You're my Rival

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Du sagst, du wirst mich beschützen – doch kann ich dir vertrauen?

Die junge Collegestudentin Eliza hat bei einem verheerenden Autounfall nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihr Gedächtnis verloren. Seitdem ist ihr altes Leben wie ausgelöscht, und sie ist auf sich allein gestellt.
Da trifft sie in einem Klub auf den düsteren Ian Green. Auf den ersten Blick wirkt er unnahbar, doch seine tiefblauen Augen sind Eliza so seltsam vertraut. Bei ihm kann sie sich fallen lassen, endlich fühlt sie sich wieder beschützt. Bis Elizas Erinnerungen zurückkehren – und sie erkennt, dass ihr jetziges Leben eine Lüge ist. Alles, was man ihr erzählt hat, ist nicht wahr. Doch noch schlimmer: Alles, was sie für Ian empfindet, darf nicht sein.


  • Erscheinungstag 20.04.2021
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751949
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Triggerwarnung:
Dieser Roman enthält Szenen sexueller Gewalt.

Für Peter,
weil du mich aus dem Himmel inspirierst

PROLOG

Was lässt einen Menschen glauben, dass er das Recht besitzt, über Leben und Tod entscheiden zu dürfen? Ist es Größenwahn, Arroganz? Oder schlicht die Tatsache, bisher immer das bekommen zu haben, was man will, und dieses Privileg mit allen Mitteln zu schützen?

Angewidert spucke ich das Blut aus und rolle mich schwerfällig auf den Rücken. Mein Körper ist am Ende seiner Kräfte angelangt. Wie viel kann ein Mensch ertragen, bis er endgültig aufhört zu kämpfen? Vermutlich werde ich diese Frage bald beantworten können.

»Ich will das nicht tun, aber du lässt mir keine andere Wahl«, schleudert er mir entgegen und fährt sich ruppig durchs Haar. »Ich habe mir nicht jahrelang den Arsch aufgerissen, um mir dann von dir alles zerstören zu lassen!«

Er wird nicht zulassen, dass ich seinem Namen schade. Das haben seine Schläger in der letzten Stunde bewiesen. Eher rechtfertigt er meinen Tod mit einer Lüge, als dass er das Risiko eingeht, mich am Leben zu lassen. Und selbst wenn ich das hier überstehen sollte, welchen Sinn hätte mein weiteres Leben – ohne ihn? Meine Seele würde mit der Zeit zerfallen, mich zu einer leeren Hülle verkommen lassen und zu einer Existenz ohne Sinn verdammen.

»Wieso konntest du dich nicht so verhalten, wie es von dir erwartet wird? Dir hat es nie an etwas gefehlt, und dennoch hast du mich hintergangen, unsere Prinzipien mit Füßen getreten und dich aufgeführt wie ein Flittchen!«

Sein Fuß trifft mich unvorbereitet und erwischt die bereits gebrochenen Rippen. Unbarmherzig schießt der Schmerz durch meinen Körper und lässt mich gequält wimmern.

Ich atme dagegen an und hebe vorsichtig den Blick. Wehmütig betrachte ich die strahlend grünen Augen. Kalt und hart starrt er auf mich nieder. Einst versprach mir sein Blick Trost und Sicherheit. Heute bedeutet er nichts als Schmerz.

Ich zwinge mich dazu, die aufgeplatzten Lippen zu bewegen, und forme mühsam die Worte, um mich zu erklären: »Mir fehlte Liebe.«

1

Frustriert schleudere ich die Decke von mir, stehe auf und schlüpfe in meine abgetretenen Lieblingssneaker.

»Immer der gleiche Mist mit ihr«, grummle ich gereizt und mustere verschlafen das Bett gegenüber.

Irgendwo in dem wirren Haufen aus bunten Decken und Kissen schläft Camy seelenruhig, während ich schon wach bin und ihr am liebsten den Hals umdrehen würde. An ihr leises Schnarchen habe ich mich in den letzten Jahren gewöhnt. Aber wenn sie getrunken hat, nimmt es eine Lautstärke an, die niemand ignorieren kann.

»Ich würde dir ja einen Kaffee mitbringen, aber bis du endlich aufwachst, ist der eh kalt«, nuschle ich und knalle geräuschvoll die Tür hinter mir zu.

Camy bekommt davon ohnehin nichts mit, und auch sonst scheint das niemanden gestört zu haben. Normalerweise würden um diese Zeit schon die Frühaufsteher über den Wohnheimflur huschen und dabei ein Gesicht ziehen, als wären sie bereits zu dieser frühen Stunde zu spät dran. Was kann ein Mensch um fünf Uhr morgens so Wichtiges zu erledigen haben, das nicht illegal ist? Kopfschüttelnd steige ich die abgewetzten Treppenstufen hinunter und ziehe mir einen Kaffee aus dem uralten Automaten im Erdgeschoss. Das Zeug sieht aus wie Teer und schmeckt nicht viel besser, aber immerhin macht es wach. Mit dem heißen Kaffee in der Hand trete ich aus der gläsernen Eingangstür und setze mich auf die Bordsteinkante vors Wohnheim. Die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen, doch bereits jetzt ist es so warm, dass ich in meinem Schlafanzug kaum friere. Vorsichtig puste ich in den Becher, ehe ich einen großen Schluck trinke.

Ich bin ein bekennender Koffeinjunkie, und als solcher hat man an diesem College keine große Auswahl. Na ja, im Grunde hat man hier bei nichts eine Wahl. Ein flüchtiger Blick auf die Umgebung genügt, um das zu begreifen. Der Campus umfasst nicht viel mehr als ein paar heruntergekommene Gebäude und eine wild wuchernde Gartenanlage, die an den Parkplatz grenzt. Die Ausstattung in den Hörsälen ist gefühlte hundert Jahre alt, und die Dozenten sind allenfalls mittelmäßig. Einzig mein Wohnheim ist halbwegs gepflegt.

Wieso habe ich mich damals nicht an einem besseren College beworben? Resignierend schüttle ich den Kopf und nippe am Kaffee. Im Endeffekt ist es egal. Meine Zeit am College ist endgültig vorbei, und meine neue Wohnung liegt zum Glück nicht in Chearfield, sondern in der nächstgelegenen größeren Stadt Rosehill. Ich habe mich entschieden, dorthin zu ziehen, weil Camy von dort stammt. Kein Mensch steht mir so nahe wie sie. Wo sollte ich also sonst hin?

Ich kneife die Augen zu, leere den Becher und werfe ihn in den Mülleimer neben der Tür. Jetzt bin ich zwar nicht mehr todmüde, aber meine Laune ist immer noch auf dem Tiefpunkt.

Ich muss mir wohl eingestehen, dass nicht Camys Schnarchen mich aus dem Schlaf gerissen hat, sondern dass ich wieder einen dieser Träume hatte. Wie so oft in letzter Zeit. Es sind diese Augen, die mich verfolgen. Grüne Augen, wie meine eigenen. Sie lassen mich schweißgebadet hochschrecken und nicht wieder in den Schlaf finden. Aber heute Nacht war es anders. Dieses Mal sah ich in der größten Angst plötzlich ein weiteres Paar Augen. Tiefblau wie ein ruhiger Bergsee. Sie blickten mich an und flößten mir das beruhigende Gefühl ein, dass alles gut werden würde. Dass ich sicher und beschützt bin. Doch das bin ich nicht. Das spüre ich ganz deutlich.

Gerade will ich aufstehen und hineingehen, als mich das unbestimmte Gefühl überfällt, nicht allein auf dem Vorplatz zu sein. Mein Nacken beginnt zu prickeln, und in meinem Magen bildet sich ein angespannter Knoten.

Bedächtig wende ich den Blick vom Mülleimer ab und sehe mich um. Ich fixiere die Grünflächen auf der anderen Seite des Parkplatzes, die Gassen zwischen den wenigen Autos und spähe in den Hauseingang hinter mir. Aber da ist niemand.

Müde reibe ich mir mit den Händen übers Gesicht. Dr. Munk hat mir mehr als einmal erklärt, dass das Gefühl, beobachtet zu werden, ausschließlich meinem Unterbewusstsein entspringt. Sie meint, es sei eine bekannte Reaktion des Gehirns bei Menschen mit meiner Art von Amnesie. Angeblich wird sich die Paranoia von allein legen, wenn ich es endlich schaffe, die Vergangenheit loszulassen. Leichter gesagt als getan.

Für lange Zeit war das Gefühl, verfolgt zu werden, tatsächlich verschwunden, und ich hoffte, es endgültig überwunden zu haben. Aber vor Kurzem kam es mit voller Wucht zurück und ist inzwischen so gravierend geworden, dass ich mich regelrecht gestalkt fühle. Lächerlich. Wer sollte mich stalken? Okay, zugegeben, meine Geschichte ist nicht alltäglich. Aber im Grunde führe ich ein langweiliges Leben.

»Das ist nur Einbildung, Liz. Also reiß dich verdammt noch mal zusammen«, ermahne ich mich streng und reibe mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben.

Vielleicht liegt es auch an diesem Ort, dass ich allmählich durchdrehe. Chearfield ist eine winzige öde Stadt mitten im Nirgendwo von Texas. Wenn man die Studierenden abzieht, leben hier bloß viertausend Menschen. Es gibt nur eine einzige Bar und keine vernünftigen Einkaufsmöglichkeiten. Kein Wunder, dass man in einer so trostlosen Gegend irgendwann denkt, man befände sich in einem klassischen Horrorfilm.

Mit einem letzten skeptischen Blick über den Parkplatz stehe ich schließlich auf und gehe zurück ins Wohnheim. Dabei achte ich allerdings penibel darauf, die Tür hinter mir sorgfältig zu verschließen. Man weiß ja nie.

Während der letzten vier Jahre konnte ich mir unter der Dusche nur in den Ferien Zeit lassen, wenn das College beinahe menschenleer war. Meine Kommilitonen fuhren zu ihren Familien oder in den Urlaub, und ich hatte den Campus nahezu für mich allein. Es gab niemanden, der am Spiegel drängelte oder meckerte, weil man sich angeblich zu viel Zeit in der Duschkabine ließ. Ich hatte meine Ruhe und genoss sie in vollen Zügen.

»Nie wieder vor fremden Haaren auf dem Fußboden ekeln. Ist das nicht herrlich?!«, brüllt Camy aufgekratzt aus ihrer Kabine. Sie ist endlich aus ihrem Tiefschlaf erwacht und ist mir schlaftrunken ins Gemeinschaftsbad gefolgt, damit wir uns für den Tag fertig machen.

»Und wir müssen nie wieder extra früh aufstehen, um noch heißes Wasser abzubekommen«, ergänze ich kichernd.

»Endlich eine Badewanne!«, kreischt sie verzückt, und ich lache so laut, dass meine Stimme von den hässlichen giftgrünen Fliesen des Gemeinschaftsbads zurückgeworfen wird.

Da der Wohnungsmarkt in Rosehill eine Katastrophe ist, habe ich Camy angeboten, mit mir zusammenzuziehen. Sie hätte auch zu ihrer Familie zurückgehen können, aber die neue Freiheit im alten Kinderzimmer zu beginnen, wäre ein Rückschritt. Und ich fühle mich wohler, wenn ich in der großen Wohnung nicht allein bin. Sie ist ein Überbleibsel aus meinem alten Leben. Laut Anthony, dem Nachlassverwalter und Anwalt meiner Eltern, hat mein Dad sie mir vererbt. Die Wohnung in Rosehill ist nur eine von vielen Immobilien im ganzen Land, die ich geerbt habe.

Anthony war der Einzige, der nach dem Autounfall für mich da war. Er hat mir so viel über meine Vergangenheit erzählt, wie er wusste, und mir damit die einzigen Erinnerungen gegeben, an denen ich mich festhalten kann.

Bei dem Gedanken daran, dass ich keine lebenden Verwandten habe und mich an die verstorbenen nicht erinnern kann, steigen mir die Tränen in die Augen. Es gibt niemanden, der mir etwas Persönliches über mein altes Ich erzählen könnte. Etwas, das nicht in farblosen Fakten zusammengetragen und in einer staubigen Akte abgelegt wurde.

Ich schlinge das Handtuch fester um meinen Körper und stelle mich vor eins der Waschbecken. Mit der flachen Hand wische ich den Wasserdampf vom Spiegel und mustere aufmerksam mein Gegenüber. Der Anblick ist mir vertraut und fremd zugleich. Große grüne Augen in einem rundlichen Gesicht. Gerade kleine Nase, volle geschwungene Lippen, ein spitzes Kinn und langes rötlich braunes Haar. Seit ich mich erinnern kann – was bekanntlich nicht besonders lange ist –, sehe ich so aus. Nie habe ich eine andere Frisur getragen oder mir die Haare gefärbt. Vielleicht ist es an der Zeit, etwas zu verändern. Vielleicht sollte ich meinen neuen Lebensabschnitt mit einer neuen Frisur feiern? Das mag zwar ein Klischee sein, aber es kommt mir auf einmal überraschend sinnvoll vor.

»Hey, Camy!« Probeweise halte ich meine Haare hoch, um sie kürzer wirken zu lassen, und drehe abwägend den Kopf zur Seite. »Lust, mich zum Friseur zu begleiten?«

Das Wasserrauschen aus der Dusche verstummt abrupt. Sekunden später steht sie in einem winzigen rosafarbenen Handtuch neben mir. Wortlos zupft Camy an einer Strähne meines feuchten Haares und streicht sie kopfschüttelnd wieder zurück.

»Wir fahren nachher zu meiner Mom. Sie wird aus dir eine völlig neue Person machen«, verkündet sie enthusiastisch und schiebt mir behutsam die Haare hinter die Ohren.

»Eine neue Person will ich nicht werden, Camy. Bloß ein wenig anders aussehen«, bremse ich sie.

Sanft legt Camy mir eine Hand auf die nackte Schulter und sucht meinen Blick im Spiegel. Ihre Rehaugen funkeln voller Mitgefühl, was mich beschämt den Blick abwenden und die Hände zu Fäusten ballen lässt. Ich hasse es, so angesehen zu werden. Es ist, als würden die Menschen in mir beschädigte Ware sehen und versuchen, meine Risse durch ihr Mitleid zu heilen. Als wäre es so einfach.

»Dich hat fünf Jahre niemand gesucht«, beginnt Camy sachte. »Du hattest den Collegeplatz hier sicher, Liz. Alles war schon lange vor dem Unfall organisiert. Wenn jemand hätte Kontakt zu dir aufnehmen wollen, hätte er oder sie es längst getan. Daran wird auch eine neue Frisur nichts ändern.«

Ich schlucke trocken und atme tief durch, um den Schmerz in der Brust zu verdrängen, den ihre Worte ausgelöst haben. »Wann bist du so verdammt weise geworden, Camy Owson?«

»Ich war schon immer ein Genie. Aber hätte ich das zugegeben, hättest du mich nicht abschreiben lassen.«

Natürlich weiß Camy, dass ich bloß ablenken will. Aber sie spielt mit, und dafür bin ich ihr extrem dankbar. Erleichtert über den Stimmungswechsel drücke ich ihr einen Kuss auf die Wange und wende mich wieder dem Spiegel zu. Langsam fahre ich mit den Fingern über den Ansatz meiner linken Brust und betrachte nachdenklich die Tätowierung darauf. Bereits im Krankenhaus hat sie mich fasziniert. Damals habe ich mir oft vorgestellt, dass darin die Antworten auf all meine Fragen liegen. Immer wieder habe ich mich gefragt, wieso ich mir gerade dieses Symbol habe stechen lassen. Ob es eine Bedeutung für mich hatte oder es mir einfach gefallen hat. Was hat der schwarze Rabe mit dem spitzen Schnabel und den ausgebreiteten Schwingen für mich dargestellt? Vermutlich nichts, denke ich und lasse enttäuscht die Hand fallen.

»Soll ich Mom fragen, ob sie heute Zeit hat? Wir könnten bei ihr vorbeifahren, nachdem die Möbelpacker unsere Sachen ausgeladen haben«, schlägt Camy vor und schnappt sich die Haarbürste aus meiner Kulturtasche.

»Ja, bitte tu das.« Ich lächle sie dankbar an.

»Wird erledigt, Boss.«

»Aber ich will keine grünen Haare! Und wehe sie schneidet mir einen Bob.« Ich ziehe eine Grimasse und schüttle angewidert den Kopf.

Camy lacht ausgelassen und greift nach dem Föhn auf der Ablage.

»Wer weiß, wer weiß«, flötet sie geheimnisvoll, ehe das Geräusch des Föhns jede weitere Unterhaltung zwischen uns unmöglich macht.

Der Tag, an dem wir Mitbewohnerinnen wurden, war ein Glückstag für mich. Camy geht mir zwar oft auf die Nerven, aber sie ist auch die beste Freundin, die ich mir vorstellen kann.

2

Nachdem wir den letzten Umzugskarton in der neuen Wohnung abgestellt haben, machen wir uns direkt auf den Weg zum Salon von Camys Mom.

Der Beautysalon sticht auf der modernen Einkaufsstraße in Rosehill heraus wie ein bunter Fleck auf weißem Papier. Zu beiden Seiten erstrecken sich Geschäfte, Restaurants und Cafés, die vor Modernität nur so funkeln. Überall dominieren Glas und Stahl, nur nicht bei Gloria Owson. Als die meisten Gebäude hier vor einigen Jahren rigoros abgerissen oder modernisiert wurden, weigerte sie sich hartnäckig, dem Trend zu folgen. Ihr Salon liegt nach wie vor in einem niedlichen weißen Häuschen mit Flachdach und hölzernen blauen Fensterläden. Über der halbrunden Tür hängt ein klassisches champagnerfarbenes Holzschild, auf dem in eleganter schwarz-rosafarbener Schrift »Hair & More« steht. Zwar kein besonders kreativer Name, dafür aber ein eingängiger. Vermutlich zieht ihr Salon genau wegen seines altmodischen Charmes so viele Kunden an. Er wirkt gemütlich und einladend. Wie ein Ort, an dem man sich einfach wohlfühlen muss. In der Boutique direkt nebenan bin ich oft mit Camy. David, der Besitzer, gibt uns Rabatt auf Kleidungsstücke der letzten Kollektionen, weil er eng mit Gloria befreundet ist und auf mich steht. Mittlerweile habe ich aufgehört mitzuzählen, wie oft ich ihn schon abgewiesen habe. Er sieht zwar unverschämt gut aus und ist wirklich nett, aber Männer und ich sind eine komplizierte Geschichte.

Als wir das Hair & More betreten, sitzt Gloria hinter dem schmalen rosafarbenen Empfangstresen am Computer und hämmert auf die Tastatur ein. Das goldene Retroglöckchen über der Tür verrät uns, und prompt schießt Glorias lockiger Kopf in die Höhe.

»Camy!«, jammert sie augenblicklich los und kneift sich genervt in die Stupsnase. »Dein Vater war der Meinung, ich bräuchte ein neues Betriebssystem für den PC, und jetzt herrscht hier absolutes Chaos! Ich kann die Kundendateien nicht mit den Terminen verlinken, und ich habe keine Ahnung, wie ich in diese App für meine E-Mails reinkomme. Dein Vater ist bei der Arbeit, und Olivia weigert sich herzukommen und mir zu helfen. Ich weiß, sie steckt mitten in der Pubertät, aber manchmal verhält sie sich wirklich rücksichtslos.«

Mühevoll unterdrücke ich ein Grinsen und beobachte Camy, die kopfschüttelnd an mir vorbeitritt und sich neben ihre Mom stellt. Die zwei Frauen geben zusammen ein seltsames Bild ab. Während Camy schlank und groß ist, ist ihre Mutter klein und pummelig. Aber auch sonst unterscheiden sie sich wie Tag und Nacht. Wortwörtlich. Camy hat die bronzefarbene Haut, dunklen Augen und die lockigen Haare von ihrem Dad geerbt. Gloria hingegen ist dunkelblond und so blass, wie ein Mensch es nur sein kann.

»Du sollst Dad doch nicht an den PC lassen, Mom. Das hab ich dir schon tausendmal gesagt! Er hat keine Ahnung davon«, meckert Camy und schiebt Gloria mit der Hüfte vom PC weg. »Ich kümmere mich darum, wenn du dich in der Zeit um Liz kümmerst. Deal?«

Gloria klatscht erleichtert in die Hände und lächelt zufrieden. Dann drückt sie ihrer Tochter einen dicken Kuss auf die Wange, was Camy mit einem Augenrollen kommentiert und mich erneut grinsen lässt.

»Liz, meine Süße!«, begrüßt mich Gloria im nächsten Moment fröhlich und eilt um den Tresen herum.

Bevor ich mich wehren kann, zieht sie mich in die Arme und drückt mich fest an die Brust. Ihr aufdringliches süßes Parfüm verätzt mir umgehend die Nase, und ich halte vorsorglich den Atem an. Camy grinst mich über die Schulter ihrer Mom hinweg an und erntet dafür einen Mittelfinger von mir, der sie nur noch breiter grinsen lässt.

»Was stellen wir mit dir an?«, murmelt Gloria nachdenklich und schiebt mich auf Armlänge von sich, um mich von allen Seiten zu begutachten.

Ich zucke unschlüssig mit den Schultern und nage am Daumen. Dass Gloria mir nicht sofort auf die Finger schlägt, sagt viel darüber aus, wie tief sie gerade in ihren Gedanken versunken ist. Als ich Camys Familie vor drei Jahren zu Thanksgiving kennenlernte, war das Erste, das Gloria zu mir sagte: »Nimm den Finger aus dem Mund, Süße. Du bist doch kein Baby mehr. Wenn du an etwas nuckeln willst, such dir einen Mann.«

Ja, Gloria Piper Owson ist nicht gerade für ihre Zurückhaltung bekannt.

»Nichts zu Auffälliges«, bitte ich ernst. »Ich will keine grelle Farbe oder schräge Frisur. Bloß etwas anderes.«

Sie nickt, als würde sie diese vage Aussage genau verstehen. Dann scheucht sie mich händewedelnd nach hinten zur Friseurecke. Wortlos drückt sie mich auf einen leeren Stuhl vor einem bodentiefen Spiegel.

»Trish!«, ruft Gloria so schrill, dass man sie sicher im Umkreis von zehn Kilometern hören kann.

Beinahe im selben Moment erscheint eine Frau mit kurzen roten Locken und einem Piercing in der linken Braue neben ihr, die mich erschreckend an Pumuckl erinnert.

»Was kann ich für dich tun?«, fragt Trish Gloria geschäftig und nickt mir beiläufig zu.

»Ich will das volle Programm für Eliza. Waschen und Schneiden. Vielleicht Farbe, aber das überlege ich mir noch. Dann Mani- und Pediküre. Zum Schluss Make-up. Ach …« setzt Gloria nach, »… ruf David an. Sag ihm, er soll ein Kleid raussuchen, das sich zum Ausgehen eignet. Nichts von diesem schlampigen Zeug, sondern etwas mit Klasse. Größe sechsunddreißig. Für eine Frau mit C-Körbchen.«

Ich nicke verblüfft und starre Gloria wortlos an. Sie ist durch und durch Profi.

Trish wirft mir einen letzten musternden Blick zu, ehe sie sich wortlos umdreht und hinter einer Tür verschwindet, auf der Staff only steht.

Kurz, aber kräftig drückt Gloria meine Schultern und spielt dann gedankenverloren mit einer Strähne meines Haars.

»Sieh es als mein Geschenk zu deinem Abschluss an, Süße.«

»Das kann ich nicht …«

»Und wie du das kannst!«, unterbricht sie mich und wuschelt mir gleich darauf liebevoll über den Kopf. »Ohne dich wäre meine Camy nie so gut durchs Studium gekommen. Machen wir uns nichts vor: Meine Tochter ist faul und schläft gern. Außerdem hast du es dir mehr als verdient, verwöhnt zu werden. Heute Abend geht ihr aus und feiert euren Abschluss.«

Widerspruch zwecklos.

Also schlucke ich jede weitere abwehrende Antwort mühevoll hinunter und nicke brav. »Danke, Gloria.«

»Nein«, erwidert sie sanft und drückt mir einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel. »Danke dir selbst, Süße. Du hast es ganz allein dahin geschafft, wo du heute bist. Das ist beeindruckend.«

Das ist einer dieser Augenblicke, in denen ich mir wünsche, noch Eltern zu haben, die mich ebenso liebevoll betrachten, wie Gloria es tut. Aber dieser Wunsch wird nie in Erfüllung gehen. Tot bleibt tot.

Nachdem sich stundenlang mehrere Frauen an meinen Haaren, Händen, Füßen und an meinem Gesicht zu schaffen gemacht haben, stehe ich vor einem bodentiefen verhangenen Spiegel und knete nervös meine Hände. Gloria hat mir verboten, mich zu betrachten, bevor sie nicht mit jedem noch so winzigen Detail zufrieden ist.

»Keine Sorge«, flötet Camy gut gelaunt und mustert mich mit breitem Grinsen. Sie lehnt völlig entspannt an der Wand und spielt mit ihrer Kette. »Es wird dir gefallen. Definitiv.«

»Wenn nicht, trage ich die nächsten Wochen Caps«, kommentiere ich trocken und werfe ihr einen kurzen Blick zu.

Camy war in der Zwischenzeit in unserer neuen Wohnung, um sich für den Abend fertig zu machen. Sie hat ihre schulterlangen dunklen Locken geglättet und an den Seiten nach hinten gesteckt. Ihr schlanker Körper steckt in einem lilafarbenen Schlauchkleid, das sie mit einer halsnahen Kette aus Roségold und passenden Pumps kombiniert hat. Meine Freundin ist verdammt sexy, und das ist ihr nur allzu bewusst. Nicht nur einmal war ich Zeugin davon, wie sie ihre weiblichen Reize eingesetzt hat, um an Mitschriften von Kommilitonen zu kommen. Oder wie sie es durch einen gekonnten Augenaufschlag und ein Beineüberschlagen geschafft hat, sich eine Abgabeverlängerung für eine Hausarbeit zu erschleichen.

Ihre Mom hat uns einen Tisch in dem neuen Klub V’s reserviert. Laut Camys aufgeregtem Quietschen ist das der »Place to be« in Rosehill. Da die Geschäftsführerin eine Stammkundin von Gloria ist, konnte sie uns kurzfristig einen Tisch organisieren, was angeblich für Normalsterbliche unmöglich ist. Ich finde so viel Tamtam wegen eines Klubs total lächerlich. Aber ich will Camy die Freude nicht verderben, also spiele ich artig mit. Schmunzelnd schüttle ich den Kopf und wende mich wieder dem verhangenen Spiegel zu, wodurch mir das Lächeln schlagartig vergeht. Nervosität kriecht mir in jede Pore und lässt meinen Puls rasen. Gloria und Trish halten jeweils einen Zipfel des Tuchs zwischen ihren Fingern und wirken dabei vollkommen gelassen. Sie scheinen sich ihrer Sache absolut sicher zu sein, und ich beneide sie um diese Zuversicht. Verdammt, Liz! Beruhig dich. Es geht nur um Make-up und eine Frisur, nicht um deine Hochzeit.

»Bereit?«, fragt Gloria seelenruhig, und bevor ich auch nur den Mund aufmachen kann, gibt sie Trish das Zeichen loszulassen.

Das Tuch gleitet lautlos zu Boden und gibt den Blick auf Liz 2.0 frei. Die Frau, die mir nun entgegenblickt, kommt mir seltsam vertraut vor. Meine Haare sind rötlich braun geblieben, wirken aber voller, glänzender und viel gepflegter als noch vor wenigen Stunden. Gloria hat sie auf Schulterlänge gekürzt, durchgestuft und mir einen Pony verpasst. Er verläuft schräg über die Stirn. Die längsten Strähnen gehen in die kürzeste Stufe über, sodass ich mir die Haare gerade noch hinters Ohr schieben kann. Die Frisur schmeichelt definitiv meinem Gesicht. Lässt es weicher, femininer und doch erwachsener wirken. Meine Augen sind lediglich mit Wimperntusche und einem hellen Lidschatten betont worden. Die Lippen sind allerdings ein wahrer Hingucker. Durch den dunkelroten Lippenstift wirken sie noch voller als sonst und haben den perfekten Schwung. Selbst die winzige Narbe auf meiner Oberlippe hat Trish gekonnt verborgen. Angespannt gleitet mein Blick über das Outfit, und ich stoße erleichtert die Luft aus. Ich stecke in einem schwarzen Kleid mit Rundausschnitt und kurzen Ärmeln, das knapp über den Knien endet. Es liegt so eng an, dass man meine Kurven deutlich ausmachen kann. Der Ausschnitt ist nicht zu tief, zeigt aber dennoch den Ansatz meines Tattoos. Genauso ein Outfit hätte ich mir auch selbst ausgesucht. Um meinen Hals entdecke ich sowohl ein eng anliegendes, breites schwarzes Samtband als auch eine lange Silberkette, dessen großer tropfenförmiger Anhänger kurz über meinem Bauchnabel schwebt. Die silberschwarzen Pumps runden das Outfit perfekt ab, auch wenn sie schwindelerregend hoch sind. Mich so zu sehen, treibt mir unerwartet Tränen in die Augen und löst ein völlig unbekanntes Gefühl in mir aus. Es ist, als würde ich mich neu erfinden und zur echten Liz werden. Plötzlich so sein, wie ich schon immer sein sollte. Ich schließe die Augen, um die Tränen zu verdrängen und das aufwendige Make-up nicht zu ruinieren – und bin auf einmal an einem anderen Ort.

Ich stehe vor einer rustikalen Bar aus dunklem Holz und trage ein elegantes bodenlanges schwarzes Abendkleid. Es funkelt im Licht, als wäre es mit Glitzer überschüttet worden, und ist atemberaubend schön. Die Version meines Ichs wirkt so jung, unschuldig und fröhlich, dass ich augenblicklich mit ihr tauschen möchte. Sie scheint sorglos zu sein, als hätte es den Unfall und seine Folgen nie gegeben. Gerade unterhält sie sich mit einer engelhaften blonden jungen Frau und lacht dabei laut und ungezwungen. Ich kann kein Wort von ihrem Gespräch verstehen, aber der Gestik nach scheinen sie sehr vertraut miteinander zu sein. Mein Abbild nippt schmunzelnd an einem bunten Cocktail und sieht glücklich aus. Mit sich selbst und dem Leben vollkommen im Einklang, wofür ich diese Frau umso mehr beneide. Plötzlich verstärkt sich die Wärme in ihrem – in meinem – Blick, und sie verzieht die roséfarbenen Lippen zu einem verträumten, liebevollen Lächeln. Dann streckt sie die Hand nach jemandem aus, und ihr Mund formt ein Wort.

Mein Herz gerät so hektisch ins Stolpern, dass ich kaum noch Luft bekomme. Keuchend stütze ich mich an der Wand hinter mir ab und reiße panisch die Augen auf. Die Szene verschwindet ebenso plötzlich, wie sie gekommen ist, und hinterlässt einen dumpfen Schmerz in meiner Brust, als hätte ich etwas Unentbehrliches zurückgelassen.

Sofort stürzen Camy und Gloria auf mich zu.

»Ich weiß ja, dass ich gut bin. Aber das mit dem ›Umwerfend‹ habe ich nicht wörtlich gemeint, Süße«, kommentiert Gloria und mustert mich mit mütterlicher Besorgnis.

Camy schlingt einen Arm um meine Taille und bugsiert mich vorsichtig auf einen gepolsterten Stuhl neben der Tür zum Mitarbeiterraum. Dankbar lehne ich mich zurück und atme tief durch, um mein galoppierendes Herz zu bremsen.

»Soll ich einen Arzt rufen?«, fragt sie und prüft am Handgelenk meinen Pulsschlag.

Verwirrt schüttle ich den Kopf. »Ich … nein, es geht wieder. Ich bin bloß …« Was bin ich? Überfordert und komplett durcheinander trifft es wohl am besten.

»Was war denn los? Hat dein Kreislauf versagt?«, hakt Camy besorgt nach und lässt mein Handgelenk vorsichtig los.

»Ich glaube, ich hatte einen Flashback. Ich meine, keine Ahnung, ob es tatsächlich eine Erinnerung war oder eine Halluzination oder … Shit!«

Fünf Jahre habe ich krampfhaft versucht, mich an irgendetwas zu erinnern, und ausgerechnet jetzt, wo ich nach vorne blicken und mein neues Leben beginnen will, drängelt sich die Vergangenheit in meinen Kopf? Grandioser Zeitpunkt, Liz. Aber Timing war ja schon immer meine große Stärke.

Camys und Glorias Mienen wechseln schlagartig von besorgt zu aufgeregt. Vor allem Camys Reportergene müssen gerade auf Hochtouren arbeiten. Vermutlich formt sich in ihrem Kopf bereits eine Schlagzeile.

»Was meinst du damit?«, will Gloria wissen.

»Ich hatte diese Frisur schon mal«, murmle ich unsicher. »Glaube ich zumindest.«

Gedankenverloren gleite ich mit den Fingern durch mein Haar und schließe die Augen. Dieses Mal passiert jedoch nichts. Als ob es so einfach wäre. Augen zu und schwupps: Vision.

»Ich habe mich selbst gesehen«, erzähle ich leise. »Ich stand an einer Bar und sah glücklich aus. Ich …«

Mein Gefühl sagt mir, dass ich auf einen Mann gewartet habe. Aber wenn ich einen Freund hatte, wieso hat er mich nicht im Krankenhaus besucht oder in den letzten fünf Jahren versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen? Haben wir uns vor dem Unfall getrennt? Doch selbst dann interessiert es einen doch, wie es der Person geht, für die man einmal etwas empfunden hat. Es sei denn, die Person war ein kaltherziges Miststück. Ich hasse diese arrogante Stimme in meinem Kopf, die mir immer wieder einredet, ich wäre früher eine eingebildete Bitch gewesen. Aber etwas gegen sie unternehmen kann ich nicht, denn ohne Argumente werde ich sie nicht los. Vielleicht hat sie ja recht. Schließlich kann mir niemand sagen, was für eine Person ich vor dem Unfall war. Ob ich ein Nerd, eine Zicke oder ein absolut durchschnittliches Mädchen war. Alle, die mich damals kannten, sind tot oder haben kein Interesse mehr an mir. So wie dieser Mann.

Ich zwinge mich zu einem zuversichtlichen Lächeln, das sich wie eine zu enge Maske über mein Gesicht spannt, und verdränge die dunklen Gedanken, wie ich es immer tue.

»Morgen rufe ich Dr. Munk an und frage sie, was ich davon halten soll«, verkünde ich mit gespielter Zuversicht.

Gloria und Camy nicken zwar, tauschen aber einen Blick, der mich genervt aufseufzen lässt.

»Mir geht’s gut, Leute. Wirklich!«, beteuere ich und nage am Daumen. »Ich war bloß überfordert. Man hat schließlich nicht jeden Tag einen Flashback.«

»Vielleicht sollten wir nach Hause fahren und uns vor den Fernseher kuscheln«, überlegt Camy laut. »Ruhe tut dir jetzt bestimmt gut.«

Entschieden schüttle ich den Kopf und stehe vorsichtig auf. Meine Knie fühlen sich zwar an wie Wackelpudding, aber das werde ich bestimmt nicht zugeben. Auf keinen Fall will ich bemuttert werden.

»Wir gehen aus«, entscheide ich nachdrücklich. »Gloria hat uns extra einen Tisch in diesem Klub reserviert, und außerdem sehen wir zum Sterben sexy aus. Das vor dem Fernseher zu vergeuden, wäre eine Schande.«

Camy braucht zwar einen Moment, nickt jedoch schließlich. Die Skepsis ist ihr sichtbar ins Gesicht geschrieben, aber die Vorfreude auf das V’s glitzert überdeutlich in ihren Augen und überstrahlt jeden weiteren Zweifel.

Ich werfe Gloria, die in den letzten Minuten erstaunlich ruhig neben dem Spiegel stand, einen langen Blick zu.

»Danke. Ich find meine Typveränderung wirklich toll.«

Sie lächelt zwar verhalten, aber ihre Augen bleiben weiterhin sorgenvoll. Vermutlich gibt sie sich die Schuld an dem Ganzen, was absoluter Unsinn ist. Schließlich wollte sie mir bloß eine Freude machen.

Um dieser beklemmenden Situation endlich zu entfliehen, schnappe ich mir die schwarze Clutch vom Stuhl und greife entschlossen nach Camys Hand. Ich brauche jetzt definitiv Alkohol!

3

»Wir stehen auf der Gästeliste!«, quietscht Camy aufgeregt.

Schnaubend trotte ich ihr hinterher und schüttle den Kopf über die ganzen Idioten, an denen wir vorbeilaufen. Wie kann sich jemand freiwillig stundenlang in eine Schlange stellen, bloß um in einen Klub reinzukommen? Ich gehe wirklich gerne feiern, aber so etwas würde ich mir niemals antun.

Das V’s liegt in einer ehemaligen Fabrikhalle am Rand des Industriegebiets von Rosehill. Von außen wurde die Halle weiß gestrichen. Im krassen Kontrast dazu leuchten uns die schwarzen angestrahlten Buchstaben auf der Frontseite entgegen: V’s – Club Bar Lounge.

Stöckelnd nähern wir uns dem Eingang und ernten böse Blicke von den unzähligen Wartenden, was mich genervt die Augen verdrehen lässt.

Vor einem breitschultrigen Türsteher mit Glatze, dem man seine Lustlosigkeit aus meilenweiter Entfernung ansieht, bleiben wir stehen. Camy nennt ihm stolz unsere Namen, als wären wir irgendwelche Promis, was mich schmunzeln lässt. Ich finde es bewundernswert, dass sie sich so sehr über Kleinigkeiten freuen kann und ihre Aufregung nicht verbirgt. Sie ist durch und durch authentisch. Vermutlich habe ich sie deshalb so gern, weil ich bei ihr immer genau weiß, woran ich bin.

Nachdem der Glatzkopf unsere Ausweise mit den Namen auf seiner Liste abgeglichen hat, öffnet er die schwarze Eisentür und wünscht uns in gelangweiltem Ton einen schönen Abend.

In dem Moment, in dem wir über die Schwelle treten, umfangen mich dröhnender Bass, Gesprächsfetzen und der eindeutige Geruch von Alkohol und Schweiß. Die Musik ist so laut, dass ich weder meine Gedanken noch Camys Worte verstehe, als sie sich zu mir umdreht und nach meiner Hand greift. Ich lasse mich von ihr tiefer in den Klub ziehen, vorbei an einer verwaisten Garderobe. Bei den Temperaturen kein Wunder. Niemand ist mit einer Jacke unterwegs. Ein texanischer Sommer fühlt sich an, als würde man am direkten Tor zur Hölle leben.

Zu beiden Seiten des Klubs erstrecken sich Bars, dessen helle Tresen mit dunklem Marmor verziert wurden. Hinter ihnen entdecke ich die obligatorischen verspiegelten Regale mit Alkoholflaschen und Gläsern. Sowohl die Tanzfläche als auch die Bühne und das darauf aufgebaute DJ-Pult wirken sehr edel. Das V’s ist also ein extrem hochwertiger Laden. Vermutlich kostet ein Drink hier dreimal so viel wie in einem normalen Klub.

Camy zieht mich zielstrebig durch die Menschenmenge und an der Tanzfläche vorbei. Vor einer breiten geschwungenen Treppe bleibt sie schließlich stehen. Ein rotes Kordelband und ein bulliger Typ im schwarzen Anzug versperren den Durchgang. Für einen Moment mustert der Typ uns stumm. Dann bildet sich ein widerlich anzügliches Grinsen auf seinem kantigen Gesicht, und er hebt so wichtigtuerisch sein Klemmbrett, als wäre es eine Steintafel der zehn Gebote.

»Wie heißt ihr, meine Süßen?«

Das geht dich nichts an, du schmieriger Mistkerl, würde ich ihm am liebsten entgegenspucken. Aber Camy zuliebe reiße ich mich zusammen und presse die Lippen so fest aufeinander, bis es schmerzt.

»Wir haben einen Tisch auf Owson reserviert«, antwortet sie aufgeregt und hibbelt von einem Bein aufs andere.

Er nickt flüchtig und hakt etwas auf seiner Liste ab. Dann löst er das Kordelband und bedeutet uns mit einem dumpfen Nicken, dass wir hochgehen dürfen.

»Zweiter Tisch links, mit direktem Blick auf die Tanzfläche«, erklärt er, ehe sich das widerliche Grinsen erneut über sein Gesicht zieht. »In einer Stunde hab ich Feierabend. Vielleicht sieht man sich ja oben, Ladys.«

»Danke, aber kein Bedarf«, entgegne ich zuckersüß und trete absichtlich dicht an ihm vorbei. »Wir haben’s nicht so mit Männern. Du verstehst?«, ergänze ich trocken und ziehe Camy demonstrativ an mich.

Autor

Nicole Fisher
<p>Nicole Fisher wurde 1990 in Gehrden bei Hannover geboren. Sie arbeitet als Kauffrau im Einzelhandel, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Schon immer war es ihr Traum, andere Menschen mit ihren Worten zu berühren und zu unterhalten.</p>
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Rival Serie