marineblauen Kostümjacke.

Sie fand die kleine Geste reichlich unverschämt, aber sie dachte gar nicht daran, sie zu kommentieren. „Sie bekommen ja auch etwas für Ihr Geld.“

Er hakte seine Daumen in die Taschen seiner Jeans und begann wieder herumzuschlendern. „Wie lange sind Sie denn schon hier?“

„Im vergangenen Sommer waren es drei Jahre.“

„Und wo kommen Sie her?“ Als er keine Antwort bekam, drehte er sich um und sah, dass sie eine ihrer schön geschwungenen schwarzen Augenbrauen leicht hochgezogen hatte. „Wir machen doch nur ein bisschen Konversation, Darling. Es ist mir ganz angenehm, wenn ich von den Leuten, mit denen ich geschäftlich zu tun habe, ein bisschen was weiß.“

„Bis jetzt haben wir aber noch nicht geschäftlich miteinander zu tun.“ Sie strich sich das Haar hinter die Ohren und strahlte ihn an. „Darling“, setzte sie dann angriffslustig hinzu.

Er brach in ein Lachen aus. Sie fand es ansteckend. Nimm dich in Acht, sagte sie sich.

„Ich habe das Gefühl, dass wir gut miteinander zurechtkommen werden, Regan.“ Er blieb vor ihr stehen, legte den Kopf auf die Seite und taxierte sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. „Sie sind nicht übel.“

„Führen wir noch immer eine Konversation?“

„Nein, das ist jetzt eine Inspektion.“ Er wippte auf den Zehenspitzen leicht hin und her, die Daumen noch immer in die Hosentaschen gehakt, in den Mundwinkeln ein Grinsen, und studierte die Ringe an ihren Fingern. „Da ist aber keiner dabei, der mich abhalten könnte, oder?“

Plötzlich hatte sie Schmetterlinge im Bauch. Sie straffte die Schultern. „Kommt ganz darauf an, worauf Sie hinauswollen.“

Er zuckte nur die Schultern, ließ sich auf einem mit dunkelrotem Samt bezogenen Zweiersofa nieder und legte lässig den Arm über die geschwungene Lehne. „Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?“

„Nein, danke. Sind Sie hergekommen, um Geschäfte mit mir zu machen oder weil Sie die Absicht haben, mich ins Bett zu zerren?“

„Ich zerre niemals Frauen ins Bett.“ Er lächelte sie an.

Nein, dachte sie. Das hast du mit Sicherheit auch gar nicht nötig, du brauchst nur dieses Grinsen aufzusetzen.

„Wirklich, Regan. Es ist rein geschäftlich.“ Er streckte bequem die Beine aus und legte die Füße übereinander. „Zumindest noch.“

„Okay. Wie wär’s mit einem heißen Apfelwein?“

„Danke, gern.“

Sie wandte sich ab und ging in den hinteren Teil des Ladens. Rafe haderte unterdessen mit sich selbst. Eigentlich hatte er nicht die Absicht gehabt, so direkt zu sein. Der Duft, den sie ausströmte, musste ihm wohl das Hirn benebelt haben. Und provoziert hatte er sich gefühlt durch die kühle Art, wie sie da in ihrem eleganten Schneiderkostüm vor ihm stand.

Wenn ihm jemals eine Frau über den Weg gelaufen war, die versprach, ihm Schwierigkeiten zu machen, so war es Regan Bishop. Aber er hatte noch niemals den einfacheren Weg gewählt. Er liebte die Herausforderung.

Kurz darauf kam sie zurück. Beim Anblick ihrer langen Beine stockte ihm fast der Atem.

„Danke.“ Er nahm ihr den emaillierten Becher mit dem dampfend heißen Gebräu aus der Hand. „Eigentlich hatte ich beabsichtigt, eine Firma in Washington oder Baltimore mit der Einrichtung des Hauses zu beauftragen, aber es würde mich wahrscheinlich einige Zeit kosten, eine geeignete zu finden.“

„Was Ihnen so eine Firma bieten kann, kann ich auch. Und ich mache Ihnen einen besseren Preis.“ Sie hoffte es zumindest.

„Mag sein. Nun, mir wäre es ganz recht, wenn der Laden hier am Ort ist. Eine enge Zusammenarbeit ist so besser gewährleistet.“ Er kostete von dem heißen Apfelwein. Er schmeckte gut, war aber ziemlich stark. „Was wissen Sie über das Barlow-Haus?“

„Jammerschade, dass man es so verfallen lässt. Und eigentlich verstehe ich es nicht, denn hier in der Gegend werden doch sehr viele historische Bauten restauriert. Nur dieses Haus wird von der Stadt total ignoriert.“

„Es ist zwar solide gebaut, aber man muss eine Menge Arbeit hineinstecken …“ Er ließ all die Aufgaben, die vor ihm lagen, vor seinem geistigen Auge Revue passieren. „Fußböden müssen gelegt werden, die Wände brauchen einen neuen Verputz, einige will ich auch einreißen, die Fenster sind hinüber, und das Dach ist eine einzige Katastrophe.“ Er zuckte die Schultern. „Es wird Zeit kosten und Geld, das ist alles. Wenn es fertig ist, soll es wieder genauso aussehen wie 1862, als die Barlows hier lebten und vom Fenster ihres Salons aus die Schlacht von Antietam verfolgten.“

„Haben sie das?“, fragte Regan und lächelte. „Ich würde viel eher annehmen, dass sie sich vor Angst in ihrem Keller verkrochen haben.“

„Glaube ich nicht. Sie waren reich und privilegiert, und es ist zu vermuten, dass die ganze Sache für sie eher eine Art der Unterhaltung war. Vielleicht haben sie sich geärgert, wenn vom Lärm des Kanonendonners das eine oder andere Fenster einen Sprung bekommen hat oder wenn die Todesschreie der Soldaten das Baby aus seinem Mittagsschlaf geweckt haben.“

„Sie sind ja ein echter Zyniker. Reich zu sein heißt doch nicht, dass man keine Panik verspüren würde, wenn direkt vor dem Haus auf dem Rasen Menschen sich im Todeskampf winden und verbluten.“

„Die Schlacht spielte sich ja nicht unmittelbar vor dem Haus ab. Aber egal. Jedenfalls möchte ich, dass das Haus wieder genau so eingerichtet wird, wie es damals war. Die Tapeten, die Möbel, die Stoffe – und alles in den Originalfarben natürlich.“ Er verspürte das drängende Bedürfnis nach einer Zigarette, kämpfte es aber nieder. „Und wie denken Sie darüber, ein Haus, in dem es spukt, zu restaurieren?“

„Wäre äußerst interessant.“ Sie sah ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg an. „Nebenbei gesagt, ich glaube nicht an Gespenster.“

„Das wird sich bald ändern. Ich habe in meiner Kindheit mal zusammen mit meinen Brüdern eine Nacht in dem Barlow-Haus verbracht.“

„Ach ja? Haben die Türen gequietscht und die Ketten gerasselt?“

„Nein.“ Das Lächeln war aus seinem Gesicht wie fortgewischt. „Bis auf die Geräusche, die Jared arrangiert hat, um uns zu erschrecken. Aber es gibt auf einer der Treppen einen bestimmten Punkt, der einem das Blut in den Adern gerinnen lässt, und wenn man den Flur entlanggeht, erscheint es manchmal, als würde einem jemand über die Schulter schauen. Und wenn es still ist und man lauscht angestrengt genug, kann man Säbelrasseln hören.“

Obwohl sie stark an der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen zweifelte, gelang es ihr doch nicht, den Schauer, der sie überlief, zu unterdrücken. „Wenn Sie versuchen, mich aus dem Rennen zu nehmen, indem Sie mir Angst einjagen, muss ich Sie leider enttäuschen.“

„Ich beschreibe ja nur. Am besten wäre ein gemeinsamer Ortstermin, was halten Sie davon? Und dann können Sie mir Ihre Vorschläge unterbreiten. Wie wär’s mit morgen Nachmittag? Vielleicht gegen zwei?“

„Ja, das würde mir gut passen. Dann kann ich auch gleich alles ausmessen.“

„Okay.“ Er stellte seine Tasse ab und erhob sich. „Die geschäftliche Verbindung mit Ihnen fängt an, mir Spaß zu machen.“

Sie nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte. „Willkommen zu Hause.“

„Oh, da sind Sie die Erste, die mir das sagt.“ Mit betonter Ironie hob er ihre Hand an die Lippen und küsste sie. „Vielen Dank, aber anscheinend wissen Sie nicht, mit wem Sie es zu tun haben. Also, bis morgen dann.“ Er wandte sich um und ging zur Tür. „Und, Regan“, fügte er hinzu, „holen Sie den Drachen aus dem Fenster. Ich nehme ihn.“

Nachdem er die Stadt hinter sich gelassen hatte, fuhr Rafe an den Straßenrand, hielt an und stieg aus. Ohne auf das Schneetreiben und den eisigen Wind, der ihm entgegenschlug, zu achten, stand er versonnen da und blickte auf das einsame Haus, das sich auf dem Hügel vor ihm erhob. Welche Geheimnisse mochte es bergen?

Gespenster, dachte er, während die Schneeflocken lautlos auf ihn niederfielen. Vielleicht. Aber langsam wurde ihm klar, dass es sich wahrscheinlich um Gespenster handelte, die in ihm selbst wohnten.

2. KAPITEL

Regan freute sich immer wieder von Neuem darüber, dass sie es zu einem eigenen Geschäft gebracht hatte. Sie allein konnte entscheiden, was sie ankaufte und verkaufte, ganz nach ihrem Geschmack, und sie selbst war es, die die Atmosphäre schuf, die ihr Laden ausstrahlte. Die Zeit, die sie dort verbrachte, war Zeit, die ihr gehörte, denn alles, was sie tat, tat sie für sich.

Aber obwohl sie ihr eigener Chef war, erlaubte sich Regan keinerlei Nachlässigkeiten. Im Gegenteil, sie war streng mit sich selbst und erwartete von sich, dass sie bereit war, nur das Beste zu geben. Sie arbeitete hart und beklagte sich selten.

Sie hatte genau das, was sie sich immer gewünscht hatte – ein Zuhause und ein Geschäft in einer Kleinstadt, die fast ländlich anmutete, weit weg von der Hektik und dem Lärm der Großstadt, in der sie fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

Nach Antietam zu ziehen und ein eigenes Geschäft aufzumachen, war Teil des Fünfjahresplans gewesen, den sie sich nach dem Examen aufgestellt hatte. Nach Abschluss ihres Studiums der Geschichte und Betriebswirtschaft hatte sie einige Zeit im Antiquitätenhandel gearbeitet, um Erfahrungen zu sammeln.

Nun war sie endlich ihr eigener Herr. Jeder Quadratzentimeter des Ladens und der gemütlichen Wohnung, die im Stockwerk darüber lag, gehörte ihr. Und der Bank. Das Geschäft, das sie mit MacKade machen würde, würde sie der vollkommenen Unabhängigkeit einen großen Schritt näherbringen.

Gleich nachdem Rafe sie gestern Nachmittag verlassen hatte, hatte sie den Laden abgeschlossen, war in die Bibliothek hinübergegangen und hatte sich eine ganze Ladung Bücher ausgeliehen, um ihr Wissen über die Epoche, mit der sie sich nun würde beschäftigen müssen, aufzufrischen und zu ergänzen.

Noch um Mitternacht saß sie über die Bücher gebeugt, las und machte sich Notizen über jedes kleine Detail des Alltagslebens während des Bürgerkriegs in Maryland. Erst als die Buchstaben vor ihren Augen zu tanzen begannen, konnte sie sich dazu entschließen, ihre Lektüre zu beenden.

Nun kannte sie jeden Aspekt der Schlacht von Antietam, wusste alle Einzelheiten über General Lees Marsch und seinen Rückzug über den Fluss und hatte die genaue Anzahl der Toten und Verwundeten im Kopf, ebenso wie das Bild des blutigen Kampfes, der über die Hügel und durch die Kornfelder Marylands getobt hatte.

Das meiste davon hatte sie natürlich schon vorher gewusst, vor allem deshalb, weil sie die Vorstellung, dass ausgerechnet hier, in dieser stillen, abgeschiedenen Gegend eine der größten Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs geschlagen worden war, schon immer fasziniert hatte. In gewisser Weise war es sogar so, dass dieses Wissen ihre Wahl bezüglich des Ortes, an dem sie sich niederlassen wollte, beeinflusst hatte.

Diesmal jedoch hatte sie nach mehr ins Detail gehenden Informationen Ausschau gehalten – Informationen, die die Barlows betrafen. Sie wollte alles wissen, sowohl die Fakten als auch das, was an Spekulationen über sie angestellt wurde. Bereits hundert Jahre vor jenem schrecklichen Tag im September des Jahres 1862 war die Familie in dem Haus auf dem Hügel ansässig geworden. Als wohlhabende Großgrundbesitzer und Geschäftsleute hatten sie gelebt wie die Fürsten. Ihre rauschenden Bälle und festlichen Dinner hatten Gäste in großer Zahl aus Washington und aus Virginia angelockt.

Sie wusste, wie sie sich gekleidet hatten, sah die Gehröcke der Herren und die mit Spitzen besetzten Reifröcke der Damen genau vor sich, die Hüte aus Seide und die mit Satin bezogenen Pumps. Sie wusste, wie sie gelebt hatten, mit Dienstboten, die ihnen den Wein aus Kristallkaraffen in handgeschliffene, funkelnde Pokale einschenkten und die ihr Heim schmückten und die Möbel mit Bienenwachs wienerten, bis man sich darin spiegeln konnte.

Selbst jetzt, hier auf dieser verschneiten, kurvigen Straße, die sie gerade entlangfuhr, hatte sie die Farben und Stoffe vor Augen, die Möbel und all die schönen Kleinigkeiten, mit denen sich die Barlows umgeben hatten. Rafe MacKade würde für sein Geld den adäquaten Gegenwert bekommen. Sie hoffte nur, dass seine Taschen auch tief genug waren.

Auf der schmalen, holprigen Straße, die zu dem Haus hinaufführte, lag hoher, jungfräulich weißer Schnee. Unmöglich. Diese Straße konnte sie keinesfalls hinauffahren. Sie würde in den Schneeverwehungen stecken bleiben.

Leicht verärgert darüber, dass Rafe diesem Umstand keine Beachtung geschenkt hatte, fuhr sie bis zur nächsten Biegung, parkte den Wagen und stieg aus. Nur mit ihrer Aktentasche bewaffnet, trat sie den mühseligen Marsch nach oben an.

Wie gut, dass du deine Winterstiefel anhast, sagte sie sich, als sie fast bis zu den Waden im Schnee versank. Zuerst hatte sie ein Kostüm und Schuhe mit hohen Absätzen anziehen wollen, aber im letzten Moment war ihr eingefallen, dass es weiß Gott nicht darum ging, bei Rafe MacKade Eindruck zu schinden.

Nachdem sie die Anhöhe erklommen hatte, sah sie sich um. Das Haus hatte etwas Faszinierendes an sich, und es zeichnete sich trotz der langjährigen Vernachlässigung stolz und unverwüstlich gegen das kalte Blau des Himmels ab.

Sie trat, vorsichtig durch die Schneeverwehungen stapfend, näher und kämpfte sich durch das Gesträuch. Brombeerranken streckten ihre dornigen Finger nach ihren Hosenbeinen aus und verhakten sich. Und doch war hier früher einmal weicher grüner Rasen mit in allen Farben blühenden Blumenrabatten gewesen.

Wenn Rafe auch nur ein kleines bisschen Fantasie hatte, könnte es eines Tages wieder so sein.

Während sie sich ermahnte, dass die Landschaftsgestaltung nicht ihr Problem war, bahnte sie sich ihren Weg zur vorderen Eingangstür.

Er ist zu spät dran, dachte sie mit einem Anflug von Missmut.

Regan schaute sich um, stampfte ein paarmal, um wärmer zu werden, mit den Füßen auf und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Der Mann konnte doch kaum erwarten, dass sie in dieser Eiseskälte hier draußen herumstand und auf ihn wartete. Zehn Minuten und keine Sekunde länger, sagte sie sich. Sie würde ihm eine Nachricht hinterlassen, in der sie ihn darüber aufklärte, dass sie getroffenen Verabredungen viel Wert beimaß, und wieder wegfahren.

Aber es konnte nicht schaden, einen kurzen Blick ins Innere des Hauses zu werfen.

Vorsichtig stieg sie die schadhaften Stufen empor. Hier, an diesem Seitenbogen sollten sich unbedingt Glyzinien oder Wicken emporranken, überlegte sie, und für einen Moment war ihr, als läge deren Duft, das süße Aroma des Frühlings, bereits in der Luft.

Als sie die Hand auf die Türklinke legte, wurde ihr plötzlich klar, dass sie das schon die ganze Zeit hatte tun wollen. Bestimmt ist die Tür abgeschlossen, dachte sie. Selbst in Kleinstädten nimmt ja der Vandalismus immer mehr zu. Doch sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da merkte sie, dass die Tür nachgab.

Es war nur vernünftig, hineinzugehen. Zwar würde es drin auch nicht warm sein, aber wenigstens windstill. Und sie könnte sich schon einmal umsehen. Plötzlich zog sie die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihr Atem kam stoßweise, erschreckend laut in der Stille. Sie zitterte.

Du bist nur etwas kurzatmig, weil du den Hügel so schnell hinaufgelaufen bist, versuchte sie sich zu beruhigen. Und vollkommen durchgefroren, deshalb zitterst du. Das ist alles. Aber es war nicht alles. Die Wahrheit war, dass ihr die Furcht tief in den Knochen steckte, sie hatte es bis jetzt nur nicht gemerkt.

Beschämt schaute sie sich nach allen Seiten um. Gott sei Dank war kein Mensch weit und breit zu sehen, der ihre lächerliche Reaktion hätte beobachten können. Sie holte tief Luft, lachte über sich selbst, fasste sich ein Herz und öffnete die Tür.

Sie quietschte. Das war zu erwarten, sie war ja seit vielen Jahrzehnten nicht mehr geölt worden. Das riesige Foyer, das nun vor ihren Augen lag, entschädigte sie für ihre Angst, sodass sie alles andere vergaß. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich erleichtert aufseufzend mit dem Rücken dagegen.

Überall lag fingerdick der Staub, und Schimmelpilz wucherte über die Wände. Die Fußleisten waren von Mäusen angefressen, und Spinnweben hingen schmutzigen Schleiern gleich von der Decke herab. Sie sah jedoch alles bereits in neuem Glanz, die Wände gestrichen in dem vollen, dunklen Grünton, der für die Epoche so typisch war, der Holzfußboden unter ihren Füßen so blitzblank gewachst, dass man sich darin spiegeln konnte.

Und dort drüben, dachte sie, steht der Tisch, an dem die Jagdgesellschaft gleich Platz nehmen wird, ein riesiger Rosenstrauß in der Mitte, flankiert von silbernen Kerzenleuchtern. Ein kleiner Sessel aus Walnussholz mit durchbrochener Lehne, ein gehämmerter Schirmständer und ein Spiegel mit einem vergoldeten Rahmen.

Während sie sich ausmalte, wie es gewesen war und wie es wieder sein würde, sah und hörte sie nichts und spürte auch nicht die kalte Luft, die ihren Atem in einer kleinen weißen Wolke vor sich hertrieb.

Im Salon angelangt, blieb sie vor dem gemauerten Kamin stehen. Der Marmor war schmutzig, aber unbeschädigt. Sie hatte zwei Vasen im Geschäft, die perfekt auf den Sims passen würden. Und ein handbesticktes Fußbänkchen. Voller Eifer schlug sie ihr Notizbuch auf und begann alles aufzuschreiben, was ihr bis jetzt eingefallen war.

Sie ging hin und her, überlegte. Spinnweben hingen in ihrem Haar, an ihrem Kinn saß ein schwarzer Fleck, und ihre Stiefel waren staubig, aber sie befand sich im siebten Himmel. Als sie Schritte hinter sich hörte, war ihre Laune so blendend, dass sie überhaupt nicht daran dachte, sich zu beschweren.

„Es ist wundervoll. Ich kann überhaupt nicht …“ Sie redete die Wand an.

Regan stutzte, verließ den Salon und ging in die Halle. Sie öffnete den Mund, um laut zu rufen, aber dann wurde ihr klar, dass die Fußtritte im Staub ihre eigenen waren.

Jetzt siehst du schon Gespenster, dachte sie erschauernd. Verursachten denn große, leere Häuser nicht eine Menge Geräusche? Holz, das sich setzt, Wind, der durch die Fensterritzen pfeift, Rascheln von Nagetieren, dachte sie und schnitt eine Grimasse. Sie hatte keine Angst vor Mäusen. Auch nicht vor Spinnen oder sonstigem Getier.

Doch als plötzlich die Decke über ihr zu ächzen begann, entschlüpfte ihr ein Aufschrei, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Bevor sie sich wieder in den Griff bekommen konnte, hörte sie, wie oben eine Tür zugeschlagen wurde.

Sie raste durch die Halle, und noch während sie blindlings nach der Türklinke tastete, wurde ihr klar, was die Geräusche zu bedeuten hatten.

Rafe MacKade.

Oh, er hält sich wohl für besonders witzig, dachte sie wütend. Schleicht sich ins Haus hinauf in den ersten Stock, dieser Idiot, um kurz mal Geist zu spielen.

Nicht mit mir, nahm sie sich vor und straffte entschlossen die Schultern, hob das Kinn und marschierte strammen Schrittes auf die gewundene Treppe zu.

„Halten Sie das für besonders komisch, MacKade?“, rief sie hinauf. „Sie können jetzt runterkommen, ich würde nämlich ganz gern endlich anfangen zu arbeiten.“

Sie ging ein paar Stufen hinauf und erstarrte, als sie die Hand auf das Treppengeländer legte. Oh Gott, was war das? Ihre Hand fühlte sich an wie taub. Ein eisiger Luftschwall wehte ihr entgegen. Kam das von der Eiseskälte, die das Holz abstrahlte? Das konnte nicht sein. Regan ging mit Herzklopfen noch ein paar Stufen weiter, und als sie auf halber Höhe war, geriet sie ins Taumeln, als müsse sie gegen einen Widerstand anrennen. Sie hörte ein Ächzen, von dem sie aber gleich darauf erkannte, dass es ihr eigenes war. Endlich hatte sie den oberen Treppenabsatz erreicht.

„Rafe.“ Ihre Stimme klang brüchig, was sie mit Verärgerung zur Kenntnis nahm. Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte den langen Gang, der rechts und links von geschlossenen Türen gesäumt war, hinunter. „Rafe“, rief sie wieder und bemühte sich, statt der Angst, die sie verspürte, Ungehaltenheit in ihre Stimme zu legen. „Ich muss meinen Zeitplan einhalten, könnten wir jetzt langsam anfangen?“

Sie vernahm ein schabendes Geräusch, gleich darauf das Zuknallen einer Tür, dem ein Wimmern, das wie das leise Weinen einer Frau klang, folgte. Das war zu viel. Regan vergaß allen Stolz, drehte sich auf dem Absatz um und floh, wie von Furien gehetzt, die Treppe nach unten. Sie hatte die letzte Stufe noch nicht erreicht, als sie den Schuss hörte.

Rechts neben ihr öffnete sich ächzend wie von Geisterhand eine Tür.

Nun begann sich die Halle vor ihren Augen zu drehen, Regan schwankte, gleich darauf fiel sie in ein tiefes, schwarzes Loch.

„Los, Darling, reißen Sie sich zusammen!“

Regan warf nervös den Kopf hin und her, stöhnte und erschauerte.

„Alles klar, Mädchen. Kommen Sie, öffnen Sie Ihre schönen blauen Augen. Tun Sie’s für mich.“

Die Stimme klang so zwingend, dass sie den Worten Folge leistete. Als sie die Lider hob, sah sie direkt in Rafe MacKades jadegrüne Augen. „Das war nicht besonders lustig.“

Erleichtert darüber, dass sie endlich eine Reaktion zeigte, lächelte er und streichelte ihre Wange. „Was war nicht lustig?“

„Dass Sie sich da oben versteckt haben, um mich zu erschrecken.“ Nachdem sie, um wieder klar sehen zu können, ein paarmal schnell hintereinander geblinzelt hatte, entdeckte sie, dass sie in einem Sessel im Salon saß. Und zwar auf Rafes Schoß. „Lassen Sie mich herunter.“

„Noch nicht. Dafür sind Sie noch zu wacklig auf den Beinen. Ruhen Sie sich noch einen Moment aus.“ Er verlagerte ihren Kopf so, dass er bequem in seiner Armbeuge zu liegen kam.

„Ich brauche mich nicht auszuruhen. Mir geht’s gut.“

„Sie sind weiß wie ein Bettlaken. Leider gibt’s hier keinen Schnaps. Den hätten Sie jetzt bitter nötig. Aber eines muss man Ihnen lassen. Ich habe noch niemals eine Frau so würdevoll in Ohnmacht fallen sehen. Es ging ganz langsam und gemessen vonstatten, sodass ich alle Zeit der Welt hatte, Sie aufzufangen, bevor Sie zu Boden stürzten.“

„Wenn Sie jetzt von mir erwarten, dass ich Ihnen meinen Dank ausspreche, muss ich Sie leider enttäuschen.“ Sie versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. „Weil Sie nämlich überhaupt nur schuld daran sind, dass es so weit gekommen ist.“

„Oh, vielen Dank. Was für ein erregender Gedanke, dass eine Frau schon allein bei meinem Anblick in Ohnmacht fällt. Ah …“ Er hob mit dem Zeigefinger ihr Kinn an. „Sehen Sie, das hat jetzt die Farbe in Ihre Wangen zurückgebracht.“

„Wenn das die Art und Weise ist, in der Sie Ihre Geschäftsbeziehungen pflegen, dann muss ich leider passen.“ Wütend presste sie die Kiefer zusammen. „Lassen Sie mich runter.“

„Versuchen wir’s doch mal so.“ Er hob sie hoch und setzte sie neben sich. „Wollen Sie mir nicht erzählen, warum Sie so fuchsteufelswütend auf mich sind?“

Sie schnitt eine ärgerliche Grimasse und klopfte sich den Staub von der Hose. „Das wissen Sie doch selbst ganz genau.“

„Alles, was ich weiß, ist, dass Sie, als ich zur Tür reinkam, umgekippt sind.“

„Ich bin in meinem Leben noch nie in Ohnmacht gefallen.“ Und es war ihr zutiefst peinlich, dass es ihr ausgerechnet jetzt passiert war – vor ihm. „Wenn Sie möchten, dass ich mit Ihnen zusammenarbeite, sollten Sie in Zukunft solche Scherze unterlassen, verstanden?“

Während er sie betrachtete, griff er in seine Tasche, um seine Zigaretten herauszuholen. Dann fiel ihm ein, dass er gar keine dabeihatte, weil er vor genau acht Tagen beschlossen hatte, das Rauchen aufzugeben. „Ich weiß noch immer nicht, was Sie mir eigentlich vorwerfen. Womit hab ich Sie denn so erschreckt?“

„Indem Sie da oben herumgelaufen sind, Türen geöffnet und zugeknallt haben und auch sonst noch so allerlei vollkommen lächerliche Geräusche verursacht haben.“

„Ich bin doch erst vor fünfzehn Minuten von der Farm weggefahren.“

„Ich glaube Ihnen kein Wort.“

„Ja, warum sollten Sie auch. Aber es ist dennoch so.“ Wenn er schon nicht rauchen konnte, musste er sich wenigstens bewegen. Er stand auf und schlenderte zum Kamin hinüber. Plötzlich hatte er Rauchgeruch in der Nase – Rauch von einem Feuer, das erst vor Kurzem ausgegangen war. Was natürlich nicht sein konnte. „Shane ist mein Zeuge – und auch Cy Martin, der Bürgermeister.“

„Sie brauchen mir nicht zu sagen, wer Cy Martin ist“, erwiderte sie unwirsch.

Er trat auf sie zu, zog seinen Mantel aus und legte ihn ihr über die Knie. „Wie sind Sie denn überhaupt hier reingekommen?“

„Ich …“ Sie starrte ihn an und schluckte. „Ich habe die Tür aufgemacht.“

„Sie war doch abgeschlossen.“

„Nein, war sie nicht.“

Er hob eine Augenbraue und klimperte mit den Schlüsseln in seiner Tasche. „Interessant.“

„Und Sie beschwindeln mich wirklich nicht?“, erkundigte sie sich einen Moment später misstrauisch.

„Nein, diesmal nicht. Erzählen Sie mir doch mal genau, was Sie gehört haben.“

„Schritte. Aber da war niemand.“ Ihre Hände waren eiskalt. Um sie anzuwärmen, steckte sie sie unter seinen Mantel. „Die Dielen im Stockwerk über mir haben geknarrt. Deshalb bin ich hochgegangen.“ Sie erzählte weiter bis zu dem Moment, als ihr schwarz vor Augen geworden war. Allein die Erinnerung jagte ihr von Neuem einen Angstschauer nach dem anderen den Rücken hinunter.

Er ließ sich wieder neben ihr nieder und legte fürsorglich einen Arm um ihre Schulter. „Ich hätte nicht zu spät kommen dürfen.“ Vollkommen unerwartet beugte er sich vor und gab ihr einen kurzen, wie zufällig wirkenden Kuss. „Verzeihung.“

„Das ist wohl kaum der Punkt.“

„Die Sache ist die, dass manche Menschen hier in diesem Haus Dinge wahrnehmen, die anderen verborgen bleiben.“ Er betrachtete sie und schüttelte leicht ungläubig den Kopf. „Es wundert mich allerdings, dass Sie etwas gehört haben wollen, denn Sie scheinen mir eher ein Verstandesmensch zu sein.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ach, wirklich, meinen Sie?“

„Ja. Vollkommen unbeirrbar“, fügte er mit einem Grinsen hinzu. „Aber es scheint, dass Sie mehr Fantasie haben, als ich Ihnen zugetraut hätte. Fühlen Sie sich jetzt besser?“

„Mir geht’s gut.“

„Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht noch ein bisschen auf meinen Schoß setzen möchten?“

„Ganz sicher, danke.“

Er hielt ihren Blick fest, während er ihr ein paar Spinnweben aus dem Haar pflückte. „Möchten Sie jetzt wirklich gehen?“

„Unbedingt.“

Er nahm seinen Mantel von ihren Knien. „Ich würde Sie gern irgendwohin bringen.“

„Nicht nötig, danke. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass es mir …“ Energisch stand sie auf und stieß dabei versehentlich mit der Schulter gegen seine Brust, „… gut geht.“

„Aber wir haben doch noch zu tun, Darling“, erinnerte er sie, während er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr strich. „Was halten Sie davon, wenn wir uns ein etwas gemütlicheres Plätzchen suchen, um noch ein paar Sachen zu bereden?“

Sie fand seinen Vorschlag vernünftig und willigte ein. „Also gut.“

„Regan?“

„Ja?“

„Ihr Gesicht ist schmutzig.“ Er lachte über den wütenden Blick, den sie ihm zuwarf, und zog sie in seine Arme. Noch bevor sie einen Protestschrei loswerden konnte, hatte er sie hochgehoben und durch die Haustür nach draußen getragen. Dort setzte er sie ab. Nachdem er abgeschlossen hatte, deutete er auf den Jeep, der nur ein paar Schritte entfernt parkte. „Dort hinüber. Aber passen Sie auf sich auf.“

„Das habe ich mir schon seit Langem zur Gewohnheit gemacht.“

„Worauf man mit Sicherheit Gift nehmen kann“, murmelte er vor sich hin, während er langsam um den Wagen herumging.

Vorsichtig fuhr er den Hügel hinunter und machte keine Anstalten, bei ihrem Auto anzuhalten.

„Moment, ich nehme meinen Wagen“, protestierte sie.

„Da wir jetzt nicht bis ans Ende der Welt fahren, bringe ich Sie später wieder hierher zurück.“

„Wohin fahren wir denn?“

„Nach Hause, Darling, nach Hause.“

Vor der MacKade-Farm, die, umgeben von weiß verschneiten Feldern, friedlich dalag, tollten bellend zwei goldbraune Hunde im Schnee herum.

Regan war hier schon zahllose Male vorübergefahren, allerdings immer im Frühling oder im Sommer, wenn der Pflug tiefe Furchen in die dunkelbraune Erde der Felder gerissen hatte oder wenn das goldene Korn hoch stand. Manchmal war Shane auf seinem Traktor vorbeigekommen, und dann hatte sie angehalten und ein paar freundliche Worte mit ihm gewechselt. Shane schien mit dem Land, das er bebaute, vollkommen verwachsen. Rafe MacKade dagegen konnte sie sich hier nicht vorstellen.

„Wegen der Farm sind Sie aber nicht zurückgekommen, oder irre ich mich da?“

„Himmel, nein. Shane liebt sie, Devin steht ihr mehr oder weniger gleichgültig gegenüber und Jared sieht sie als ein prosperierendes Unternehmen.“

Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihn forschend, während er den Jeep neben seinem Wagen parkte. „Und Sie?“

„Mir ist sie verhasst.“

„Fühlen Sie sich denn nicht mit dem Stück Land, auf dem Sie aufgewachsen sind, verbunden?“

„Das habe ich nicht gesagt. Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass ich das Farmerdasein hasse.“ Rafe kletterte aus dem Jeep und tätschelte die beiden Retriever, die fröhlich bellend an ihm hochsprangen. Dann ging er um den Wagen herum und hob Regan, noch bevor sie einen Fuß in den knöcheltiefen Schnee setzen konnte, herunter.

„Ich wünschte, Sie würden endlich damit aufhören, mich ständig herumzutragen. Ich bin schon groß und kann allein laufen.“

„Ihre Stiefel sind zwar recht hübsch, aber für Schneewanderungen ausgesprochen ungeeignet“, gab er zurück. „Ihr bleibt draußen“, befahl er den beiden Hunden, die versuchten, sich dazwischenzudrängen, als er mit dem Ellbogen die Haustür öffnete.

„He, Rafe, was hast du denn da mitgebracht?“, rief ihm Shane erstaunt durch die offen stehende Wohnzimmertür entgegen.

Grinsend verlagerte Rafe Regans Gewicht auf seinen Armen, zog eine Hand hervor und winkte Shane zu. „Na, das siehst du doch – eine Frau.“

„Und was für eine!“ Shane kniete vor dem Kamin und warf ein dickes Holzscheit ins Feuer, dann erhob er sich und grinste ebenfalls. „Na, du hast ja schon immer einen guten Geschmack gehabt.“ In seinen Augen lag ein warmes Lächeln, als er Regan zunickte. „Hallo, Regan.“

„Hallo.“

„Gibt’s Kaffee?“, erkundigte sich Rafe.

„Aber sicher.“ Shane kickte mit dem Fuß ein Holzscheit, das von dem Stapel neben dem Kamin heruntergerutscht war, beiseite. „Die Küche auf der MacKade-Farm hat immer geöffnet.“

„Prima. Und jetzt bleib uns vom Hals.“

„Das war aber ziemlich grob“, bemerkte Regan und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen, während Rafe sie den Flur hinunter in die Küche trug.

„Sie haben keine Geschwister, stimmt’s?“

„Nein, aber …“

„Hab ich mir gedacht.“ Er setzte sie auf einem der Stühle, die um den Küchentisch standen, ab. „Was nehmen Sie in Ihrem Kaffee?“

„Nichts – ich trinke ihn schwarz.“

„Was für eine Frau.“ Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken an der Küchentür, wo schon die schwere Arbeitsjacke seines Bruders hing. Dann ging er zum Küchenschrank und holte zwei große weiße Kaffeebecher heraus. „Möchten Sie etwas zu Ihrem Kaffee dazu? Shane hat immer irgendeine hoffnungsvolle junge Frau an der Hand, die ihm Plätzchen backt. Wahrscheinlich weil er so ein hübsches, unschuldiges Gesicht hat.“

„Hübsch vielleicht. Ihr seht ja alle verdammt gut aus.“ Sie schlüpfte aus ihrem Mantel. „Aber die Plätzchen werde ich mir wohl besser entgehen lassen.“

Er stellte eine mit dampfend heißem Kaffee gefüllte Tasse vor sie hin und setzte sich ebenfalls. „Und die Gelegenheit mit dem Haus? Werden Sie sich die ebenfalls entgehen lassen?“

Sie schaute sinnend in ihre Kaffeetasse. „Ich habe eine ganze Menge Kleinkram, von dem ich glaube, dass Sie sich dafür begeistern könnten, wenn alles erst einmal fertig eingerichtet ist. Die Sachen würden hundertprozentig passen. Außerdem habe ich mich mittlerweile sachkundig gemacht über die Farben und Stoffe, die man in dieser Epoche verwendet hat.“

„Ist das ein Ja oder ein Nein auf meine Frage, Regan?“

„Nein, ich werde sie mir nicht entgehen lassen.“ Sie hob den Blick und sah ihn an. „Aber es wird Sie eine schöne Stange Geld kosten.“

„Sie sind also nicht beunruhigt?“

„Ganz so würde ich das vielleicht nicht sagen. Nun weiß ich immerhin, was mich erwartet. Ich kann Ihnen zumindest die Garantie dafür geben, dass ich kein zweites Mal in Ohnmacht falle.“

„Das freut mich. Ich habe mich ja zu Tode erschreckt.“ Er streichelte ihre Hand, die auf dem Tisch lag. Dabei bewunderte er die Feingliedrigkeit ihrer Finger. „Sind Sie bei Ihren Nachforschungen auch auf die beiden Unteroffiziere gestoßen?“

„Was für Unteroffiziere?“

„Da sollten Sie die alte Mrs Metz fragen. Sie erzählt diese Geschichte immer wieder gern. Was ist denn das für eine Uhr, die Sie da tragen?“ Neugierig schob Rafe einen Finger unter das schwarze Elastikarmband ihrer Uhr.

„Sie dürfte etwa Jahrgang 1920 sein. Was war denn nun mit den beiden Unteroffizieren?“

„Die beiden hatten in der Hitze des Gefechts den Anschluss an ihr jeweiliges Regiment verloren. Über dem Kornfeld da drüben im Osten hingen so dicke Rauchschwaden, dass man kaum mehr die Hand vor Augen sehen konnte.“

„Hier auf diesen Feldern hat sich auch ein Teil der Schlacht abgespielt?“, fragte sie überrascht.

„Ja, ein Teil. Aber egal. Jedenfalls war es wohl so, dass die beiden – einer war von der Union, einer von den Konföderierten – den Anschluss verpasst hatten. Sie waren noch halbe Kinder, und wahrscheinlich hatten sie panische Angst. Und dann brachte sie ein böser Zufall in dem Wald, der die Grenze zwischen dem MacKade-Land und dem Barlow-Besitz bildet, zusammen.“

„Oh.“ Gedankenverloren strich sie sich das Haar aus der Stirn. „Mir war gar nicht klar, dass die beiden Ländereien direkt aneinanderstoßen.“

„Wenn man quer durch den Wald geht, ist es weniger als eine halbe Meile bis hinüber zum Barlow-Haus. Aber wie auch immer, jedenfalls standen sich die beiden plötzlich gegenüber. Wenn sie auch nur ein bisschen Grips im Kopf gehabt hätten, hätten sie ganz schnell die Beine unter den Arm genommen und sich in Sicherheit gebracht. Was jedoch keiner von beiden tat.“ Er nahm einen Schluck Kaffee. „Sie schafften es jedenfalls in diesem Wäldchen, sich gegenseitig ein paar Löcher in den Bauch zu schießen, aber tot war keiner von beiden. Der Konföderierte schleppte sich mit letzter Kraft auf das Barlow-Grundstück und brach vor der Haustür zusammen. Dort entdeckte ihn dann eine mitleidige Sklavin und brachte ihn ins Haus.“

„Und im Haus starb er“, murmelte Regan und wünschte sich, das grausame Bild, das ihr allzu deutlich vor Augen stand, fortwischen zu können.

„Ja. Die Sklavin informierte sofort ihre Herrin Abigail O’Brian Barlow, die aus der Familie der Carolina-O’Brians stammte. Abigail ordnete an, den Jungen nach oben zu bringen, wo sie seine Wunden versorgen wollte. Da kam ihr Mann hinzu und erschoss ihn direkt auf der Treppe, wie einen tollwütigen Hund.“

Von Entsetzen gepackt, sah Regan Rafe an. „Oh mein Gott. Warum denn nur?“

„Weil er es niemals zugelassen hätte, dass seine Frau einem Konföderierten half. Zwei Jahre später starb sie in ihrem Zimmer. Man erzählt sich, dass sie seit diesem Vorfall kein einziges Wort mehr mit ihrem Mann gewechselt hat. Allerdings hatten sie sich wohl auch schon vorher nicht besonders viel zu sagen, es war eine dieser arrangierten Ehen gewesen. Und angeblich soll er sie mit schöner Regelmäßigkeit verprügelt haben.“

„Mit anderen Worten – er war offensichtlich eine äußerst herausragende Persönlichkeit“, bemerkte Regan sarkastisch.

„Tja, das ist die Geschichte. Abigail O’Brian war eine empfindsame und unglückliche Frau.“

„Und saß in der Falle“, murmelte Regan, wobei sie an Cassie denken musste.

„Ich glaube kaum, dass sich die Leute damals über Misshandlung oder Ähnliches viele Gedanken gemacht haben. Und Scheidung“, er zuckte die Schultern, „kam unter diesen Umständen wahrscheinlich überhaupt nicht infrage. Ich könnte mir vorstellen, dass die Tat ihres Mannes bei ihr das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Dass das mehr an Grausamkeit war, als sie ertragen konnte. Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte.“

„Es gibt also noch mehr.“ Sie seufzte und erhob sich. „Ich glaube, ich brauche noch einen Kaffee.“

„Der Yankee taumelte in die entgegengesetzte Richtung davon“, fuhr Rafe fort und murmelte ein Danke, als sie ihm Kaffee nachfüllte. „Mein Urgroßvater fand ihn bewusstlos vor der Räucherkammer. Er hatte seinen ältesten Sohn bei Bull Run verloren – er kämpfte auf der Seite der Konföderierten.“

Regan schloss die Augen. „Ihr Urgroßvater hat den Jungen erschossen.“

„Nein. Mag sein, dass er daran gedacht hat, es zu tun, vielleicht war er auch in Versuchung, ihn einfach hilflos verbluten zu lassen, aber er tat es nicht. Er brachte ihn ins Haus und holte seine Frau und seine Töchter zu Hilfe. Sie legten ihn auf den Küchentisch und verarzteten seine Wunden. Nicht auf diesen hier“, fügte Rafe mit einem winzigen Lächeln hinzu.

„Beruhigend zu wissen.“

„Der Verletzte kam ein- oder zweimal zu sich und versuchte etwas zu sagen, aber er war zu schwach. Am nächsten Morgen war er tot.“

„Sie haben jedenfalls alles getan, was in ihrer Macht stand.“

„Ja, aber nun hatten sie einen toten Soldaten im Haus, sein Blut klebte überall. Und jeder, der sie kannte, wusste, dass sie überzeugte Südstaaten-Anhänger waren, die schon einen Sohn im Krieg verloren hatten sowie noch zwei andere, die für ihre Überzeugung kämpften. Mein Urgroßvater und seine Frau hatten Angst, und deshalb versteckten sie die Leiche des Jungen, warteten, bis es dunkel wurde, und begruben sie dann zusammen mit seinem Revolver und einem Brief seiner Mutter, den sie in der Tasche seines Uniformrocks gefunden hatten.“ Nun sah er sie an, seine Augen blickten kühl und bestimmt. „Und das ist der Grund, weshalb es spukt.“

Ihr verschlug es für einen Moment die Sprache, dann setzte sie behutsam ihre Tasse ab. „Wollen Sie damit sagen, dass es hier in diesem Haus auch spukt?“

„Überall hier in der Gegend. Im Haus, in den Wäldern, auf den Feldern. Man gewöhnt sich an die seltsamen Geräusche, die eigenartigen Gefühle, die einen manchmal überkommen. Wir haben nie viel darüber gesprochen, es war einfach da. Vielleicht bekommen Sie irgendwann auch noch einen Sinn dafür, was sich manchmal nachts in den Wäldern abspielt oder auch auf den Feldern, wenn der Morgennebel aufsteigt.“ Er lächelte leicht, als er Neugier in ihren Augen aufflackern sah. „Auch Zyniker verspüren etwas, wenn sie auf einem ehemaligen Schlachtfeld stehen. Nach dem Tod meiner Mutter erschien mir unser Haus … unruhig. Aber vielleicht war die Unruhe auch nur in mir selbst.“

„Sind Sie deshalb weggegangen?“

„Ach, dafür gab es viele Gründe.“

„Und für Ihre Rückkehr?“

„Einen oder auch zwei. Ich habe Ihnen den ersten Teil der Geschichte deshalb erzählt, weil Sie ja jetzt auch etwas mit dem Barlow-Haus zu tun haben. Mir ist daran gelegen, dass Sie die Dinge einordnen können. Und den zweiten Teil deshalb, weil“, er streckte die Hand aus und öffnete die beiden obersten Knöpfe ihres Blazers, „ich beabsichtige, für eine Weile hier auf der Farm zu wohnen. Nun können Sie selbst entscheiden, ob Sie immer hierher kommen möchten oder ob ich lieber zu Ihnen kommen soll.“

„Da mein gesamtes Inventar in meinem Laden ist …“

„Ich rede nicht von Ihrem Inventar.“ Nun beugte er sich vor, nahm ihr Gesicht zwischen seine beiden Hände, sah ihr tief in die Augen und küsste sie.

Sein Kuss war erst weich und vorsichtig. Behutsam. Doch gleich darauf stöhnte er und presste seinen Mund fest auf ihre Lippen, die sie ihm bereitwillig öffnete. Er beobachtete, wie ihre Augenlider zu flattern begannen, hörte, wie sie aufseufzte, und spürte direkt unter seinen Fingern das Blut in ihrer Halsschlagader pochen. Der ganz leicht rauchige Duft ihrer Haut war ein erregender Gegensatz zu dem Geschmack ihrer Lippen, der ihn an klares Quellwasser denken ließ.

Regan umklammerte mit ihren Händen ihre Knie. Die Entdeckung, wie gern sie ihn damit berührt hätte, schockierte sie. Sie malte sich aus, wie sich ihre Finger in sein dichtes Haar wühlten und wie sie mit den Fingerspitzen die Muskelstränge betastete, die sich unter seinem ausgewaschenen Flanellhemd abzeichneten. Aber es blieb nur eine Fantasie. Einen kurzen Augenblick lang war ihr Verstand von einem überraschend heftigen Begehren getrübt, doch sie hielt stand.

Als er sich schließlich von ihr löste, lagen ihre Hände noch immer in ihrem Schoß. Sie wartete, bis sie sich sicher sein konnte, dass ihre Stimme auch wirklich trug. „Ich bin Ihre Geschäftspartnerin und nicht Ihre Gespielin“, erklärte sie kühl und warf Rafe einen Blick zu, der streng sein sollte.

„Stimmt, wir machen miteinander Geschäfte“, pflichtete er ihr bei.

„Hätten Sie dieses Manöver auch dann gestartet, wenn ich ein Mann wäre?“

Er starrte sie an. Dann begann er zu lachen, erst leise, kurz darauf jedoch konnte er nicht mehr an sich halten und platzte los. „Darauf kann ich nur mit einem definitiven Nein antworten. Und ich könnte mir auch vorstellen, dass du mich in diesem Fall nicht wiedergeküsst hättest.“

„Also, jetzt will ich mal eines klarstellen. Ich habe ja schon viel über die MacKade-Brüder und die unwiderstehliche Wirkung, die sie auf Frauen ausüben, gehört.“

„Ja, ja, das liegt wie ein Fluch über unserem Leben“, fiel er ihr vergnügt ins Wort.

Es gelang ihr nur mit Mühe, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. „Der Punkt ist, dass ich weder an einem Quickie noch an einer Affäre und auch an keiner Beziehung interessiert bin. Ich denke, damit habe ich alle Möglichkeiten aufgezählt.“

„Oh, du wirst deine Meinung schon noch ändern, verlass dich darauf“, gab er im Brustton der Überzeugung zurück. „Warum fangen wir nicht mit einem Quickie an und arbeiten uns von da aus nach oben?“

Das war zu viel. Abrupt erhob sie sich und zog ihren Mantel an. „Nur in deinen Träumen.“

„Du bist dir ja wirklich sehr sicher. Warum also lade ich dich nicht einfach zum Essen ein?“

„Warum fährst du mich denn nicht einfach zu meinem Auto?“

„Na gut“, gab er nach, stand auf und nahm seinen Mantel vom Haken. Nachdem er ihn angezogen hatte, streckte er die Hand aus und stellte ihren Kragen hoch. „Die Nächte sind lang und kalt um diese Jahreszeit.“

„Dann nimm ein Buch“, schlug sie vor, während sie ihm voran durch die Halle ging, „und setz dich vor den Kamin.“

„Machst du so was?“ Er schüttelte den Kopf. „Dann werde wohl ich ein bisschen Aufregung in dein Leben bringen müssen.“

„Vielen Dank, aber ich mag mein Leben genau so, wie es jetzt ist. Lass mich …“ Sie beendete den Satz mit einem Fluch, als er sie hochhob. „MacKade“, sagte sie mit einem tiefen Seufzer, während er sie zum Jeep trug, „langsam fange ich wirklich an zu glauben, dass du ebenso schlecht bist wie dein Ruf.“

„Darauf kannst du Gift nehmen.“

3. KAPITEL

Es klang gut. Das aus dem Radio dringende dunkle Wehklagen der Countrysängerin wurde von dumpfen Hammerschlägen, sägenden Geräuschen und dem Surren eines Bohrers übertönt. Ab und zu riefen sich die Männer, deren Schritte auf den Holzdielen über ihm dröhnten, etwas zu.

Die harte Arbeit auf dem Bau hatte ihm vielleicht sogar das Leben gerettet. Durchdrungen von Gefühlen der Freiheit und des Abenteuers war er damals vor zehn Jahren auf seiner gebraucht erstandenen Harley durch die Landschaft gebraust. Aber sein Magen knurrte, und er wusste, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde, als irgendwo sein Geld zu verdienen, wenn er essen wollte.

Also hatte er sich in einen Arbeitsanzug geschmissen, den Werkzeuggürtel umgeschnallt und auf dem Bau seinen Schmerz, seine Wut und seine Frustration aus sich herausgeschwitzt.

Er konnte sich noch sehr gut an das berauschende Gefühl erinnern, das in ihm aufgestiegen war, nachdem er einen Schritt zurückgetreten war, um das erste Haus, das er geholfen hatte hochzuziehen, in Augenschein zu nehmen. Plötzlich war ihm klar geworden, dass es ihm gelungen war, mit seinen eigenen Händen etwas zu erschaffen. Genauso wollte er auch sich selbst erschaffen.

Nach einiger Zeit machte er sich selbstständig, und sein erstes in Eigenregie gebautes Haus war nicht viel mehr als ein Schuppen. Er schluckte Staub, bis er meinte, daran ersticken zu müssen, und schwang den Hammer, bis er seine Arme nicht mehr spürte. Als es schließlich fertig war, gelang es ihm, es mit Gewinn zu verkaufen. Das Geld steckte er in das nächste Grundstück und das nächste Haus. Innerhalb von vier Jahren schaffte er es, ein kleines Unternehmen auf die Beine zu stellen, das bald in dem Ruf stand, zuverlässige Arbeit zu leisten.

Und doch hatte er niemals aufgehört zurückzuschauen. Die Vergangenheit hatte ihn nie losgelassen. Das wurde ihm jetzt, als er im Salon des Barlow-Hauses stand und sich langsam umsah, klar. Er hatte einen Kreis beschrieben und war wieder an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt.

Er war darauf versessen gewesen, diese Stadt zu verlassen, und nun war er zurückgekehrt, um hier etwas aufzubauen. Egal, ob er sich entschließen würde hierzubleiben oder ob er wieder wegging, er würde etwas Bleibendes von sich hinterlassen.

Rafe kauerte sich vor dem Kamin nieder und untersuchte die Feuerstelle. Er war bereits gut vorangekommen mit den Ausbesserungsarbeiten. Nun würde es nicht mehr lange dauern, und dann würden orangerote Flammen emporzüngeln und Holzscheite knistern.

Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er seine Kelle nahm und sich in einem Eimer neuen Mörtel anrührte. Sorgfältig und präzise begann er wenig später, die Fugen zwischen den Steinen zu füllen.

„Ich dachte immer, der Boss sitzt nur am Schreibtisch und addiert Zahlenkolonnen.“

Rafe drehte sich um, und sein Blick fiel auf Jared, der mit auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen auf einem schmutzigen Lappen hinter ihm stand. Rafe hob die Augenbrauen. Sein Bruder trug unter dem offen stehenden dunklen Mantel einen vornehmen grauen Nadelstreifenanzug mit Weste. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wirkte die Wayfarer-Sonnenbrille, die er aufhatte, nicht einmal deplatziert.

„Das ist Sache der Buchhalter.“

Jared nahm die Brille ab und steckte sie in die Manteltasche. „Die dann dabei darüber nachsinnen, was wohl die Welt wäre ohne sie.“

„Vielleicht.“ Rafe tauchte die Kelle in den Mörtel, während er seinen Bruder von Kopf bis Fuß musterte. „Willst du auf eine Beerdigung?“

„Ich hatte einen Termin im Ort und wollte nur mal sehen, wie die Dinge so stehen.“ Während er seine Blicke durch den Raum schweifen ließ, ertönte von oben ein ohrenbetäubender Krach, dem ein kräftiger Fluch folgte. „Himmel, was war denn das?“

„Nur keine Aufregung.“ Rafe seufzte, als er sah, wie Jared eine kleine Blechschachtel aus seiner Manteltasche holte und ihr ein schlankes Zigarillo entnahm. „Du hast’s gut. Komm doch ein bisschen näher, damit ich wenigstens den Qualm riechen kann, wo ich doch seit zehn Tagen nicht mehr rauche.“

„Wohl auf dem Gesundheitstrip, hm?“ Entgegenkommend kam Jared heran, kniete sich neben Rafe vor den Kamin und blies ihm genüsslich den Rauch ins Gesicht, während er fachmännisch das Mauerwerk betrachtete. „Hat sich ziemlich gut gehalten.“

Rafe klopfte mit dem Fingerknöchel gegen den Kaminsims. „Ist ja auch ein echter Adam, Kumpel.“

Jared brummte anerkennend und klemmte sich das Zigarillo zwischen die Zähne. „Kann ich dir hier irgendwas helfen?“

Rafe zog eine Braue hoch. „Mit den Schuhen?“

„Nicht jetzt natürlich, Rafe. Aber zum Beispiel am Wochenende.“

„Zwei starke Arme kann ich immer brauchen.“ Erfreut über das Angebot, nahm Rafe die Kelle wieder zur Hand. „Was machen deine Muskeln?“

„Sind bestimmt nicht mickriger als deine.“

„Trainierst du noch?“, spöttelte Rafe und versetzte Jared mit der geballten Faust einen scherzhaften Stoß auf den Bizeps. „Ist doch nur was für Waschlappen.“

Jared stieß eine Rauchwolke aus. „Lust auf ’ne Runde, Bruderherz?“

„Sicher – wenn du nicht so rausgeputzt wärst.“ Selbstquälerisch inhalierte Rafe den Zigarrenrauch, der in der Luft hing. „Mehr gedient wäre mir allerdings mit deinem juristischen Sachverstand bei dieser Sache hier.“ Er machte eine umfassende Geste.

„Wart nur ab, bis du erst die Rechnung von mir bekommst.“ Jared erhob sich mit einem Grinsen. „Als du mich telefonisch beauftragt hast, die Eigentumsverhältnisse von dieser Hütte hier zu rekonstruieren, hab ich wirklich befürchtet, dass du jetzt vollkommen durchgeknallt bist. Und nach der Ortsbegehung war ich mir sicher, dass es so ist. Zwar bekommst du das Haus praktisch umsonst, weil kein Besitzer mehr existiert, aber das, was du reinstecken musst, ist ungefähr das Zweifache dessen, was dich ein funkelnagelneues Haus mit allem Komfort kosten würde.“

„Das Dreifache“, korrigierte Rafe milde, „wenn ich alles so mache, wie ich es mir vorstelle.“

„Und wie stellst du es dir vor?“

„Genau so, wie es früher einmal war.“ Rafe presste Mörtel in eine Fuge und strich ihn mit der Kelle glatt.

„Da hast du dir ja was vorgenommen“, murmelte Jared. „Aber wenigstens scheinst du mit den Arbeitern keine Probleme zu haben. Ich hatte schon Bedenken, dass du niemanden finden würdest, der bereit wäre, in diesem Haus hier zu arbeiten.“

„Ist alles nur eine Frage des Geldes“, gab Rafe zurück. „Allerdings muss ich zugeben, dass heute Morgen ein Klempnerlehrling das Handtuch geworfen hat.“ Seine Augen funkelten belustigt. „Sie waren gerade dabei, die Rohre in einer der beiden Toiletten im ersten Stock zu legen. Plötzlich schrie der Junge, dass sich eine Hand von hinten in seine Schulter gekrallt hätte, und ist davongerast, als sei der Teufel persönlich hinter ihm her. Den bin ich wohl leider los.“

„Aber sonst hast du keine Probleme?“

„Jedenfalls keine, für die ich einen Anwalt bräuchte. Kennst du eigentlich den von dem Anwalt und der Klapperschlange?“

„Oh Gott, der hat ja nun wirklich schon so einen Bart“, erwiderte Jared und schnitt eine Grimasse. „Glaub mir, ich kenne sie alle, ich hab mir eigens einen Ordner dafür angelegt.“

Rafe lachte und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. „Gut gemacht, Jared. Überhaupt würde Mom sich darüber freuen, was aus dir geworden ist.“ Anschließend hüllte er sich für einige Zeit in Schweigen, und man vernahm nur das schabende Geräusch, das entstand, wenn er mit der Kelle den Mörtel in den Fugen glatt strich. „Auf der Farm ist’s ja irgendwie seltsam. Shane und ich sind meistens allein, Devin verbringt die Hälfte seiner Nächte auf einer Couch im Sheriffoffice, und du bist in deinem netten kleinen Stadthaus. Wenn Shane aufsteht, ist es immer noch stockduster, aber der Idiot pfeift so laut und fröhlich vor sich hin, als ob es für ihn kein größeres Vergnügen gäbe, als an einem kalten dunklen Januarmorgen die Kühe zu melken.“

„Ist aber so. Es hat ihm schon immer Spaß gemacht. Shane war der, der die Farm am Leben erhalten hat.“

„Ich weiß.“

Jared glaubte, ein leichtes Schuldgefühl in der Stimme seines Bruders mitschwingen zu hören, und schüttelte den Kopf. „Du hast deinen Teil dazu beigetragen, Rafe. Das Geld, das du uns geschickt hast, hat uns viel geholfen.“ Jared starrte sinnend aus dem Fenster. „Ich denke darüber nach, ob ich das Haus in Hagerstown nicht wieder verkaufen sollte.“ Als Rafe nicht darauf einging, zuckte er die Schultern. „Damals, nach der Scheidung, erschien es mir am besten, es zu behalten, nachdem Barbara kein Interesse daran hatte.“

„Hast du an der Trennung noch zu knabbern?“

„Nein. Es ist jetzt drei Jahre her, und Gott sei Dank ging alles zivilisiert über die Bühne. Wir liebten uns einfach nicht mehr.“

„Ich habe sie nie besonders gemocht.“

Jared verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln. „Ich weiß. Ist doch jetzt auch egal. Ich überlege jedenfalls, ob ich das Haus nicht verkaufen soll. Während der Übergangszeit, bis ich etwas gefunden habe, was mir wirklich zusagt, könnte ich mich auch auf der Ranch einquartieren.“

„Shane würde sich bestimmt darüber freuen. Und ich auch. Du hast mir gefehlt, Jared.“ Rafe wischte sich mit einer rußverschmierten Hand übers Kinn, das ebenfalls rußig war. „Eigentlich ist mir das erst jetzt, nachdem ich wieder hier bin, so richtig klar geworden.“ Zufrieden mit seinem Werk taxierte er das Mauerwerk und kratzte am Eimerrand den restlichen Mörtel von seinem Spachtel ab. „Du willst mir also am Samstag wirklich helfen?“

„Du besorgst das Bier.“

Rafe nickte zustimmend und erhob sich. „Lass mal deine Hände sehen, du feiner Pinkel.“

Jareds Erwiderung war alles andere als fein und hing noch in der Luft, als Regan den Salon betrat.

„Aber, aber, Herr Rechtsanwalt“, tadelte Rafe seinen Bruder mit einem leisen Grinsen und wandte sich dann Regan zu. „Hallo, Darling.“

„Oh, ich störe wohl.“

„Nein, überhaupt nicht. Dieser vulgäre Mensch hier ist mein Bruder Jared.“

„Wir kennen uns bereits. Er ist nämlich mein Anwalt. Hallo, Jared.“

„Hallo, Regan.“ Jared ließ seinen Zigarrenstummel in eine leere Mineralwasserflasche fallen. „Wie läuft denn das Geschäft?“

„Es blüht und gedeiht – dank Ihres kleinen Bruders.“ Sie lächelte und wandte sich Rafe zu. „Ich habe Stoff- und Tapetenmuster und Farbproben dabei. Ich dachte, du würdest es dir vielleicht gern ansehen.“

„Du scheinst dir ja schon eine Menge Arbeit gemacht zu haben.“ Er bückte sich und machte sich an einer kleinen Kühlbox zu schaffen. „Möchtest du einen Drink?“

„Nein, danke.“

„Du, Jared?“

„Ich würde mir ganz gern was für unterwegs mitnehmen, wenn du nichts dagegen hast. Ich muss nämlich jetzt los.“ Jared griff nach der Colaflasche, die Rafe ihm hinhielt, zog seine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. „Nun will ich euch nicht länger bei euren geschäftlichen Besprechungen aufhalten. War nett, Sie zu sehen, Regan.“

„Samstag um halb acht“, rief Rafe Jared, der den Raum bereits verlassen hatte, hinterher. „Aber morgens, Kumpel. Und lass deinen Anzug daheim.“

„Ich hatte nicht die Absicht, ihn zu vertreiben“, bemerkte Regan.

„Das hast du auch nicht. Willst du dich setzen?“

„Und wohin, wenn ich fragen darf?“

Er klopfte auf einen umgestülpten Eimer, der neben ihm stand.

„Ist zwar sehr großzügig von dir, aber ich kann nicht lang bleiben. Ich habe nur eine kurze Mittagspause.“

„Dein Boss wird dir schon nicht gleich die Ohren lang ziehen, wenn du ein bisschen überziehst.“

„Hast du eine Ahnung.“ Regan öffnete ihren Aktenkoffer und holte zwei dicke Umschläge heraus. „Hier ist alles drin. Wenn du das Zeug durchgesehen hast, lass es mich wissen.“ In Ermangelung von etwas Besserem legte Regan die Musterproben auf zwei nebeneinanderstehenden Sägeböcken ab. Dann sah sie sich um. „Du hast dich ja schon mächtig ins Zeug gelegt.“

„Wenn man weiß, was man will, gibt es keinen Grund, Zeit zu verschwenden. Wie also wäre es zum Beispiel mit einem gemeinsamen Abendessen?“

Sie hielt seinem Blick stand. „Abendessen?“

„Ganz recht. Heute Abend. Wir könnten uns dann zusammen die Sachen ansehen.“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf einen der Umschläge und hinterließ eine Ruß-Spur. „Das spart Zeit.“

„Aha.“ Während sie überlegte, fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich verstehe.“

„Wie wär’s gegen sieben? Wir könnten in den Lamplighter gehen.“

„Wohin?“

„In den Lamplighter. Das kleine Lokal, wo die Church Street von der Main abzweigt.“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und überlegte. „Lokal? Da ist doch ein Videoladen.“

Er stieß einen Fluch aus und rammte die Hände in die Hosentaschen. „So ein Mist. Da war früher ein Restaurant. Und dein Laden war ein Haushaltswarengeschäft.“

„Tja, da kannst du es mal sehen – auch Kleinstädte verändern sich.“

„Ja.“ Auch wenn er es nicht gern zugeben wollte. „Hast du Lust auf Italienisch?“

„Schon, aber hier gibt es nichts dergleichen in der Nähe. Der nächste Italiener ist auf der anderen Seite des Flusses in West Virginia. Wir könnten uns höchstens bei Ed’s treffen.“

„Nein. Italienisch. Um halb sieben bin ich bei dir.“ Er holte eine Uhr aus seiner Tasche, um zu sehen, wie spät es gerade war. „Ja, das schaffe ich. Also halb sieben, einverstanden?“

„Oh, die ist aber schön“, sagte sie bewundernd und war mit zwei Schritten bei ihm, um ihm die Taschenuhr aus der Hand zu nehmen. „Hm … Amerikanisches Fabrikat, Mitte neunzehntes Jahrhundert.“ Sie wog sie in der Hand und drehte sie dann um. „Sterlingsilber, gut erhalten. Ich biete dir fünfundsiebzig dafür.“

„Ich habe aber neunzig bezahlt.“

Sie lachte und schüttelte ihr Haar zurück. „Da hast du ein verdammt gutes Geschäft gemacht. Sie ist mindestens hundertfünfzig wert.“ Sie sah ihn an. „Du bist doch gar kein Taschenuhr-Typ.“

„Bei meinem Job kann man keine Armbanduhr tragen. Sie wäre sofort hinüber.“ Er hatte große Lust, Regan zu berühren. Sie wirkte so sauber und adrett, dass die Vorstellung, sie etwas in Unordnung zu bringen, ihn außerordentlich reizte. „Verdammt schade, dass meine Hände so staubig sind.“

Sofort in Alarmbereitschaft versetzt, trat sie einen Schritt zurück. „Von deinem Gesicht ganz zu schweigen. Was allerdings deinem guten Aussehen keinen Abbruch tut.“ Sie grinste, klemmte sich ihren Aktenkoffer unter den Arm und wandte sich zum Gehen. „Um halb sieben dann also. Und vergiss bloß nicht, die Sachen mitzubringen.“

Erst nachdem sie sich dreimal umgezogen hatte, fing Regan sich wieder und versuchte Vernunft walten zu lassen. Es war ein Geschäftsessen und sonst nichts. Gewiss war ihre Erscheinung wichtig, aber so wichtig nun auch wieder nicht. Geschäft war Geschäft, und wie sie aussah, war zweitrangig.

Nachdenklich fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht doch das kleine Schwarze hätte anziehen sollen.

Nein, nein, nein. Verärgert über sich selbst, nahm sie die Bürste zur Hand und fuhr sich durchs Haar. Je schlichter, desto besser. Das Restaurant in West Virginia war ein ganz normales Familienrestaurant, und der Zweck ihres Treffens war ein rein geschäftlicher. Der Blazer, die schwarze, schmale Hose und die dunkelgrüne Seidenbluse waren genau das richtige Outfit.

Weshalb nur verfiel sie bei einem Geschäftsessen auch nur entfernt auf die Idee, dass es sich in Wirklichkeit um ein Rendezvous handeln könnte? Diese Frage beschäftigte sie vor allem deshalb, weil sie sich etwas in der Art mit Rafe MacKade überhaupt nicht wünschte. Weder mit ihm noch mit sonst jemandem. Gerade jetzt, wo ihr Geschäft aufzublühen begann, konnte sie einfach keine Ablenkung vertragen.

Eine Beziehung würde sie drei Jahre ihres Lebens kosten. Mindestens. Niemals würde sie den Fehler ihrer Mutter wiederholen, die von ihrem Ehemann sowohl finanziell als auch emotional abhängig gewesen war. Sie, Regan, wollte erst ganz sicher sein, dass sie auch wirklich ganz allein und ohne fremde Hilfe auf eigenen Beinen stehen konnte, bevor sie bereit war, sich voll und ganz einem Mann zuzuwenden.

Und ganz bestimmt würde sie sich nicht vorschreiben lassen, ob sie arbeiten durfte oder nicht. Sie wollte niemals in die Situation kommen, ihren Mann um Geld bitten zu müssen, wenn sie Lust hatte, sich ein neues Kleid zu kaufen. Es mochte ja durchaus sein, dass ihren Eltern diese Art zu leben nichts ausmachte oder dass sie ihnen sogar gefiel, denn einen unglücklichen Eindruck hatten sie niemals gemacht. Doch was für ihre Eltern gut war, musste für Regan Bishop deshalb noch lange nicht gut sein. Sie wünschte sich ein anderes Leben.

Das Einzige, was sie störte, war, dass Rafe so verflucht gut aussah. Was ihr natürlich auch prompt, nachdem sie ihm auf sein Klingeln hin die Tür geöffnet hatte, wieder ins Auge stach.

Wirklich jammerschade, dieses Geschenk Gottes an die Frauenwelt unangetastet vorbeiziehen zu lassen, ging es ihr bei seinem Anblick voller Bedauern durch den Sinn, und sie nahm sich vor, derartigen Gedanken in Zukunft keinen Raum mehr zu geben.

Er präsentierte ihr ein verführerisches Grinsen, während er sie voller Bewunderung musterte. „Gut siehst du aus“, stellte er fest, und noch bevor sie ihm ausweichen konnte, hatte er sich schon zu ihr herabgebeugt und strich mit seinen Lippen leicht über ihren Mund.

„Ich hole nur rasch …“, begann sie und unterbrach sich, als ihr Blick auf die Tüten fiel, die er bei sich hatte. „Was ist denn das?“

„Das?“ Er sah an sich herunter. „Das ist unser Abendessen. Wo ist die Küche?“

„Ich …“ Doch er war schon eingetreten und hatte die Tür hinter sich zugemacht. „Ich dachte, wir gehen aus.“

„Nein. Ich habe nur gesagt, dass wir italienisch essen.“ Mit einem raschen Blick überflog er den Raum. Sehr geschmackvoll eingerichtet, natürlich mit antiken Möbeln, registrierte er, und vor allem sehr weiblich. Kleine zierliche Sessel, auf Hochglanz polierte Mahagonitischchen, frische Blumen. „Hübsch hast du es hier.“

„Willst du mir etwa jetzt erzählen, dass du vorhast, hier zu kochen?“

„Es ist der einfachste Weg, eine Frau ohne Körperkontakt dazu zu bringen, dass sie mit einem ins Bett geht. Geht’s hier zur Küche?“

Seine Unverschämtheit verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Erst als sie schon in der Küche waren, fiel ihr eine passende Erwiderung ein. „Ich würde sagen, das hängt ganz davon ab, wie gut du kochst, oder?“

Ihre Antwort schien ihm zu gefallen, denn er lächelte beifällig, während er begann, die Zutaten, die er mitgebracht hatte, aus der Tüte auszupacken. „Nun, du wirst es mir dann ja schon sagen, schätze ich. Wo hast du eine Pfanne?“

Sie holte eine aus dem Küchenschrank und zögerte einen Moment, bevor sie sie ihm überreichte.

„Falls du überlegt haben solltest, ob du mir mit dem Ding eins überbraten sollst, hast du recht daran getan, es zu unterlassen. Denn dann hättest du wirklich die leckerste Tomaten-Basilikum-Soße aller Zeiten verpasst.“

„So? Dann warte ich eben bis nach dem Essen.“

Er setzte Wasser auf und machte sich dann daran, den Salat zu putzen.

„Wer hat dir denn das Kochen beigebracht?“

„Wir kochen alle. Hast du ein Wiegemesser? Für meine Mutter gab es keinen Unterschied zwischen Männer- und Frauenarbeit. Danke“, fügte er hinzu, nahm das Messer entgegen und begann lässig und wie nebenbei die Kräuter für den Salat zu hacken, sodass sie erstaunt die Augenbrauen hob. „Es war einfach nur Arbeit“, beendete er seine Ausführungen.

„Ein Nudelgericht mit Tomaten-Basilikum-Soße klingt aber nicht nach einem Farmeressen.“

„Sie hatte eine italienische Großmutter. Könntest du dich vielleicht etwas näher neben mich stellen? Du duftest so gut.“

Sie tat so, als hätte sie nicht gehört, was er gesagt hatte, wobei sie sich bemühte, das Kribbeln in ihrem Bauch zu ignorieren, und hielt ihm die Weinflasche, die er mitgebracht hatte, hin. „Machst du sie auf, bitte?“

„Warum machst du es nicht selbst?“

Sie zuckte die Schultern und nahm einen Korkenzieher aus einer Schublade, öffnete die Flasche und ging danach ins Wohnzimmer. Er hatte um musikalische Untermalung gebeten. Während sie eine CD von Count Basie auflegte, fragte sie sich, warum sie einen Mann mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, der Karotten in den Salat schnitt, so erotisch fand.

„Lass dein Olivenöl zu“, sagte sie, als sie zurückkam. „Ich habe ein offenes.“

„Kalt gepresstes?“

„Selbstverständlich.“ Sie stellte eine Flasche auf den Tresen.

„Count Basie, eigenes Olivenöl.“ Er grinste sie an. „Willst du mich heiraten?“

„Warum nicht? Am Samstag hätte ich zum Beispiel Zeit.“ Amüsiert darüber, dass er diesmal offensichtlich nicht gleich eine schlagfertige Antwort parat hatte, schmunzelte sie vor sich hin, während sie zwei Weingläser aus dem Schrank holte.

„Ich hatte aber eigentlich vor, am Samstag zu arbeiten.“ Er stellte den Salat beiseite und ließ sie nicht aus den Augen.

„Faule Ausreden.“

„Herrgott, diese Frau machte es einem nicht leicht.“ Als sie den Wein eingoss, pirschte er sich näher an sie heran. „Wenn du mir garantieren kannst, dass du dir in lauen Sommernächten mit mir zusammen die Baseballspiele im Fernsehen ansiehst, könnten wir uns vielleicht einig werden.“

„Da muss ich leider passen. Ich hasse Sport.“

Jetzt kam er noch näher, so nahe, dass sie schnell, in jeder Hand ein Weinglas, einen Schritt zurückwich. „Gut, dass ich das noch rechtzeitig herausgefunden habe, bevor es zu spät ist.“

„Du Glücklicher.“ Ihr Herz machte ihr Schwierigkeiten, irgendwie klopfte es viel schneller als gewöhnlich.

„Das gefällt mir“, murmelte er und fuhr mit dem Finger über den kleinen Schönheitsfleck über ihrem Mundwinkel, während er mit der anderen Hand die Knöpfe ihres Sakkos öffnete.

„Warum machst du das eigentlich immer?“

„Was denn?“

„Den Blödsinn mit meinen Knöpfen.“

„Ich übe nur ein bisschen.“ Ein verwegenes Grinsen huschte kurz wie ein Wetterleuchten über sein Gesicht. „Außerdem siehst du immer wie aus dem Ei gepellt aus, sodass ich Lust bekomme, dich ein bisschen in Unordnung zu bringen.“

Ihr Rückzug endete damit, dass sie sich mit dem Rücken an der Wand wiederfand. Rechts neben ihr stand der Kühlschrank, links war ebenfalls eine Wand.

„Scheint so, als hättest du dich selbst in die Ecke gedrängt, Darling.“ Er trat vor sie hin, legte beide Hände um ihre Taille, beugte sich zu ihr hinab und küsste sie. Während er den Kuss vertiefte, arbeiteten sich seine Finger weiter nach oben und stoppten erst kurz unterhalb ihrer Brüste.

Es gelang ihr nicht, Zurückhaltung zu wahren. Ihr Atem ging schneller, sie öffnete ihm ihre Lippen, und ihre Zungen begegneten sich. Sowohl der männlich herbe Duft, den er ausströmte, als auch der dunkle, wilde Geschmack seines Mundes trafen sie wie ein Pfeil mitten ins Zentrum ihres Begehrens.

Im hintersten Winkel ihres Gehirns blinkte ein Warnlämpchen auf. Mit Sicherheit wusste er genau, wie es ein Mann anstellen musste, um eine Frau zu verführen. Alle Frauen. Irgendeine Frau. Aber es war ihr egal, ihr Begehren war stärker als ihr Verstand.

Ihr Blut begann schneller als gewöhnlich durch die Adern zu rauschen, ihre Haut prickelte. Sie hatte das Gefühl zu spüren, wie ihre Knochen dahinschmolzen wie das Wachs einer Kerze unter der Flamme.

Es erregte ihn unglaublich, sie zu beobachten. Seine Augen waren die ganze Zeit weit geöffnet, während er mit seiner Zunge ihre warme, feuchte Mundhöhle erforschte. Das Flattern ihrer Lider, die Wangen, in die das Verlangen Farbe gebracht hatte, und der hilflose kleine, lustvolle Seufzer, der ihr entschlüpfte, als er seine Fingerspitzen leicht über die Knospen ihrer Brüste gleiten ließ, jagten ihm einen Lustschauer nach dem anderen den Rücken hinunter.

Mit einiger Anstrengung gelang es ihm nach einer Weile, den Kuss zu beenden. „Du lieber Gott. Das ist wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt.“ Zärtlich knabberte er an ihrem Ohrläppchen. „Oder wollen wir es doch noch mal versuchen?“

„Nein.“ Ihre Antwort überraschte sie selbst, denn sie war das Gegenteil dessen, was sie wollte. Sie hielt noch immer in jeder Hand ein Weinglas und presste nun eines davon wie zur Verteidigung gegen seine Brust.

Er betrachtete es einen Moment, dann wanderte sein Blick wieder nach oben und sah sie an. Er lächelte nicht, und der sanfte Ausdruck, der noch kurz zuvor auf seinem Gesicht gelegen hatte, war verschwunden. In seinen Augen lauerte nun etwas Dunkles, fast Gefährliches, wie bei einem Raubtier, das zum Sprung ansetzt auf seine Beute. Trotz ihres gesunden Menschenverstands fühlte sie sich von diesem Mann, der sich ohne Bedenken nehmen würde, wonach ihm der Sinn stand, fast unwiderstehlich angezogen und scherte sich nicht um die Konsequenzen.

„Deine Hände zittern ja, Regan.“

„Ich weiß.“

Sie war sich darüber im Klaren, dass ein falsches Wort, eine falsche Bewegung das, was in seinen Augen lauerte, zum Ausbruch bringen und sie verschlingen würde. Und sie würde es zulassen. Und genießen.

Darüber galt es erst einmal nachzudenken.

„Nimm dein Weinglas, Rafe. Es ist Rotwein, er wird hässliche Flecken auf deinem Hemd hinterlassen, wenn man ihn verschüttet.“

Einen verwirrenden Moment lang brachte er kein Wort heraus. Ein Verlangen, das er nicht verstand und mit dem er nicht gerechnet hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Sie ist beunruhigt, dachte er. Und er fand, dass es klug war von ihr, denn sie hatte allen Grund zur Beunruhigung. Eine Frau wie sie hatte keine Ahnung, wozu ein Mann wie er fähig war.

Er nahm das Glas entgegen und stieß mit ihr an, der helle Klang schwebte noch in der Luft, als er sich umwandte und zum Herd ging.

Sie fühlte sich so, als wäre sie eben am Rand einer Klippe entlanggetaumelt und hätte es gerade noch rechtzeitig geschafft, dem unvermeidlich erscheinenden Sturz zu entgehen. Doch was sie angesichts dessen verspürte, war nicht Erleichterung, sondern Bedauern.

„Irgendwie sollte ich wohl jetzt was sagen. Ich … äh …“ Sie holte tief Luft und nahm einen großen Schluck Wein. „Ich will ja nicht abstreiten, dass ich mich von dir angezogen fühle …“

In dem Versuch, sich zu entspannen, lehnte er sich gegen den Tresen und fixierte sie über den Rand seines Weinglases hinweg. „Und?“

„Und.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Aber ich denke, Komplikationen sind … eben kompliziert“, beendete sie ihren wenig aussagekräftigen Satz. „Ich will das nicht … Ich kann mir nicht vorstellen …“ Sie schloss die Augen und nahm noch einen Schluck. „Oh Gott, jetzt stottere ich schon.“

„Ist mir auch aufgefallen. Es stärkt mein Selbstvertrauen ungemein.“

„Das hast du doch gar nicht nötig.“ Sie stieß hörbar die Luft aus und räusperte sich. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass Sex mit dir eine denkwürdige Sache wäre – hör auf, so blöd zu grinsen!“

„Oh, Entschuldigung.“ Doch das Grinsen wich nicht von seinem Gesicht. „Das muss an deiner Wortwahl liegen. Denkwürdig ist gut – wirklich gut, gefällt mir. Aber ich habe verstanden, was du meinst. Du willst dir alles gründlich durch den Kopf gehen lassen. Und wenn du dann so weit bist, lässt du es mich wissen.“

Sie überlegte einen Moment, dann nickte sie. „Ja, so könnte man es sagen.“

„Okay. Jetzt bin ich dran.“ Er wandte sich um, drehte die Herdplatte an und goss Öl in die Bratpfanne. „Ich begehre dich, Regan. Sofort, als ich bei Ed’s reinkam und dich mit Cassie so geschniegelt und gebügelt dasitzen sah, hat’s mich umgehauen, ehrlich. Es hat mich einfach erwischt.“

Sie tat alles, um die Schmetterlinge, die wieder begannen, in ihrem Bauch zu flattern, nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Hast du mir deshalb diesen Job angeboten?“

„Du bist wirklich zu intelligent, um eine solche Frage zu stellen. Es geht um Sex, verstehst du? Sex ist etwas Persönliches.“

„Na gut.“ Sie nickte wieder. „Na gut.“

Er nahm eine Tomate zur Hand und betrachtete sie eingehend. „Das Problem ist nur, dass ich nicht viel davon halte, über solche Sachen allzu lange nachzugrübeln. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich finde, Sex ist etwas Animalisches. Es geht darum, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen.“ Seine Augen hatten sich verdunkelt wie bereits vorhin schon, und wieder lag in ihnen ein Anflug von Waghalsigkeit und Leichtsinn. Er nahm das Messer in die Hand und fuhr mit dem Finger prüfend über die Schneide. „Und zu erobern“, fügte er langsam hinzu. „Aber da das nur mein eigener Blickwinkel ist und die Sache schließlich uns beide betrifft, musst du wohl wirklich dein Ding durchziehen und erst noch ein Weilchen überlegen.“

Verblüfft starrte sie ihn an, während er eine Knoblauchzehe schälte. „Soll ich dir jetzt dafür danken oder was?“

„Quatsch.“ Fachmännisch legte er die Messerschneide flach über die Knoblauchzehe und hieb einmal kurz mit der Faust darauf. „Ich wollte nur, dass du mich verstehst, ebenso wie ich versuche, dich zu verstehen.“

„Du bist ja ein ganz moderner Mann, MacKade.“

„Wenn du dich da mal nicht täuschst, Darling. Auf jeden Fall werde ich dich wieder zum Stottern bringen, verlass dich drauf.“

Diese Herausforderung würde sie annehmen. Entschlossen griff sie nach der Weinflasche und füllte ihre Gläser auf. „Dann will ich dir jetzt mal sagen, worauf du dich verlassen kannst. Falls ich mich entschließen sollte, mit dir ins Bett zu gehen, wirst du zumindest ebenso stottern wie ich.“

Er warf den zerdrückten Knoblauch in das Öl, wo er gleich darauf zu brutzeln begann. „Du gefällst mir, Darling. Du gefällst mir wirklich ausnehmend gut.“

4. KAPITEL

Die Sonne lachte vom Himmel und brachte die Eiszapfen an den Dachrinnen zum Schmelzen. Die Schneemänner in den Vorgärten verloren an Gewicht, und die Mohrrüben und Steine, die als Nasen und Augen gedient hatten, purzelten ihnen aus den Gesichtern.

Regan brachte die folgende Woche damit zu, sich umzuhören, wo sie geeignete Einrichtungsgegenstände für das Barlow-Haus auftreiben könnte, und ergänzte auf einer Auktion ihren Warenbestand.

Wenn keine Kundschaft im Laden war, nutzte sie die Zeit, um die Pläne, die sie für das zukünftige MacKade Inn von Antietam ausgearbeitet hatte, zu studieren. Immer wieder kamen ihr neue Ideen, die sie voller Begeisterung den schon existierenden hinzufügte.

Auch in diesem Augenblick, während sie einem interessierten Ehepaar eine antike Kredenz aus Walnussholz schmackhaft zu machen versuchte, waren ihre Gedanken bereits bei dem Haus. Obwohl sie sich dessen noch nicht bewusst war, hatte es sie bereits ebenso gefangen genommen wie Rafe.

In das vordere Schlafzimmer im ersten Stock kommt das Himmelbett, überlegte sie, die Tapete mit den Rosenknospen und der Schrank aus Satinholz. Ein romantisches, traditionelles Brautgemach ganz im Stil jener Zeit sollte es werden.

Und was den großen Raum im Erdgeschoss anbelangte, so wirkte der ja schon allein durch seine herrliche Südlage. Voraussetzung war natürlich, dass Rafe die richtigen Fenster aussuchte, aber da hatte sie keine Bedenken. Sie würde für leuchtend warme Farben, denen ein Goldton beigemischt war, plädieren, sodass der Eindruck entstehen konnte, die Sonne würde auch dann scheinen, wenn es regnete. Und viele, viele Grünpflanzen. Wie ein Wintergarten sollte er wirken, ein Ort, von dem aus man ruhig die Blicke durch die großen Panoramafenster nach draußen schweifen lassen konnte, in den großen Garten und weiter darüber hinaus in die Wälder.

Sie konnte es kaum mehr erwarten, selbst Hand anzulegen, um das Haus mit den winzigen, aber wichtigen Kleinigkeiten auszustatten, die es in altem Glanz erstrahlen lassen sollten und die dafür sorgen würden, dass es wieder ein richtiges Heim wurde.

Kein Heim, berichtigte sie sich sofort in Gedanken. Höchstens ein Heim für Gäste. Ein Hotel. Komfortabel, charmant, aber nur zur zeitweiligen Benutzung. Mit einiger Anstrengung gelang es ihr, den Kopf schließlich freizubekommen.

Die Frau fuhr begehrlich mit den Fingerspitzen über das glänzende Holz, während Regan den hoffnungsvollen und bittenden Blick auffing, den sie ihrem Ehemann zuwarf.

„Sie ist wirklich wunderschön. Nur leider kostet sie mehr, als wir eigentlich vorhatten auszugeben.“

„Ja, ich verstehe. Aber eine Kredenz in diesem ausgezeichneten Zustand …“

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