Küsse sind die beste Medizin (5 in 1)

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AMY ANDREWS - KÜSS ALLE MEINE ZWEIFEL FORT
Es sollte nur eine Affäre sein - und auf einmal ist es Liebe! Doch gerade als die Ärztin Madeline ihrem Traummann gestehen will, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen kann, behauptet seine Exfrau, von Marcus schwanger zu sein …

SUE MACKAY - DU KÜSST MEINE TRÄNEN FORT
Ihren Noch-Ehemann wiederzusehen raubt der schönen Chirurgin Fiona fast den Atem. Noch genauso charismatisch wie damals ist Tom, sein Lächeln noch genauso charmant - doch in seinen Augen steht eine Traurigkeit, die ihr fast das Herz bricht. Denn sie ist schuld daran …

FIONA LOWE - SO FEURIG KÜSST NUR DR. RODRIGUEZ
Hat er sie wirklich geküsst? Marco Rodriguez ist entsetzt! Zwar ist Lily sein Typ: zierlich, heißblütig und selbstbewusst. Aber der Arzt sucht keine Affäre - schließlich hat er einen kleinen Sohn. Und Lily scheint keine Frau zu sein, die gerne eine Mutter wäre …

LAURA WRIGHT - KÜSS MICH - HEISS WIE DAMALS
Vom ersten Moment an, als die hübsche Krankenschwester Tara Roberts ihrer Jugendliebe Clint Andover begegnet, knistert es zwischen ihnen. Denn der erfolgreiche Rancher ist noch genauso attraktiv wie damals, als sie sich das erste Mal in der kleinen Laube im Park küssten. Und obwohl sie weiß, dass Clint noch unter dem Verlust seiner Frau leidet, kann sie seinem leidenschaftlichen Begehren immer weniger widerstehen. Sie sehnt sich danach, von ihm geliebt zu werden. Auch wenn es nur dieses eine Mal sein sollte, sie will endlich in seinen Armen die Leidenschaft kennen lernen. Doch irgend jemand scheint das verhindern zu wollen - und bringt Tara in Lebensgefahr ...

BJ JAMES - MEHR VON DEINEN KÜSSEN
Klopfenden Herzens fährt Tierärztin Haley mitten in der Nacht zu Jackson. Schon lange schwärmt sie für den reichen Rancher, doch der weist sie immer wieder rau zurück. In dieser Nacht soll alles anders werden - sie will endlich mehr von ihm und seinen Küssen …


  • Erscheinungstag 14.07.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515085
  • Seitenanzahl 140
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Amy Andrews, Sue Mackay, Fiona Lowe, Laura Wright, Bj James

Küsse sind die beste Medizin (5 in 1)

IMPRESSUM

Küss alle meine Zweifel fort erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2007 by Amy Andrews
Originaltitel: „An Unexpected Proposal“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band XXX - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Nicole Selmer

Umschlagsmotive: GettyImages_Vasyl Dolmatov

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733717230

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Madeline Harrington war froh, dass ihr Auto eine funktionierende Klimaanlage hatte, als sie an der Baustelle anhalten musste. Schwere Maschinen dröhnten neben der Straße, und vom noch feuchten Asphalt stieg eine heiße Dampfwolke auf. Der Arbeiter, der ihr das Warnschild entgegenhielt, hatte ein sonnenverbranntes Gesicht. Hohes Hautkrebsrisiko, dachte Madeline abwesend.

Bei dem Anblick von Brisbane in der heißen Nachmittagssonne war es schwer vorstellbar, dass sie noch vor vierundzwanzig Stunden im tiefsten englischen Winter gesteckt hatte, samt Mantel, Handschuhen und Wollmütze. Nach dem Londoner Kühlschrank kam Brisbane ihr jetzt vor wie ein Glutofen.

Madeline gähnte und schloss für eine Sekunde die Augen. Der Jetlag hatte sie bereits fest im Griff. Ihre Augen brannten, sie wollte nur noch unter die Dusche und dann ins Bett. Aber im Augenblick stand sie vor einer Baustelle und kam nicht von der Stelle.

Sie schaute hinüber zu dem kleinen Skaterpark auf der anderen Straßenseite. Als ausgebildete Medizinerin dachte sie bei dem Anblick der Hindernisse und Bahnen sofort an verschiedene komplizierte Frakturen, als eher wenig sportliche Frau bewunderte sie die Geschicklichkeit und den Mut der Skater.

Insbesondere ein Mann manövrierte sein Board mit großer Sicherheit, es sah fast so aus, als wären seine Füße daran festgewachsen. Er war sicher zwanzig Jahre älter als die Jugendlichen, die sonst im Park unterwegs waren, trotzdem wirkte er zwischen ihnen nicht lächerlich.

Er trug eine abgeschnittene kurze Jeans – und sonst nichts. Sein nackter Oberkörper war muskulös und durchtrainiert, und während er mit dem Skateboard in der Luft eine elegante Drehung ausführte, wanderte Madelines Blick langsam weiter zu seinen langen, kräftigen Beinen und dann wieder hinauf bis zu den dunkelbraunen Haaren, die an den Seiten etwas länger waren.

Warum trägt er keinen Helm? Dämlicher Macho! Er war der typische sonnengebräunte Outdoor-Australier, der sich nicht wohlfühlte, wenn er nicht gegen einen Ball treten oder auf dem Surfbrett stehen konnte. Auch wenn es in diesem Fall ein Skateboard war … Wahrscheinlich brauchte er einfach diesen Adrenalinkick und kümmerte sich nicht um die Risiken.

Die Vorstellung, so zu leben, war für Madeline abstoßend und faszinierend zugleich. Wie war es wohl, den ganzen Tag in Skaterparks oder am Strand zu verbringen? Ohne Verpflichtungen, ohne Termine. Ohne Patienten, die auf einen warteten.

Der Anblick dieses Mannes versetzte sie in eine seltsame Unruhe. Die Lebensfreude, die er offensichtlich empfand, war etwas, das in ihrem Leben schon sehr lange keine Rolle mehr gespielt hatte.

Er schien in Begleitung eines kleinen Jungen zu sein, der vielleicht sechs oder sieben Jahre alt war. Ob es sein Sohn war? Es gab eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden. Der Junge schaute mit unverhohlener Bewunderung zu ihm auf, und der Mann in den Jeanshosen strubbelte ihm liebevoll das Haar und klatschte, nachdem der Kleine erfolgreich einen Trick auf seinem eigenen Board vollführt hatte. Immerhin trug der Junge einen Helm.

Dann hob der Mann ihn auf seine Schulter und drehte sich im Kreis, was ein begeistertes Lachen bei dem Kind auslöste.

Madeline spürte ein eigenartiges Ziehen im Magen. Der Mann lachte ebenfalls, er hatte Grübchen in der Wange. Er war unglaublich attraktiv und strahlte eine überwältigende Männlichkeit aus! Und die Tatsache, dass der kleine Junge ihn offensichtlich vergötterte, machte ihn nur noch attraktiver.

Oh, nein! Es musste am Jetlag liegen. Seit wann fand sie muskelbepackte Machos anziehend? Zumal welche, die Kinder hatten und daher offenbar vergeben waren. Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, aber an der Baustelle leuchtete noch immer die rote Ampel, und so schaute sie wieder hinüber zu dem Skater-Macho. Wie es wohl wäre, mit einem solchen Mann zusammen zu sein?

Er wirkte nicht wie jemand, der nur ziellos in den Tag hineinlebte, sondern wie ein Mann, der wusste, was er wollte. Und wie er es bekam. Er sah aus wie jemand, der das Leben liebte und die Liebe. Jemand, der gut küsste und einer Frau Vergnügen bereiten konnte …

Hilfe! Hastig beugte Madeline sich nach vorn und schaltete das Radio an. Gut küssen? Vergnügen bereiten? Woher kamen diese Gedanken? Gut, es war einige Zeit her, dass sie Sex gehabt hatte. Vor sieben Wochen hatte ihr Verlobter sich von ihr getrennt, und davor hatten sie schon länger nicht mehr miteinander geschlafen. Aber Sex war ohnehin nie der Mittelpunkt ihrer Beziehung gewesen, und die vergangenen zwei Jahre war sie mit der Arbeit in der Praxis völlig ausgelastet gewesen. Sie hatte gar keine Zeit für erotische Fantasien.

Die hatten sie beide nicht gehabt. Simon arbeitete im Krankenhaus oft Doppelschichten, und so hatten sie sich nicht allzu oft gesehen. Dass er ihre Verlobung gelöst hatte, weil er mehr Zeit für sich brauchte, hatte Madeline erstaunt. Schließlich waren sie ohnehin nicht sehr oft zusammen, wie viel Zeit brauchte er denn noch? Trotzdem war sie überzeugt, dass die Trennung nur vorübergehend war. Eine zehnjährige Beziehung warf man nicht so einfach über Bord.

Der Skater-Macho lachte wieder laut und lenkte ihre Gedanken von ihrem Exverlobten ab. Wann hatte Simons Anblick das letzte Mal erotische Fantasien bei ihr ausgelöst?

Madeline schüttelte den Kopf. Der Jetlag, bestimmt lag es daran. Sex hatte in ihrem Leben bisher nie eine große Rolle gespielt, dafür war es zu sehr von tragischen Verlusten überschattet gewesen. Was also sollte das jetzt? Sie war dreißig Jahre alt und hatte in ihrer beruflichen Praxis schon mehr als genug nackte Männer gesehen, warum sollte der Anblick eines halb nackten Skaters sie so aus der Fassung bringen?

Ein lautes Hupen ertönte hinter ihr. Schnell schaute Madeline nach vorn, die Ampel war umgesprungen, sie konnte weiterfahren und den Skater hinter sich lassen. Als sie im Rückspiegel einen letzten Blick auf ihn warf, verstärkte sich das Gefühl der Unruhe, das er ausgelöst hatte. Verdammt. Sie war doch zufrieden mit ihrem Leben!

Oder etwa nicht?

Einige Stunden später parkte Madeline vor ihrer Praxis. Sie hatte ausgepackt und geduscht und fühlte sich etwas erfrischt. Die Müdigkeit steckte ihr jedoch noch immer in den Knochen, und sie wusste, dass sie das Haus verlassen musste, um ihr nicht nachzugeben und einzuschlafen.

Wenn sie jetzt ins Bett ging, würde sie nachts um drei aufwachen und nicht wieder einschlafen können. Daher hatte sie beschlossen, den Freitagnachmittag damit zu verbringen, in der Praxis nach dem Rechten zu sehen.

Die Büroräume im Erdgeschoss, die bei ihrer Abreise noch leer gestanden hatten, wurden gerade renoviert. Ein Handwerker hatte ein Schild an der Tür angebracht und trat ein paar Schritte zurück, um sein Werk zu begutachten.

Dr. Marcus Hunt. Naturheilkunde.

Einige Sekunden lang starrte Madeline das Schild an wie betäubt, dann spürte sie heiße Wut in sich aufsteigen. „Nur über meine Leiche“, murmelte sie.

Es ging doch nichts über einen kleinen Wutausbruch, um richtig wach zu werden. Die Erschöpfung war verschwunden, sie konnte wieder klar denken und hatte nur noch ein Ziel.

Wie viele Patienten hatte sie nach dem Besuch bei einem dieser Scharlatane wieder auf die Beine bringen müssen? Menschen, bei denen sich ernsthafte Symptome und Krankheiten verschlimmert hatten, weil sie sich in die Hände irgendwelcher Quacksalber begeben hatten, die ihnen falsche Hoffnungen machten. Und dann war da noch Abby.

Das würde sie auf keinen Fall zulassen! Energisch drängte Madeline sich an dem Handwerker vorbei und öffnete die Tür. Sie schob sich die Sonnenbrille ins Haar und blinzelte, weil ihre Augen sich nach dem hellen Sonnenlicht erst umstellen mussten. Es roch nach frischer Farbe, und die Räume waren mit Malerutensilien und Kartons vollgestellt.

„Tut mir leid, wir öffnen erst nächste Woche.“ Die tiefe männliche Stimme ertönte irgendwo aus den hinteren Räumen, und bei ihrem Klang spürte Madeline ein leichtes Kribbeln auf ihrer Haut.

Dann betrat der zur Stimme gehörende Mann das Zimmer und lehnte sich gegen den Türpfosten neben ihr. Für einen Augenblick glaubte Madeline, dass sie halluzinierte. Es war der Skater aus dem Park, seine blauen Augen blitzten, und die Grübchen in seinen Wangen waren jetzt deutlich zu erkennen.

Er hatte sich inzwischen angezogen, oder zumindest trug er etwas mehr Kleidung als vorhin. Das weiße Hemd war vollständig aufgeknöpft und enthüllte seinen muskulösen Oberkörper. Madeline kämpfte das fast unwiderstehliche Verlangen nieder, ihn zu berühren und ihre Finger über seine leicht behaarte Brust gleiten zu lassen. Das war doch lächerlich!

Sein markantes Gesicht war unrasiert, und die Grübchen hätten bei einem erwachsenen Mann eigentlich unpassend wirken müssen, aber irgendwie verstärkten sie nur die Faszination, die von ihm ausging.

In der rechten Hand hielt er einen Pinsel, von dem Farbe tropfte. Vage dachte Madeline, dass sie sich getäuscht hatte. Er hatte eine Arbeit, er war offenbar Maler oder Handwerker.

Unwillkürlich verglich sie ihn mit Simon. Rein äußerlich waren die beiden Männer sich nicht unähnlich, auch wenn ihr Exverlobter ein bisschen kleiner, weniger kräftig gebaut und nicht so braun gebrannt war. Aber vor allem hatte dieser Unbekannte eine absolut magische Ausstrahlung, die Simon nicht besaß und wohl auch nie besitzen würde.

Simon war ein attraktiver Mann, kein Zweifel, aber sein Lächeln war freundlich und beruhigend, während das Lächeln dieses Mannes sexy und ein wenig gefährlich war. In den ganzen zehn Jahren mit Simon hatte Madeline nie ein solches Gefühl von unruhiger Erregung verspürt.

Sie blinzelte, um diese Gedanken zu verscheuchen. Ob Maler, Skateboarder oder Macho – dieser Mann war definitiv nicht das Richtige für sie. Zumal er ein Kind hatte. Was war nur in sie gefahren?

„Kann ich Ihnen helfen?“

Sein leicht spöttisches Lächeln ließ erahnen, dass ihm Madelines intensive Musterung nicht entgangen war. Das Kribbeln auf ihrer Haut verstärkte sich, und sie versuchte sich zu erinnern, warum sie eigentlich hier war.

„Ähm, nein … ich wollte mit Dr. Hunt sprechen, aber er ist wohl nicht hier, also … lasse ich Sie am besten weiterarbeiten.“

Marcus wäre beinahe in lautes Lachen ausgebrochen. Da hatte sie es ihm aber gezeigt! Diese Frau hatte ihn eindringlich von oben bis unten gemustert und dann ihr Urteil gefällt. Was für ein Snob, dachte er. Aber ein sehr attraktiver Snob.

Sie war groß und hatte die schönste rote Haarpracht, die er je gesehen hatte. Obwohl sie versuchte, die Mähne in einem festen Knoten zu bändigen, fielen wilde Locken auf ihre Schultern. Ihre smaragdgrünen Augen blitzten, und die vollen Lippen sahen aus, als wären sie perfekt zum Küssen geeignet.

Das seriöse und offensichtlich teure Kostüm konnte ihre perfekte Figur nicht verbergen, und Marcus spürte, wie sein Körper auf den Anblick ihrer langen, schlanken Beine und ihrer weiblichen Kurven reagierte. Zu gerne würde er herausfinden, ob unter dieser sorgfältig polierten Oberfläche ein wildes Feuer loderte.

Im Augenblick allerdings sah diese Frau völlig angespannt aus. Sein Blick fiel auf den großen Diamantring an ihrer Hand. Wenn sie wirklich verlobt war, tat ihr Zukünftiger offenbar wenig, um ihre Verkrampfung zu lösen.

„Ich bin Dr. Marcus Hunt“, sagte er schließlich. Madelines Blick war von seiner entblößten Brust weiter nach unten gewandert, dorthin, wo die Linie der dunklen Haare im Bund seiner abgeschnittenen Jeans verschwand und dann noch etwas tiefer …Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, und blickte verlegen auf. Das Funkeln seiner blauen Augen verwandelte die Verlegenheit jedoch in Wut.

Sie sind Dr. Hunt?“, fragte sie in möglichst ungläubigem Tonfall, um ihre Fassung wiederzugewinnen.

„So ist es.“ Marcus wischte die rechte Hand an seiner Jeans ab und streckte sie ihr entgegen.

Madeline ignorierte sie, aber das schien ihn nur noch mehr zu amüsieren.

„Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Madeline Harrington. Dr. Madeline Harrington.“

„Ah … die Kollegin von nebenan.“ Er lächelte. „Dann sind wir bald Nachbarn.“ Trotz des Ringes an ihrer Hand war die Vorstellung verlockend.

„Nein, das glaube ich nicht“, entgegnete Madeline mit kühler Stimme.

„Oh, gibt es ein Problem?“ Marcus schien nicht sonderlich beunruhigt.

„Sogar zwei. Zum einen …“ Madeline hob einen Finger zur Demonstration. „Ich protestiere ganz entschieden dagegen, dass Sie einen Doktortitel verwenden. Naturheilkundler oder andere unfähige Alternativmediziner haben kein Recht dazu.“

„Aber sicher. Sofern sie einen Doktortitel besitzen“, erwiderte Marcus. „Ich bin übrigens Homöopath.“

„Sind Sie etwa ein echter Arzt?“, fragte Madeline entgeistert.

Bei dem Anblick ihrer ungläubigen Miene brach Marcus in lautes Lachen aus. „Ist das so schwer zu glauben?“ Er schüttelte belustigt den Kopf.

„Allerdings.“ Madeline musste sich eingestehen, dass er einfach nicht ihrer Vorstellung von einem Mediziner entsprach. Ihr Vater war Arzt gewesen, seine beiden Partner, die jetzt gemeinsam mit ihr die Praxis führten, waren Ärzte. Und Simon war Arzt. So hatten Mediziner auszusehen!

„Und zum anderen?“, fragte Marcus mit sanfter Stimme.

„Ähm.“ Sie versuchte, sich zusammenreißen. „Zweitens werde ich Ihnen nicht gestatten, diese … diese mittelalterliche Quacksalberei direkt neben unserer Praxis zu betreiben. Meine Partner und ich werden verhindern, dass Sie mit diesem Hokuspokus durchkommen.“

Marcus musterte Madeline Harrington interessiert, während sie sich in Rage redete. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Stimme klang aufgewühlt. Aus irgendeinem Grund fand er ihre Wut erregend.

„Und wie wollen Sie das anstellen, Maddy?“

Madeline hatte schon den Mund geöffnet, um ihm noch einmal ganz deutlich ihre Meinung zu sagen, als die unerwartete, vertraute Anrede sie innehalten ließ.

Außer Abby hatte sie nie jemand so genannt, und die Erinnerung an ihre jüngere Schwester überflutete sie mit plötzlicher Intensität.

„Ich heiße Madeline“, sagte sie in scharfem Tonfall.

„Mag sein, aber ich glaube, ich nenne Sie lieber Maddy“, verkündete Marcus.

„Dazu werden Sie kaum Gelegenheit haben, Dr. Hunt“, sagte sie mit sarkastischer Betonung. „Ich werde dafür sorgen, dass Sie Montag wieder ausziehen.“

„Ich habe einen Mietvertrag, Maddy.“

Die Art, wie er mit seiner tiefen männlichen Stimme ihren Namen sagte, hatte eine eigenartige Wirkung auf sie. Es klang fast wie eine Liebkosung. „Meinen Partnern und mir gehört dieses Gebäude, Dr. Hunt. Und wenn sie erfahren, wer hier eingezogen ist, werden Sie ganz schnell wieder auf der Straße sitzen, da helfen Ihnen auch Ihre Heilkräuter nicht.“

Sie warf ihm ein triumphierendes Lächeln zu, das Marcus mit einem freundlichen Grinsen beantwortete. Er wirkte nicht im Mindesten beeindruckt von ihrer Drohung.

„Halten Sie sich nicht zurück, Maddy. Vielleicht können Sie auch noch einen Scheiterhaufen organisieren und mich auf dem Marktplatz verbrennen. Wie wär’s?“

„Führen Sie mich nicht in Versuchung.“

Sie war es, die ihn in Versuchung führte! „Wovor haben Sie eigentlich solche Angst? Wissen Sie nicht, dass Hippokrates selbst Homöopathie praktiziert hat? Die Welt ist doch groß genug für Schulmedizin und alternative Heilkunst.“

„Aber nicht dieses Haus!“ Mit diesen Worten drehte Madeline sich auf dem Absatz um und ging zur Tür.

„Bis bald, Maddy.“

Der Gedanke an ein Wiedersehen ließ sie trotz der Hitze des Nachmittags erschauern.

„Hoffentlich nicht“, erwiderte sie und schloss energisch die Tür hinter sich.

Als sie in den ersten Stock zu den Räumen ihrer eigenen Praxis hinaufging, atmete Madeline tief durch. Das Gespräch mit diesem Marcus Hunt hatte sie verstört und ein seltsames Gefühl von Sehnsucht bei ihr hinterlassen.

Sie ging durch den Korridor zu ihrer Praxis und verspürte beim Anblick der vertrauten Umgebung ein Gefühl der Erleichterung. Ihr Vater hatte das mehrstöckige Haus gekauft, bevor sie zur Welt gekommen war, und die Praxis gemeinsam mit seinen zwei Partnern gegründet. Die Räume im zweiten Stock waren an eine Anwaltskanzlei vermietet, und wenn es nach ihr ging, würde im Erdgeschoss demnächst wieder ein „Zu vermieten“-Schild hängen.

Schnell verdrängte sie den Gedanken an Marcus Hunt und musterte das Türschild, auf dem in Goldbuchstaben ihr eigener Name stand. Heute allerdings löste dieser Anblick nicht die gleiche Befriedigung aus wie sonst.

Sie hatte niemals einen anderen Beruf ergreifen wollen, auch nicht, als all ihre Kommilitonen im Medizinstudium sich auf andere lukrativere Bereiche spezialisierten. Madeline jedoch hatte bei ihrem Vater gelernt, wie wichtig und sinnvoll die Arbeit eines guten Allgemeinarztes sein konnte, und sein Tod hatte sie in ihrem Entschluss nur noch bestärkt.

Sie schloss die Tür auf und wurde sofort von ihrer Sprechstundenhilfe begrüßt. „Madeline! Oh, du bist wieder da.“ Aufgeregt sprang Veronica hinter ihrer Empfangstheke auf und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. „Wie geht es dir? Wie war es in England?“

Veronica war eine der Änderungen, die Madeline durchgesetzt hatte, nachdem sie in die Praxis eingetreten war. Sie war jung, freundlich und kompetent, und die Patienten liebten sie. Madeline war überzeugt, dass die Verjüngung des Sprechstundenpersonals dazu beigetragen hatte, die Zahl der Patienten wieder in die Höhe zu treiben.

„Gut, sehr gut“, antwortete sie leicht abwesend. Die Begegnung mit Marcus Hunt hing ihr immer noch nach. „Ist sonst niemand mehr da?“ Sie schaute ins leere Wartezimmer.

„George hat noch Dienst, er macht Hausbesuche“, sagte Veronica.

George Blakeley war bereits der Partner von Madelines Vater gewesen. Gemeinsam mit seiner Frau Louise hatte er sich um sie und Abby gekümmert, als ihre Eltern kurz nacheinander gestorben waren, während die Mädchen noch auf der Highschool waren.

Auch Andrew Baxter hatte schon mit ihrem Vater zusammengearbeitet, während Thomas Wisehart, der vierte Partner, ein Studienkollege von Madeline war. Der junge Familienvater war die perfekte Ergänzung für ihr Team gewesen, nicht zuletzt weil Andrew und George in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen würden.

„Es war heute wohl ein ruhiger Tag?“

„Eigentlich nicht, aber wen kümmert das schon“, rief Veronica unbekümmert. „Ich will alles wissen, was passiert ist!“

„Was soll schon passiert sein? Ich war auf einer internationalen Medizinerkonferenz, nicht auf einer Vergnügungsreise.“

Veronica verdrehte die Augen. „Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, dass eine Reise nach London die perfekte Gelegenheit für Sex nach der Trennung ist?“

Madeline musste lachen. „Du warst dieser Meinung, nicht ich. So etwas passt einfach nicht zu mir.“

„Oh ja, eben!“ Veronica nickte eifrig. „Deswegen war es ja so perfekt. Simon verlässt dich direkt vor einer sechswöchigen Reise nach England. Genau das Richtige für Trennungssex.“

Manchmal beneidete Madeline ihre jüngere Angestellte für ihre Einstellung. Veronica verstand es, den Augenblick zu genießen und das Leben auszukosten. Sie selbst dagegen war eher vorsichtig. Unverbindlicher Sex, One-Night-Stands … das war so gar nicht ihre Art. Nicht umsonst war sie zehn Jahre lang mit demselben Mann zusammen gewesen. Und bestimmt war ihre Trennung von Simon nur vorübergehend.

„Es war einfach niemand da, der mich interessiert hätte“, sagte sie schließlich. Nicht so, wie Marcus Hunt sie interessierte …„Ach, Madeline“, seufzte Veronica. „Ich wette, das hier hat die interessanten Männer vertrieben.“ Sie tippte mit ihrem Kugelschreiber auf Madelines Diamantring.

Madeline sah hinunter auf ihre Hand. Sie trug den Zwei-Karat-Diamanten nun seit vier Jahren und hatte ihn auch nach der Trennung nicht abgenommen. Veronica hatte recht, der Ring vertrieb die Männer, und das war vielleicht gut so. Wenn sie Simon mitzählte, hatte Madeline vier geliebte Menschen verloren, und sie war nicht sicher, ob sie sich noch einmal für die Liebe öffnen konnte. Ihr Herz schien zu einem großen Eisblock erstarrt zu sein.

Hastig warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war schon fünf. „Warum machst du nicht Schluss für heute? Ich werde mich auf den neuesten Stand bringen und schließe dann später ab“, sagte sie zu Veronica.

Ihre Mitarbeiterin nickte. „Schon gut, ich habe verstanden. Ich soll mich um meinen eigenen Kram kümmern.“ Veronica grinste gutmütig, räumte ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich herzlich von Madeline.

Als sie allein war, schlenderte Madeline langsam durch die geschmackvoll eingerichteten Räume, um sich wieder einzugewöhnen. Dann blätterte sie den Praxiskalender durch und pfiff leise durch die Zähne. Sie würde erst Montag wieder anfangen zu arbeiten, aber dann stand ihr ein hektischer Tag bevor.

Schon bald machte sich die nervöse Unruhe wieder bemerkbar, die sie schon den ganzen Tag geplagt hatte. Madeline unterdrückte ein Gähnen. Sie war müde, aber es war noch zu früh, um dem Jetlag nachzugeben. Sie ließ sich in ihrem Sprechzimmer in den Schreibtischstuhl sinken und blätterte in einigen Unterlagen.

Dann lehnte sie sich in ihrem bequemen, ergonomisch geformten Stuhl zurück und schloss kurz die Augen. Sofort wanderten ihre Gedanken zurück zu Marcus Hunt. Sie hörte sein lautes Lachen, sah die Grübchen in seinen Wangen und die Farbspritzer in seinem dunklen Haar. Diese Fantasien hatten eine unglaublich erregende Wirkung auf sie, fast so, als würde er wieder vor ihr stehen.

Marcus Hunt war gefährlich für sie.

Sie schlug die Augen auf und schaute auf Simons Foto, das noch immer auf ihrem Schreibtisch stand. Trotz Veronicas missbilligender Blicke hatte sie es noch nicht übers Herz gebracht, es wegzuräumen. Sie hatte leicht reden! Anders als andere Frauen hatte Madeline ihre Jugend nicht damit verbracht, sich zu amüsieren und das Leben – und die Männer – zu genießen. Stattdessen hatte sie eine persönliche Tragödie nach der nächsten verkraften, ihr Studium beenden und sich auch noch um Abby kümmern müssen. Und Simon hatte ihr in dieser Zeit beigestanden.

Sie fuhr mit dem Finger leicht über das Glas des Bilderrahmens. Sicher, Simon war kein aufregender Skater, aber er hatte ein nettes Lächeln, und sie hing noch immer an ihm. Sie kannten sich schon ewig, und so etwas warf man nicht einfach weg. Madeline war überzeugt, dass Simon zu ihr zurückkehren würde, und bis dahin würde sie sich nicht von einem dahergelaufenen Marcus Hunt aus der Fassung bringen lassen.

Plötzlich klingelte es an der Tür zur Praxis. Dankbar über die Unterbrechung, öffnete sie und sah den jungen Brad Sanders, der bleich vor Schreck war und seine Mutter stützte.

„Mrs. Sanders, was ist mit Ihnen?“ Madeline musterte die Frau, die eine graue Gesichtsfarbe hatte und außer Atem war.

„Es sind diese Magenbeschwerden“, sagte Brad. „Ich wollte sie ins Krankenhaus bringen, aber sie wollte lieber zu Ihnen. Es geht ihr immer schlechter …“ Der Teenager sah sie ängstlich an, seine Stimme begann zu zittern.

„Okay, ganz ruhig“, sagte Madeline mit sanfter Stimme und führte Mrs. Sanders zu einem Stuhl. Dann öffnete sie den Notfallkoffer, setzte der Patientin eine Sauerstoffmaske auf und begann sie zu beatmen. Mrs. Sanders litt offensichtlich unter Schmerzen, sie hatte keine Magenbeschwerden, sondern vermutlich einen Herzinfarkt.

„Brad, bitte geh zum Schreibtisch und ruf einen Rettungswagen.“ Sie nannte ihm sicherheitshalber die Notfallnummer, in einer Paniksituation vergaß man manchmal die einfachsten Dinge, und der junge Brad Sanders war in Panik.

„Sag ihnen, dass deine Mum wahrscheinlich einen Herzinfarkt hat. Hast du das verstanden, Brad?“ Sie sah ihn eindringlich an und sprach beruhigend auf den Jungen ein. „Du hast alles sehr gut gemacht. Ich werde mich um deine Mutter kümmern, aber du musst jetzt bitte diesen Anruf machen.“

Brad nickte, ging zur Empfangstheke und telefonierte. Madeline griff gerade nach dem Blutdruckmessgerät, als Mrs. Sanders laut stöhnte, sich an die Brust griff und das Bewusstsein verlor. Jetzt gab es wirklich Grund zur Panik.

Mit Brads Hilfe legte sie die korpulente Frau ausgestreckt auf den Boden, um ihre Atemwege freizumachen.

„Lauf ins Erdgeschoss, dort ist ein anderer Arzt. Er heißt Dr. Hunt, bring ihn her. Mach schon, Brad.“ Sie brauchte Marcus’ Hilfe, eine Herz-Lungen-Wiederbelebung würde zu zweit wesentlich einfacher sein.

Madeline griff nach dem halb automatischen Defibrillator, den die Praxis erst kürzlich gekauft hatte, riss Mrs. Sanders Bluse ohne Rücksicht auf die Knöpfe auf und platzierte die Pads auf ihrer Brust.

Das Gerät analysierte den Herzrhythmus der Patientin, Madeline warf einen Blick auf die Anzeige. Sie würde eine Herzdruckmassage und Beatmung durchführen müssen, bevor sie den Defibrillator einsetzen konnte.

Sie griff nach dem Beatmungsbeutel und schloss ihn an den Sauerstoffbehälter an. Dann begann sie mit der Herzmassage.

„Was ist los?“, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr.

„Vierzehn, fünfzehn“, zählte Madeline laut, während sie Druck auf das Brustbein ausübte. Sie wies mit dem Kopf auf den Beatmungsbeutel, und Marcus übernahm ohne weitere Fragen.

„Myokardinfarkt, vermute ich. Der Rettungswagen ist unterwegs“, sagte sie kurz darauf.

Sie arbeiteten perfekt zusammen und stimmten Druckmassage und Beatmung aufeinander ab, bis der Herzrhythmus einen Einsatz des Defibrillators erlaubte. Madeline atmete erleichtert durch. Jetzt hatten sie eine Chance, Mrs. Sanders zu retten.

„Brad“, sagte sie, während Marcus den Defibrillator vorbereitete, „warum gehst du nicht hinaus und wartest auf den Rettungswagen? Er ist sicher gleich da.“ Der arme Junge musste wirklich nicht mit ansehen, wie der Körper seiner Mutter unter den Elektroschocks zusammenzuckte.

Der Junge zögerte und sah unsicher zur Tür.

„Wir haben hier alles im Griff“, sagte Marcus mit ruhiger Stimme. „Du kannst uns helfen, indem du den Sanitätern den Weg zeigst.“

Brad nickte nur und verließ den Raum.

„Okay, zurückbleiben“, sagte Madeline und löste den Elektroschock des Defibrillators aus.

Sie beobachtete den Monitor, aber bisher zeigte sich keine Veränderung. „Wir sollten einen Zugang legen, wenn die Sanitäter da sind“, sagte sie.

„Und intubieren.“ Marcus nickte ihr zu, und sie begannen erneut mit der Wiederbelebung.

Madeline war froh über professionelle Hilfe, aber der Anblick seines offenen Hemdes irritierte sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Wie konnte sie in dieser Situation nur an Marcus’ Körper denken? „Wie? Kein Zauberstab, den Sie schwingen können, oder eine Kräutertinktur, um das Herz wieder in Gang zu bringen?“, platzte sie heraus und hätte sich im nächsten Augenblick selbst ohrfeigen können. Diese Bemerkung war absolut peinlich und unnötig.

„Dafür ist es leider zu spät, Maddy“, entgegnete Marcus mit angespannter Stimme. Er war weniger über ihre Worte verärgert als vielmehr darüber, dass ihr Anblick ihn so ablenkte. Ihr Rock war hochgerutscht und enthüllte einen schlanken Oberschenkel, und die dünne Bluse spannte sich verführerisch über ihren festen Brüsten, während Madeline die Herzkompressionen fortsetzte. Dies war wirklich nicht der richtige Moment für erotische Fantasien!

Endlich ertönten die Sirenen des Rettungswagens, und gleich darauf betraten zwei Sanitäter die Praxisräume. Gemeinsam hatten sie bald einen Zugang gelegt und erste Medikamente verabreicht.

Madeline beobachtete, wie Marcus die Patientin mit geübten Händen intubierte, um für eine effektivere Beatmung zu sorgen, bevor sie ein weiteres Mal den Defibrillator einsetzten.

„Alle zurück“, kommandierte Madeline und löste den Elektroschock aus. Dieses Mal war die Prozedur erfolgreich.

„Sehr gut“, sagte einer der Sanitäter. „Dann bringen wir sie jetzt in die Klinik.“

In wenigen Minuten hatten sie Mrs. Sanders für den Transport vorbereitet. Madeline legte beruhigend einen Arm um Brad, der das Geschehen besorgt beobachtete. Sie wusste, dass seine Mutter noch längst nicht außer Gefahr war.

„Na komm, Junge“, sagte Marcus. „Du setzt dich am besten nach vorne.“ Brad nickte abwesend und folgte den Sanitätern mit der Trage.

Als Madeline hinten in den Rettungswagen einsteigen wollte, um für den Notfall helfen zu können, sagte Marcus halblaut zu ihr: „Ich fahre mit meinem Wagen hinterher.“

Sie zuckte leicht zusammen und drehte sich zu ihm um. „Das ist nicht nötig.“ Sie wollte nicht undankbar klingen, schließlich war er eine große Hilfe gewesen. Aber jetzt, da die akute Notfallsituation vorüber war, fühlte sie sich völlig erschöpft, und Marcus’ Nähe verstörte sie nur zusätzlich.

Sanft legte er die Hände auf ihre Schultern, die unter seiner Berührung erzitterten. „Geht es Ihnen gut?“, fragte er besorgt.

Madeline schaute ihn an und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Am liebsten wäre sie sofort in Tränen ausgebrochen. Wieso war er so nett zu ihr? Und wieso fühlte sie sich so zu ihm hingezogen?

„Natürlich“, sagte sie und drehte sich leicht zur Seite, sodass seine Hände von ihren Schultern glitten.

Marcus schaute sie weiter an, hob eine Hand und schob eine lockige Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, hinter ihr Ohr. Madeline trat einen Schritt zurück, um den Drang zu bekämpfen, sich an ihn zu schmiegen.

„Dr. Harrington“, rief einer der Sanitäter.

„Ich komme“, sagte sie und stieg mit zittrigen Beinen in den Rettungswagen.

2. KAPITEL

Madeline saß gemeinsam mit Brad im Warteraum für Angehörige, als Marcus im Krankenhaus ankam. Bei ihrer Ankunft hatte das Personal der Notfallambulanz sich sofort um die Patientin gekümmert, und Madeline hatte es übernommen, Mr. Sanders zu informieren. Das Gespräch mit den Angehörigen war in diesen Situationen manchmal schwieriger als die medizinische Behandlung.

Völlig erschöpft starrte sie ins Leere, als Marcus ihr einen dampfenden Becher Kaffee vors Gesicht hielt. Blinzelnd schaute sie zu ihm hoch und spürte, wie ihr Puls trotz ihrer Müdigkeit wieder zu rasen begann.

„Ich sagte doch, dass Sie nicht herzukommen brauchen“, sagte sie ungnädig und ignorierte den angebotenen Kaffee. Hatte Marcus nicht einen Sohn, um den er sich kümmern musste?

„Trinken Sie, Maddy“, sagte er mit einer sanften Stimme, die dennoch keinen Widerspruch duldete. Der Duft des Kaffees stieg ihr in die Nase, und ihr wurde klar, dass sie seit dem Frühstück im Flugzeug nichts mehr zu sich genommen hatte. Sie griff nach dem Becher.

Marcus reichte Brad eine Cola und ließ sich dann neben Madeline nieder. Sie saßen schweigend da, während sie die Spannung, die zwischen ihnen bestand, zu ignorieren versuchte.

Von Zeit zu Zeit berührten sich ihre Arme, und Madelines Müdigkeit war wie weggeblasen.

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Er ist in festen Händen. Und du eigentlich auch. Außerdem willst du ihn am Montag vor die Tür setzen, also ist es wohl kaum eine gute Idee, jetzt irgendwelche Gefühle für diesen Mann zu entwickeln.

Stattdessen stellte sie sich lieber vor, wie sie ihm mitteilte, dass er die Praxis wieder räumen musste. Allerdings überkamen sie dabei sofort Gewissensbisse. Sie waren vielleicht unterschiedlicher Auffassung über alternative Medizin, aber Marcus Hunt war offensichtlich wirklich ein ausgebildeter Arzt und hatte ihr heute beigestanden.

„Lassen Sie mich raten – Sie denken über meinen Rauswurf nach, richtig?“

Seine raue Stimme dicht an ihrem Ohr ließ Madeline zusammenfahren. Entsetzt darüber, dass er offenbar auch noch ihre Gedanken lesen konnte, schaute sie ihn an. „War das so offensichtlich?“, fragte sie.

„Sie sollten niemals Poker spielen, Maddy“, erwiderte er nur lächelnd.

Madeline musste feststellen, dass sie den Anblick seiner blauen Augen und seiner vollen Lippen unwiderstehlich fand. So unwiderstehlich, dass sie den Blick einfach nicht abwenden konnte.

Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass sich ihr jemand näherte.

„Äh, Dr. Harrington?“

Die junge Krankenschwester schaute zwischen ihr und Marcus hin und her. Madeline räusperte sich etwas verlegen. „J…ja, was ist denn?“

„Mrs. Sanders ist jetzt auf die Intensivstation verlegt worden.“

„Oh, gut.“ Madeline stand abrupt auf. „Dann sehe ich am besten mal nach ihr.“

Die Krankenschwester hatte sich jetzt ganz Marcus zugewandt und lächelte ihn an. Er zwinkerte ihr zu, und Madeline verdrehte die Augen. Wie gut, dass sie ihre Libido im Griff hatte und nicht Opfer ihrer Hormone war!

Sie überließ ihn seiner Verehrerin und brachte Brad zur Intensivstation. Wenig später erschien auch Brads Vater, und Madeline verabschiedete sich von der Familie, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass es Mrs. Sanders den Umständen entsprechend gut ging.

Zu ihrer Überraschung wartete Marcus beim Schwesternzimmer auf sie. Weniger überraschend war, dass er gerade mit zwei der Krankenschwestern lachte und flirtete.

„Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause“, sagte er und ging auf Madeline zu, als er sie sah.

„Danke, ich nehme lieber ein Taxi.“ Ohne stehen zu bleiben, ging Madeline an ihm vorbei.

„Seien Sie nicht albern, Maddy.“ Verärgert bemerkte sie, dass er mit ihr sprach, als wäre sie ein störrisches Kind. „Sie sind doch völlig erledigt, und Freitagabend ist keine gute Zeit, um ein Taxi zu finden.“

Sie seufzte auf und blieb stehen. Er hatte ja recht, und sie war wirklich todmüde. Was war schon dabei? Sie nickte ihm kurz zu und stand wenige Minuten später vor einem feuerroten Sportwagen mit heruntergeklapptem Verdeck.

Das ist Ihr Auto?“, sagte sie mit ungläubiger Miene.

„Oh, ja.“ Marcus lächelte voller Stolz.

„Offenbar fallen noch mehr Leute auf Ihren Hokuspokus herein, als ich dachte.“

„Was für ein Auto haben Sie denn erwartet?“

Madeline musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er trug noch immer die abgeschnittenen Jeans, das Hemd war inzwischen allerdings zugeknöpft. Sie dachte daran, wie sie ihn im Park beobachtet hatte. „Ich weiß nicht, irgendeine alte, zerbeulte Kiste, keinen teuren Sportwagen.“

Marcus lachte laut auf. „Sie nehmen wirklich kein Blatt vor den Mund, Maddy“, sagte er. „Steigen Sie ein.“

Ohne ein weiteres Wort sank sie in die weichen Ledersitze, viel länger hätten ihre Beine sie auch nicht mehr getragen.

„Nicht das passende Auto für einen Kindersitz, Dr. Hunt.“

Er lächelte. „Ich heiße Marcus.“

„Mag sein, aber ich nenne Sie lieber Dr. Hunt“, wiederholte Madeline seine eigenen Worte.

Marcus lachte wieder. „Gut gekontert.“

Nachdem Madeline ihm den Weg zu ihrem Haus beschrieben hatte, legten sie den Rest des Weges schweigend zurück. Das gleichmäßige Brummen des Motors und die warme Nachtluft auf ihren Wangen machten Madeline noch schläfriger, und sie schloss die Augen.

Von der Seite musterte Marcus sie eingehend und registrierte verwundert das zärtliche Gefühl, das sich in seinem Herzen ausbreitete. Sie war unglaublich schön, und ihre Art faszinierte ihn. Aber da war auch der große Diamantring an ihrem Finger … Marcus seufzte auf. Es war ein Jammer, aber er hatte seine Prinzipien. Von vergebenen Frauen ließ er grundsätzlich die Finger.

Vor ihrem Apartmenthaus hielt er den Wagen an und stellte den Motor ab. Er wollte sie nicht wecken, aber zugleich verspürte er das unbändige Verlangen, sie zu berühren.

„Maddy“, sagte er leise und strich ihr mit einem Finger über die Wange. Sie rekelte sich im Sitz und murmelte etwas Unverständliches. „Maddy“, wiederholte Marcus etwas lauter. Sie öffnete die Augen und setzte sich abrupt auf. Marcus zog die Hand fort.

„Oh, tut mir leid“, sagte sie. „Ich wollte nicht einschlafen.“ Er war dicht neben ihr, und seine Nähe hatte eine Wirkung auf sie, die Simon nie gehabt hatte. Marcus verströmte eine sexuelle Anziehungskraft, die sie zutiefst beunruhigte.

Himmel! Sie war völlig durcheinander. Es musste an ihrer Müdigkeit liegen, dass ihr die Situation so entglitt. Der Mann fuhr Skateboard! Und, was noch wichtiger war, er hatte ein Kind. Okay, das bedeutete nicht, dass er verheiratet war, aber er hatte Verpflichtungen.

Sie räusperte sich. „Danke noch mal für vorhin. Es war sehr nett, dass Sie gekommen sind, obwohl …“

„Obwohl Sie so unhöflich zu mir waren?“ Marcus grinste und wurde dann ernst. „Ein Notfall ist wichtiger als solche kleinen Streitigkeiten.“

„Ich möchte mich trotzdem bei Ihnen entschuldigen.“

„Entschuldigung angenommen.“ Er beugte sich noch etwas näher zu ihr. „Heißt das, dass Sie mich nicht mehr am Montag vor die Tür setzen wollen?“

„Angesichts der Tatsache, dass Sie wirklich Arzt sind, mir und Mrs. Sanders geholfen und mich nach Hause gefahren haben, bin ich bereit, mich mit Ihrer Anwesenheit abzufinden, Dr. Hunt. Aber das heißt noch nicht, dass ich von Ihren Methoden überzeugt bin, egal wie gut Sie intubieren können.“

„Ah, eine Herausforderung. Gut, ich liebe Herausforderungen.“

Seine Worte klangen in Madelines Ohren wie ein Versprechen, ein Versprechen mit deutlichen erotischen Untertönen. Aber das war verrückt – in jeder Hinsicht. Zeit, dass sie die Sache unter Kontrolle brachte.

„Ich muss jetzt gehen, und Sie möchten sicherlich zu Ihrer Frau und Ihren Kindern“, verkündete sie energisch.

„Das könnte schwierig werden, da ich weder das eine noch das andere habe.“

Plötzlich schlug ihr Herz schneller. „Oh. Ich habe Sie vorhin mit einem kleinen Jungen gesehen, im Park, und da dachte ich …“

So, so. Sie hatte ihn also schon früher gesehen? Interessant … „Nein, das war mein Neffe. Meine Schwester lebt hier in Brisbane, und Connor ist ein absoluter Skateboard-Fan, deswegen sind wir öfter zusammen dort. Ich habe keine Kinder, keine Frau und auch keine Verlobte.“

Bei den letzten Worten lächelte er sie an. Madeline war verlegen. „Sie wirkten so vertraut miteinander, deswegen habe ich wohl angenommen …“ Wieder sprach sie nicht zu Ende.

„Ja, wir stehen uns sehr nahe. Wegen den beiden bin ich auch nach Brisbane gezogen. Connor ist sechs Jahre alt, und sein Vater ist abgehauen, als er noch ein Baby war. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, ohne Vater aufzuwachsen.“

„Was ist mit Ihrem Dad passiert?“ Sie stellte die Frage, bevor sie darüber nachdenken konnte.

„Meine Eltern haben sich getrennt, als ich fünf war. Er hat wieder geheiratet und uns mehr oder minder vergessen.“

„Und jetzt sind Sie eine Art Vaterersatz für Ihren Neffen?“

Er grinste. „Nein, nicht wirklich. Ich bin lieber einfach nur sein Onkel, mit dem er Spaß haben kann und der für ihn da ist. Connor ist ein toller Junge, aber ganz schön anstrengend auf Dauer. Im Augenblick könnte ich mir nicht vorstellen, mich auf eine so große Verpflichtung wie eine Familie einzulassen.“

„Oh, ein Mann, der Angst vor Verpflichtungen hat, wie ungewöhnlich“, sagte Madeline leicht sarkastisch.

„Sagen wir einfach, ich bin ein gebranntes Kind“, gab Marcus ruhig zurück.

Sie betrachtete ihn interessiert. Also gab es da einen wunden Punkt in seiner Vergangenheit. Dann jedoch brach die Müdigkeit wieder über sie herein, und sie gähnte. „Ich gehe jetzt hinein. Danke für die Begleitung.“

Marcus suchte ihren Blick. Am liebsten würde er sie bis ins Bett begleiten, aber das stand wohl nicht zur Debatte. „Jederzeit“, sagte er daher nur.

Abrupt drehte Madeline sich zur Seite und stieg aus dem Sportwagen. Waren seine Gedanken so offensichtlich gewesen? „Gute Nacht, Dr. Hunt“, sagte sie und warf die Autotür mit einem Knall hinter sich zu. Als sie langsam zur Tür ihres Hauses ging, klang sein Lachen noch in ihren Ohren.

Am nächsten Tag kam Madeline kurz vor Mittag am Krankenhaus an. Vor dem Eingang saßen die unbelehrbaren Raucher und genossen den Sonnenschein. Sie betrat das Gebäude und atmete den typischen Geruch ein – manchmal vermisste sie die Klinikarbeit.

Auf der Intensivstation erfuhr sie, dass es ihrer Patientin so gut ging, dass sie auf die normale Station verlegt worden war. Der behandelnde Arzt sagte ihr, dass Mrs. Sanders zwar einen schweren Myokardinfarkt erlitten, das schnelle Eingreifen jedoch langfristige Schäden verhindert habe.

Erleichtert machte Madeline sich auf den Weg zur Station. Mrs. Sanders hatte fünf Kinder, die ihre Mutter brauchten. Sie würde sich jetzt hoffentlich an die Diätpläne halten und auf mehr Bewegung achten, ein Herzinfarktrisiko hatte Madeline nämlich bereits vor längerer Zeit diagnostiziert.

Im Zimmer dankte Mrs. Sanders ihr überschwänglich, dass sie ihr das Leben gerettet habe.

„Unsinn“, wehrte Madeline ab. „Ich habe nur getan, was jeder Arzt getan hätte. Dafür sind wir schließlich da. Außerdem hatte ich ja auch Hilfe.“

„Oh ja, Brad sagte, dass dieser nette Doktor auch geholfen hat.“

Madeline verzog das Gesicht. Der nette Doktor. Das waren nicht unbedingt die Worte, mit denen sie Marcus Hunt beschreiben würde. Sexy, arrogant, aber nett?

„Ich glaube, Sie sprechen gerade von mir.“ Wieder ließ der tiefe Klang seiner Stimme sie zusammenzucken.

„Maddy“, nickte er ihr lächelnd zu und ging an ihr vorbei um das Bett herum. Er stellte sich Mrs. Sanders vor und hatte sie in wenigen Minuten mit seinem Charme völlig eingewickelt. Madeline beobachtete ihn schweigend, sie konnte nur mühsam den Blick von seinem muskulösen Oberkörper in dem eng anliegenden T-Shirt abwenden.

Als er laut auflachte, wanderte ihr Blick weiter zu seinem Mund. In genau diesem Moment sah Marcus zu ihr hinüber, und sofort stieg ihr verlegene Röte ins Gesicht.

Das geht so nicht, sagte Madeline zu sich selbst. Ich kann in seiner Gegenwart keinen klaren Gedanken fassen.

„So, ich muss jetzt wieder los“, unterbrach sie hastig das Gespräch und griff nach ihrer Handtasche.

„Ja, ich sollte auch gehen.“ Marcus erhob sich ebenfalls.

Mrs. Sanders protestierte, aber Madeline konnte sehen, dass sie erschöpft war. Daher ließ sie Marcus gewähren, obwohl der Gedanke sie beunruhigte, noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen, und sei es auch nur auf dem Weg zum Fahrstuhl.

„Wenn ich einmal etwas für Sie tun kann, Mrs. Sanders, dann melden Sie sich einfach.“ Mit diesen Worten legte Marcus eine Visitenkarte auf den Nachttisch und schüttelte der Patientin herzlich die Hand.

Beinahe wäre Madeline der Mund offen stehen geblieben, und schäumend vor Wut verließ sie das Zimmer. Was für eine Frechheit! Kaum hatte sie sich bereit erklärt, seine Anwesenheit in ihrem Gebäude zu tolerieren, versuchte er auch schon, ihre Patienten abzuwerben!

Sobald sie das Klinikgebäude verlassen hatten, drehte sie sich zu Marcus um und stellte ihn zur Rede. „Was zum Teufel war das denn?“

„Aber, Maddy … Sie werden mir doch nicht in aller Öffentlichkeit eine Szene machen“, sagte er spöttisch. Der Anblick seines entspannten Lächelns machte sie nur noch wütender, denn sie selbst fühlte sich noch immer müde und zerschlagen.

„Wie können Sie es nur wagen, meine Patientin abzuwerben. Das ist absolut unethisch. Wenn so Ihre Auffassung von professioneller Arbeit aussieht, dann …“ Sie schnappte empört nach Luft, drehte sich um und ging davon.

Marcus folgte ihr und bewunderte dabei kurz den Anblick von Madelines Po in ihren engen Cargohosen. „Die Schulmedizin hat Mrs. Sanders aber bisher nicht allzu viel geholfen“, sagte er, als er sie eingeholt hatte.

Mit funkelnden Augen sah sie ihn an und blieb stehen. „Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, mir Predigten über Ihre Auffassung von Medizin zu halten, Doktor. Sie haben keine Ahnung, worum es hier geht. Ärzte sind auch auf die Mithilfe ihrer Patienten angewiesen, und Mrs. Sanders war alles andere als kooperativ.“

Als wäre das alles nicht schon genug, musste Madeline feststellen, dass irgendein Idiot ihr Auto zugeparkt hatte, und ein zweiter Blick überzeugte sie davon, dass es sich bei diesem Idioten um niemanden anderen handelte als Marcus Hunt. Dieser Mann hatte sie jetzt schon Jahre ihres Lebens gekostet, dabei kannte sie ihn erst seit gestern!

Um sich wenigstens ein bisschen abzureagieren, trat sie gegen einen der Reifen seines Sportwagens.

„Kann es sein, dass Sie heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden sind, Maddy?“, rief Marcus ihr zu.

„Fahren Sie einfach Ihr Auto weg, ich habe keine Lust, noch länger mit Ihnen zu reden.“

„Es tut mir leid, ich dachte, wir hätten gestern einen Waffenstillstand geschlossen“, sagte er jetzt in ernsterem Tonfall. „Ich bin eigentlich ein netter Kerl, Sie müssten mich nur besser kennen.“

Ganz sicher nicht! Madeline fand ihn schon jetzt beunruhigend genug. Aus irgendeinem Grund löste er in ihr den Wunsch aus, ihre gewohnte Zurückhaltung zu vergessen und einfach in seinem lächerlichen roten Sportwagen mit ihm in den Sonnenuntergang zu brausen.

„Ihr Auto“, wiederholte sie mit kühler Stimme.

Marcus seufzte auf. Es war wirklich nicht leicht, an diese Frau heranzukommen. Aber das machte sie nur noch interessanter und faszinierender. Und die Tatsache, dass sie schon vergeben war, umso bedauerlicher.

„Wieso gehen wir nicht einen Kaffee trinken und versuchen, noch einmal von vorn anzufangen?“, fragte er.

„Sie sind ja immer noch da“, gab sie nur zurück.

Marcus hob resigniert die Hände. „Gut, dann sehen wir uns eben später.“

„Besser nicht.“ Madeline sah zu, wie er den Wagen startete und ihr noch einmal kurz zuwinkte.

„Es könnte früher sein, als Sie denken, Maddy“, hörte sie noch, bevor er davonfuhr.

Ihre Nackenmuskulatur war völlig verkrampft, und Madeline kannte die Ursache dafür auch ohne eine Chiropraktikerausbildung: Stress. Oder genauer gesagt: Marcus Hunt. Wegen ihm war sie verkrampft und unentspannt. Selbst jetzt auf dem Weg zu einem Mittagessen auf dem Land bei George und Louise.

Louise führte sie auf die Veranda, wo bequeme Liegestühle standen, und reichte ihr ein Glas mit gekühltem Chardonnay. Gleich darauf kam George dazu, und Madeline berichtete von der Tagung in London und ihrer Rückkehr.

„Marcus hast du ja schon getroffen“, sagte George.

Sie verdrehte die Augen. „Allerdings. Habt ihr gewusst, dass er Naturheilkunde praktiziert, als ihr den Mietvertrag abgeschlossen habt?“

„Natürlich.“

„Aber was hast du dir dabei gedacht, George?“

„Dass du vermutlich ein Problem damit haben wirst“, gab er gelassen zurück.

„Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn rausschmeißen werde.“

„Oh, nein.“ Louise hielt sich die Hand vor den Mund. „Dann hätte ich ihn vielleicht nicht zum Lunch einladen sollen.“

„Was?“ Fassungslos starrte Madeline ihre ältere Freundin an.

„Er müsste jede Minute hier sein.“

Madeline sackte in ihrem Stuhl zusammen. Sollte sie sich jetzt sofort verabschieden, um ihm aus dem Weg zu gehen? Aber George und Louise waren fast so etwas wie ihre Ersatzeltern, und sie würde sich nicht vertreiben lassen.

„Wie konntest du nur?“, fragte sie George. „Was ist mit all den Patienten, die Opfer irgendwelcher Scharlatane geworden sind. Was ist mit Abby?“

George betrachtete Madeline über seine Brillengläser hinweg. Sie war ihrem Vater so ähnlich. Paul Harrington war sein bester Freund gewesen, und seine Tochter hatte in den vergangenen Jahren sehr viel mitgemacht. Aber diese Tragödien hatten sie härter werden lassen, als Paul je gewesen war. Seit der Highschool hatte sie sich emotional abgeschottet, und die Trennung von Simon war der letzte Schlag gewesen.

Er seufzte auf. „Du weißt, wie sehr wir Abby geliebt haben, aber sie war erwachsen und hat ihre eigenen Entscheidungen getroffen, Madeline, auch was ihre Gesundheit anging. Was ihr zugestoßen ist, war schrecklich, aber das bedeutet nicht, dass die gesamte Naturheilkunde die Schuld daran trägt.“

Obwohl Madeline wusste, dass George recht hatte, fiel es ihr schwer, dies einzugestehen. „Das ist mir schon klar, aber ich verstehe nicht, warum du diese … diese Dinge auch noch unterstützen musst.“

„Madeline“, sagte George und beugte sich ein Stück näher. „Marcus war in Melbourne einer der angesehensten Alternativmediziner, er hat mit Topathleten zusammengearbeitet, die viele Medikamente nicht einnehmen können, weil sie auf der Dopingliste stehen. Wir haben seine Referenzen sorgfältig überprüft. Er ist ausgebildeter Mediziner und kein Quacksalber, sondern einfach ein guter Arzt, der sich auf Homöopathie spezialisiert hat.“

Während George über Marcus’ Qualifikation sprach, sah Madeline in Gedanken nur seine Grübchen und sein Lächeln vor sich.

„Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht“, fuhr George fort. „Du hast den Anstoß dafür gegeben, dass sich die Dinge bei uns verändern. Aber du bist nicht die Einzige, die ein Interesse daran hat, die Praxis weiterzuentwickeln. Wir waren der Meinung, dass ein ganzheitlicher Ansatz interessante Perspektiven bietet.“

„Du willst also wirklich Patienten an ihn überweisen?“, fragte Madeline.

„Wenn es sinnvoll ist und die Patienten es wollen, warum nicht?“ Er zuckte die Achseln.

Madeline schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nun gut, aber ich glaube nicht, dass ich das tun werde.“ Sie wollte so wenig wie möglich mit dem Mann zu tun haben, der sie so verwirrte. Das war das Letzte, was sie im Augenblick in ihrem Leben gebrauchen konnte.

„Aber du wirst doch versuchen, höflich zu ihm zu sein, Liebes?“, fragte Louise besorgt.

„Natürlich, ich bin doch immer höflich“, sagte Madeline, ohne zu gereizt zu klingen. Sie wusste, dass Louise großen Wert auf Etikette legte, aber bisher hatte Madeline ihr wohl kaum Anlass gegeben, an ihren Umgangsformen zu zweifeln. Sie würde auch zu Marcus höflich sein, selbst wenn es ihr schwerfiel.

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihr Gespräch. George ging hinein, um abzunehmen, während Louise nach dem Essen schauen wollte. Madeline lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und versuchte, ihre angespannten Muskeln zu lockern.

Ob es nun am Wein, dem Jetlag oder dem bequemen Stuhl lag – schon bald fielen ihr die Augen zu.

Wie aus weiter Ferne hörte sie, wie es an der Tür klingelte, und Louises Stimme, die näher kam. „Dann lasse ich euch noch einen Moment allein. George ist sicher bald fertig mit seinem Telefonat.“

Marcus schlenderte hinaus auf die Veranda und bereitete sich auf eine weitere kleine Konfrontation mit Maddy vor. Umso verblüffter war er von dem Anblick, der sich ihm bot: Völlig entspannt lag sie ausgestreckt auf einem Liegestuhl, ihr Haar hing ihr über die Schultern, sie hatte die Augen geschlossen, ihr Mund war leicht geöffnet. Fast kam er sich vor wie der Prinz im Märchen von Dornröschen. Abgesehen davon, dass diese Prinzessin ihn wohl ohrfeigen würde, wenn er versuchte, sie zu küssen.

Sein Blick wanderte tiefer. Sie trug ein eng anliegendes grünes T-Shirt, das ihre weiblichen Formen betonte, und Marcus spürte, wie ihm trotz der leichten Sommerbrise plötzlich sehr heiß wurde.

Sie war so unglaublich schön. Ohne sie aus den Augen zu lassen, setzte er sich und beobachtete sie. Er hatte keine Ahnung, wer der Mann war, der ihr den Ring geschenkt hatte, aber der Kerl war ein verdammter Glückspilz.

Madeline seufzte leise und schlug langsam die Augen auf. Als Marcus in ihrem Blickfeld erschien, glaubte sie zuerst, sie würde noch schlafen. Hatte sie nicht eben erst von ihm geträumt? Von seinen Grübchen, seiner nackten Brust und den breiten Schultern? Wieso war er jetzt angezogen? War sie wirklich wach?

Mit einem Ruck setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Okay, sie war wach, und Marcus war wirklich da und schaute sie neugierig an.

„Maddy.“ Er lächelte und prostete ihr mit dem Bier zu, das vor ihm stand. „Lange nicht gesehen.“

„Madeline“, zischte sie, wütend darüber, dass er sie ohne ihr Wissen beobachtet hatte. „Ich heiße Madeline.“

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte Marcus amüsiert, während er zusah, wie sie sich aus dem Stuhl hochkämpfte.

Sie ignorierte ihn und ging mit dem Weinglas in der Hand auf die andere Seite der Veranda. Was hatte er vorhin noch gesagt? Dass sie sich früher wiedersehen würden, als sie dachte?

„Sie haben es gewusst!“, rief sie empört. „Sie haben vorhin schon gewusst, dass Sie herkommen würden.“

„Aber sicher. Louise hat mich heute Morgen eingeladen. Ich glaube, sie möchte auch, dass wir uns besser kennenlernen. Und im Übrigen habe ich noch nie eine Einladung zu einem selbst gekochten Essen ausgeschlagen.“

Bevor Madeline eine passende Erwiderung einfiel, kam Louise wieder hinaus. „Alles in Ordnung bei euch?“, fragte sie und schaute etwas besorgt zwischen den beiden hin und her.

„Aber sicher.“ Madeline nickte etwas angespannt. „Wo ist denn George geblieben?“, fragte sie dann hilflos.

„Hier bin ich schon wieder.“ George legte einen Arm um Louises Schultern. „Wollen wir essen?“

Louise war eine hervorragende Köchin und das Essen zweifellos köstlich, aber Madeline musste sich zwingen, überhaupt einen Bissen hinunterzubringen, so aufgewühlt, wie sie war. Währenddessen plauderte und flirtete Marcus fröhlich mit Louise, was sie nur noch mehr aufbrachte.

„Erzählen Sie uns doch ein wenig mehr über sich, Marcus“, forderte Louise ihn nun gerade auf. „Warum hat ein netter junger Mann wie Sie eigentlich noch keine Familie?“

Er lachte. „Fünfunddreißig kann man wohl nicht mehr als jung bezeichnen.“

„Oh, doch“, erwiderte George, „wenn man selbst sechzig ist.“

Interessiert registrierte Madeline, dass Marcus es geschafft hatte, der Frage auszuweichen. Dann jedoch sprach er weiter: „Tatsächlich war ich schon einmal verheiratet, aber das ist lange her.“

Mit der Gabel in der Luft hielt Madeline inne. War es das, worauf er gestern Abend im Auto angespielt hatte?

„Waren Sie noch zu jung?“, erkundigte sich Louise.

„So ähnlich.“ Marcus zuckte die Achseln.

„Haben Sie noch Kontakt?“

„Von Zeit zu Zeit.“ Louises Frage war ihm unangenehm, denn sie erinnerte ihn daran, wie dumm er und Tabitha sich bei ihrem letzten Treffen verhalten hatten.

Nach einem kurzen Schweigen räusperte sich George. „Haben Sie es denn schon geschafft, sich ein wenig in Brisbane umzusehen?“

„Nicht wirklich“, sagte Marcus. „Ich war so damit beschäftigt, die Praxis einzurichten, dass ich bisher eigentlich kaum etwas von der Stadt gesehen habe. Ich bin fast jeden Nachmittag in South Bank zum Schwimmen. Oh, und den Skaterpark kenne ich.“

Oh ja, allerdings, dachte Madeline grimmig, während sie ihr Essen auf dem Teller hin und her schob. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte – war das wirklich erst gestern gewesen? Sein nackter, muskulöser Oberkörper erschien plötzlich mit allen Details vor ihrem inneren Auge. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, dass sie weniger als vierundzwanzig Stunden später mit dem Skater-Macho zu mittagessen würde, wäre sie sofort wieder nach England zurückgeflogen.

Mit einem kleinen Kopfschütteln kehrte Madeline in die Gegenwart zurück und stellte fest, dass die anderen sie erwartungsvoll ansahen. „Ähm, Entschuldigung … was sagtest du gerade?“

„Ich habe Marcus gerade erzählt, dass du die perfekte Fremdenführerin für ihn wärst. Warum zeigst du ihm morgen nicht etwas von den Sehenswürdigkeiten der Stadt?“, fragte Louise lächelnd.

Madeline hätte fast laut aufgeschrien. Weil ich dann vollständig durchdrehen würde!

„Oh … nun, um ehrlich zu sein, hatte ich eigentlich vorgehabt, mir morgen einen faulen Tag im Bett zu gönnen. Dieser Jetlag bringt mich sonst um.“

Bei der Vorstellung, wie Madeline den Sonntag im Bett verbrachte, verschluckte Marcus sich fast an seinem Essen.

„Ach, du schaffst es sowieso nicht, dir einen ganzen Tag freizunehmen“, sagte George grinsend.

Es machte fast den Eindruck, als wären George und Louise wild entschlossen, sie mit Marcus zu verkuppeln. Dann würden sie eine große Enttäuschung erleben, denn sie würde sich eher vor einen Bus werfen, als sich mit ihm einzulassen.

„Nein, schon in Ordnung. Madeline ist es offenbar unangenehm, mich herumzuführen. Ich werde die Stadt schon irgendwann erkunden.“

Empört richtete Madeline sich auf und funkelte Marcus wütend an. Jetzt stellte er sie als undankbares, schlecht erzogenes Biest dar, und das vor ihren Freunden! Das würde sie auf gar keinen Fall zulassen.

„Wir können es sicher einrichten“, gab sie schließlich nach.

„Wie schön.“ Louise strahlte sie dankbar an.

„Ich könnte Sie einfach abholen“, sagte Marcus. „Wann würde es Ihnen passen?“

Sie zuckte die Achseln. „Um eins?“

„Wunderbar, ich freue mich schon sehr.“ Er sah sie eindringlich an, und der sanfte Blick seiner blauen Augen brachte Madeline endgültig aus der Fassung. Hektisch stand sie auf und begann damit, das Geschirr zusammenzuräumen.

„Das ist nicht nötig, Liebes“, sagte Louise. „Du siehst noch ziemlich erschöpft aus. Warum fährst du nicht nach Hause und gönnst dir einen langen Mittagsschlaf?“

Dankbar ergriff Madeline die Gelegenheit und verabschiedete sich von ihren Gastgebern.

„Bist du sicher, dass du alleine nach Hause fahren kannst?“, fragte George besorgt.

„Aber sicher.“

„Ich bringe Sie gerne.“ Marcus stand ebenfalls auf.

„Nein!“ Madelines Reaktion kam so spontan, dass George und Louise sie etwas verwundert ansahen.

„Nein, danke“, wiederholte sie etwas ruhiger. „Ich komme gut zurecht, so müde bin ich dann doch nicht.“

Marcus unterdrückte ein Lächeln. Sie klang so, als wäre es eine tödliche Strafe, sich gemeinsam mit ihm in einem Auto aufzuhalten.

Madeline verabschiedete sich mit einem kurzen Lächeln von ihm, weil es sehr unhöflich gewesen wäre, ihm vors Schienbein zu treten und die Zunge rauszustrecken, wonach ihr eigentlich zumute war. Er hatte sie hereingelegt, und das mit voller Absicht.

„Bis morgen“, sagte er, und ihre Blicke verfingen sich wieder ineinander. Madeline spürte, wie ein erwartungsvoller Schauer sie überlief. Diese erotische Spannung zwischen ihnen versetzte sie in Panik. Wie sollte das enden, wenn sie allein waren?

„Bis morgen.“

3. KAPITEL

Es fühlte sich an, als wären Presslufthämmer in ihrem Kopf am Werk, deren Dröhnen immer lauter wurde. Madeline stöhnte und presste die Hände an die Schläfen, was das Dröhnen aber nur verstärkte.

Vorsichtig öffnete sie die Augen. Die Tabletten, die sie gestern Abend genommen hatte, um die herannahende Migräne zu bekämpfen, machten sie immer völlig benommen.

Ein lautes Klopfen ertönte, dieses Mal jedoch nicht in ihrem Kopf, sondern von der Haustür.

Immer noch desorientiert, quälte sie sich aus dem Bett und stöhnte vor sich hin, während sie nach dem Wecker suchte. Fünf nach eins. Nachts oder tagsüber? Ihr Zimmer war völlig abgedunkelt, aber die Tatsache, dass es an der Tür klopfte, deutete auf tagsüber.

Madeline taumelte durch den Flur zum Eingang und fummelte hektisch am Schloss herum. Das Dröhnen an der Tür und in ihrem Kopf war einfach zu viel.

„Schon gut, ich bin ja da“, sagte sie und riss im gleichen Moment die Tür auf. Das grelle Tageslicht blendete sie, und sofort flammte die Migräne wieder stärker auf.

Marcus Hunt stand auf der Schwelle und musterte verwundert die halb angezogene und halb wache Madeline.

„Sie sehen ja furchtbar aus!“, rief er besorgt.

Obwohl es ihr anscheinend nicht besonders gut ging, sah sie tatsächlich verdammt sexy aus. Ihre roten Haare waren leicht strubbelig, und das einfache graue T-Shirt und die kurzen Pyjamahosen zeigten mehr von ihrem Körper, als er bisher gesehen hatte.

Verdammt, er musste sich zusammenreißen. Sie war offensichtlich krank, ansonsten würde sie ihm wohl kaum in diesem Zustand die Tür öffnen – gerade ihm nicht.

Blinzelnd starrte Madeline ihn an und fragte sich, was Marcus Hunt vor ihrer Tür zu suchen hatte. Aber das Sonnenlicht tat ihren Augen weh, und das Denken fiel ihr schwer.

„Vielen Dank für die offenen Worte“, zischte sie. „Und auf Wiedersehen.“ Sie wollte die Tür wieder schließen, aber da hatte Marcus schon seinen Fuß dazwischengeklemmt. Madeline seufzte auf und drehte sich um. Für eine Auseinandersetzung fehlte ihr die Kraft. Sie würde einfach wieder ins Bett gehen und ihn sich selbst überlassen.

In ihrem Schlafzimmer krabbelte sie sofort unter die Bettdecke und zog sich das Kissen über den Kopf.

„Maddy?“, kam es zögernd von der Tür.

Stöhnend schob sie das Kissen ein Stück zur Seite. „Sie sind ja immer noch da.“

„Haben Sie unsere Verabredung vergessen? Sie wollten mir die Stadt zeigen.“

„Verabredung?“ Abrupt richtete Madeline sich wieder auf, zuckte unter der nächsten Schmerzattacke zusammen und ließ sich wieder aufs Bett sinken. „Oh … tut mir wirklich leid. Das ist wohl meinen Kopfschmerzen zum Opfer gefallen.“

„Kein Problem. Wir können das Date jederzeit nachholen.“

„Es war kein Date“, sagte sie ungehalten. „Ich wollte einfach nur höflich sein. Selbst wenn Sie der letzte Mann auf der Welt wären, würde ich nicht mit Ihnen ausgehen.“ Wieder schoss der Schmerz durch ihren Kopf, und eine Woge der Übelkeit überflutete sie.

Besorgt schaute Marcus sie an. „Leiden Sie unter Migräne, Maddy?“, fragte er und setzte sich neben ihr aufs Bett.

„Madeline“, murmelte sie mit geschlossenen Augen.

„Wann hat es angefangen?“ Er griff nach ihrem Arm und fühlte den Puls.

Seine Berührung schien ihr einen kleinen elektrischen Schlag zu versetzen, aber im Augenblick musste Madeline sich zu sehr darauf konzentrieren, ihre Übelkeit zu bewältigen.

„Gestern Abend“, sagte sie.

„Haben Sie häufig solche Anfälle?“

Sie schüttelte vorsichtig den Kopf, als die Übelkeit langsam nachließ. „Alle paar Monate, es ist einfach Stress.“

„Und was stresst Sie im Moment gerade?“, fragte Marcus.

Ha! Er war der Grund für ihre aktuellen Kopfschmerzen. Wenn sie sich nicht so viele Gedanken über ihn gemacht hätte, dann … „Als wenn Sie das nicht wüssten!“ Wütend blinzelte sie ihn an.

Marcus musste grinsen. Für gewöhnlich war er dafür bekannt, Kopfschmerzen zu heilen, nicht dafür, sie zu verursachen.

„Haben Sie die Migräne schon immer gehabt?“, fragte er weiter.

„Nein, erst seit etwa fünf Jahren.“ Etwa? Als ob sie sich nicht mehr an den genauen Tag erinnern könnte. Es war der Nachmittag von Abbys Beerdigung gewesen, und sie hatte nur stöhnend auf dem Bett gelegen.

„Litten Sie damals unter besonders viel Stress?“

„Kann man so sagen.“ Sie schloss die Augen und rollte sich zur Seite.

Marcus rieb sich nachdenklich das Gesicht und musterte ihre schlanke zusammengerollte Gestalt vor sich. In der ganzheitlichen Medizin war es wichtig, die Stressauslöser zu kennen, um die Symptome wirksam heilen zu können. Aber Maddy schien nicht im Mindesten bereit zu sein, mit ihm über persönliche Erlebnisse zu sprechen. Vielleicht würde es helfen, wenn er ihre Schmerzen linderte? Ob er so ihr Vertrauen gewinnen konnte? Warum es ihm so wichtig war, dass Madeline ihn mochte, wusste er selbst nicht genau, aber im Augenblick war das auch egal. Er wollte ihr helfen.

Eine Massage würde die Muskeln lockern und sie entspannen. Er brauchte dafür aber einige der ätherischen Öle, die er in seiner Praxis verwendete.

„Maddy? Ich lasse Sie jetzt allein.“

„Hurra!“

„Ich muss Sie enttäuschen … ich habe vor, so schnell wie möglich wiederzukommen. Ich werde nur etwas holen, um Ihre Migräne zu lindern.“

„Oh, tut mir leid, einen Zauberkessel finden Sie in meiner Küche leider nicht.“

Marcus lachte auf. Selbst in diesem Zustand hatte sie noch eine sehr spitze Zunge. „Kein Hokuspokus, Maddy. Ich gebe Ihnen mein Wort.“

Resigniert schloss sie die Augen. Sie hatte starke Schmerzmittel eingenommen, die der Migräne die Spitze nahmen, aber im Grunde war das Einzige, was sie tun konnte, abzuwarten, bis es vorbei war.

Als Marcus nach einer guten halben Stunde zurückkam, lag Madeline noch immer auf ihrem Bett. „Hi, Maddy“, sagte er sanft.

Sie öffnete kurz die Augen, als sie spürte, wie die Matratze sich bewegte. Wieso war er wieder da? Am liebsten hätte sie lauf aufgeschrien, aber das würde die Kopfschmerzen nur verstärken. Also schaute sie ihn nur so unfreundlich wie möglich an.

Marcus musterte sie nachdenklich. Auch im gedämpften Licht des Schlafzimmers konnte er sehen, dass ihre Augen müde und leblos wirkten. Nichts mehr zu sehen von dem smaragdgrünen Funkeln. Er hob das kleine Fläschchen Öl. „Das hier wird Ihnen helfen.“

Misstrauisch musterte sie ihn. „Nein, danke. Wenn sechs Schmerztabletten nicht viel Wirkung haben, bezweifle ich sehr, dass der Inhalt dieser Flasche da mir hilft, was immer es ist.“

„Zeigen Sie mal ein wenig mehr Vertrauen, Maddy.“

„Was ist es? Muss ich es schlucken, inhalieren, oder verbrennen Sie es wie Weihrauch?“

„Weder noch. Es ist Massageöl, und Sie müssen gar nichts tun. Außer sich auf den Bauch zu legen.“

Selbst in ihrem benommenen Zustand war Madeline sich darüber im Klaren, dass es keine gute Idee war, sich von Marcus berühren zu lassen. Die seltsame Wirkung, die er auf sie ausübte, war durch die Kopfschmerzen nur verdrängt worden, aber nicht verschwunden. Und eine Massage in ihrem Schlafzimmer, auf dem Bett …

Seltsamerweise schien ihm die Vorstellung gar nichts auszumachen. Spürte er die Anziehung zwischen ihnen etwa nicht?

„Besser nicht“, sagte sie.

„Ach, kommen Sie, Maddy“, drängte er. „Das ist meine ganz spezielle Mischung. Ich weiß, dass Sie nicht daran glauben, aber geben Sie der Sache eine Chance. Es wird Ihnen helfen.“

Marcus sprach mit ernster Stimme und schien wirklich nichts anderes in ihr zu sehen als eine Patientin. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Das Dröhnen in ihrem Kopf wurde wieder stärker. Und wenn er recht hatte?

„Na, gut.“ Sie drehte sich langsam auf den Bauch.

„Ziehen Sie Ihr T-Shirt aus“, sagte Marcus.

„Auf keinen Fall“, rief sie empört.

Marcus seufzte entnervt. „Ich kann Nacken und Schultern nicht massieren, wenn Sie es anbehalten. Ich bin ein Profi, Maddy, auch wenn Sie das nicht glauben. Ich halte Arbeit und Privatleben auseinander, und ohnehin würde ich niemals eine Frau anmachen, die schon vergeben ist.“

Marcus schien vor allem gekränkt, dass sie seine Professionalität angezweifelt hatte, aber der Gedanke, dass er ihre nackte Haut berührte, war ebenso beängstigend wie verlockend.

Er drehte sich zur Seite, sie streifte sich schnell das T-Shirt über den Kopf und legte sich dann wieder auf den Bauch.

„Okay“, sagte sie und lag still da, in Erwartung seiner Berührung. Sie konnte hören, dass er das Öl zwischen den Händen verrieb, um es anzuwärmen. Ihre Anspannung wuchs, und als sie seine Finger an ihrem Nacken spürte, wäre sie fast vom Bett gesprungen.

Es fühlte sich an, als würde er einen Energiestoß durch ihren ganzen Körper senden und jede einzelne Stelle unter Strom setzen. Wie sollte das ihre Kopfschmerzen lindern?

„Entspannen Sie sich, Maddy“, murmelte er leise. „Ich werde mit einer Fußreflexzonenmassage anfangen. Wussten Sie, dass es auf den Fußsohlen feste Punkte gibt, die mit bestimmten Körperzonen in Verbindung stehen?“

„Sie sagten doch, kein Hokuspokus.“ Ihre Stimme klang gedämpft aus dem Kissen hervor.

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Sie sind wirklich schwer zu überzeugen. Warum versuchen Sie nicht einfach, das Ganze zu genießen, ohne darüber nachzudenken?“

Madeline murmelte eine kurze Zustimmung und biss sich dann auf die Lippen, um ein lautes Stöhnen zu unterdrücken, als er ihre Füße zu massieren begann.

Nach einiger Zeit spürte sie, wie die Heftigkeit der Migräne langsam nachließ, und als Marcus schließlich innehielt, hätte sie am liebsten laut protestiert. Aber das war natürlich völlig undenkbar.

„Vielen Dank, das war sehr nett von Ihnen“, sagte sie mit möglichst beherrschter Stimme und drehte sich zu ihm um.

„Moment, das Beste kommt doch erst noch.“ Er legte eine Hand auf ihren schlanken Oberschenkel.

Oder das Schlimmste? Ihr inneres Gleichgewicht war ohnehin schon völlig durcheinander. „Nein, schon gut, ich werde einfach ausschlafen.“

„Pst, nicht mehr reden.“ Er legte einen Finger auf seine Lippen, und ihr Blick hing wie gebannt an seinem Mund. Am liebsten hätte sie nach seiner Hand gegriffen und … oh, nein, Schluss damit, sie musste endlich wieder die Kontrolle über sich selbst zurückgewinnen.

„Legen Sie sich wieder hin“, sagte Marcus. Diese Frau gab ihm Rätsel auf. Sie war einerseits so zickig und widerspenstig, andererseits schien seine bloße Berührung sie völlig aus der Fassung zu bringen.

Madeline gehorchte und bohrte den Kopf wieder ins Kissen. Für einen Augenblick verkrampfte sie sich, als er ihr Haar zusammenraffte und zur Seite schob.

Mühsam widerstand Marcus der Versuchung, das Gesicht in ihren duftenden Locken zu vergraben. Wenn sie ihn noch einmal so voller Begehren ansah wie eben, würde es ihm nicht leichtfallen, weiterhin die professionelle Distanz zu wahren.

Madeline spürte das warme Öl auf ihrer glühend heißen Haut. Während Marcus anfing, es langsam einzumassieren, konnte sie seinen unregelmäßigen Atem hören. Oder bildete sie sich das nur ein?

Das Öl duftete süß nach Lavendel und nach weiteren Bestandteilen, die sie nicht einordnen konnte. Sie räusperte sich. „Was ist in dem Öl?“

„Raten Sie.“ Langsam schob er zwei glänzende Finger unter ihre Nase, und beinahe hätte Madeline sie unwillkürlich mit ihren Lippen liebkost. Wie konnte sie nur! Solche Intimitäten hatte sie sich mit Simon erst nach vielen Monaten gestattet, wenn überhaupt.

Sie riss sich zusammen. „Ähm … Lavendel“, sagte sie. „Und es riecht auch ein wenig minzig, und dann ist da noch etwas, aber ich komme nicht drauf.“

„Nicht schlecht. Lavendel, Pfefferminze und dann noch Melissenöl, das sorgt für das Zitrusaroma.“

Genüsslich schloss sie wieder die Augen, als Marcus ihre Schultern und den Nacken massierte. Er gab noch etwas mehr Öl auf ihre Haut und rieb es ein.

Die Wirkung seiner Massage war überwältigend, und endlich gab Madeline es auf, sich dagegen zu wehren. Plötzlich spürte sie, wie die Anspannung sich löste, und je länger Marcus sie massierte, desto weniger Schmerzen hatte sie.

Hitze durchströmte ihren Körper, sie fühlte sich schwer und zugleich federleicht. Allmählich machte die Entspannung einem anderen Gefühl Platz: Eine zunehmende Erregung breitete sich zwischen ihren Schenkeln aus, und sie stöhnte leise auf, dieses Mal vor unterdrückter Lust.

Mit Simon hatte sie sich nie so gefühlt, und er hatte sie auch nie so berührt. Sie waren seit zehn Jahren zusammen und seit vier Jahren verlobt gewesen, und sie konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal so etwas wie Leidenschaft zwischen ihnen aufgeflammt war.

Genau genommen, war ihre Beziehung nie besonders leidenschaftlich gewesen. Sie kannten sich schon ewig und waren dann einfach ein Paar geworden. Im ersten Jahr an der Universität war Simons Mutter gestorben, und Madeline hatte ihm sehr geholfen, schließlich hatte sie selbst gerade erst ihre Mutter verloren. So hatte eins zum anderen geführt. Beide arbeiteten hart für ihr Studium und hatten wenig Zeit für Liebesgeschichten. Und vor fünf Jahren, als Abby starb, war Simon an ihrer Seite gewesen.

Nun jedoch, unter der Berührung von Marcus’ Fingern, begann Madeline sich zu fragen, ob sie in all den Jahren nicht etwas versäumt hatte. Sie hatte Simons Liebkosungen genossen, aber sie waren nur angenehm gewesen, keine … Magie!

Ihr war es so ganz recht gewesen, insgeheim war Madeline überzeugt, dass die Tragödien in ihrem Leben sie einfach unempfänglich für große Leidenschaft gemacht hatten. Nun allerdings war ihr Körper plötzlich zum Leben erwacht, und sie musste sich eingestehen, dass das ein Irrtum gewesen war. Sie war eine Frau mit sexuellen Bedürfnissen, und diese Bedürfnisse waren wichtig. Sogar sehr!

Was für ein deprimierender Gedanke. Immerhin kannte sie diesen Mann noch nicht einmal richtig. Was würde Veronica ihr wohl raten? Dreh dich um, lass es drauf ankommen.

Aber sie war nicht Veronica. Das war einfach nicht ihre Art. Madeline überließ sich den überwältigenden Empfindungen und fühlte, wie auch der letzte pochende Schmerz in ihrem Kopf verschwand.

Es dauerte einige Minuten, bis Marcus merkte, dass sie eingeschlafen war, so sehr hatte er sich darauf konzentriert, die Knoten und Verspannungen in ihren Schultern zu lösen. Und sich gleichzeitig vorgestellt, sie wäre Mrs. Furness – seine sehr große und sehr einschüchternde Klassenlehrerin aus der Grundschule.

Wenn es ihm nur gelang, diese Illusion aufrechtzuerhalten, würde er sich nicht hinunterbeugen und Madeline küssen, ihre Ohrläppchen liebkosen und mit den Händen durch ihr wunderbares Haar fahren und dafür sorgen, dass sie ihren Verlobten vergaß.

Denn das durfte er nicht. Sie war nicht zu haben. Zumindest nicht für ihn.

Als Madeline aufwachte, war es kurz vor fünf. Sie war verwirrt und schaute sich blinzelnd im Zimmer um.

Ihr Blick fiel auf Marcus, der auf einem Stuhl in der Ecke saß und in ein Buch vertieft war. Jetzt sah er zu ihr auf.

„Marcus?“ Für einen Augenblick konnte sie sich seine Anwesenheit nicht erklären. Ihre Migräne war zwar verschwunden, aber ihr Kopf war immer noch nicht ganz klar, und sie verspürte eine tiefe Erschöpfung.

„Hallo, Maddy. Geht es Ihnen besser?“

Seine provozierend gute Laune brachte ihr alles wieder in Erinnerung: die Massage und ihre Reaktion darauf. „Danke, alles in Ordnung“, sagte sie kurz angebunden. „Sie müssen nicht mehr bleiben.“

Sie wollte aufstehen, als ihr einfiel, dass sie nur ihr Höschen trug, und tiefe Röte stieg ihr ins Gesicht. Die intime Nähe, die zwischen ihnen geherrscht hatte, war ihr unendlich peinlich.

„Oh, ich habe meine Pflicht erfüllt, jetzt darf ich gehen, richtig?“ Spöttisch hob er eine Augenbraue und schaute Madeline fragend an.

Jetzt stellte er sie wieder als undankbares Biest dar, es war zum Verrücktwerden! „Das war wirklich sehr nett von Ihnen.“ Sie bemühte sich, gelassen zu klingen. „Aber ich brauche Ihre Hilfe nicht mehr.“

Die Tatsache, dass Marcus vollständig angekleidet war, während sie praktisch nackt unter ihren seidenen Laken lag, machte die Sache nicht besser. Und er war in ihrem Schlafzimmer, nur zwei Meter von ihr entfernt.

„Ich lasse Sie erst allein, wenn ich sicher bin, dass Sie okay sind. Stehen Sie auf, duschen Sie, ich werde uns inzwischen etwas zu essen machen.“

„Ich habe keinen Hunger“, entgegnete Madeline automatisch, obwohl sie in Wirklichkeit am Verhungern war.

„Sie sollten aber etwas essen“, sagte er energisch und ging zur Tür. „Und ich finde, Sie sind mir zumindest eine kleine Mahlzeit schuldig.“

Damit hatte er nicht ganz unrecht. Statt zu den touristischen Sehenswürdigkeiten der Stadt geführt zu werden, hatte er den ganzen Nachmittag damit verbracht, ihre Migräne zu behandeln.

Als Madeline eine Viertelstunde später in der Küche erschien, musste Marcus ein Grinsen unterdrücken. Sie trug eine unförmige Jogginghose, ein weites Sweatshirt und pinkfarbene Hausschuhe, ihr Haar war zu einem festen Knoten zusammengedreht.

Aber es war zu spät, Marcus wusste, dass sich unter dieser dicken Stoffschicht ein umwerfender Körper verbarg. Und Madeline würde auch noch sexy aussehen, wenn sie nur in einem Jutesack steckte.

„Für Jogging sind Sie aber vielleicht doch noch nicht fit genug“, sagte er grinsend.

Madeline ignorierte ihn. Angezogen fühlte sie sich schon wesentlich sicherer. „Hm, das riecht lecker.“

„Omelett“, sagte er. „Und es ist gerade fertig.“

Marcus hatte sich in ihrer Küche offenbar schnell zurechtgefunden. Der Tisch war gedeckt, und er stellte einen großen Teller mit Omelett und gebuttertem Toastbrot an jeden Platz. Sie aßen schweigend, und Madeline genoss jeden Bissen.

Marcus schob seinen leeren Teller zur Seite, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Als sie spürte, wie er sie beobachtete, hielt Madeline inne.

Sein Blick verunsicherte sie erneut, ihr Herz schlug schneller, und die Hand, in der sie die Gabel hielt, zitterte leicht.

„Was ist?“

„Nichts. Ich schaue Sie nur an.“

Madeline aß weiter, aber es fiel ihr schwer. „Ist das unbedingt nötig?“

Er lachte leise auf und verließ den Tisch. Madeline war erleichtert, aber das Gefühl währte nicht lang.

Marcus stand vor den Fotos in ihrem Wohnzimmer. „Ist das der Mann zu dem Diamantring?“

Fast hätte sie ihm gesagt, dass sie nicht mehr verlobt war, aber vielleicht war es besser, Marcus in dem Glauben zu lassen, sie sei vergeben. „Ja, das ist Simon, mein Verlobter“, sagte sie.

Marcus musterte das Bild nachdenklich. „Und wieso ist der Kerl dann nicht hier und kümmert sich um Sie?“

„Er ist Stationsarzt in der Chirurgie und hat sehr viel zu tun.“ Sie zuckte die Achseln. „Es ist nicht einfach, unsere Arbeitszeiten aufeinander abzustimmen.“

„Aber manche Dinge sind wichtiger als Arbeit.“

„Ich bin kein Kind, ich kann mich um mich selbst kümmern.“ Madeline konnte nicht fassen, dass Marcus sie dazu brachte, einen Mann zu verteidigen, der sie verlassen hatte!

Er schüttelte den Kopf und war einmal mehr dankbar dafür, dass er sich nicht auf die Klinikarbeit spezialisiert hatte. Was für ein Idiot dieser Mann sein musste! Wer würde eine Frau wie Maddy für seine Arbeit vernachlässigen?

„Was ist?“, fragte sie, als sie seine missbilligende Miene bemerkte. Nicht genug damit, dass er sich in ihrem Schlafzimmer und in ihrer Küche wie zu Hause fühlte, jetzt kritisierte er auch noch ihr Leben.

„Oh, nichts.“ Marcus stellte das Bild wieder an seinen Platz.

„Nun sagen Sie schon.“

„Hören Sie, ich kenne ihn ja nicht, und er ist sicher ein toller Arzt … aber auch ein ziemlicher Idiot.“

„Wie bitte? Simon hat sein Examen mit Auszeichnung bestanden, er ist ganz sicher kein Idiot.“

Am liebsten hätte Marcus sie geschüttelt, weil sie so töricht war. „Oh, ich glaube sofort, dass er ein toller Arzt ist, aber wenn er Sie einfach allein lässt, kann er nicht besonders schlau sein.“ Warum ließ eine Frau wie Maddy sich so ein Verhalten nur gefallen?

Sein Blick wanderte weiter. „Sind das Ihre Eltern?“ Er zeigte auf ein anderes Bild, und Madeline nickte. „Tut mir sehr leid, George hat mir erzählt, dass sie beide tot sind.“

Die Anteilnahme in seiner Stimme klang aufrichtig, und Madeline spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

„Und wer ist das hier?“, fragte Marcus.

Madeline schaute auf. Er hielt einen kleinen Silberrahmen in der Hand mit einem Bild von ihr und Abby. Es war ihr Lieblingsfoto und kurz vor Abbys Tod entstanden.

Die Trauer war auf einmal ganz nah. „Das ist meine Schwester.“

Oh. George hatte keine Schwester erwähnt, und die beiden sahen sich auch nicht ähnlich. Die Schwester schien jünger zu sein, sie war klein und blond. „Lebt sie hier in Brisbane?“

„Nicht mehr. Sie ist tot“, erwiderte Madeline mit beherrschter Stimme und stand auf, um das Foto zu nehmen.

Er fühlte sich, als hätte sie ihm soeben einen K.-o.-Schlag versetzt. Als er tröstend eine Hand auf ihre Schulter legen wollte, trat sie sofort einen Schritt zurück.

„Wie lange ist das her?“

„Fünf Jahre.“

Daher also die Kopfschmerzen. Marcus vermutete, dass sie unter der Migräne leiden würde, solange es ihr nicht gelang, die Trauer wirklich zu bewältigen. „Was ist passiert?“

„Einer Ihrer Kollegen hat sie umgebracht.“

Sie sprach ganz ruhig, aber ihre Worte schockierten ihn zutiefst. Versonnen schaute Madeline auf das Bild ihrer Schwester, und Marcus wusste, dass ihn eine grauenvolle Geschichte über einen gewissenlosen Scharlatan erwartete, der eine junge Frau auf dem Gewissen hatte.

„Lassen Sie mich raten. Ein Schlangenöl-Verkäufer aus Chinatown, eine Voodoopriesterin?“ Er wusste, dass sich in seiner Branche jede Menge inkompetenter Betrüger herumtrieben.

„Ein Geistheiler.“

„Oh, Maddy“, murmelte er und hätte sie am liebsten sofort in seine Arme genommen und getröstet. Aber ihre Körperhaltung zeigte deutlich, dass sie darauf nicht den geringsten Wert legte. „Das sind keine Naturheilkundler, das sind …“

„Gauner, Quacksalber?“ Plötzlich verspürte sie das gleiche Gefühl der Hilflosigkeit und Panik wie damals, als ihre todkranke Schwester vor ihrer Tür gestanden hatte. Es war zu spät gewesen, um ihr zu helfen. Sie hatte nur noch zusehen können, wie sie starb.

Nun verstand er ihre Reaktion, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. „Ich bin nicht für die gesamte Naturheilkunde verantwortlich, Maddy. Und Sie wissen, dass es auch in der Schulmedizin viele unfähige Ärzte gibt.“

Sie hielt ihm abwehrend eine Hand entgegen. „Sparen Sie sich das.“

„Maddy, ich …“

„Ich weiß, dass ich am Anfang sehr unfreundlich zu Ihnen war, und Sie haben recht – es gibt überall inkompetente Leute. Nicht zu vergessen, dass es Ihnen gelungen ist, meine Migräne wegzumassieren, wofür ich Ihnen wirklich dankbar bin. Aber ich bin Ärztin, ich muss Beweise sehen, wissenschaftliche Studien und Testreihen, bevor ich an die Wirksamkeit mancher Dinge glaube.“

„Ich gebe zu, dass es damit in meinem Feld nicht sehr weit her ist. Aber Sie können sicher sein, dass ich nicht leichtfertig irgendwelche Heilmethoden einsetze. Für alles, was ich verwende, gibt es eine wissenschaftliche Basis, die ich Ihnen gerne erläutere. Sie müssen nur fragen.“

„Oh, das werde ich. Ganz bestimmt.“ Er sah, wie ein kleines Lächeln in ihrem Mundwinkel zuckte. Dann aber gähnte sie, und Marcus wurde klar, dass sie völlig erledigt sein musste. Eine Migräne raubte dem Patienten viel Energie.

„Ich werde Sie jetzt endlich allein lassen, damit Sie sich ausruhen können“, sagte er und stellte sich sofort vor, wie er neben ihr in ihrem zerwühlten Bett lag.

Madeline nickte nur und hoffte inständig, dass er nicht erraten würde, was ihr bei seinen Worten durch den Kopf ging.

„Hier.“ Er reichte ihr eine kleine Dose.

„Was ist das?“, fragte sie, ohne danach zu greifen.

Er griff nach ihrer Hand und legte die Dose hinein. „Mutterkrautblätter“, sagte er. „Ich habe verstanden, dass Sie sehr skeptisch sind und dafür berechtigte Gründe haben, aber wenn Sie regelmäßig einen Aufguss aus den Blättern zubereiten und trinken, ist das eine sehr gute Migränevorbeugung.“

Madeline starrte auf die kleine Dose und schaute erst wieder auf, als Marcus schon die Tür öffnete. Sie schraubte den Deckel ab und schnupperte an dem Inhalt. Es roch sehr angenehm. Ein Versuch würde sicher nicht schaden.

Das beste Mittel gegen ihre Kopfschmerzen allerdings wäre es, wenn sie Marcus nie wiedersehen müsste.

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen wachte Madeline frisch und erholt auf. Die üblichen Nachwirkungen der Migräne waren dieses Mal überhaupt nicht zu spüren, und sie wusste, dass sie das Marcus’ magischen Händen zu verdanken hatte.

Seine Berührungen waren allerdings auch für die erotischen Träume verantwortlich, die sie in der Nacht gehabt hatte. Nur mit Mühe fand sie den Weg aus dem Bett.

Glücklicherweise war ihr erster Arbeitstag bereits mit vielen Terminen verplant, sodass ihr wenig Zeit bleiben würde, darüber nachzudenken, wie sie mit ihren plötzlich erwachten Sehnsüchten umgehen würde.

Sie hatte einige Stammpatienten auf der Liste, die sich freuten, Madeline wiederzusehen. Eine enge Bindung zu langjährigen Patienten war einer der wichtigsten Faktoren für eine gute Allgemeinärztin.

So verschrieb sie die üblichen Medikamente, beschäftigte sich mit entzündeten Hälsen und fiebrigen Kleinkindern, stellte Überweisungen aus und nahm Impfungen vor.

Seit Madeline in die Praxis eingetreten war, hatte sie versucht, mit besonderen Angeboten mehr weibliche Patienten anzuziehen, und ihre Bemühungen trugen inzwischen Früchte. Viele Frauen ließen sich lieber von einer Ärztin untersuchen und hatten Vertrauen zu Madeline gefasst.

Einer der Gründe, warum sie an der Fortbildung in England teilgenommen hatte, war ihr langfristiger Plan, eine Abteilung für Frauenheilkunde in die Praxis zu integrieren. In Großbritannien hatte sie sich über einige erfolgreiche Konzepte informiert. Zum Glück standen ihre alteingesessenen Partner Madelines Plänen positiv gegenüber, aber sie wollte sich die Anerkennung durch harte Arbeit verdienen.

Ihr Wunschtraum war es, die Praxis, die ihrem Vater so viel bedeutet hatte, noch besser zu gestalten und auszubauen.

Um drei Uhr betrat Constance Fullbright ihr Sprechzimmer. Madeline hatte diesem Termin mit Unbehagen entgegengesehen. Die fünfzigjährige Connie war eine reizende Frau, aber eine hoffnungslose Hypochonderin. Sie war über zwanzig Jahre lang Andrews Patientin gewesen und hatte dann entschieden, dass sie bei einer Ärztin besser aufgehoben war.

„Hallo, Connie“, sagte Madeline.

„Oh, Dr. Harrington! Ich bin so froh, dass Sie wieder da sind. Das waren die längsten sechs Wochen meines Lebens! Sie dürfen nie wieder so lange wegfahren.“

Madeline lächelte. „Aber ab und zu müssen Sie mir auch Urlaub gönnen.“

„Ja, natürlich.“ Connie ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. „Aber wissen Sie, ich habe mich jetzt so an Sie gewöhnt, mit Andrew … ich meine, Dr. Baxter, wäre es nicht mehr dasselbe.“

„Das ist nett von Ihnen. Was kann ich denn heute für Sie tun?“ Madeline wusste aus Erfahrung, dass für Patientinnen wie Connie die Unterhaltung mindestens ebenso wichtig war wie medizinische Untersuchungen.

Während Connie ihre aktuellen Symptome von dauernder Müdigkeit beschrieb, machte Madeline sich Notizen in der umfangreichen Krankenakte. Sie hatte Connie Fullbright in den vergangenen zwei Jahren auf alle möglichen Dinge untersucht und behandelt, von Schlaflosigkeit, Regelbeschwerden und Gelenkschmerzen bis zu Fieber und Vergesslichkeit. Bisher war nie etwas anderes dabei herausgekommen als die Diagnose einer einsetzenden Menopause. Übergewicht und fehlende Bewegung trugen sicher auch ihren Teil zum Befinden der Patientin bei.

Connie wünschte sich eine Tablette, die sie einnehmen und die all ihre Beschwerden beseitigen würde. Leider konnte die Schulmedizin ihr da nur eine begrenzte Hilfe anbieten, sie selbst musste auch etwas tun.

„Ich habe schon überlegt, ob ich es vielleicht einmal mit Naturheilkunde probieren sollte“, sagte Connie. „Was meinen Sie dazu?“

Madeline wollte gerade zu ihrem Standardvortrag zu diesem Thema ansetzen, bei dem sie Patienten nicht rundweg abriet, sie aber auch nicht gerade ermunterte. Dann jedoch kam ihr eine Idee … sie hatte zwar gesagt, sie würde auf keinen Fall Patienten an Marcus überweisen, aber warum eigentlich nicht?

Wenn es Marcus gelang, Connie zu behandeln, dann würde sie ihre Vorbehalte der alternativen Medizin gegenüber neu überdenken. Eine Massage gegen Migräne war eine Sache, aber das bunte Symptomspektrum von Mrs. Fullbright etwas ganz anderes.

„Connie“, Madeline unterbrach ihre Patientin, die bereits weitergeredet hatte, „wie wäre es, wenn ich Sie an den neuen Homöopathen überweise, der morgen seine Praxis in unserem Haus eröffnet?“

„Oh, würden Sie das tun? Das wäre wunderbar.“

„Ich werde gleich mit ihm sprechen, Veronica kann Sie dann anrufen und Ihnen den Termin mitteilen.“ Sie füllte die Überweisung aus und musste dabei versonnen lächeln. Wenn Marcus wüsste, was sie ihm da aufhalste …

Marcus war gerade dabei, die Tür zur Praxis abzuschließen, als er Madeline mit ihrer Aktentasche in der Hand sah. Sie winkte ihm kurz zu und ging dann die Treppe hinunter. Schnell lief er ihr hinterher und bewunderte dabei den engen Sitz ihres adretten dunkelblauen Nadelstreifenkostüms. Ihre roten Haare waren heute zu einem strengen Knoten zusammengebunden, und ihre Hüften wippten verführerisch.

„Wer ist das, Onkel Marcus?“

Marcus zuckte beim Klang der Kinderstimme zusammen. Er hatte Connor vorhin von der Schule abgeholt, da Nell erst um sechs Uhr mit der Arbeit fertig war. Marcus hatte mit seinem Neffen Hausarbeiten gemacht, danach hatte Connor ihm beim Auspacken der Umzugskisten geholfen, und jetzt waren sie auf dem Weg in den Park.

„Sie heißt Maddy. Sie ist Ärztin und arbeitet auch hier im Haus.“

„Ist sie deine Freundin?“

Marcus lachte. Davon konnte er allenfalls träumen. „Nein. Wie kommst du darauf?“

Connor zuckte die Achseln. „Weiß nicht, du hast so komisch geguckt. Und sie ist sehr hübsch.“

Ernst nickte Marcus seinem Neffen zu. „Da hast du recht.“

„Kann ich auf dem Weg zu Park schon skaten?“ Connor warf das Skateboard auf den Boden und hatte Madeline schon wieder vergessen.

„Okay, aber nicht zu schnell – und bleib in meiner Nähe. Wenn du dir den Arm brichst, wird deine Mutter mich umbringen.“

Connor lachte, setzte sich den Helm auf und legte seine Schutzpolster an.

Madeline hörte das herannahende Skateboard hinter sich und wappnete sich innerlich bereits für eine weitere Begegnung mit Marcus. Wie konnte ein erwachsener Mann auf dem Gehweg mit dem Skateboard fahren, als wäre er ein kleiner Junge?

Aber als das Skateboard an ihr vorbeirauschte, sah sie, dass der Skater tatsächlich ein kleiner Junge war. Er grinste ihr zu, und sie erkannte sofort, dass dies Marcus’ Neffe sein musste.

Gleich darauf ertönte eine klangvolle Stimme hinter ihr. „Und, wie geht es Ihnen heute, Maddy?“

„Gut, danke“, sagte sie, ohne stehen zu bleiben oder Marcus anzusehen.

„Darf ich Sie ein Stück begleiten?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich kann Sie wohl kaum davon abhalten, das ist ein öffentlicher Weg.“ Ihre Worte kamen ihr selbst außerordentlich unhöflich vor, daher fragte sie: „Ist das Ihr Neffe?“

„Genau.“ Marcus nickte. „He, Connor. Komm her, und sag Maddy Guten Tag.“

Connor brachte das Skateboard vor ihnen zum Stehen. „Hallo“, sagte er.

„Connor, das ist Maddy.“

„Hi“, sagte Madeline und verkniff sich einen Kommentar zu Marcus’ beharrlicher Verwendung ihres Kosenamens.

„Das ist ein schöner Name.“ Connor grinste, und sie konnte sich sehr genau vorstellen, wie Marcus wohl mit sechs Jahren ausgesehen hatte.

„Eigentlich heiße ich Madeline“, erläuterte sie.

„Aber Maddy ist viel schöner“, beharrte der kleine Junge, während Marcus in sich hinein grinste.

„Bringt dein Onkel dir das Skateboardfahren bei?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

„Nö, das kann ich schon längst. Aber er zeigt mir ein paar Tricks. Ups.“ Connor hielt sich die Hand vor den Mund und schielte besorgt zu Marcus. „Das durfte ich nicht verraten.“

„Schon gut, ich werde es nicht weitererzählen“, beruhigte Madeline ihn lächelnd.

Connor stieg wieder auf sein Board, und Madeline wandte sich an Marcus. „Lassen Sie mich raten, seine Mutter darf nichts davon wissen?“

Grinsend erwiderte er: „Früher oder später wird sie es ohnehin erfahren. Sie macht sich viele Sorgen um den Kleinen, das liegt bestimmt daran, dass wir beide in unserer Kindheit wenig Sicherheit erlebt haben.“

Schweigend gingen sie nebeneinander her, dann sagte Marcus: „Dann sind wir ab morgen wohl offiziell Nachbarn.“

Madeline schaute ihn an und wünschte sich sofort, sie hätte es nicht getan. Er lächelte sie an, und dieses Lächeln ließ ihr Herz sofort schneller schlagen. Dieser Mann verfügte über eine unglaubliche Ausstrahlung, und das Schlimmste war, er wusste es!

„Oh ja, ich kann’s kaum erwarten, wie Sie richtig angezogen aussehen“, sagte sie sarkastisch und musterte ihn von oben bis unten.

„Tut mir leid, Sie zu enttäuschen, aber ich sehe auch bei der Arbeit so aus“, gab Marcus zurück.

Ungläubig starrte sie ihn an. Marcus trug modisch ausgewaschene Shorts und ein gestreiftes Hemd, das weit offen stand. Schnell schaute sie ihm wieder ins Gesicht. „Sie machen Witze!“

„Na ja, meistens knöpfe ich das Hemd zu.“

„Sind Sie sicher, dass Sie in Melbourne nicht aus der Ärztekammer geflogen sind?“

Sein Lachen war wie eine Liebkosung, die Härchen auf ihren Armen richteten sich bei diesem Klang auf.

„Ich bin vielleicht etwas zu unkonventionell für Melbourne. Das war mit ein Grund, warum ich nach Brisbane gekommen bin.“

„Und der andere war Ihre Familie?“ Sie blieben an einer Ampel stehen, während Connor wie wild auf den Schalter drückte.

Marcus nickte. „Die Familie und das Wetter. Hier kann ich das ganze Jahr über surfen, ohne dass mir das Wasser zu kalt ist, wenn ich vom Brett falle.“

„Na, dann haben Sie ja wohl die richtige Entscheidung getroffen.“ Krampfhaft verdrängte Madeline die Vorstellung von Marcus in einer Badehose – und sonst nichts.

„Oh ja, das glaube ich auch.“ Er schaute sie an, und sein Blick raubte ihr für einen Augenblick den Atem.

„Lebt Ihre Ex-Frau denn noch in Melbourne?“, fragte sie etwas hektisch. „Haben Sie ein gutes Verhältnis zueinander?“

„Kommt drauf an“, entgegnete Marcus, und Madeline registrierte erleichtert, dass er nicht mehr lächelte.

„Worauf? Auf die Mondphasen?“

Jetzt erschien wieder ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht. „Ganz so schlimm ist es nicht. Aber sagen wir mal, es war gut, dass ich umgezogen bin.“ Und noch besser wäre es gewesen, wenn es nicht zu diesem letzten Treffen mit Tabitha gekommen wäre.

Neugierig musterte Madeline ihn. Marcus wirkte plötzlich verletzlich, und sie wollte ihn nicht weiter aus dem Gleichgewicht bringen.

„Aber lassen Sie sich durch meine Erfahrung nicht abschrecken“, sagte er nach einer kleinen Pause. „Nur weil die Ehe nichts für mich war, heißt das nicht, dass es auch bei Ihnen und … wie auch immer er heißt … so ist.“

„Simon“, sagte sie automatisch.

„Allerdings ist Distanz für geschiedene Paare vielleicht gut, für Verlobte dagegen …“

„Ja, schon gut. Sie haben mir gestern bereits Ihre Auffassung von meiner Beziehung erläutert“, konterte Madeline schnippisch. „Wir brauchen Ihre Ratschläge nicht.“

Marcus musste sich eingestehen, dass sie jedes Recht hatte, ihn so anzufahren. Er war wohl kaum der Richtige, um ihr und ihrem Verlobten vorzuschreiben, wie sie miteinander umgehen sollten.

Aber es war seltsam. Obwohl er Maddy erst seit so kurzer Zeit kannte, hatte er doch das Gefühl, mehr über sie erfahren zu haben als über viele andere Frauen.

Er hatte sie furchtbar wütend erlebt, unendlich traurig und voller professioneller Empörung. Und, nicht zu vergessen, krank und verletzlich, als er sie während ihrer Migräne massiert hatte.

Irgendwie war ihm diese Frau unter die Haut gegangen. Der Gedanke, dass ihr Verlobter nicht gut genug für sie sein könnte, war ihm zuwider, und obwohl es all seinen Prinzipien widersprach, wusste er, dass er sie selbst wollte. Verliebt in eine Frau, die vergeben war – das war genau das, was er jetzt brauchte.

Auch Madeline wurde von Selbstvorwürfen gequält. Es war nicht richtig, dass sie so tat, als wäre zwischen ihr und Simon alles in Ordnung, und damit Marcus auch noch an seine eigene gescheiterte Ehe erinnerte. Sie berührte seinen Arm. „Ich bin sicher, irgendwo gibt es die Richtige für Sie.“

„Um Himmels willen, ich hoffe nicht!“, platzte er heraus.

Oje, er hatte die Trennung von seiner Ex-Frau offensichtlich noch nicht verwunden. „Sie sollten sich nicht von einer schlechten Erfahrung abschrecken lassen, sondern …“

„Doch, das sollte ich“, unterbrach er sie und hob abwehrend die Hände. „Wirklich, Maddy, es ist in Ordnung. Ich mag mein Leben. Ich habe Dates, ich habe Spaß. Keine Verpflichtungen, keine Versprechen. Alles ist perfekt.“

Es klang grauenvoll, aber wenigstens wusste sie jetzt, woran sie mit ihm war. Auch wenn er dieses Kribbeln bei ihr auslöste, Marcus Hunt war definitiv nicht der Richtige für sie. Nicht in hundert Jahren!

„Ach so, das ist perfekt? Unverbindlicher Sex und sonst nichts?“ Angewidert schüttelte sie den Kopf. „Ich könnte niemals mit einem Mann wie Ihnen zusammen sein. Was ist mit Liebe, mit Vertrauen?“

„Habe ich ausprobiert, vielen Dank. Mein Anwalt war teuer genug.“

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu und bemerkte das spöttische Grinsen. „Ich finde das gar nicht witzig.“

„Tut mir leid.“ Er unterdrückte das Grinsen. „Ich bin bei diesem Thema einfach vorbelastet. Meine Mutter hat drei Scheidungen hinter sich, mein Vater zwei und ich eine. Zwei meiner Schwestern sind geschieden, und die andere ist alleinerziehende Mutter. Das muss in der Familie liegen. Aber ich bin sicher, Sie und Simon werden bis an Ihr Lebensende miteinander glücklich sein.“

Warum klangen diese Worte so spöttisch und abwertend? Wie konnte er es wagen, so über ihre Beziehung … nun ja, Exbeziehung … zu reden?

Sie blieb stehen, trat an den Straßenrand und sah sich suchend um.

„Was haben Sie vor?“, fragte Marcus.

„Ich habe genug von dieser Unterhaltung.“ Sie lächelte übertrieben freundlich. „Deswegen nehme ich mir jetzt ein Taxi.“ Sie hob die Hand und winkte einem vorbeifahrenden Taxi zu, das gleich darauf wendete.

„Oh, das ist aber ein sehr erwachsener Umgang mit Kritik“, spottete Marcus.

Sie würdigte ihn keines Blickes mehr. „Wie Sie meinen.“

Als sie die Tür des Taxis öffnete, winkte Madeline Connor zum Abschied zu und rief dann über die Schulter: „Ach, bevor ich’s vergesse. Ich habe gleich morgen eine Patientin für Sie. Passt das in Ihren Kalender?“

„Warum habe ich bloß das Gefühl, dass das ein schwieriger Fall ist?“, gab er zurück.

„Wahrscheinlich sind Sie doch übersinnlich begabt.“ Sie schloss die Tür hinter sich.

„Ist sie sauer auf dich, Onkel Marcus?“ Connor kam auf dem Skateboard neben ihm zum Stehen.

„Ich fürchte schon …“

„Dann wird sie nie deine Freundin. Du musst netter zu ihr sein.“

Wunderbar. Beziehungsratschläge von einem Sechsjährigen. Marcus lächelte Connor zu und schaute dann dem Taxi hinterher.

Zwei Dinge waren ihm jetzt völlig klar: Er würde die Herausforderung annehmen, und Madeline Harrington – Verlobungsring hin oder her – war einfach umwerfend.

5. KAPITEL

Nur noch eine halbe Stunde, bis er seine erste Patientin in der funkelnagelneuen Praxis begrüßen würde. Marcus öffnete noch einmal alle Fenster, damit auch die letzte Spur von Farbgeruch verschwand, und stellte ein Gefäß mit Duftstäbchen auf die Empfangstheke.

Zufrieden sah er sich in den Räumen um. Alles wirkte angenehm hell und einladend, durch die Fenster drang viel Licht hinein, und an zwei Wänden hing eine Fotoserie mit Bildern aus dem Regenwald.

An der Wand hinter seinem Schreibtisch hatte Marcus seine gerahmten Zeugnisse und Qualifikationen aufgehängt, denn er hatte die Erfahrung gemacht, dass dieser Anblick seinen Patienten sehr wichtig war.

Die vierte Wand wurde von mehreren großen Tafeln eingenommen, die unter anderem Fußreflexzonen und die Chakren des Menschen zeigten. Auch Schulmediziner, die die Homöopathie unterstützten, hegten der Chakrenlehre gegenüber Misstrauen, und Marcus selbst war nur zu bewusst, dass in der westlichen Medizin dafür kein Platz war. Aber Krankheiten hatten meist vielfältige Ursachen, daher mussten sie auch auf vielfältige Weise behandelt werden.

Marcus öffnete die Tür zum Nachbarraum, wo er seine Massageausrüstung aufgestellt hatte. Der Tisch stand in der Mitte, an der Wand befand sich ein altmodischer Schrank, in dem er Handtücher, ätherische Öle und andere Dinge aufbewahrte.

Es sah alles genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Seine frühere Praxis in Melbourne hatte er von einem Kollegen übernommen, und die Bedingungen des Mietvertrags hatten ihm größere Renovierungen verboten.

Aber seinen neuen Räumen hatte er wirklich eine persönliche Note verleihen können, und alles war Handarbeit. Zunächst würde er ohne Sprechstundenhilfe auskommen, was nicht problematisch war, da er vermutlich nie mehr als zehn Patienten pro Tag haben würde. Diesen Verwaltungsaufwand konnte er allein bewältigen.

Er warf noch einen Blick in das Wartezimmer, das mit bequemen Ledersesseln eingerichtet war, die er günstig erstanden hatte. In der Ecke stand eine Holzkiste mit Spielsachen, und der Zeitschriftenständer enthielt neben den üblichen Magazinen mehrere Infoblätter über Naturheilmethoden.

Als er gerade eine CD einlegte, öffnete sich die Tür, und Connie trat ein.

„Ah, meine erste Patientin. Guten Morgen, Mrs. Fullbright, und herzlich willkommen.“ Mit diesen Worten überreichte er ihr einen bunten Blumenstrauß.

„Aber …“ Connie errötete. „Wofür denn das?“

„Nun ja, Sie sind die erste Patientin in meiner neuen Praxis.“ Marcus schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Das ist ein Anlass für Blumen.“

„Ich weiß nicht, Dr. Hunt“, sagte sie verlegen. „Vielleicht sind Sie da etwas voreilig. Ich fürchte, ich bin kein einfacher Fall.“

Die Freude, die die Blumen bei Connie ausgelöst hatten, war schon wieder verschwunden, und sie sah ihn besorgt an.

„Das hoffe ich.“ Marcus lächelte weiter. „Einfache Fälle sind langweilig. Kommen Sie bitte mit.“ Er wies ihr den Weg in sein Sprechzimmer.

„Darf ich Sie Connie nennen?“, fragte er, als sie beide Platz genommen hatten. „Dann erzählen Sie mir doch bitte, was das Problem ist, Connie.“

„Ich bin einfach dauernd so müde, wissen Sie. Manchmal weiß ich nicht, wie ich morgens aus dem Bett finden soll. Wenn ich nicht dafür sorgen müsste, dass die Kinder zur Schule kommen, dann würde ich vermutlich einfach weiterschlafen.“

Marcus nickte. „Und wie lange geht das schon so?“

„Oh, ich weiß nicht genau, es kommt mir so vor, als wäre es schon ewig.“ Connie zögerte. „Dr. Harrington meint, es wären nur die Wechseljahre … vielleicht hat sie recht. Ich will Ihnen auch nicht die Zeit stehlen.“

„Unsinn“, erwiderte Marcus. „Wir sollten der Sache auf den Grund gehen. Warum fangen wir nicht am Anfang an. Erzählen Sie mir von sich.“

„A…aber was wollen Sie denn wissen?“

„Alles.“ Marcus lächelte bei ihrer verblüfften Miene. Viele Patienten hatten am Anfang Schwierigkeiten mit dieser Art der Untersuchung. „Wirklich, ich meine es ernst. Fangen Sie mit Ihrer Kindheit an.“

Der sanfte Klang seiner Stimme trieb Connie die Tränen in die Augen, und es dauerte noch eine Weile, bis sie wirklich in der Lage war, Marcus ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Ein solches erstes Gespräch konnte ohne Weiteres zwei Stunden dauern, während Sprechstunden bei Schulmedizinern oft nach zehn Minuten vorbei waren. Marcus jedoch wollte nicht nur Symptome behandeln, sondern den ganzen Menschen. Und dafür brauchte er ihre ganze Geschichte.

Genau das war es, was er an seiner Arbeit liebte. Wenn er jemandem wie Connie gegenübersaß, ging es darum, herauszufinden, wo in all diesen Informationen der Schlüssel zu ihren Problemen verborgen war.

Während sie sprach, machte er sich Notizen und bekam langsam eine bessere Vorstellung von Connie. Sie erzählte von ihrer Müdigkeit und ihren Depressionen, von den Gelenkschmerzen und ihrem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Die Beziehung zu ihrem Mann war angespannt, er war ihr keine große Hilfe und hatte wenig Geduld mit ihren Problemen.

Marcus hatte den Verdacht, dass Connie am chronischen Erschöpfungssyndrom litt, aber bisher hatte sie keine Virusinfektion erwähnt. „Sagen Sie, Connie, haben Sie jemals an einer schweren Infektion gelitten? Drüsenfieber vielleicht oder etwas Ähnliches?“

Entschieden schüttelte Connie den Kopf. „Nein, so etwas hatte ich nie. Nur Erkältungen.“

Kurz darauf berichtete sie ihm von dem Floristikkurs, den sie vor ein paar Jahren besucht hatte. „Nach einem Monat musste ich wieder aufhören, dabei hatte ich mich so darauf gefreut. Aber ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren, es war so, als würde mein Kopf die ganze Zeit brummen.“

Marcus notierte etwas auf seinem Block. „Waren Sie zu dieser Zeit krank?“

Kurz dachte Connie nach. „Ja, ich glaube, ich hatte eine kleine Grippe.“

„Tatsächlich?“ Er sah auf. Eine echte Grippe war eine Viruserkrankung, und eine solche konnte das chronische Erschöpfungssyndrom auslösen. Oft wurden Virusinfektionen jedoch gar nicht als solche erkannt.

„Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, damals ging es mir wirklich sehr schlecht“, sagte Connie. „Ich hatte drei Tage lang hohes Fieber und Schüttelfrost, und so richtig bin ich danach nicht mehr auf die Beine gekommen. Meinen Sie, das hat etwas zu bedeuten?“

„Ich denke schon.“ Zufrieden legte Marcus den Stift zur Seite. Es war eine mühsame Aufgabe, aber die ausführlichen Gespräche lohnten sich.

„Wissen Sie, was mit mir nicht stimmt?“

„Alles, was Sie beschreiben, deutet auf das chronische Erschöpfungssyndrom hin.“

Entsetzt starrte Connie ihn an. „Heißt das, es wird immer so bleiben?“

„Nein, ganz und gar nicht“, beruhigte Marcus sie sofort. „Wir können es behandeln. CFS – so lautet die Abkürzung – wird vermutlich durch Virusinfektionen mit ausgelöst, da dann das Immunsystem extrem geschwächt ist. Die Wechseljahre könnten in Ihrem Fall auch eine Rolle spielen, aber ich denke, ich kann Ihnen helfen.“

„Wirklich?“ Hoffnung leuchtete in Connies Augen auf.

Marcus drehte seinen Stuhl um und begann in den Schubladen mit seinen Homöopathiemitteln zu suchen. Er würde ihr etwas geben, um die ursprünglichen Grippesymptome zu bekämpfen, und dann ihr Immunsystem stärken. Ausführlich erklärte er die Wirkungsweise der homöopathischen Mittel und legte Connie zudem eine Ernährungsumstellung und mehr Bewegung ans Herz, damit sie die Menopause besser verkraftete.

Er bereitete zwei braune Apothekerfläschchen mit einer alkoholischen Lösung und den homöopathischen Wirkstoffen vor, beklebte sie mit Etiketten, auf denen der Name des Mittels und Hinweise zur Einnahme standen.

„Es ist möglich, dass sich zunächst einige Grippesymptome wieder bemerkbar machen“, erläuterte er, als er Connie die Flaschen reichte. „Wir machen einen Termin für nächste Woche aus, um zu prüfen, ob Sie sich schon besser fühlen.“

„Oh, vielen Dank, Dr. Hunt.“ Dankbar sah Connie ihn an. „Ich fühle mich jetzt schon besser, da ich weiß, dass ich mir das alles nicht einbilde.“

Marcus lachte. „Ich mache nur meine Arbeit.“

Er begleitete sie zur Tür, um sich zu verabschieden, und sah, dass ein Rettungswagen vor dem Haus hielt. Gleich darauf kam Maddy in Begleitung von zwei Sanitätern, die einen älteren Mann auf einer Trage transportierten, hinaus.

Langsam schlenderte Marcus zu ihr. „Guten Morgen, Maddy“, sagte er.

„Marcus.“ Madeline nickte ihm kurz zu und versuchte, sich selbst daran zu erinnern, dass er ein Arztkollege war, auch wenn er aussah, als wäre er auf dem Weg zum Surfen.

„Ich hatte gerade das Vergnügen, Connie Fullbright kennenzulernen.“

„Ah.“ Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ein interessanter Fall, nicht wahr?“

„CFS“, sagte Marcus und genoss ihre ungläubige Miene.

„Und haben Sie ihr schon einen Zaubertrank gemischt?“ Schnell hatte Madeline die Fassung wiedergewonnen.

„Aber sicher. Sie werden ja sehen, wie er wirkt.“ Mit einem kleinen Lachen drehte Marcus sich um und ging zurück in seine Praxis.

Am folgenden Nachmittag war Madeline gerade damit beschäftigt, einige Krankenakten durchzusehen, als es an ihrer Tür klopfte.

„Herein“, rief sie, ohne aufzusehen. Heute Nachmittag hatte sie keine Sprechstunde, es konnte eigentlich nur Veronica sein.

„Hallo, Madeline.“

Beinahe hätte sie den Stift fallen gelassen, so sehr hatte Simons Stimme sie erschreckt.

„Simon.“ Sie starrte ihn an. Auch er schien sich etwas unbehaglich zu fühlen, und Madeline wartete darauf, dass sie sich über seine Anwesenheit freute. Darüber, dass sie ihn wiedersah, dass er vielleicht zu ihr zurückgekommen war. Aber sie fühlte nichts.

„Können wir uns unterhalten?“, fragte er.

Sie nickte nur.

Er ließ sich auf den Stuhl fallen und spielte nervös mit seiner Krawatte. Dann räusperte er sich. „Ich habe einen Fehler gemacht. Ich liebe dich, Madeline. Ich möchte, dass wir es noch einmal versuchen.“

Unwillkürlich hielt Madeline den Atem an. Das war der Augenblick, auf den sie gewartet hatte, seit er sie vor zwei Monaten verlassen hatte. Das war der Grund, warum sie noch immer seinen Ring trug. Aber jetzt, wo der Moment endlich da war, wusste sie mit absoluter Klarheit, dass sie nicht wieder mit Simon zusammen sein wollte.

Sie hatte keine Gefühle mehr für ihn, und vielleicht war das schon seit langer Zeit so. Simon war ein guter Freund, und das würde er immer bleiben, aber da gab es kein Kribbeln, kein Herzklopfen. Wenn Marcus ihr jetzt gegenübersitzen würde, würde sie etwas völlig anderes empfinden.

„Warum?“, fragte sie schließlich.

„Es war dumm von mir. Ich dachte, ich brauche etwas Abstand, um wirklich zu schätzen, was unsere Beziehung bedeutet. Wir … wir lieben uns doch.“

Nein. Das taten sie nicht, und es war ihr gerade erst klar geworden. „Nein, Simon. Das stimmt nicht“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Wir sind nur lange zusammen gewesen. Wir mögen uns, wir sind Freunde, aber wir haben uns vor allem aneinander gewöhnt. Das ist nicht das Gleiche wie Liebe.“

„Aber du trägst noch deinen Ring.“ Simon streckte die Hand aus und strich über ihren Ringfinger.

„Weil ich selbst bis eben daran geglaubt habe, dass wir wieder zusammenkommen. Ich habe darauf gewartet, aber jetzt weiß ich, dass es nicht richtig wäre. Du hast uns einen Gefallen getan, und ich glaube, tief in deinem Herzen weißt du das auch. Du hast dich vor zwei Monaten von mir getrennt, weil du auch nicht wirklich glücklich warst.“

Sie beobachtete genau, wie Simon ihre Worte aufnahm, obwohl sie selbst noch nicht richtig fassen konnte, dass sie sie wirklich ausgesprochen hatte. Nie im Leben hätte sie sich vorgestellt, dass es so zwischen ihnen enden würde und dass sie sich dabei nicht einmal schlecht fühlen würde.

Er muss ein ziemlicher Idiot sein. Marcus’ Urteil über Simon fiel ihr wieder ein, und unwillkürlich verglich sie die beiden Männer. Sie sahen sich sogar ein bisschen ähnlich, waren aber komplett verschieden! Der Skater aus dem Park hatte keine der Eigenschaften, die sie so an ihrem Verlobten schätzte. Exverlobten, um genau zu sein. Umgekehrt erschien Simon ihr blass und leblos, wenn sie ihn mit Marcus und den Gefühlen verglich, die er in ihr auslöste.

Natürlich waren das rein körperliche Reaktionen – auf seine blauen Augen, seine Grübchen, sein Lachen, seinen gut gebauten Körper und diese erotische Ausstrahlung. All das war keine Basis für eine Beziehung, aber es war sehr schwer, seine Wirkung zu ignorieren.

Simon war vermutlich in seinem ganzen Leben noch nie mit einem aufgeknöpften Hemd durch die Gegend gelaufen. Diese Überlegung führte sie zurück in die Gegenwart, wo Simon noch immer auf der anderen Seite ihres Schreibtisches saß und sie etwas verwirrt ansah.

„Hast du … hast du einen anderen Mann kennengelernt?“

Warum fühlte sie sich plötzlich schuldbewusst? „Nein“, sagte sie schnell und verdrängte den Gedanken an ihre plötzlich entdeckten sexuellen Wünsche. Aber das waren nur Wünsche, keine Taten.

„Ich würde dir keinen Vorwurf machen“, sagte Simon. „Schließlich habe ich dich verlassen. Aber ich liebe dich immer noch.“

„Ich liebe dich auch, Simon“, erwiderte sie geduldig. „Aber nicht auf die Art, wie man einen Menschen liebt, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen will. Du hast mir in schweren Zeiten beigestanden und kennst mich so gut. Doch das ist nicht genug.“

„Aber wenn wir …“

Sie seufzte auf. „Okay, dann sag mir, was du gefühlt hast, als du eben hereingekommen bist und mich gesehen hast.“

Er dachte kurz nach. „Ich habe mich zu Hause gefühlt.“

„Eben. Nach zwei Monaten Trennung fühlst du dich zu Hause? Keine Liebe, keine stürmische Leidenschaft? Du wolltest mir nicht die Kleider vom Leib reißen, du hattest nicht einmal Herzflattern?“ Wieder sah sie Marcus vor sich und stellte sich vor, wie er hinter ihren Schreibtisch trat und …

„Aber das ist doch nur Sex, Maddy. Das ist nicht wirklich wichtig.“

„Oh, doch, es ist schon wichtig, besonders wenn man es nicht empfindet.“ Sie sah ihn an. „Geht dir das nicht genauso? Hast du nicht das Gefühl, dass dir etwas fehlt? Leidenschaft, Begehren. Möchtest du nicht mit einer Frau zusammen sein, die dir die Kleider vom Leib reißen will?“

„Das klingt nicht schlecht.“ Er lächelte leicht. „Was hast du denn empfunden, als du mich eben gesehen hast?“

„Überraschung“, sagte sie. „Aber dann nichts von dem, was ich erwartet hatte. So etwas wie ‚Oh, Gott, endlich ist er wieder da’ oder ‚Wenn er mich nicht sofort küsst, sterbe ich‘. Das alles habe ich nicht gefühlt.“

Er nickte nachdenklich und erhob sich dann.

„Es tut mir leid, Simon.“ Sie schaute ihn besorgt an. „Kommst du zurecht?“

„Natürlich.“ Wieder lächelte er etwas traurig. „Ich weiß, dass du recht hast. Aber nach all diesen Jahren habe ich dich wohl einfach vermisst, ich bin daran gewöhnt, dass du da bist. Aber das ist wirklich keine Basis für eine Beziehung.“

„Ich bin ganz sicher, dass du die richtige Frau finden wirst, Simon. Du bist ein wunderbarer Mann.“

Plötzlich wurde sie von einer Flut von Gefühlen überwältigt. Es war wirklich vorbei. Zehn Jahre ihres Lebens, und nun war Schluss. Auch wenn sie wusste, dass es das Richtige war, verspürte sie Angst.

„Ich hoffe, wir können Freunde bleiben“, sagte sie aufrichtig. „Ich möchte nicht, dass du einfach so aus meinem Leben verschwindest.“

„Natürlich nicht. Das könnte ich niemals tun.“

Madeline schob den Ring von ihrem Finger und reichte ihn Simon.

Er schüttelte den Kopf. „Oh, nein. Behalte ihn bitte. Du hast ihn jetzt vier Jahre lang getragen, es ist dein Ring.“ Er breitete die Arme aus, und Madeline umarmte ihn fest. Sie war ihm dankbar für alles, was er für sie getan hatte. Aber die Berührung seiner Hände auf ihrem Rücken war einfach nur angenehm. Unter Marcus’ Berührung hatte sie angefangen zu zittern.

Als Simon schließlich ihr Sprechzimmer verlassen hatte, starrte sie ihm noch lange hinterher, den Ring in ihrer Hand fest umklammert. Zu ihrem eigenen Entsetzen fühlte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Ich werde nicht weinen“, murmelte sie. „Auf gar keinen Fall.“

Gleich darauf brach sie in Tränen aus.

6. KAPITEL

Ich sollte jetzt wirklich mit dem Heulen aufhören, ermahnte Madeline sich selbst und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Es ging jetzt schon fast eine Stunde so, und das war genug. Sie hatte das Ende ihrer Liebesbeziehung ausgiebig betrauert und sich von diesem Abschnitt ihres Lebens verabschiedet.

Sie starrte auf die von kleinen Wellen gekräuselte Wasseroberfläche. Irgendwo hinter hier erklang Jazzmusik, und Kinderlachen kam vom nahe gelegenen Strand herüber. Der Lärm eines vorbeifahrenden Schnellbootes riss sie aus ihren Gedanken.

Sie saß auf einer kleinen Mauer am Ufer des Brisbane River in South Bank. Die Strahlen der langsam untergehenden Sonne glitzerten auf dem Wasser und wurden von dem Diamantring, den sie wieder auf ihren Finger gesteckt hatte, eingefangen.

Auch wenn sie sich jetzt ausgeweint hatte – um sich wirklich zu lösen, musste sie sich auch von dem Ring trennen. Lächelnd schaute sie ins Wasser. Veronica wäre entsetzt, der Ring war so ziemlich das Einzige, was sie an Madelines Beziehung zu Simon gebilligt hatte. Sie streifte den Ring vom Finger, schloss ihn in ihre Faust und holte aus. Plötzlich jedoch wurde ihr Arm festgehalten, woraufhin sie vor Schreck fast von der Mauer gefallen wäre.

„Was zum …?“ Schnell drehte sie sich um.

Marcus. Ihr Herzschlag verlangsamte sich nur minimal. Sie würde vielleicht nicht von der Mauer fallen, aber die Bedrohung, die Marcus für ihr seelisches Gleichgewicht darstellte, war ungleich größer.

Dabei half es auch nicht, dass ihr plötzlich Veronicas Worte wieder in den Kopf kamen. Genau das Richtige für Trennungssex.

Auch wenn Veronica nicht Marcus, sondern Madelines Aufenthalt in England gemeint hatte – die Verlockung war da.

Er kam offensichtlich gerade vom Schwimmen, denn seine Haare waren noch nass, er trug ein Handtuch um die Schultern, und das Hemd, das selbstverständlich wieder offen war, enthüllte einen leicht glänzenden Oberkörper.

Trennungssex statt Tränen?

Nein!

Während Madeline ihn stumm anstarrte, öffnete Marcus ihre Hand und nahm den Ring. Dann musterte er eindringlich ihr verweintes Gesicht. Etwas war vorgefallen. „Sie wissen, dass es verboten ist, einfach Dinge in den Fluss zu werfen, oder?“

Wider Willen musste Madeline lachen. Es fiel ihr immer schwerer, sich seiner erotischen Ausstrahlung zu entziehen. Die Luft um ihn herum schien förmlich zu vibrieren.

Autor

Amy Andrews
<p>Amy war ein Kind, das immer eine Geschichte im Kopf hat. Ihr Lieblingsfach war English und sie liebte es Geschichten zu schreiben. Sollte sie einen Aufsatz mit nur 100 Worten schreiben – schrieb Amy 1.000 Worte. Anstatt nur eine Seite bei dem Thema „ Beschreibt auf einer Seite eure Sommerferien“...
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