Miss Lucys skandalöse Saison

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Kann das wirklich der Wille ihres Vaters sein? Angeblich soll die junge Erbin Lucy einen völlig Fremden heiraten. Verzweifelt wendet sie sich an Christopher Wilding, Viscount Rockley – er soll ihr den unerwünschten Verlobten vom Halse halten! Der verwegene Viscount zeigt überraschend großes Interesse an ihrem Schicksal und auch an ihr, wie seine sinnlichen Küsse beweisen. Doch bevor Lucy sich über ihre Gefühle für ihren noblen Retter klar werden kann, steht schon der nächste Skandal ins Haus …


  • Erscheinungstag 09.01.2024
  • Bandnummer 392
  • ISBN / Artikelnummer 0814240392
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

1816

Lucy war zu Miss Brody zitiert worden, die sie in ihrem Büro in der Akademie für Junge Damen erwartete, und wenn der Grund Lucy auch nicht ersichtlich war, so ging sie doch schnellen Schrittes den Gang hinunter. Sie war von durchschnittlicher Größe und gertenschlank. Das spanische Blut ihrer Mutter machte sich deutlich in ihren dunklen Augen, dem schwarzen lockigen Haar und ihrem leidenschaftlichen Temperament bemerkbar. Ihr Versuch, ihr widerspenstiges Haar mit einer Schleife im Nacken zu bändigen, gelang ihr meist nicht. Allzu oft lösten sich vereinzelte Strähnen und umschmeichelten ihre Wangen.

Sie war auf Aspendale geboren und aufgewachsen, der Ranch ihres Vaters in Louisiana, aber als sie mit neun Jahren ihre Mutter verloren hatte, war sie von ihrem Vater, einem Mann von unvorstellbarem Reichtum, nach England geschickt worden, wo sie zu einer Dame erzogen werden sollte. Lucy vergötterte ihren hochgewachsenen goldblonden Vater und hatte sich auf dem Schiff, das sie nach England gebracht hatte, fast das Herz aus dem Leib geweint. Lady Caroline Sutton, die engste Freundin ihrer Mutter und Lucys Patentante, war von ihm beauftragt worden, während ihrer Zeit in England als ihr offizieller Vormund zu fungieren. Lucy wohnte bei ihr in ihrem Haus in der Curzon Street, wann immer sie nicht in der Akademie sein musste.

Miss Brody, seit zwanzig Jahren die Besitzerin der Akademie, war eine würdevolle Frau von hohem Wuchs. Ihr ergrauendes Haar umrahmte ein faltenreiches, intelligentes Gesicht und kluge graue Augen. Die anmutigen Bewegungen, ruhige Miene und sanfte Stimme ließen nicht ahnen, dass sie über eine beeindruckende Tüchtigkeit und Energie verfügte. Das Hauptinteresse ihres Lebens war die Weitergabe von Wissen, und sie widmete ihre gesamte Zeit dem Kampf für die Erziehung der Frauen. Sie leitete ihre Akademie mit großem Können und stellte nur die besten Lehrerinnen ein. Im Augenblick saß sie an ihrem Schreibtisch und war mit der Lektüre eines Briefes beschäftigt. Als Lucy eintrat, hob sie den Kopf und lächelte, aber Lucy entging nicht ihre besorgte Miene oder die gerunzelte Stirn.

„Kommen Sie und setzen Sie sich, Lucy. Ich habe einen Brief von Ihrem Vater erhalten und wollte Ihnen den Inhalt sofort mitteilen.“

Lucy ließ sich auf einen harten Holzstuhl vor dem Schreibtisch sinken. Die Sommersonne drang durch das Fenster ein, warf ihr Licht auf Lucys zarte Haut und schien die braunen Augen zum Leuchten zu bringen. Lucy besaß eine natürliche Anmut und ungekünstelte Warmherzigkeit, doch in diesem Moment war sie ungewohnt ernst, während sie darauf wartete, dass Miss Brody fortfuhr. „Es ist ihm bewusst, dass Ihre Zeit auf der Akademie fast vorüber ist. Sie haben von allem profitiert, das wir Ihnen bieten konnten, und es geschafft, sich in jedem Ihrer Studienfächer auf die lobenswerteste Weise hervorzutun. Ihr Vater ist ausgesprochen stolz auf Sie und hat Vorkehrungen für Ihre Zukunft getroffen.“

Lucys Herz machte einen hoffnungsvollen Sprung. Er würde sie nach Hause kommen lassen! „Soll ich nach Louisiana zurückkehren?“

„Nein. Zumindest nicht sofort. Er … er hat veranlasst, dass Sie heiraten sollen, Lucy.“

„Heiraten!“, brachte Lucy keuchend hervor, so entsetzt, dass sie ihre Würde vergaß und sich einen Moment lang wie ein verwirrtes Kind vorkam. „Aber ich möchte nicht heiraten – und wen denn auch?“

Am liebsten hätte sie Miss Brody verzweifelt angeschrien, dass sie zu jung war, dass sie zum rechten Zeitpunkt selbst den Mann erwählen wollte, den sie heiraten würde. Aber es war Miss Brody gewesen, die ihr beigebracht hatte, sich in jeder Situation zu beherrschen, und so verschränkte sie die Hände in ihrem Schoß und bemühte sich, den Eindruck einer sehr gottesfürchtigen, bescheidenen jungen Frau zu machen. Miss Brody beobachtete sie aus leicht zusammengekniffenen Augen und ließ sich nicht vom Anschein täuschen. Dazu kannte sie Lucy zu gut.

„Verzeihen Sie, Miss Brody.“

„Sie müssen lernen, Ihre Zunge zu hüten, Lucy.“

„Ja, aber ich habe nicht das Verlangen zu heiraten.“ Und trotz Miss Brodys vorwurfsvollem Blick, platzte Lucy schließlich doch mit der Wahrheit heraus. „Ich lasse mich nicht zwingen. Ich werde meinem Vater schreiben und ihm meine Gefühle erklären. Er wird mich doch nicht zu so etwas zwingen – einen Wildfremden zu heiraten. Warum sollte er? Da muss noch mehr dahinterstecken.“

Miss Brody war immer äußerst teilnahmsvoll, wenn es um die Probleme ihrer Schülerinnen ging, und ganz besonders bei dieser jungen Dame, die so weit von ihrem Zuhause in Amerika entfernt war. Doch in dieser Angelegenheit musste sie den direkten Anweisungen ihres Vaters folgen. „Mir ist bewusst, dass dieser Brief ein Schock für Sie sein muss, Lucy, und Sie werden Zeit brauchen, um sich damit abzufinden, aber als Ihr Vater hat er das Recht. Da Lady Sutton für längere Zeit in Frankreich bleiben wird und deswegen mindestens einen Monat lang nicht zurückerwartet wird, kommt Ihre Stiefmutter in Kürze hier an. Mrs. Walsh freut sich darauf, Sie kennenzulernen. Sie wird ein Haus in London mieten, und Sie sollen bei ihr wohnen. Als Gattin Ihres Vaters wird sie sich um Sie kümmern und den Fortschritt der Heiratspläne selbst übernehmen.“

„Aber sie ist keine Blutsverwandte. Ich bin ihr noch nie begegnet.“ Trotz der Mühe, die sie sich gab, sich zurückzuhalten, konnte Lucy ihre Empörung doch nicht unterdrücken. Sie hatte das Gefühl, in eine Falle getreten zu sein, aus der es kein Entkommen gab, und in ihrer Verzweiflung wurde ihr richtig übel. „Und … und dieser Mann, der mich heiraten will, hat er einen Namen?“

„Ihr Vater schreibt, es sei Mark Barrington, ein Freund von ihm und Ihrer Stiefmutter und ebenfalls Besitzer einer Ranch in Louisiana.“

„Was tut er dann in England?“

„Er befindet sich aus geschäftlichen Gründen in London und wird wohl nach Louisiana zurückkehren, wenn er seine Geschäfte erledigt und Sie mit ihm verheiratet sind.“

„Aber Tante Caroline … meine Patentante hatte geplant, dass ich auf der Akademie bleibe, bis sie zurückkommt oder jemanden schickt, der mich zu ihr nach Paris bringen soll!“

„Dann werde ich ihr schreiben und alles erklären.“

Als Miss Brody sich wieder ihrer Arbeit zuwandte, begab Lucy sich in den Garten, der um diese Tageszeit leer war, da sich alle Schülerinnen im Unterricht befanden. Auch Lucy wäre wieder zu ihrer Klasse zurückgekehrt, aber ihr zitterten die Knie so sehr, dass sie sich auf eine Bank setzen musste. Sie war so wütend, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Der Brief ihres Vaters ließ sie alles andere vergessen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und statt die Hände sittsam verschränkt zu halten, hatte sie sie in ihrem Zorn zu Fäusten geballt. Ihre großen braunen Augen mit den winzigen Goldflecken funkelten regelrecht vor Wut. Sosehr ihre Lehrerinnen auch versucht hatten, ihr Disziplin beizubringen, war es ihnen doch nicht gelungen, ihre rebellische Natur ganz zu unterdrücken. Im Moment sah man ihr jedenfalls keinen Hauch von Nachgiebigkeit, Gehorsam oder gar Demut an.

Sie hatte sich auf so vieles gefreut, das sie nach Abschluss der Akademie erwartete. Ihre Patentante hatte von ihrem Debüt gesprochen und den Bällen, zu denen sie gehen würden. Sie wollten gemeinsam nach Frankreich, Italien und Spanien reisen. Und jetzt musste sie all das vergessen und fühlte sich verraten von ihrem eigenen Vater.

Als sein einziges Kind hatte sie immer gedacht, dass sie sein ganzer Stolz war. Er hatte ihr jeden Wunsch erfüllt, warum tat er ihr also jetzt so etwas an? Ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen oder ihr wenigstens die Möglichkeit zu geben, selbst zu wählen, sollte sie einen Mann heiraten, von dem sie noch nie gehört hatte? Sie war achtzehn Jahre alt und hatte noch ihr ganzes Leben vor sich, eine Zukunft voller Aufregung und neuer Erfahrungen. Und jetzt, ohne jede Vorwarnung, hatte er ihr diese aufregende Zukunft einfach so entrissen.

Unwillkürlich fragte Lucy sich, was für eine Frau ihre Stiefmutter sein mochte. Aus den Briefen ihres Vaters wusste sie nur, dass sie Sofia hieß und er sie bei einer Reise nach New Orleans kennengelernt hatte. Nach einer sehr kurzen Brautwerbung hatten sie geheiratet. Sie musste etwas Liebenswertes an sich haben, um ihren alternden Vater so in ihren Bann ziehen zu können, aber Lucy hatte ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken an ihre erste Begegnung. Wie würden sie aufeinander reagieren?

Der Broughton-Jahrmarkt war ein großes gesellschaftliches Ereignis, bei dem die eng verbundenen Familien der Umgebung zusammenkamen, um die zwei Tage des Festes zu genießen. Doch es war auch von finanzieller Bedeutung, da hier Vieh und allerlei landwirtschaftliche Produkte von den umliegenden Dörfern verkauft wurden und Wanderzigeuner zu ihnen stießen und ihre bunt bemalten Wagen auf den Feldern gleich neben dem Jahrmarktsplatz abstellten. Die Besucher ließen sich die Zukunft voraussagen und kauften Glücksbringer, es gab Musik, und man tanzte und spielte. Es war jedes Mal eine farbenfrohe, aufregende Angelegenheit, und jedermann konnte wenigstens für eine kleine Weile seine Sorgen vergessen.

Einigen der erwachseneren Mädchen von der Akademie wurde am Nachmittag erlaubt, den Jahrmarkt zu besuchen. Sie standen unter der Obhut von Miss Hope, einer der Lehrerinnen, die in der Mitte ihres Lebens stand, als recht korpulent beschrieben werden musste, und die Aufgabe der Aufpasserin selbst im besten Fall äußerst ermüdend fand. Sobald sie eine gemütliche Bank im Schatten einer dicht belaubten Ulme entdeckt hatte, nickte sie zufrieden ein und kümmerte sich nicht weiter um den Unfug, den ihre Schützlinge anstellen mochten.

Lucy unterhielt sich mit ihrer besten Freundin Emma, einer zierlichen jungen Dame mit einer Fülle goldblonder Locken und kornblumenblauen Augen und im Gegensatz zu Lucy gesegnet mit einer Gutmütigkeit, die sie zu jedermanns Liebling erkoren hatte.

In ihren blauen Röcken und weißen Blusen, die jede Schülerin der Akademie trug, lagen sie auf einem Rasen und genossen die warme Julisonne und den Duft nach köstlichen Speisen, der die Luft erfüllte. Sie sprachen natürlich von dem Brief, den Lucys Vater an Miss Brody geschickt hatte. Emma war sehr romantisch veranlagt und fand, dass ihre Freundin sich glücklich schätzen sollte.

„Vielleicht wirst du ja angenehm überrascht sein von ihm. Dein Vater hat bestimmt eine gute Wahl getroffen, Lucy. Und dein Bräutigam kommt nach England. Das bedeutet, er kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.“

„Wirklich, Emma!“, rief Lucy gereizt. „Willst du damit sagen, ich sollte dankbar sein, dass Papa meinen Mann für mich ausgesucht hat? Ich bin achtzehn Jahre alt und nicht bereit, einfach so und gegen meinen Willen verheiratet zu werden. Nachdem ich die Akademie verlassen habe, möchte ich mich erst einmal amüsieren. Es ist mir egal, ob er reich ist oder wie gut er aussieht. Ich möchte ihn nicht sehen. Es gibt wichtigere Dinge im Leben als eine Heirat.“

Emma seufzte, setzte sich auf und steckte sich einen Bonbon in den Mund. „Ich wüsste nicht, was. Mir würde es gefallen, wenn mein Papa schon bald einen Mann für mich findet. Natürlich einen gut aussehenden.“

„Ich weiß. Männer finden dich sehr attraktiv, und die Art, wie du mit ihnen flirtest, ist ausgesprochen schamlos. Du wirst bestimmt schnell heiraten, daran zweifle ich nicht.“

„Aber was wirst du tun, wenn du deine Stiefmutter und diesen Gentleman kennenlernst, den du heiraten sollst? Du kannst ihn ja schließlich nicht einfach ignorieren. Und er wird nicht, nur um dir einen Gefallen zu tun, wieder abreisen, nachdem er den langen Weg aus Louisiana hinter sich gebracht hat.“

„Ich weiß.“ Lucy runzelte die Stirn. Sie würde sehr gut darüber nachdenken müssen. „Ich werde mir etwas einfallen lassen, wenn ich in London bin.“ Sie setzte sich ebenfalls auf und schüttelte die Grashalme von ihren Röcken. „Ich wünschte, du würdest mit mir kommen, Emma. Du wirst mir so fehlen.“

„Wir bleiben in Verbindung. Du musst mich besuchen kommen, und wir werden uns oft schreiben, ja?“

„Ja, versprochen.“

Emma verkündete, dass sie durstig sei, und machte sich auf den Weg zum Limonadenstand. Vor ihr in der Schlange stand ein junger dunkelhaariger Mann, der prompt ein Gespräch mit ihr begann. Nachdem sie ihre Limonade gekauft hatten, schlenderten sie gemeinsam zum Bogenschießstand. Da Lucy davon ausging, dass Emma es nicht allzu eilig damit haben würde, zu ihr zurückzukommen – es sei denn, Miss Hope wachte auf und suchte nach ihr –, erhob sie sich und mischte sich unter die Leute.

Es herrschte ein unglaublicher Lärm, und die Menge war so dicht, dass Lucy nur langsam vorankam, während sie an einigen Akrobaten und einem Mann mit einem Tanzbären vorbeischlenderte. Weiter entfernt waren die Zigeuner gerade dabei, Pferde an den Meistbietenden zu verkaufen. Neugierig hielt sie auf sie zu, ohne den Mann zu bemerken, der mit der Schulter an einem Baum lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und eine Ledertasche über die andere Schulter geworfen hatte. Eins der Pferde, ein grauer Hengst, war ganz besonders schön und erregte ganz offensichtlich sehr viel Aufmerksamkeit. Er warf den Kopf mit der langen weißen Mähne in den Nacken, und in jeder Bewegung seines muskulösen Körpers machte sich seine kaum gebändigte Kraft bemerkbar. Selbst der geschickteste Reiter würde es gewiss schwierig finden, ihn zu reiten.

In diesem Moment kam ein junger Mann vorbei, in den Armen ein Zicklein, das alles tat, um sich aus seinem Griff zu befreien. Plötzlich stolperte er und ließ das Tier fallen, worauf es schnell auf die Beine kam und im Zickzack über das Gras lief. Der Hengst wich aus und bäumte sich erschrocken auf, wobei der Mann, der ihn hielt, völlig überrumpelt das Seil losließ. In seiner Aufregung begann das mächtige Tier zu tänzeln und mit seinen gefährlichen Hufen auszuschlagen, dass die Leute in seiner Nähe sich hastig zerstreuten.

Jemand rief Lucy warnend zu, aus dem Weg zu gehen, aber sie blieb regungslos stehen, völlig verzaubert von dem Anblick des faszinierenden Tiers, das sich wieder aufbäumte und den Kopf schüttelte. Wichtige Augenblicke verstrichen, bevor Lucy erkannte, dass sie sich in großer Gefahr befand. Im selben Moment erschien schnell eine hochgewachsene Gestalt neben ihr, zwei starke Hände griffen nach ihr und rissen sie in die Sicherheit der Bäume zurück. Lucy war nicht in der Lage, sich zu wehren oder auch nur den kleinsten Laut von sich zu geben, während sie zusah, wie man das Pferd einfing und beruhigte. Sie spürte, dass ihr Retter ein Mann sein musste, groß und mit kräftigen Händen, die ihre Arme umfassten wie zwei Stahlbänder.

„Sie dumme kleine Närrin“, sagte er atemlos. „Wollten Sie Ihr Glück herausfordern?“

Er hatte eine aufregend tiefe Stimme, die zu einem offensichtlich gebildeten Mann gehörte. Noch immer hielt er sie fest, sodass Lucy seinen starken Körper dicht an ihrem spürte. Sein Atem strich über ihre Haut, als er sprach, und sie fühlte das Klopfen seines Herzens und atmete seinen männlichen Duft ein. Die Nähe zu ihm war das Aufregendste, was sie je erlebt hatte. Ihre Haut prickelte, und ihr wurde überall ganz heiß.

Die Zeit schien stillzustehen. Lucy hörte weder die Geräusche der Leute um sie noch ihre Bewegungen. Erst allmählich wurde sie sich bewusst, dass der Griff um ihre Arme nachließ, und gleich darauf hatte der Fremde sie freigegeben.

Langsam drehte sie sich zu ihrem Retter um. Er trug eine hellbraune Reithose und an den Füßen braune Lederstiefel. Die Ärmel des weißen Hemdes, das am Hals offen stand und die sonnengebräunte Haut darunter entblößte, hatte er hochgerollt, sodass Lucy die muskulösen Unterarme sehen konnte. Sie legte den Kopf leicht in den Nacken und schirmte die Augen vor der Sonne ab, um ihm ins Gesicht zu sehen, und ihr stockte der Atem. Er wies eine winzige Narbe auf der Wange auf und eine weitere auf dem Kinn, aber diese kleinen Mängel ließen ihn sogar noch besser aussehen, noch viel begehrenswerter als jeden anderen Mann, den sie je gesehen hatte. Sein dichtes, welliges schwarzes Haar schimmerte in der Sonne.

Lucy war an den Anblick gut aussehender Männer gewöhnt, denn sie war schon mehreren auf den Gesellschaften ihrer Patentante begegnet, aber dieser Mann war eine Klasse für sich. Er strahlte etwas so Kraftvolles, Bezwingendes aus, dass sie eine Gänsehaut bekam und es ihr kalt über den Rücken lief.

Der Zwischenfall hatte sie zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gemacht, aber nachdem der Hengst beruhigt worden war, begannen die Leute sich wieder abzuwenden. Lucys Retter zog sie zur Seite und warf nur einen schnellen Blick auf sein eigenes Pferd, dessen Zügel er losgelassen hatte, um Lucy zu packen. Es graste zufrieden, ohne sich um den Aufruhr zu kümmern.

Noch immer ganz überwältigt, starrte Lucy dem Mann ins Gesicht. Sie wusste, dass sie etwas sagen, am besten ihren Dank ausdrücken sollte. Er schien bis in ihr Innerstes sehen zu können, und sie hatte das Gefühl, dass er ihre ganz und gar nicht lobenswerte, aufbrausende Natur erkannt hatte. „Vielen Dank, Sir. Aber warum haben Sie Ihr Leben für mich riskiert?“

„Wohl kaum“, meinte er leicht amüsiert. „Ich weiß, wie man einem durchgehenden Pferd ausweicht – was Sie auch hätten tun müssen, statt darauf zu warten, dass es Sie niedertrampelt.“

Sie seufzte hilflos. „Ja, das hätte ich sicher, aber ich konnte mich plötzlich nicht rühren. Es ist ein so wunderschönes Tier. Aber es hätte Sie töten können.“

„Jemand musste Sie doch retten – und so leicht lasse ich mich nicht aus dem Weg schaffen.“

„Nein“, meinte sie leise. „Das glaube ich auch nicht.“

„Es ist gar nicht so schwer zu überleben, wenn man sieht, woher die Gefahr kommt.“

„Wahrscheinlicher ist, dass Sie ganz einfach ein furchtloser Mann sind, Sir.“

„Ich hoffe, Sie haben recht.“

„Andererseits kann das nicht sein. Jeder hat vor irgendetwas Angst.“

„Hätte ich Sie nicht beiseite gerissen, wären Sie niedergetrampelt worden.“

„Dann verdanke ich Ihnen mein Leben. Ich heiße Lucy Walsh.“

„Und wenn Sie sich nicht gerade in gefährliche Situationen begeben, amüsieren Sie sich gut, Miss Walsh?“

Sie lächelte. „Oh ja, sehr sogar. Ich würde Ihnen gerne eine Belohnung geben, wenn ich etwas hätte, das Ihnen gefallen würde.“

Auch er lächelte plötzlich, und seine Augen funkelten auf eine Weise, die keine Frau ungerührt lassen würde. „Eine so hübsche Frau wie Sie hat vieles, was mir gefallen würde. Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.“

Lucy errötete leicht, und eine nie gekannte Wärme erfüllte ihren ganzen Körper. „Sie haben mir zweifellos das Leben gerettet, Sir. Sollte ich Sie dafür nicht mit etwas Geld entschädigen?“

„Lieber Himmel, nein!“, rief er, lächelte sie an und senkte die Stimme. „Ich bin sehr stolz, Lucy Walsh. Sie wollen mich doch nicht kränken. Ich könnte mich niemals dafür bezahlen lassen, dass ich einer jungen Dame zu Hilfe kam.“ Plötzlich blitzte es seltsam in seinen Augen auf, und er fuhr noch leiser fort: „Aber wären Sie ein wenig älter, würde mir ein Kuss als Belohnung völlig reichen.“

Lucy lachte. Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er scherzte. „Ich fürchte, das wäre höchst ungehörig. Ob jung oder alt, ich verteile nicht wahllos meine Küsse an fremde Männer. Aber es muss doch etwas anderes geben.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Was bringt Sie außerdem darauf, ich würde Sie küssen wollen?“

„Ich sehe es einer Frau an, wenn ich ihr gefalle.“

„Ach? Sie sind ja sehr von sich eingenommen, Sir.“

Er lächelte breit. „Habe ich es wieder nicht verheimlichen können? Aber sagen Sie mir, Miss Walsh, leben Sie in Broughton?“

„Nein. Ich besuche die Akademie für Junge Damen, gleich außerhalb des Dorfes.“

„Ein Schulmädchen.“

Lucy fuhr empört auf. „So jung bin ich denn doch nicht. Ich bin achtzehn Jahre alt, Sir.“

„Wirklich überhaupt nicht jung, vielmehr uralt.“ Er lachte leise, als sie errötete.

Sie sah das Glitzern in seinem durchdringenden Blick, das fast gefährlich wirkte und einen davor warnte, sich mit ihm anlegen zu wollen, weil er gewiss kein leichter Gegner sein würde. Aber ihr Gegner war er nicht. „Ich verlasse die Schule schon bald.“

„Und wo ist Ihr Zuhause?“

„Ich lebe mit meiner Patentante in London, wenn Schulferien sind, aber zurzeit hält sie sich in Paris auf, und ich hoffe sehr, mich schon bald zu ihr zu gesellen.“

„Waren Sie schon einmal in Paris?“

„Nein, aber ich freue mich schon darauf.“

„Ich reise vielleicht irgendwann in der nächsten Woche oder so ebenfalls dorthin – aus geschäftlichen Gründen.“ Er runzelte verärgert die Stirn, als eine Gruppe lärmender junger Männer ihnen zu nahe kamen, die sich wohl ein wenig zu viel Bier einverleibt hatten. Einige von ihnen beäugten Lucy mit unverhohlenem Interesse. „Wollen wir weitergehen und sehen, was der Jahrmarkt sonst noch zu bieten hat? Natürlich nur, falls Sie die Zeit dazu haben.“

Lucy dachte, dass er der attraktivste, aufregendste Mann war, dem sie seit Langem, wenn überhaupt jemals begegnet war, und sie war noch nicht bereit, sich von ihm zu trennen. Da sie aber wusste, wie unziemlich es für sie wäre, einfach mit einem fremden Mann davonzugehen, zögerte sie doch noch einen Moment. Ihr war, als könne sie Miss Hopes missbilligenden Blick auf sich spüren, und sie atmete auf, als sie sah, dass die liebe Dame noch immer schlummerte.

Ansonsten hätte Miss Hope ihr gewiss Vorhaltungen gemacht und ihr geraten, sich Lydia Brownlow als Beispiel dafür zu nehmen, wie eine vollkommene Dame sich verhalten sollte. Lydia war in allem korrekt, brav und leicht zu steuern – also das genaue Gegenteil von Lucy.

„Nun?“, hakte er nach, als sie zögerte. „Ich verspreche, mich wie ein vollkommener Gentleman zu benehmen. Und niemand wird Sie belästigen, solange Sie an meiner Seite sind.“

Er lächelte, und plötzlich wusste sie, dass es selbst Miss Hopes Vorhaltungen wert sein würde, eine kurze Weile mit diesem Mann zusammen zu sein. Außerdem würde sie die Akademie in Kürze verlassen und zu einer Ehe mit einem Mann gezwungen werden, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte. Also war es ihre letzte Gelegenheit, sich gut zu unterhalten.

„Gern“, antwortete sie also. „Ich habe es nicht eilig, zur Schule zurückzukehren.“

Sie gingen zusammen weiter, sahen sich die vielen bunten Stände an, an denen die verschiedensten Dinge erstanden werden konnten, hielten vor einem Puppentheater inne, das eine große Menge an Kindern angelockt hatte, die je nach Stimmung begeistert pfiffen oder Beifall klatschten. Schließlich setzten sie sich am Rand des Jahrmarktsplatzes unter den Bäumen in den Schatten und aßen warmen Lebkuchen. Keiner von beiden hatte es eilig, ihr kameradschaftliches Beisammensein zu beenden. Er erzählte ihr, dass er Kapitän war und ein eigenes Schiff besaß.

Lucy wandte sich ihm interessiert zu. „Sie sehen nicht wie ein Kapitän aus.“

„Ich hoffe, das legen Sie mir nicht zur Last.“

„Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich?“

„Weil Sie vielleicht denken, ein Seemann habe nichts auf einem Jahrmarkt wie diesem zu suchen.“

Lucy vermutete, dass er sich ein wenig über sie lustig machte, und lächelte. „Ganz und gar nicht.“

„Ich lasse mich von meiner Stimmung leiten. Meist bin ich vom freien Himmel und dem weiten Meer umgeben, und das macht mir bewusst, dass ich die Freuden des Lebens in vollen Zügen genießen sollte. Ich liebe die heiße Sonne bei Tag und den Mond und die Sterne bei Nacht.“

„Und den Wind und die Stürme?“

„Die überstehen wir mit Gleichmut – wie es sich für Seemänner gehört.“

Sie lachte. „Wie poetisch Sie klingen.“

„Man kann mich vieles nennen, aber keinen Dichter. Doch obwohl ich ein Seemann bin, sitze ich heute hier und genieße alles, was mir der Jahrmarkt zu bieten hat – noch dazu in der entzückenden Gesellschaft einer schönen jungen Dame.“

„Daran ist doch nichts Seltsames.“

„Ja, aber wäre ich ein Gentleman, hätte ich die Gelegenheit nicht ergriffen, sondern mich lediglich unterwürfig vor Ihnen verbeugt und mir gesagt, dass ich die Ehre nicht verdient habe, einige Momente mit einer vornehmen jungen Dame zu plaudern.“

Lucy musste lächeln. „Unterwürfig? Sie haben keinen Hauch von Unterwürfigkeit an sich, Sir, und sind sicher der Meinung, dass Sie die Ehre verdient haben, selbst mit dem König zu plaudern.“ Er musterte sie eindringlich, und sie spürte, wie sie wieder errötete.

„Und woher will eine junge Dame wie Sie das Herz eines Seemanns kennen?“

„Nein, das tue ich natürlich nicht.“

„Aber Sie sind eine sehr kluge Dame, Miss Walsh, und ein großartiges Leben liegt vor Ihnen, weil Sie mutig mit beiden Händen nach dem greifen, wonach es Sie verlangt. Der Mann, der eines Tages Ihr Herz gewinnt und sein Leben mit Ihnen teilen darf, kann sich glücklich schätzen.“

Während er sprach, sah er sie so aufmerksam an, dass ihr Herz schneller klopfte und sie den Blick senkte. Plötzlich schien alles an diesem Tag wundervoll zu sein, als würde es von innen heraus glühen – doch dieses Glühen ging von ihr selbst aus. Noch nie hatte Lucy sich so sicher, so glücklich gefühlt. Als sie den Blick wieder auf ihren attraktiven Begleiter heftete, war es, als wäre etwas in ihr zum Leben erwacht, das ihr bis zu diesem Moment gefehlt hatte. Die Erkenntnis verwirrte sie zwar ein wenig, aber sie erfüllte sie auch mit tiefer Freude. Nach einem flüchtigen Blick auf Miss Hope, die noch immer vor sich hin döste, ohne zu ahnen, was ihre Schützlinge taten, wusste Lucy, dass sie sich jetzt von ihm trennen sollte, aber sie tat es nicht. Bei dem Gedanken daran, was ihr bevorstand, wollte sie ihren letzten Moment in Freiheit so lange hinausziehen wie möglich.

„Miss Hope, unsere Anstandsdame, schläft tief und fest. Sie würde einen Schlaganfall bekommen, wenn sie uns jetzt sehen könnte.“

„Dann behalten wir es besser für uns. Leider scheinen es gerade die Dinge zu sein, die wir nicht tun dürfen, an denen wir den größten Gefallen finden.“

Lucy lauschte ihm hingebungsvoll, um kein Wort und keinen Gesichtsausdruck zu verpassen, während er ihr die Länder beschrieb, die er besucht hatte, und die Güter, die er ihnen brachte, wobei er Lucy kaum ansah. Wäre sie ein wenig erfahrener gewesen, hätte sie erkannt, was es über die Begeisterung aussagte, mit der er seine Arbeit tat. Er sprach vom Überqueren der riesigen Ozeane, als handele es sich lediglich darum, über die Themse zu fahren. Und sie hing an seinen Lippen, während ganz neue, ungewohnte Gefühle sie innerlich aufwühlten.

„Sind Sie in London geboren?“, fragte er schließlich, als er sich erhob und ihr die Hand hinhielt.

Lucy nahm sie und ließ sich aufhelfen. „Nein, ich wurde in Louisiana geboren.“

Er hob überrascht die Augenbrauen. Sie gingen gemeinsam in Richtung jener Stelle, wo sie sich begegnet waren. „Sie sind also Amerikanerin?“

„Ja. Sind Sie schon in Amerika gewesen?“

„Vor gar nicht so langer Zeit. Denn genau wie Sie wurde auch ich dort geboren. In Charleston in South Carolina. Mein Vater stammte aus Surrey, aber bevor er starb, nannte er sich stolz einen Amerikaner. Er kämpfte in den frühen Achtzigerjahren in der Revolution, und als Amerika den Krieg gewann, wurde alles anders, und er gründete in Charleston eine Schifffahrtsgesellschaft. Wie kam es dazu, dass Sie Louisiana verlassen haben?“

„Als meine Mutter starb, schickte mich mein Vater nach England, damit ich eine Erziehung erhielt und lernte, eine Dame zu werden. Er legt großen Wert auf solche Dinge.“

„Er ist also Engländer, oder wurde er in Amerika geboren?“

„Ja, in Amerika. Es war mein Großvater, der England als junger Mann verließ und nach Amerika auswanderte. Die Verlockung Amerikas war einfach zu groß für ihn, wie für so viele junge Menschen in jener Zeit.“

„Ja, Tausende hatten denselben Traum von einem gelobten Land, wo sie ein besseres Leben führen und für ihre Familien sorgen konnten. Und dabei drängten sie immer weiter gen Westen, um den idealen Platz für sich zu finden. Was brachte Ihren Großvater dazu, sich in Louisiana niederzulassen?“

„Irgendwann war er es müde, ziellos durch das Land zu ziehen, und ließ sich in Baton Rouge nieder. Dort wurde mein Vater geboren und heiratete später meine Mutter, eine Spanierin.“

„Sie haben einen sehr interessanten Hintergrund. Ihre Heimat muss Ihnen sehr gefehlt haben, als Sie abreisen mussten.“

„Das ist wahr. Ich hatte sehr lange fürchterliches Heimweh.“ Lucy würde niemals den Tag vergessen, an dem sie Louisiana verließ. In England hatte sie sich lange Zeit sehr einsam und fehl am Platz gefühlt. Mit ihrem eher exotischen Hintergrund und der Erinnerung an die Freiheit, die sie in Louisiana genossen hatte, war ihr das erste Jahr besonders schwergefallen, und sosehr sie es auch versucht hatte, sie glaubte nicht, dass es ihr besonders gut gelungen war, sich in eine englische Dame zu verwandeln.

„Und werden Sie jetzt nach Louisiana zurückkehren, um von den Söhnen wohlhabender Plantagenbesitzer umworben zu werden?“, fragte er neckend.

„Nein. Jedenfalls noch nicht. Ich möchte natürlich meinen Vater wiedersehen, aber auch England gefällt mir jetzt sehr. Außerdem ist Louisiana vielleicht gar nicht das idyllische Paradies, als das ich es in Erinnerung habe. Trotzdem gibt es Momente, da ich mich noch immer wie eine Fremde hier fühle, obwohl ich mich inzwischen völlig eingewöhnt habe. Machen Sie denn Geschäfte mit den Menschen, gegen die Ihr Vater damals gekämpft hat?“

Er lächelte. „Ich bin nicht nachtragend, wenn es ums Geschäft geht. Auch mein Vater, genau wie Ihrer, machte gern Geschäfte mit den Engländern. Da geht es nur um den Profit.“

„Und werden Sie die Gesellschaft Ihres Vaters übernehmen?“

„Nein. Die Dinge haben sich … sie haben sich für mich geändert. Meine Eltern leben nicht mehr, und ich habe die Schifffahrtsgesellschaft verkauft.“

„Das tut mir leid.“ Trotz seiner Selbstsicherheit sah sie ihm kurz eine tiefe Traurigkeit an. „Sie haben keine Geschwister, die hätten übernehmen können?“

„Leider nicht. Ich habe eine jüngere Schwester, aber keinen Bruder.“

Er war sehr ernst geworden, und Lucy spürte, dass er nicht weiter über seine Familie sprechen wollte. „Werden Sie also auf See bleiben?“

„Nein. Ich bin im Begriff, mein Schiff zu verkaufen, und habe auch schon einen Käufer.“

Die Brise wehte ihr eine Strähne ins Gesicht, und Lucy fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und steckte die Strähne hinter ein Ohr, ohne zu ahnen, wie verführerisch die Geste auf ihren Begleiter wirken musste. Unbewusst musterte sie ihn, als wollte sie sich jede Einzelheit einprägen – das feste Kinn, den Mund, den schlanken, starken Körper.

Er begegnete ihrem Blick, und ein langsames Lächeln erschien um seine Mundwinkel. „Mein Aussehen scheint Sie ja sehr zu beschäftigen. Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“

„Oh, ich …“ Sie kaute verlegen auf der Unterlippe, und plötzlich wurde ihr bewusst, wie unvorsichtig es von ihr war, so frei über alles zu sprechen. Dieser Mann war schließlich ein Fremder, dem sie wirklich nicht die persönlichsten Einzelheiten ihres Lebens anvertrauen sollte.

Er schien sich über ihre Verwirrung zu amüsieren, denn er lachte leise, fuhr ihr sanft mit einem Finger über die Wange und strich ihr eine weitere Strähne hinter das Ohr. Lucy erschauerte unwillkürlich, wich aber nicht zurück. Sie sah Bewunderung in seinem Blick und wurde sich plötzlich bewusst, wie groß er war, wie stark und männlich – und wie unschicklich es war, mit ihm allein zu sein.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als er sich langsam dichter zu ihr vorbeugte, doch dann hielt er plötzlich inne. Ein schwaches Lächeln erschien um einen Mundwinkel, er sah sie sehr intensiv an und seine Augen wurden dunkler. Lucy hatte das Gefühl, dass sie wusste, was er gerade dachte, und es beunruhigte sie ein wenig, aber sie senkte nicht den Blick vor ihm.

„Wenn Sie nicht so jung und unschuldig wären, Lucy Walsh, wäre ich jetzt sehr versucht, Sie zu küssen, um zu sehen, ob diese schönen Lippen wirklich so weich und süß sind, wie ich sie mir vorstelle. Dann hätte ich etwas, um mich in Zukunft an Sie zu erinnern.“

„Wollen Sie also doch noch einen Kuss als Belohnung?“, fragte sie schelmisch.

„Meine liebe Miss Walsh“, sagte er und ließ den Blick genießerisch über ihren Körper gleiten, „ich bin Seemann, und wären Sie auf meinem Schiff und älter und erfahrener, würde ich auf meine Belohnung bestehen. Aber ich glaube nicht, dass Ihnen der Preis gefallen würde, den Sie zahlen müssten.“

Entsetzt wich Lucy zurück. Heiße Röte stieg ihr in die Wangen, aber seltsamerweise war sie nicht gekränkt. „Sir, Sie sind kein Gentleman.“

Er lächelte breit. „Ist es Ihnen also endlich aufgefallen. Aber keine Sorge, ich werde Sie nicht bedrängen. Behalten Sie Ihre Unschuld, Lucy Walsh. Halten Sie daran fest, solange Sie können. Ihre Unschuld ist das Kostbarste, was Sie haben, vergessen Sie das nicht.“

Lucy fand seine Worte sehr seltsam und fragte sich, was der Grund für den plötzlichen Ernst sein mochte. Und dann erschien wieder sein langsames, sinnliches, aufregendes Lächeln, bei dem sie sich immer fühlte, als hätte sie zu lange in die Sonne geschaut. „Müssen Sie weit reisen?“

„Hier in Surrey habe ich einen Verwandten besucht. Ich bin mit Jacob Higgins hier, einem Freund, und wir sind jetzt auf dem Weg nach London. Jacob wollte unbedingt wissen, was es auf dem Jahrmarkt zu sehen gibt, und sich an den Erfrischungen gütlich tun. Was mich daran erinnert, dass ich nach ihm sehen sollte. Es ist sowieso spät, und ich möchte zurück sein, bevor es dunkel wird. Captain Christopher Wilding, zu Ihren Diensten.“ Und damit wandte er sich ab und ging.

Lucy sah ihm nach, während er mit geschmeidigen Bewegungen über die Wiese schlenderte, die Zügel eines schönen braunen Hengstes ergriff und sich mühelos wie ein Athlet aufschwang. Er ritt, als wären er und sein Pferd eins. Noch immer klopfte ihr Herz schnell, und als er schließlich hinter den Bäumen verschwand, hatte sie plötzlich das schmerzhafte Gefühl, etwas sehr Kostbares verloren zu haben.

Sie wusste nicht, was in sie gefahren war, dass sie einfach so mit ihm gegangen war, denn sie war nicht fähig gewesen, ihm zu widerstehen. Als hätte die Unschuld in ihr, von der er geredet hatte, sich unter dem Einfluss seiner Blicke verändert, und sie selbst hätte sich in ein völlig schamloses Geschöpf verwandelt. Als sie an ihr Gespräch dachte und an seine Worte, als er sagte, er hätte sie geküsst, um sich dafür belohnen zu lassen, dass er sie vor dem Pferd gerettet hatte, wurde ihr plötzlich ganz heiß – vor Verlegenheit, aber auch von einer atemlosen Erregung, die nicht anders als verrucht genannt werden konnte.

Sie war sicher, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, und sie musste zugeben, dass er eine bemerkenswerte Wirkung auf sie ausgeübt hatte. In seiner Nähe war sie kein Kind mehr, sondern eine Frau, und es betrübte sie, dass er gegangen war, bevor sie begreifen konnte, was diese Anziehungskraft zwischen ihnen zu bedeuten hatte.

Jemand rief ihren Namen, und sie sah zu Emma auf, die jetzt neben ihr stand. „Wer war der Mann, mit dem du gesprochen hast?“, fragte sie und blickte in die Richtung, in der Lucys Retter verschwunden war.

„Christopher Wilding“, antwortete sie ein wenig verträumt und ohne zu wissen, dass ihre Augen strahlten und ihre Wangen eine rosige Farbe angenommen hatten, die sie vor der Begegnung mit ihrem gut aussehenden Captain nicht besessen hatten. Von dem Moment an, da sie ihm in die silbergrauen Augen geblickt hatte, hatte sie sich stark zu ihm hingezogen gefühlt. „Er kam mir zu Hilfe, als ich in Gefahr war, von einem Pferd niedergetrampelt zu werden. Und er ist ein Schiffskapitän.“

„Dann muss er mit dem Mann zusammen sein, mit dem ich mich unterhalten habe. Er sagte mir, er sei ein Seemann und dass sein Freund Kapitän sei, ein Freibeuter, der Besitzer eines Schiffs, das Sea Nymph heißt und in London anliegt, und dass er bekannt dafür sei, sich im entscheidenden Moment aus den schwierigsten Situationen retten zu können.“

Lucy lächelte nachsichtig. „Ich glaube, er wird versucht haben, dich mit seinen Geschichten zu beeindrucken, Emma.“

„Vielleicht hast du recht, aber er war nett. Oh, schau mal!“ Emma wies auf eine Ledertasche, die auf dem Boden lag. „Dein Captain muss sie fallen gelassen haben.“ Sie hob sie auf und reichte sie Lucy. „Meinst du, wir sollten hineinsehen?“

„Nein. Wenn er sie wirklich fallen gelassen hat, oder vielleicht ist sie vom Sattel gerutscht, dann müssen wir ihn finden.“ Sie sah sich in der Hoffnung um, ihn vielleicht noch zu entdecken, aber er war nirgendwo zu sehen. „Er und sein Freund müssen gegangen sein.“

„Vielleicht gibt es in der Tasche ja eine Adresse, wo er erreicht werden kann. Schau hinein, Lucy. Es wird schon nicht schaden.“

Unruhig öffnete Lucy die Tasche, aber sie fand nichts darin, das den Fremden auswies, außer einigen Papieren mit einer Andresse am Hanover Square, die sie sofort wieder hineinlegte, ohne sie zu lesen.

„Wir nehmen sie mit. Er weiß, dass ich in der Akademie wohne. Wenn er also die Papiere vermissen sollte und sie wichtig für ihn sind, wird er mich ja vielleicht dort aufsuchen.“

2. KAPITEL

Während Christopher an Jacobs Seite vom Jahrmarkt davonritt, kehrten seine Gedanken immer wieder zu seiner erfreulichen Begegnung mit Lucy Walsh zurück. Er konnte kaum glauben, dass er ein so großes Vergnügen daran gehabt hatte, mit einer jungen Dame, die kaum die Schule verlassen hatte, Zeit zu verbringen und unter einem Baum Lebkuchen mit ihr zu verspeisen. Ihre Schönheit hatte sein Interesse erweckt, und er hatte sich sofort zu ihr hingezogen gefühlt. Bis vor zwei Tagen war er auf dem Meer gewesen, und es war eine ganze Weile vergangen, seit er eine schöne Frau zu Gesicht bekommen hatte.

Als sie zur Sonne hinaufgesehen hatte, war ihm aufgefallen, was für bemerkenswerte Augen sie hatte – braun mit goldenen Flecken, tief und durchsichtig wie Sonnenschein, der sich auf dem Wasser spiegelte, und umrahmt von unglaublich langen Wimpern. Wenn er zu lange in diese Augen geblickt hätte, das wusste er, dann wäre er verloren gewesen. Ihre Haut war makellos, und ihr Mund sah aus, als würde er gern lächeln.

In der kurzen Zeit, die sie zusammen waren, hatte er ihre Gesellschaft sehr genossen und ständig gegen den Wunsch angekämpft, sich vorzubeugen und sie auf diese einladenden Lippen zu küssen. In weniger als einem Jahr würde sie sich in eine unwiderstehliche Sirene verwandelt haben, eine wahre Versuchung für jeden Mann, verlockend und herausfordernd. Doch jetzt war sie noch eine kleine Unschuld, jung, mit einem engelgleichen Gesicht und unverdorbenem Charme, der ihn zum Lächeln brachte. Aber sie verfügte auch über eine Charakterstärke, die mit den Jahren noch reifen würde. Andererseits hätte ihr ein wenig mehr Damenhaftigkeit ganz gutgetan. Denn ihr volles dunkles Haar, ein wenig zerzaust, wies hier und da Blätter und Grashalme auf, wie er amüsiert festgestellt hatte.

Die weiße Bluse und der blaue Rock, die sie trug, betonten ihre schmale Taille und die Rundung ihrer jungen Brüste, und ihr Gesicht war entzückend, aber dennoch überraschte es ihn, wie heftig seine Reaktion auf sie gewesen war. Er war schließlich ein erfahrener Mann von Welt, allerdings auch ein ehrenhafter Mann, und er hoffte aufrichtig, dass man sie nicht dafür bestrafen würde, weil sie Zeit mit ihm verbracht hatte.

Die Heftigkeit seines Verlangens kam völlig unerwartet und verblüffte ihn nicht wenig. Wie hatte er sich von einem Moment zum nächsten von einem Mann, der mit seinen Freunden einen Abend mit einem ausgelassenen Zechgelage in London verbringen wollte, in jemanden verwandelt, der sich so sehr zu einem unschuldigen achtzehnjährigen Mädchen hingezogen fühlte, dass er sie sogar sehr gern wiedersehen wollte? Sie hatte ihn die ganze Zeit aus großen Augen angestarrt, mit der Faszination eines unberührten Mädchens. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass sie mit einem reiferen Mann zusammengesessen hatte, und die ganze Situation war ihr aufregend gefährlich erschienen. Ihr war sicher nicht der Gedanke gekommen, dass sie ihr nicht gewachsen sein könnte.

Seit er erwachsen war, hatte er sich die meiste Zeit an Deck eines Schiffes aufgehalten, also hatte er den Durst nach sinnlicher Erfüllung in den Häfen stillen müssen, in denen sein Schiff anlegte – ob nun in der Karibik, in Amerika oder England. Dass er Junggeselle geblieben war, war seine eigene Entscheidung, weil er wusste, dass jede intime Beziehung zu einer Frau oder auch einer Geliebten zwangsläufig unter seiner häufigen Abwesenheit leiden würde.

In Amerika aufgewachsen, legte er Wert darauf, aus eigener Kraft ein Vermögen zu machen, und da er schon als junger Mann gelernt hatte, dass er kämpfen musste, wenn er überleben wollte, war er zu einem draufgängerischen Abenteurer und Freibeuter geworden. Doch als Enkel des Duke of Rockwood war er auch der Erbe des Titels und Rockwood Parks, des dazugehörigen Besitzes in Surrey. Sein Vater hatte sich mit seinem eigenen Vater zerstritten und auf sein Erbe verzichtet, als er vor fünfunddreißig Jahren beschlossen hatte, eine Amerikanerin von niedriger Geburt zu heiraten und in Amerika zu bleiben. Und prompt hatte der Duke seinen Sohn enterbt.

Mit den Jahren hatte er seine Entscheidung jedoch bedauert und versucht, sich mit ihm zu versöhnen. Sein Sohn allerdings hatte ihm nicht vergeben können. Als Christopher nach England gekommen war, um zur Universität zu gehen, war sein Großvater bereit gewesen, alles zu tun, um den Respekt seines Enkels zu gewinnen. Dass Christopher ihm entgegenkam und einwilligte, ihn auf Rockwood Park zu besuchen, musste ihm ein großer Trost gewesen sein.

Als Junge hatte Christopher ihm die Demütigung seiner Mutter übelgenommen, denn sie war eine sanfte, gutherzige Frau, die eine solche Behandlung nicht verdient hatte und ihr Leben gegeben hätte, wenn sie dadurch die Beziehung zwischen ihrem Mann und dessen Vater hätte wieder richten können. Christophers Vater war vor nur sechs Monaten gestorben und seine Mutter einige Monate vor ihm, und er hatte seinem Großvater von beider Tod berichtet.

Ob es nun Reue war oder der Wunsch, seinen Fehler wiedergutzumachen, wusste Christopher nicht, aber der Duke hatte begonnen, ihm regelmäßig zu schreiben und ihn zu bitten, ernsthaft darüber nachzudenken, sein Erbe doch noch anzutreten. Es lag an ihm, all das zu pflegen und zu schützen, was Generationen von Wildings aufgebaut hatten, um es dann an seine Nachfahren weiterzugeben. Christoper war der rechtmäßige Erbe von Rockwood Park, dem Familiensitz der Wildings, und der Duke wünschte sich nichts mehr, als dass er die Verantwortung dafür übernahm.

Christopher hatte gewusst, dass die Zeit kommen würde, da er ernsthaft darüber nachdenken müsste, sein Erbe anzunehmen und sich niederzulassen. Mit der Zeit hatte er seinen Großvater immer besser verstanden, und die Zeit, die er mit ihm auf Rockwood Park verbracht hatte, hatte sie einander nähergebracht, sodass er jetzt Respekt und Zuneigung für ihn empfand. Außerdem lag sein Schiff jetzt im Hafen, um verkauft zu werden, und seine geliebte Schwester, die nach einer unglücklichen Liebesaffäre versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, hielt sich ebenfalls auf Rockwood Park auf. Christopher wusste, dass der rechte Zeitpunkt jetzt gekommen war.

Lucy hatte sich nach ihrem Ausflug zum Jahrmarkt gerade gewaschen und umgezogen, als sie das Zimmer, das sie mit Emma teilte, verlassen und den attraktiven Captain wenigstens vorläufig vergessen musste, weil sie unerwartet erneut zu Miss Brody gerufen wurde. Sobald sie die fremde Dame steif auf dem grün und gold gestreiften Sofa sitzen sah, wusste sie, dass es ihre Stiefmutter sein musste. Sie erhob sich, als Lucy hereinkam, und heftete den Blick aus ihren haselnussbraunen Augen unverwandt auf sie.

„Du musst Lucy sein.“ Ihre Stimme war tief und ihre Sprechweise gelangweilt und träge – wie Honig, dachte Lucy unwillkürlich. Mit katzenartig geschmeidigen Bewegungen kam sie auf Lucy zu und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Danach trat sie leicht zurück und bedachte sie mit einem Lächeln, das ihre Lippen umgab, aber nicht ihre Augen erreichte. Womit sie die Grußworte und angebliche Zuneigung für ihre Stieftochter natürlich Lügen strafte. „Ich bin so froh, dich endlich kennenzulernen. Ich habe von deinem lieben Papa so viel von dir gehört, dass ich das Gefühl habe, dich bereits gut zu kennen.“

Lucy war völlig unvorbereitet auf diese attraktive Frau mit dem vollkommen geformten Körper und kam sich auf einmal ungelenk und altbacken vor. Sofias langes braunes Haar war zu einer raffinierten Frisur aufgesteckt worden und wurde von einem besonders eleganten Hut geschmückt, der zu ihrem safrangelben Kleid passte. Sie war hochgewachsen und schlank und besaß eine wahrhaft königliche Haltung. Ihre Lippen waren voll und rot, und obwohl einige Fältchen ihr Alter verrieten und ihre Wangen ein wenig von ihrem rosigen Schimmer eher der Schminke verdankten, konnte niemand leugnen, dass Sofia Walsh noch immer eine sehr attraktive Frau war und sehr viel jünger als Lucys alternder, kränkelnder Papa.

„Sie sind früher gekommen, als ich erwartet hatte“, sagte Lucy. „Ich rechnete erst in einigen Wochen mit Ihnen.“

„Ich weiß, meine Liebe, aber ich wollte endlich meine Stieftochter kennenlernen. Vor einigen Tag bin ich in London angekommen und sah nicht ein, warum ich noch länger warten sollte. Ich weiß, dass wir uns großartig verstehen werden. Miss Brody hat mir erzählt, wie du deine Zeit hier verbracht und was du gelernt hast, und sie lobt deine hervorragenden Leistungen. Ich wusste gar nicht, dass ich eine so kluge Stieftochter habe.“

„Lucy.“ Miss Brody erhob sich und kam auf sie zu. „Sie werden noch heute mit Mrs. Walsh abreisen. Ich weiß, dass Sie bereits einige Dinge gepackt haben, die wir Ihnen später nachschicken werden, Also denke ich, Sie gehen jetzt auf Ihr Zimmer und packen alles, was Sie schon heute mitnehmen möchten. Ich habe angewiesen, dass Mrs. Walsh eine Erfrischung gebracht wird, während Sie sich von Ihren Freundinnen verabschieden.“ 

„Ja … selbstverständlich. Entschuldigen Sie mich bitte.“

Sie verließ den Raum und schloss die Tür leise hinter sich. Die Ankunft ihrer Stiefmutter hatte sie völlig überrumpelt. Ihr gingen so viele widersprüchliche Gedanken durch den Kopf, dass sie ganz verwirrt war. Vom ersten Moment, da sie Miss Brodys Büro betreten und die schöne Frau gesehen hatte, hatte sie ein Gefühl des Unbehagens erfasst. Sie überlegte, welche Sachen sie mitnehmen wollte, und packte sie in eine Reisetasche, während Emma auf ihrem Bett saß und nicht fassen konnte, dass sie sich schon trennen mussten. Sie wussten ja nicht einmal, wann sie sich wiedersehen würden.

„Aber … das ist schrecklich“, meinte sie bedrückt. „Warum sollte sie dich so plötzlich von hier fortnehmen wollen, ohne dich vorher darauf vorzubereiten?“

„Ich weiß es nicht, Emma.“ Lucy stopfte alles, was sie in die Hände bekam, in die große Tasche. „Aber was ich von Sofia sehen konnte, gibt mir den Eindruck, dass sie eine Frau ist, die genau weiß, was sie will, und sich von niemandem ihre Pläne durchkreuzen lässt.“

„Ach, herrje! Du magst sie nicht, habe ich recht? Ich erinnere mich noch, als dein Vater dich in einem Brief von seiner Heirat in Kenntnis setzte, dass du nicht bereit warst, sie gernzuhaben.“

„Ja, das stimmt, aber das war wohl auch nicht anders zu erwarten, oder? Lieber Himmel, wie soll ich es nur ertragen? Ich werde gezwungen, die Gesellschaft einer Frau hinzunehmen, die ich nicht kenne und die in mir wahrscheinlich so etwas wie eine Absonderlichkeit sieht! Oh, warum musste meine Patentante ausgerechnet jetzt nach Frankreich reisen? Es wäre so ein Trost gewesen, sie in meiner Nähe in London zu wissen.“

„Und der Gentleman, den du heiraten sollst? Hat deine Stiefmutter ihn erwähnt?“

„Nein, und ich werde ihn auch nicht heiraten, Emma“, antwortete Lucy entschieden und steckte die Ledertasche des Captains geistesabwesend in ihre Reisetasche. „Zweifellos wird sie mir so bald wie möglich alles über ihn erzählen.“

Bis sie gepackt hatte und ihre Taschen nach unten zu der eleganten Kutsche trug, die auf der Auffahrt stand, war Sofia bereits fertig und wartete ungeduldig darauf, nach London zurückzukehren. Lucy verabschiedete sich hastig bei Miss Brody und all jenen, die gekommen waren, um sie ein letztes Mal zu sehen. Am schwersten fiel es ihr, Emma zurückzulassen. Beiden Mädchen kamen die Tränen, und Lucy fragte sich, wie in aller Welt sie ohne ihre liebste Freundin überleben sollte.

„Du wirst deinen Freundinnen schreiben können, sobald du dich eingewöhnt hast, Lucy“, sagte Sofia, während Lucy sich die Tränen abwischte.

„Ja, gewiss. Aber Emma wird mir fürchterlich fehlen. Wir haben gemeinsam in der Akademie angefangen.“

„Und deine Patentante? Sie ist in Frankreich, wie ich höre.“

„Ja, ein ziemlich ausgedehnter Aufenthalt. Sie hatte gehofft, dass ich ihr Gesellschaft leisten würde, sobald ich die Akademie verlassen hätte.“

„Dein Vater hat mir die Aufgabe der Anstandsdame für dich aufgetragen, Lucy. Du musst deiner Patentante schreiben und ihr sagen, was geschehen ist und was dein Vater für dich arrangiert hat.“

Autor

Helen Dickson
Helen Dickson lebt seit ihrer Geburt in South Yorkshire, England, und ist seit über 30 Jahren glücklich verheiratet. Ihre Krankenschwesterausbildung unterbrach sie, um eine Familie zu gründen.
Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes begann Helen Liebesromane zu schreiben und hatte auch sehr schnell ihren ersten Erfolg.
Sie bevorzugt zwar persönlich sehr die...
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