Die wilde Lady Imogen

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Ein wilder Lockenkopf voller wilder Ideen – so hat Detective Thomas Peck die resolute Lady Imogen Loveless kennengelernt. Wo immer er ermittelt, taucht sie auf und bringt mit ihrer gefährlichen Vorliebe für Explosives das Chaos mit. Kein Wunder, denn sie gehört zur berüchtigten Frauentruppe „Hell’s Belles“, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Männer zu bestrafen, die der Arm des Gesetzes nicht erreicht. Und ausgerechnet für diese widerspenstige Lady soll er den Leibwächter spielen! Gegen seinen Willen stürzt er schon bald mit Imogen von Abenteuer zu Abenteuer und lernt sie dabei von einer ganz neuen, verführerischen Seite kennen …


  • Erscheinungstag 12.10.2024
  • Bandnummer 408
  • ISBN / Artikelnummer 9783751527019
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah MacLean

Sarah MacLean wurde in Rhode Island geboren und besuchte die Harvard University, bevor sie ihren ersten historischen Roman schrieb. Bereits ihr Debüt landete auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Die zweimalige Gewinnerin des begehrten RITA-Awards verfasst regelmäßig Zeitungskolumnen über Liebesromane und engagiert sich zudem für Feminismus. Mit ihrem Ehemann lebt Sarah MacLean in New York.

1. KAPITEL

London, East End

Januar 1844

Lady Imogen Loveless liebte Explosionen.

Um eines klarzustellen: Sie war keine Sadistin. Dass eine Explosion irgendeinen körperlichen Schaden anrichten könnte, gefiel ihr gar nicht. Nein, wenn man genauer nachfragen würde, würde sie sagen, dass es nicht die explodierenden Gegenstände waren, die ihr Freude bereiteten, sondern vielmehr die Art und Weise, wie diese Gegenstände explodierten.

Imogen mochte die hellen Lichtblitze und die Hitzewellen, diesen besonderen Geruch und vor allem das Geräusch – für das ungeübte Ohr ein Bumm, Krach oder Zisch, dabei war es eher eine magische Kombination von Geräuschen, die zusammen ein ganz anderes Wort ergaben. Ein Ratatong, ein Krisseln, ein Hui-Plopp.

Man hätte Mühe, in ganz England einen anderen Menschen zu finden, der so viel Zeit darauf verwendete, über die Geräusche einer Explosion nachzudenken, wie Imogen es tat. Ihr erstes Wort war Bang gewesen, auch wenn niemand darauf geachtet hatte.

Doch da sie eine Dame war und noch dazu dem Adel angehörte, achteten nur wenige Menschen auf Imogens sonderbare Leidenschaft – oder auf eine der vielen anderen speziellen Leidenschaften, die sie in den vierundzwanzig Jahren ihres Lebens entwickelt hatte. In Wahrheit ignorierten die meisten Leute diese Leidenschaften vollkommen, denn die Beschreibung sonderbar für die einzige Schwester des Earl of Dorring genügte vollkommen, um eine Dame uninteressant werden zu lassen.

Nicht, dass Imogen sonderbar für eine Beleidigung halten würde. Sie wurde seit ihrer Geburt so genannt, seit ihr Vater sie in ihrer Schürze zur Royal Society of Chemistry mitgenommen hatte, wo sie losgezogen war und ein Pülverchen hiervon und eine Tinktur davon zusammengeschüttet hatte, um ein ziemlich lautes Ratatong hervorzurufen. Ihr Vater hatte sie über den grünen Klee gelobt, bevor er unmissverständlich darauf hingewiesen wurde, dass Kindern – insbesondere jungen Damen – der Zutritt zu diesem Gebäude nicht gestattet war.

Sonderbar, hatten die Gentlemen geraunt, als sie an ihnen vorbeitappte und ihrem Vater auf die Straße folgte.

Merkwürdiges Mädchen.

Neunmalklug.

Wenn Dorring nicht aufpasst, wird sie noch schlimmer als klug werden.

Sie wird noch zu viel werden.

Und genauso war es gekommen. Lady Imogen Loveless war zu viel für die feine Gesellschaft und zu viel für ihren Bruder, der nach dem Tod ihres geliebten Vaters ihr Vormund wurde, als sie sechzehn Jahre alt war. Und sie wäre viel zu viel für jeden Verehrer, der sich über die Schwelle ihres Hauses in Mayfair verirrt hätte – was bis zu diesem Morgen im Januar, knapp einen Monat nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag, noch niemand getan hatte.

Doch das passte Imogen ganz ausgezeichnet, denn sie war wesentlich lieber zu viel als die Alternative. Während die große weite Welt fand, dass zu viel nicht zu ihren Bällen, Dinnerabenden und Teegesellschaften passte, saß Imogen zufrieden über ihren Tinkturen und Elixieren in ihrem Labor im Keller von Dorring House. Oder sie traf sich mit ihren Freundinnen, die begriffen, wie unterhaltsam und einfallsreich sie mit ihren Experimenten sein konnte.

Bei Teegesellschaften sprach niemand über die Geräusche von Explosionen.

Und so kam es, dass an diesem Januarmorgen, kurz nach der Dämmerung, als die Luft noch frisch und kalt von der Nacht war, Imogen Loveless am Ort einer Explosion zugegen war. Dort, wo eine Explosion stattgefunden hatte, denn mit diesem fraglichen Vorfall hatte Imogen nichts zu tun. Sie wusste nicht, welches Geräusch es im Schlüsselmoment gegeben hatte – sie konnte nur raten, dass es eine Art Grollen gewesen war, aber sie war sich sicher, dass es ein gewaltiges Rumms gegeben haben musste, als das Gebäude zusammengestürzt war.

Es gab keinen besonderen Explosionsgeruch. Jeder spezifische Geruch war durch den beißenden Rauch des nachfolgenden Feuers und die Staubwolke erstickt worden. Von dem Haus war kaum mehr als ein Schutthaufen übriggeblieben.

Zwölf Stunden zuvor hatte dieses Gebäude in East London noch O’Dwyer and Leafe’s beherbergt. Die kleine Schneiderei war zwischen einem Pub und einer Konditorei eingepfercht gewesen, in einer geschäftigen Straße in Spitalfields, die nur deswegen florierte, weil die überraschende Beliebtheit dieses speziellen Ladens und das Können ihrer Eigentümerinnen einen ständigen Strom Frauen anzog. Der Verlust dieses Ladens war ein herber Schlag für alle Geschäfte, die sich um ihn herum angesiedelt hatten. Doch das Gebäude war nicht mehr zu retten. Ein Umzug war die einzige Möglichkeit.

Das war in der Tat traurig, aber außer den nächsten Nachbarn sollte es eigentlich niemanden weiter interessieren.

Ganz gewiss sollte es nicht die Aufmerksamkeit einer adligen Dame auf sich ziehen.

Schon gar nicht die Aufmerksamkeit von vier von ihnen.

Doch dies war nicht irgendein Gebäude gewesen, und diese vier waren nicht irgendwelche Damen.

Und so standen an diesen grauen Londoner Morgen, der durch drohenden Eisregen und die Stille des zerstörten Gebäudes noch düsterer wirkte, vier Frauen zwischen den Trümmern in der Lücke zwischen The Hollow Drum und Mrs. Twizzleton’s Savory Pie Shop und wirkten zugleich fehl am Platze und absolut Herrinnen der Lage.

In Ballsälen und Wirtshäusern in ganz London wurde über die Hell’s Belles getuschelt. Waren es vier? Vierzig? Manchmal schien es, als wären es viertausend. Diese Frauen hatten sich einen Namen damit gemacht, dass sie die schlimmsten Vertreter der korrupten Elite zu Fall brachten. Denn viel zu oft weigerten sich die Mächtigen, gegen Ihresgleichen vorzugehen.

Der Name Hell’s Belles war ihnen zu ihrem Entzücken von der Londoner Gerüchteküche verpasst worden, nach dem Zitat einer ungenannten Quelle bei Scotland Yard. Die wenigsten kannten auch nur ein einziges Mitglied dieser Bande namentlich, ganz zu schweigen die vier, die sie gegründet hatten. Schließlich ging es hier nur um Frauen, deshalb achteten die meisten Leute nicht weiter darauf. Und die Hell’s Belles nutzten gerne den Vorteil, den ihnen diese mangelnde Aufmerksamkeit verschaffte, und versteckten sich vor aller Augen.

Es war demnach vollkommen normal, diese vier Damen zusammen in den Ballsälen von Mayfair, den Speisezimmern von Kensington oder den Geschäften in der Bond Street zu sehen – überall dort, wo Macht, Geld und Mode für eine gewisse Unsichtbarkeit sorgten. Genauso wenig Aufmerksamkeit erregten sie in Covent Garden, wo ein guter Mantel und ein noch besserer Kutscher eine Frau mit Leichtigkeit verbergen konnten. Doch gekleidet in heller Seide und buntem Satin, mit frisch geplätteten Mänteln über den grauen Ruß des East Ends zu stapfen?

Das war etwas ganz anderes. Damen gingen nie ins East End.

Andererseits kam es nicht jeden Tag vor, dass ein Geschäft in die Luft flog, das von einer reichen Duchess finanziert wurde – genauer gesagt von zwei reichen Duchesses und den Töchtern von zwei nicht minder reichen Earls.

Lady Imogen war also an diesem Morgen vor Ort, um die Sache genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Liebhaberin aller explosiven Stoffe, die es aus eigener Kraft zur sachkundigen Sprengstoffexpertin gebracht hatte, untersuchte alles gründlich. Den Geruch. Die Rußspuren. Das Sprengmuster.

Sie kroch in den Trümmern herum, betrachtete die Verteilung des schwarzen Rußes über das, was einmal der Raum hinter der Auslage mit den Bändern gewesen war, die von der Wucht der Detonation zerschmettert worden war.

Imogen schaute an der teilweise eingestürzten Ziegelmauer hinter ihr hoch. Der Spiegel, der einst den vorderen Bereich des Ladens vom Hinterzimmer abgetrennt hatte, war herausgeflogen und von der Hitze zerstört worden. Der Holzfußboden vom Stockwerk darüber war verbrannt, vom Treppenhaus war nur noch das Gerippe stehengeblieben. Zwischen den verkohlten Balken des ersten und zweiten Stocks war der Himmel zu sehen.

Sie atmete tief ein. Die Luft roch nach Rauch, Schwefel und kaltem Regen. „Sie haben auf jeden Fall ganze Arbeit geleistet, was?“

Die Worte hingen einen Moment in der Stille, bevor sie sich zu den beiden Frauen umdrehte, die sie entgeistert ansahen.

Imogen runzelte die Stirn. „Was?“

„Darf ich vorschlagen, dass du versuchst, einen Hauch weniger beeindruckt zu klingen?“, empfahl die Duchess of Trevescan. „Immerhin wurde das gesamte Gebäude zerstört.“

Imogen zuckte mit den Schultern. „Wer immer das getan hat, wusste genau, wo er den Sprengstoff anbringen musste …“

„Und wann er ihn anbringen musste.“ Sesily Calhoun stand in der jetzt verschwundenen Türöffnung und schaute auf die Straße hinter ihr, wo bereits eine Handvoll Frühaufsteher unterwegs waren. „Spät genug, damit jeder, der etwas gesehen hat …“

„… nichts gesehen hat.“ Adelaide Carrington, frischgebackene Duchess of Clayborn, tauchte von der Rückseite des Gebäudes auf. „Die älteste Regel in South Bank. Wenn du etwas siehst, sag nichts.“ Sie wedelte mit einem Stapel Papiere herum. „Ich habe sie gefunden. In einer verschlossenen Kiste unter den Dielen im Hinterzimmer. Wie Erin gesagt hat.“

„Ausgezeichnet“, sagte Duchess und konnte ihre Erleichterung nicht verbergen, als Adelaide sich an den Überresten der Treppe zu ihr gesellte. Wenn die Dokumente, die von Frances O’Dwyer und Erin Leafe sorgfältig aufbewahrt und von Adelaide gefunden worden waren, in die falschen Hände gelangen würden, würden sie Leben vernichten. „Wir brauchen niemanden, der redet. Imogen wird sie trotzdem hören.“

Sesily lachte leise. „Und die News werden ihr Loblied singen.“

Natürlich waren es nicht immer Loblieder. Die respektablen Blätter nannten sie die Hell’s Belles, die anzüglicheren die Lady-Bürgerwehr, und für die revolutionären Zeitungen waren sie die Verteidigerinnen der einfachen Frau. Doch ganz gleich, um welche Zeitung es sich handelte, Berichte über das Quartett verkauften sich gut, dank des regen Interesses von Menschen, die sich freuten, wenn die Wahrheit endlich ans Licht kam. Natürlich wurden diese Geschichten auch von denen gelesen, die die Macht hatten – und die kein Interesse daran hatten, die Wahrheit zu hören.

Das waren die Art Leute, die Bomben an den Orten zündeten, an denen sich Frauen außerhalb des Machtzentrums trafen und für ihre Ideen einstanden. Orte wie O’Dwyer and Leafe’s.

Ohne jede Frage hatte sich die Lage verschärft, seit die Belles vor zwei Jahren angefangen hatten, für diejenigen einzutreten, denen die Macht und die Privilegien des Parlaments verwehrt waren – Frauen, Kinder, Arbeitsleute, Arme. Zugleich kämpften sie gegen diejenigen, die diese Macht und Privilegien missbrauchten, um andere zu bestrafen.

Eine Königin auf dem Thron hatte die Aristokratie bereits in Rage versetzt. Und jetzt wollten Frauen auch noch an anderen Stellen die über Generationen gepflegten Machtverhältnisse angreifen? Das genügte, um die Wut des Adels in etwas weitaus Gefährliches zu verwandeln. Etwas Explosives.

Das Ergebnis war noch mehr Unmut. Die Anzahl der aufrüttelnden Leitartikel über das schwache Geschlecht nahm zu. Es gab immer mehr warnende Geschichte über Frauen, die sich Wissen aneigneten und stärker wurden, über Arbeiter, die mehr Rechte erkämpften, über Einwanderer, die nach Gleichbehandlung strebten, über Arme, die ein Leben in Würde einforderten, über die Gefahren, wenn die Kinder anstatt in die Schule zur Arbeit geschickt wurden.

Eine Königin, hieß es unter vorgehaltener Hand, und jetzt erwarten alle, königlich behandelt zu werden.

Drei Explosionen in drei Monaten, und alle drei in Läden mit einem Hinterzimmer. Ein Geschäft nach vorne raus und eines hinten, von denen eines weit wichtiger war als das andere. Und deswegen auch gefährlicher.

Eine Bäckerei in Bethnal Green hatte als Zwischenstation für Frauen gedient, die Männern entkommen wollten, die Grausamkeit und Macht als Waffe einsetzten. Eine Druckerei in Whitechapel hatte Platz geboten für Arbeiter und Arbeiterinnen, die für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne kämpften, und jetzt das, die Schneiderwerkstatt O’Dwyer and Leafe’s, hinter der sich eine von Londons geheimen Frauenkliniken verbarg.

Alles lag in Trümmern, durch die Hände von jemandem mit beeindruckenden Kenntnissen, dürftigem Geschick und ohne jedes Gewissen.

„Obacht bei der Treppe“, sagte Imogen, ohne ihre Inspektion zu unterbrechen. „Sie ist nicht stabil.“

Duchess zog ihre Hand vom Handlauf zurück, der noch ganz zu sein schien. „Ich wage kaum zu fragen, aber ist irgendetwas hier drinnen noch stabil?“

Imogen antwortete nicht, sie arbeitete zu konzentriert.

Adelaide rückte ihre Brille gerade. „Imogen … ist irgendetwas an diesem Haus noch stabil?“

„Hmm?“ Imogen blickte auf. „Oh, ganz sicher nicht.“ Die drei anderen Frauen tauschten einen Blick, der nicht unüblich war, wenn sie sich in der Nähe ihrer Freundin, dem Feuergeist, befanden. „Sesily, würdest du mir bitte meine Tasche bringen?“

Sesily schaute misstrauisch auf die kleine Reisetasche mit Damaststickereien, die Imogen an der ehemaligen Eingangstür stehengelassen hatte. „Ganz ehrlich, mir wäre es lieber, nicht in die Luft zu fliegen, Imogen.“

„Mach dir deswegen keine Sorgen.“ Imogen deutete mit einer Handbewegung auf die Überreste der Treppe. „Solange du die Treppe nicht benutzt, passiert dir nichts.“

Duchess und Adelaide zogen sich hastig zur anderen Seite des Ladens zurück, während Sesily Imogen die Tasche brachte. Imogen öffnete das unförmige Ding und wühlte darin herum. Die Duchess schaute auf die Straße, die inzwischen belebter war als noch vor dreißig Minuten. „Beeil dich!“, sagte sie leise. „Je länger wir hier verweilen, desto eher werden wir entdeckt.“

Imogen zog ein kleines Fläschchen heraus und sammelte ein wenig von dem Ruß ein. „Fast fertig.“

„Das ist doch nicht das Werk meines Vaters, oder?“, fragte Adelaide aus sicherer Entfernung.

Imogen schüttelte den Kopf. „Den Jungs deines Vaters fehlt es am nötigen Feingefühl. Nichts für ungut.“

Adelaide lachte. „Schon gut. Man braucht kein Feingefühl, wenn man in Lambeth einen Trupp Schläger anführt und mit Waffen handelt.“ Außerdem wollte Alfie Trumbull, der Anführer der Bully Boys – der größten Bande von Kriminellen in South Bank –, ein neues Kapitel aufschlagen. Immerhin hatte er jetzt einen Duke zum Schwiegersohn. Wie sich herausstellte, brachte die Aussicht auf einen adligen Enkel selbst den hartgesottensten Verbrecher dazu, unbescholten zu bleiben. Was immer unbescholten für einen Verbrecherkönig bedeuten mochte.

„Wer steckt dann dahinter?“, fragte Adelaide.

„Jemand, der sich auskennt …“, sagte Imogen und wischte mit einem Pinsel aus Schweineborsten den Staub weg. Hochkonzentriert suchte sie die Stelle sorgfältig ab. „Aber sie sind ziemlich einfallslos. Das ist derselbe Sprengstoff, den sie schon bei den letzten beiden Malen benutzt haben. Dieselben Chemikalien. Dasselbe Explosionsmuster.“

„Einfallslos? Oder unbekümmert, ob sie erwischt werden oder nicht?“, fragte Duchess.

„Wahrscheinlich beides“, sagte Imogen.

Sesily schob sich einen Zitronenbonbon in den Mund und zog ihren scharlachroten Umhang enger um sich. „Also gut, Imogen ist also nah dran am Wer, aber … warum?“

„Es ist immer dasselbe. Den Mächtigen gefällt es nicht, wenn der Rest von uns sich ihrer Kontrolle entzieht.“ Der Abscheu der Duchess war nicht zu überhören, als sie einen Steinhaufen zu ihren Füßen mit den Zehenspitzen anstieß. „Aber derselbe Übeltäter? An drei verschiedenen Orten? Mit drei verschiedenen Zielen?“

„Ich habe nicht gesagt, dass es derselbe Schuft war“, sagte Imogen und erhob sich. „Ich sagte, es war dieselbe Person, die die Bombe gelegt hat.“

„Ein Handlanger“, erwiderte Adelaide.

Duchess sah sie an. „Du wirst deinen Vater besuchen müssen, Adelaide. Wenn die Bully Boys nicht hinter den Explosionen stecken …“

Adelaide nickte. „Er wird sicherlich eine Idee haben, wer es dann getan hat. Wir brauchen den Namen. Und zwar bald.“ Sie drehte sich um und schaute auf die Straße hinter sich. Die Sonne war aufgegangen, und die Nachbarn waren angekleidet und hatten gefrühstückt … und waren gekommen, um sich die Sache genauer anzusehen.

Duchess zeigte auf die Papiere in Adelaides Händen und deutete mit einem Nicken auf die wartende Kutsche. „Du solltest sie besser hineinbringen, bevor jemand merkt, dass wir etwas gefunden haben, das nicht verbrannt ist.“

Die Duchess of Clayborn nickte und schob die Kapuze ihres Mantels über ihr feuerrotes Haar, ehe sie sich auf den Weg zur Kutsche machte.

Sesily erschauderte. „Mach schon, Imogen.“

„Diese Dinge brauchen Zeit“, sagte Imogen, ohne von der Arbeit aufzublicken. Sie bewegte sich rasch, aber umsichtig, denn sie wusste, dass die Zeit knapp wurde. Schließlich rief sie: „Ich hab’s!“

Da. Ein Fitzelchen Stoff. Sie zog es vorsichtig aus dem Staub und zog ein zweites Fläschchen aus ihrer Tasche.

Die anderen Frauen reckten die Hälse. Duchess machte einen Schritt nach vorn und spähte Imogen über die Schulter, als diese ihren Schatz sorgfältig verstaute. „Was unterscheidet diesen Fetzen von den anderen meterlangen Stoffballen an diesem Ort?“

„Vielleicht nichts“, sagte Imogen und verstaute die Fläschchen in ihrer Tasche, ehe sie ein kleines Notizheft und einen Stift aus dem Ballonärmel ihres hellblauen Mantels zog. „Aber genau diesen Stoff habe ich schon einmal gesehen. In der Bäckerei. Und in der Druckerei. Wo Stoff nicht meterweise herumliegt.“

Sie schlug das Heft auf und hakte mehrere Kästchen ab: Zunder, Lunte, Ruß.

Sesily stieß einen leisen Laut aus, der Bewunderung verriet. „Gut gemacht, Imogen.“

„Stimmt“, pflichtete Duchess bei. „Aber da du einige wichtige Beweise vom Tatort entfernt hast, sollten wir uns besser auf den Weg machen, und zwar hurtig. Scotland Yard wird gewiss schon bald hier auftauchen.“

Imogen schnaubte abfällig. „Seit wann können die Zeit für eine Schneiderwerkstatt in Spitalfields erübrigen?“ Sie klemmte sich ihre Tasche unter den Arm und kam vorsichtig zu ihren Freundinnen, die bereits unterwegs zur Kutsche und Adelaide waren. „Kein Mann bei der Metropolitan Police will diesen Auftrag haben.“

„Ich fürchte, da irren Sie sich, Mylady.“ Eine tiefe, volle Stimme ertönte von der Rückseite des Gebäudes hinter ihnen. Das Trio erstarrte an der Stelle, die einst die Grenze zwischen drinnen und draußen gewesen war. Adelaides Gesicht tauchte im Fenster der Kutsche auf. Mit großen Augen starrte sie auf etwas hinter ihnen.

Auf einen Mann hinter ihnen.

Etwas geschah in Imogens Brust. Ein Rumms. Ein Zeichen, einzigartig und vertraut, nicht unähnlich dem Donnern der Explosion, die sie hierher geführt hatte.

Die ihn hierhergeführt hatte.

Sie drehte sich um, Schulter an Schulter mit ihren Freundinnen, und blickte in seine verärgerten Augen unter seinem Hut. Genauso verärgert wie die Worte, die er knurrend ausstieß. „Warum Sie hier sind?“

2. KAPITEL

Detective Inspector Thomas Peck hatte einen schlechten Tag.

Er hatte um Viertel nach fünf begonnen, was eindeutig die schlimmste Stunde am Morgen war. Nichts Gutes kam dabei heraus, wenn man um Viertel nach fünf aufwachte. Erstens war es die kälteste Stunde der Nacht, zu weit vom warmen Feuer im Kamin entfernt und nicht nah genug an der Sonne, die noch nicht über den Horizont getreten war. Zweitens war es zu früh. Nicht so früh, dass es mitten in der Nacht war, und nicht spät genug, um ein guter Zeitpunkt zum Aufstehen zu sein. Es war früh auf die ärgerlichste Art von allen, als ob alles vollkommen in Ordnung wäre, wenn die große weite Welt nur noch eine Viertelstunde länger warten könnte.

Der Inspektor blühte nämlich auf, wenn alles in Ordnung war.

Doch der junge Constable der neu gegründeten Kriminalabteilung bei Scotland Yard, der an die Tür von Mrs. Edwards Pension in Holborn klopfte, konnte nicht länger warten. Also war es Viertel nach fünf – eine verdammt unchristliche Zeit. Aber das war nicht die Schuld des Jungen mit dem rosigen Gesicht, wie Thomas zugab, nachdem er einen starken Kaffee getrunken hatte und an der frischen Luft gewesen war. Es lag an Thomas selbst. Denn er hatte in der gesamten Kriminalabteilung deutlich klargemacht, dass man ihn auf der Stelle zu rufen hatte, wenn es irgendwo in London eine Explosion gab. Gleichgültig, zu welcher Stunde oder an welchem Tag, er musste informiert werden. Unverzüglich.

Aber das bedeutete nicht, dass er es genoss, vor der Morgenröte geweckt zu werden.

Und es bedeutete auch nicht, dass es seiner Zimmerwirtin gefallen musste. Zumindest behauptete Mrs. Edwards, es nicht gutzuheißen, obwohl sie sich allergrößte Mühe gab, den jungen Constable zu schelten, bevor sie laut „Detective Inspector!“ die Treppe hinaufbrüllte und den Constable hochschickte, um an seine Tür zu klopfen. Das Herumgebrülle immerhin schien ihr ganz gut zu gefallen.

Wie dem auch sei, um viertel vor sechs hatte Thomas zu seiner strengen, perfekten Selbstbeherrschung zurückgefunden. Frisch gewaschen, rasiert und angekleidet verließ er das Haus. Mrs. Edwards schrie ihm ihre gut eingeübte Predigt hinterher, Warum anständige Mieter keine Besuche vor Tagesanbruch empfingen.

Aber es brauchte mehr als die Tirade einer Zimmerwirtin, um Thomas Peck von seinem Kurs abzubringen. Energisch schloss er die glänzende schwarze Tür hinter sich und ließ den Lärm verstummen. Dann sah er den jungen Constable an. „Wohin?“

Wie sich herausstellte, ging es ins East End, wo es in einer Schneiderwerkstatt zwischen einem Pub und einem Kuchengeschäft eine gewaltige Explosion gegeben hatte. Der Detective Inspector nahm kaum Notiz von der Polizeikutsche, in der er unterwegs war, und befahl dem Fahrer, ihn in der Hintergasse herauszulassen, damit er das Gebäude ungesehen betreten konnte.

Der junge Constable gab sich Mühe, zu verbergen, dass der Detective Inspector seiner Ansicht nach unvernünftig großes Interesse an einem Vorfall in Spitalfields zeigte. Allen Berichten zufolge war das Haus mitten in der Nacht niedergebrannt worden. Der Täter würde längst verschwunden sein.

Doch Thomas Peck ging es nicht um den Täter. Er rechnete mit etwas weit Schlimmeren.

Chaos. Die Art von Durcheinander, die in einer hübschen molligen Verpackung mit leuchtenden Augen und glänzenden schwarzen Locken daherkam. Die Art von Durcheinander, das allzu häufig zusammen mit Ärger einherging. Und bergeweise Papierkram.

Und da war sie, wie erwartet. Lady Imogen Loveless, gekleidet in helles Blau wie ein Sommertag. Trägt diese Frau jemals eine Farbe, die nicht in diesem verdammten Regenbogen auftaucht? Sie kletterte zwischen den Trümmern eines Gebäudes herum, das in die Luft geflogen und alles andere als standsicher war. Zwei weitere Damen waren bei ihr – die Duchess of Trevescan und Mrs. Sesily Calhoun. Und sie versprachen, seinen schlechten Tag noch schlimmer zu machen, wie sie es immer taten.

Thomas hielt sie auf, als sie zu ihrer Kutsche gingen. Das Gesicht der frisch verheirateten Duchess of Clayborn tauchte im Fenster des Fahrzeugs auf. Er würde lügen, wenn er sagen würde, dass er die erschrockene Miene der Frau nicht genießen würde – und die Art, wie die drei Röcke um die Knöchel der anderen Frauen wirbelten, die er mit seinen Worten aufgehalten hatte.

Lady Imogen drehte sich natürlich als Erste um.

Sie begann, wie sie immer begann, indem sie ihm ein kühnes heiteres Lächeln schenkte – ganz offensichtlich mit der Absicht, den Verstand eines geringeren Mannes zu verwirren. Doch Thomas Peck war kein geringer Mann, und er war immun gegen den Liebreiz dieser Frau. Zumindest, wenn er darauf vorbereitet war. „Detective Inspector! Welch eine Überraschung, Sie hier zu sehen!“

„Ich wünschte, ich könnte dasselbe von Ihnen sagen, Lady Imogen“, sagte er und blieb auf einem Haufen Ziegelsteine stehen, der einmal die Mauer zwischen dem vorderen Laden und dem Hinterzimmer gewesen war. Er widerstand der Versuchung, sich ihr zu nähern. „Aber allmählich rechne ich immer damit, Sie zu sehen, sobald irgendwo ein Durcheinander herrscht.“

Ihre dunklen Augen schienen heller zu leuchten als zuvor, und sie blinzelte kurz. „Wie nett von Ihnen, das zu sagen.“

Ihre Mitstreiterinnen warfen sich amüsierte Blicke zu.

„Obacht“, sagte er. „Woher weiß ich, dass Sie es nicht verursacht haben?“

Sie warf ihm ein Lächeln zu, das er vielleicht für hübsch gehalten hätte, wenn er sich nicht mit aller Macht dagegen gewappnet hätte. „Geben Sie nur selbst gut acht. Woher weiß ich, dass Sie hier sind, um es zu untersuchen?“

Mrs. Sesily Calhoun kicherte über die Antwort, und Thomas zog ein finsteres Gesicht. Er war gekommen, um sich den Tatort anzusehen. Er war ein Inspector der Kriminalabteilung von Scotland Yard. Er hatte Arbeit zu erledigen und war verdammt noch mal zu beschäftigt, um dieser Frau zu folgen, ganz gleich, wie oft ihre Wege sich kreuzten. „Das bin ich nicht.“

Lady Imogen schüttelte den Kopf, und Thomas hatte das deutliche Gefühl, herablassend behandelt zu werden. „Natürlich sind Sie das nicht.“

„Ich komme zu Orten, an denen Verbrechen begangen wurden. Orte, an denen von mir erwartet wird, dass ich meine Arbeit mache.“

„Eine Arbeit, die Sie sehr gut machen“, sagte sie. Sie bedachte ihn mit einem Blick, der ihm nicht so gut gefallen dürfte.

Halt stopp. Machte sie sich etwa über ihn lustig? Seine Augen wurden schmal. „Ich bin sehr gut, in dem, was ich tue.“

Dieses Lächeln wieder, breit und gewinnend. „Das sage ich doch.“

Die Damen neben ihr kicherten erneut, und Thomas hatte genug. „Myladys – warum sind Sie hier?“

„Brauchen wir einen Grund?“

„Um sich in einem zusammengestürzten Gebäude herumzutreiben? Im Allgemeinen ja.“

„Und was, wenn ich einfach Explosionen mag?“

„Das ist ein lächerlicher Grund“, erwiderte er.

„Nun, das war ziemlich unhöflich. Ich liebe Explosionen.“

„Genug, um diese hier verursacht zu haben?“

Eine Pause, dann lächelte sie wieder, ihr Blick verriet Bewunderung. Nicht, dass es ihn interessieren würde, ob diese Frau ihn bewunderte. Trotzdem missfiel es ihm nicht, als sie sagte: „Oh, das war sehr gut.“

Er runzelte die Stirn. „Was war gut?“

„Diese schnelle Antwort – das ist ein Verhör, nicht wahr? So schnell und beiläufig, dass ich darauf geantwortet hätte, wenn ich eine geringere Frau wäre. Ich kann mir vorstellen, dass es ziemlich häufig funktioniert.“

Das tat es tatsächlich. „Trotzdem haben Sie nicht geantwortet.“

Sie grinste. „Nein.“

Es sollte ihm nicht gefallen, wie sie sich mit ihm maß. Wie alles leichter wurde in diesem geistigen Wettstreit, den sie ihm anbot. Es sollte ihm nicht gefallen, wie ihre Locken über ihrer Stirn wippten. Er sollte gar nicht bemerken, dass ihre Wangen sich vor Vergnügen röteten.

Und ganz gewiss sollte er sich nicht fragen, was ihre Wangen noch vor Vergnügen erröten lassen würde.

Er räusperte sich und gewann die Kontrolle über das Gespräch zurück. „Sie sind eine Frau, die selbst eingeräumt hat, eine Vorliebe für Explosionen zu haben, und Sie befinden sich in den frühen Morgenstunden in den Trümmern eines Gebäudes, das dem Erdboden gleichgemacht wurde.“

„Stehe ich auf Ihrer Liste der Verdächtigen, Detective Inspector?“

„Nein“, gab er zu. „Aber Sie können mir nicht vorwerfen, dass ich Sie trotzdem verdächtig finde.“

„Nur Mut, Tommy. Die meisten Londoner finden mich verdächtig.“

Auf gar keinen Fall sollte es ihm gefallen, wenn sie ihn „Tommy“ nannte. Er presste die Lippen aufeinander und versuchte, seinen einschüchterndsten Blick aufzusetzen – jenen Blick, der hartgesottene Lumpen umfallen ließ. „Dies ist das dritte Haus, das in die Luft geflogen ist und bei dem ich Sie vorfinde.“

Die Dame blieb ungerührt. „Was für eine Geschichte das für unsere zukünftigen Kinder abgeben wird.“

Nur jahrelanger Übung war es zu verdanken, dass Tommys Gesicht nichts von seinem Schrecken verriet. Er atmete scharf aus und erstickte die belanglosen Gedanken im Keim, die ihre Neckerei bei einem geringeren Mann möglicherweise ausgelöst hätten. „Lady Imogen, ich glaube, Sie wissen mehr über dieses Verbrechen, als Sie bereit sind, mir mitzuteilen.“

„Das ist einleuchtend.“ Lady Imogen neigte den Kopf in seine Richtung. „Hegen Sie die ernsthafte Absicht, mich zu verhören?“

Sie machte ihn wütend. Warum also malte er sich aus, auf welche Weise er sie tatsächlich verhören könnte? Es begann immer damit, dass er sich die Dame über die Schulter und anschließend hinten in eine dunkle Kutsche warf …

Seine Gedanken wurden von einem hellen weiblichen Lachen unterbrochen. „Wirklich“, sagte die Duchess of Trevescan, „ihr zwei führt ein ausgezeichnetes Stück auf. Wenn es mit euren Karrieren bergab geht, könntet ihr immer noch zum Theater gehen.“

Mit dieser erfreuten Ankündigung ging sie weiter in Richtung Kutsche, Mrs. Calhoun im Schlepptau.

Und ließ ihn mit Lady Imogen allein.

Er trat näher zu ihr, obwohl er es nicht tun sollte. „Sie wissen, dass ich Sie unter Arrest nehmen könnte.“

„Mit welcher Begründung?“, fragte sie und kam ihm ebenfalls entgegen.

„Sie haben sich am Tatort eines Verbrechens zu schaffen gemacht.“

„Hat es denn ein Verbrechen gegeben?“ Sie machte noch einen Schritt. Näher. So nah, dass er auf ihren Scheitel herunterblicken konnte, auf die runden, rosigen Wangen, auf die Stelle ihres vorwitzigen Kinns und noch tiefer, wo das Oberteil ihres hellblauen Kleides unter dem passenden Umhang hervorlugte. Eine schimmernde Brosche aus schwarzem Obsidian, eingefasst in Silber, war auf dem Samtstoff auf ihrer weichen, vollen Brust befestigt. Genauso weich wie sie.

Er räusperte sich und zwang sich, ihr in die tiefbraunen Augen zu schauen. „Das nehme ich an.“

Sie nickte, und ihre Locken hüpften auf und ab. „Das sehe ich genauso.“

Bei diesen Worten versteifte er sich. Sie sprach so klar und sachlich mit ihm, als wäre sie ihm ebenbürtig. „Und?“

„Und …“ Sie zog das Wort in die Länge, und er lauschte ihrem Zögern, betrachtete den Schwung ihrer Lippen, die weißen Spitzen ihrer Zähne, den winzigen Hinweis ihrer rosigen Zunge am Ende des Wortes. „Ich habe nichts getan, was einen Ausflug nach Whitehall nötig machen würde.“ Eine Pause, ehe sie hinzufügte: „Zumindest nicht heute.“

Verbitterung flammte in ihm auf. „Was wissen Sie?“

„Nichts, wobei die Polizei helfen würde.“

„Sie meinen, nichts, was der Polizei helfen würde.“

„Meine ich das?“ Mit einem Lächeln wandte sie sich ab, und für einen wahnsinnigen Moment streckte er die Hand nach ihr aus. Doch er hielt inne, als seine Finger beinahe die himmelblaue Wolle ihres Mantels berührten. Sie war eine Lady. Schwester eines Earls. Er durfte sie nicht berühren. Was hatte er sich dabei gedacht?

Man sollte diese Frau wirklich nicht aus dem Haus lassen. Sie stiftete nur Verwirrung.

Und war eine Versuchung.

Nicht für ihn natürlich. Er hatte sich vollkommen unter Kontrolle. War ausgezeichnet in der Lage, ihr zu widerstehen. Er hatte schon Schlimmerem widerstanden.

Lügner.

Er riss seine Hand zurück und fand seine Stimme wieder. „Lady Imogen“, sagte er und ignorierte, wie sich ihr Name auf seiner Zunge anfühlte.

Sie antwortete nicht, doch sie blieb stehen, und ihr schwerer Wintermantel schwang um ihre Knöchel nach. Er blieb ebenfalls stehen, sein Blick wanderte über ihre Schulter, vorbei an den Locken zu der jungen weißen Frau, die vor ihr stand. Ihr Gesicht war fahl, die Augen weit aufgerissen.

„Guten Morgen“, sagte Lady Imogen heiter, als stünde sie nicht gerade vor der Ruine eines bis auf die Grundmauern abgebrannten Hauses.

Die junge Frau blinzelte, Überraschung, Verwirrung und noch etwas Schwereres spiegelten sich auf ihrem Gesicht – etwas, das noch schlimmer wurde, als sie Thomas anschaute. Unwillkürlich machte er einen Schritt zurück, um sie nicht zu bedrängen. „Oh“, sagte sie leise, und ihr Blick wanderte zu den Überresten des Gebäudes, über die Trümmer und schließlich zu der Dame, die hier so fehl am Platze war, sowohl körperlich als auch in sprachlicher Hinsicht. „Oh“, wiederholte sie, schien wieder zu Sinnen zu kommen und knickste hastig.

„Das ist nicht nötig“, sagte Lady Imogen abwinkend und legte den Kopf schief. „Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?“

„Ich hatte eine …“ Die Frau – eher ein Mädchen, sie konnte nicht älter als sechzehn oder siebzehn sein – zögerte und schaute noch einmal zum Gebäude. Die Augen wurden noch größer, wie Untertassen, gefüllt mit der Enttäuschung, die auch den Rest des Satzes erfüllte. „… eine Verabredung.“ Sie schluckte. Schwer und hoffnungslos. „Heute Morgen. Bei der Näherin. Heute Morgen.“ In den letzten Worten schwang Panik mit.

Lady Imogen nickte. „Ich verstehe. Doch wie Sie sehen können, ist sie nicht hier.“

„Ist sie …“ Erneutes Zögern.

„Oh, es geht ihr gut, machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Sie richtet bereits eine neue Werkstatt nicht weit von hier ein.“ Imogen stellte ihre Tasche ab, griff tief in den weiten Ballonärmel ihres Mantels und zog ein kleines Buch und einen Stift hervor.

Thomas fragte sich, was sie wohl sonst noch so in ihrem Ärmel aufbewahrte. Er wäre nicht überrascht, dort ein Giftfläschchen, ein scharfes Messer oder einen schweren Kerzenleuchter zu entdecken.

Während er überlegte, kritzelte Imogen etwas auf eine Seite des Buches, riss das Blatt heraus und reichte es der jungen Frau. Sie starrte einen Moment auf das Blatt, ehe sie hilflos aufschaute.

Sie konnte nicht lesen.

Natürlich war Thomas nicht der Einzige, dem das auffiel. Lady Imogen legte dem Mädchen freundlich die Hand auf den Arm und flüsterte ihr etwas ins Ohr, zu leise, als dass er es verstanden hätte. Obwohl er es versuchte, verdammt.

Die blassen Finger des Mädchens ohne Handschuhe umfingen Imogens Hand – ebenfalls ohne Handschuhe. „Vielen Dank, Ma’am.“

„Gern geschehen. Die Näherin wird im Handumdrehen alles in Ordnung bringen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“

Das Mädchen nickte rasch, dann wirbelte es herum und eilte durch den grauen Morgen davon. Der Regen konnte jederzeit in Schneeregen umschlagen.

„Sie wissen, wo Mrs. O’Dwyer und Mrs. Leafe sind“, sagte Thomas.

„Natürlich weiß ich das“, antwortete sie und bückte sich, um ihre Tasche mit der Damaststickerei aufzuheben, die sie stets bei sich zu haben schien. „Wissen Sie es denn nicht?“

Er biss die Zähne zusammen.

„Wissen Sie, Detective …“, sagte sie gut gelaunt, „… Sie sollen Ihren Tag wirklich nicht ohne Frühstück beginnen. Mit einem leeren Magen sind Sie immer in der Defensive.“

„Ich bin keineswegs in der Defensive, Mylady.“

Ein kleines Lächeln umspielte ihre hübschen rosigen Lippen. Nein. Nicht hübsch. Nicht rosig. Einfach nur Lippen. Ganz gewöhnliche Lippen. Nichts, was ihm auffallen dürfte. „Verzeihung. Ich dachte nur, nachdem Sie mit dem Aufenthaltsort von Mrs. O’Dwyer und Mrs. Leafe angefangen haben …“

Er zog ein finsteres Gesicht. Sie irrte sich nicht, aber er wäre verdammt, wenn er das zugeben würde. „Wo sind sie?“

„Das würde doch den Spaß an der Sache verderben, meinen Sie nicht?“ Damit ging diese Irre zu ihrer Kutsche, ohne Zweifel in dem Glauben, sie hätte die Schlacht gewonnen.

Er wandte sich ab, entschlossen, den Morgen noch nicht ganz verloren zu geben, und schaute prompt auf eine saubere Stelle inmitten der Trümmer. Schwarzer Ruß markierte die Stelle, die das Zentrum der Explosion zu sein schien. Und im Umkreis dieser Stelle? Frische Fußspuren von kleinen Füßen.

Mit Blicken suchte er den Bereich ab, und ihm fiel eine Unregelmäßigkeit im Explosionsmuster auf – frische Spuren im Staub.

Er drehte sich um, als die Kutschentür von innen geöffnet wurde, um Lady Imogen hereinzulassen. Ihre schwarzen Ringellocken hüpften auf und ab, und ihr reizendes Hinterteil schwang herum, als sie ihre Tasche in die Kutsche heben wollte.

Nicht, dass dieses reizende Hinterteil irgendetwas damit zu tun hatte, dass er sie aufhalten musste. „Lady Imogen“, rief er laut.

Sie drehte sich zu ihm um.

„Ihre Tasche.“

Sie legte den Kopf schief. „Meine Tasche?“

„Ich nehme an, Sie werden mir nicht zeigen, was sich darin befindet?“ Er würde sein Jahresgehalt darauf verwetten, dass sie etwas Nützliches in den Trümmern gefunden hatte, und dass es jetzt im Inneren dieser bauchigen Tasche steckte, ohne die sie nirgendwohin ging.

Seit er sie vor vierzehn Monaten (er hatte natürlich nur aus beruflichem Interesse genau mitgezählt) kennengelernt hatte, hatte Lady Imogen Loveless eine ganze Reihe bemerkenswerter Dinge aus dieser Tasche hervorgezaubert. Sprengstoff. Waffen. Und eine Reihe Akten, die Thomas geholfen hatten, die neugegründete Kriminalabteilung von Scotland Yard bekannt zu machen. Informationen über einen Earl, der seine Gattinnen getötet hatte. Über einen weiteren Earl, der Kinder entführt hatte, um sie in seinen Arbeitshäusern sterben zu lassen. Akten, so dick wie Thomas’ Daumen, jede verziert mit einer indigofarbenen Glocke und gefüllt mit genügend Beweisen, um beide Männer für den Rest ihres Lebens hinter Gitter zu bringen.

Was haben Sie heute in der Tasche, Lady Imogen?

Und noch wichtiger, warum wollte sie es ihm nicht zeigen?

Sie schaute auf die Tasche in ihrer Hand, als sähe sie sie gerade zum ersten Mal. Als sie den Blick wieder auf Peck richtete, zwinkerte sie spielerisch. „Also wirklich, Mr. Peck. Sie sollten wissen, dass man eine Dame nie nach dem Inhalt ihres Retiküls fragt.“

Er warf einen Blick auf die Tasche mit der Damaststickerei, die keinerlei Ähnlichkeit mit einem zierlichen Retikül hatte, und erwiderte trocken: „Dafür scheint mir die Bezeichnung Retikül nicht ganz zutreffend zu sein. Vermutlich befindet sich darin etwas mehr als ein Taschentuch und eine extra Haarnadel, Mylady.“

„Ich habe sie dabei, wenn ich ausgehe, und sie enthält sehr persönliche Gegenstände“, sagte sie. „Wenn das kein Retikül ist, weiß ich auch nicht, wie man es nennen soll.“

„Ich halte es durchaus für angemessen, es eine Reisetasche zu nennen“, sagte er.

„Wie dem auch sein“, gab sie zurück. „Eine Dame verrät niemals, was sie bei sich hat.“

Sie drehte sich um und reichte die Tasche durch die offene Tür, dann folgte sie selbst ins abgedunkelte Innere der Kutsche.

Er schaute zu. Natürlich nicht wegen ihres hinreißenden Hinterteils. Er sah nur zu, um sich zu vergewissern, dass sie ging. Ihre Gegenwart stellte eine ständige Ablenkung dar. Er musste arbeiten, und er wusste, wo er sie finden konnte.

Mayfair. Wo die Damen lebten. Adlige Damen mit Geld, die im East End nichts zu suchen hatten.

Obwohl es ihn mehr Anstrengung kostete, als er jemals zugeben würde, wandte Thomas sich ab und kehrte in die Ruine zurück, um die Ursache der Explosion zu untersuchen – die bereits von Imogen Loveless untersucht worden war, die mehr Geheimnisse hatte als ein kriminelles Genie.

Er ging am Rand des ehemaligen Verkaufsraumes der Schneiderwerkstatt O’Dwyer and Leafe’s entlang auf die Treppe zu, die noch stehengeblieben war. Dabei hielt er Ausschau nach möglichen Beweisstücken, die vom Verursacher der Explosion zurückgelassen worden waren. Aufmerksam suchte er den Boden nach Hinweisen ab, die sich möglicherweise zwischen Asche, Ruß und Trümmern verbargen.

Weitere Fußspuren. Von Stiefeln mit Absätzen. Ohne Zweifel blau, wie ihr Kleid. Damen wie Imogen Loveless trugen Schuhe, die zu ihren Kleidern passten, denn sie mussten nicht praktisch sein. Sie konnten majestätisch in bunten Farben herumschweben und brauchten sich keine Sorgen über Dreck am Saum oder Schmutz auf den Schuhen zu machen, denn sie hatten genug Geld und Privilegien, um sich jederzeit neue Röcke oder Stiefel zu kaufen – oder Reisetaschen oder was immer sie brauchten.

Damen wie Imogen Loveless konnten in Spitalfields auftauchen, um aus einer Laune heraus ein paar Ermittlungen zu einer Explosion anzustellen, obwohl sie keinen Grund hatten, überhaupt hier zu sein.

„Verwöhntes Volk“, murmelte er und wich den Fußabdrücken im Dreck aus, als würde er damit auch der Frau selbst ausweichen. Und allen ihresgleichen.

Über ihm knirschte es, und Thomas blickte auf. Eiskalter Regen fiel durch die verkohlten Dachbalken über ihm. Aus schmalen Augen musterte er die fehlenden oberen Stockwerke. Irgendwo gab es doch bestimmt etwas, das die Explosion überlebt hatte. Irgendein Hinweis darauf, was hier geschehen war – und was sehr dem ähnelte, was mit zwei anderen Gebäuden in den letzten drei Monaten geschehen war.

Er näherte sich der Treppe und fragte sich, wie stabil sie wohl noch war …

„Nein! Tun Sie es nicht!“

Bei dem Schrei drehte er sich um – er war zu laut, um von einer Dame zu kommen, und doch … Lady Imogen sprang aus der Kutsche auf die Straße, ohne zu warten, bis der Kutscher die Stufe ausgeklappt hatte. Sie landete im Matsch, ohne sich darum zu scheren, dass sie ihren Rock ruinierte. Womit sie bewies, dass er recht hatte.

Allerdings wirkte sie in diesem Moment alles andere als sorglos. In ihrem Blick lag etwas wie … etwas wie … Furcht? Er verlagerte das Gewicht, drehte sich um und ging auf sie zu.

Ein weiteres Knirschen von oben, lauter als das erste – eher ein Krachen.

„Imogen!“ Die Duchess of Trevescan sprang ebenfalls aus der Kutsche und wollte ihre Freundin aufhalten. „Warte!“

Ein weiteres Krachen. Lauter. Näher. Er schaute an der Treppe hinauf.

„Tommy! Kommen Sie nicht zu nah an die …“

Um Gottes willen, die Dachbalken kamen herunter.

Und Imogen rannte auf ihn zu.

Ohne nachzudenken, rannte er direkt auf sie zu, hob sie hoch, registrierte dabei kaum ihr leises „Huch!“ und sah zu, dass er auf die Straße kam. Ihre drei Freundinnen standen dicht aneinandergedrängt und starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Ruine, in der die Treppe mit einem lauten Donnern zusammenkrachte. Hinter ihnen stieg eine Wolke aus Ruß und Asche auf.

Sobald sie in Sicherheit waren, drehte er sich um und starrte auf die Stelle, wo er noch vor zehn Sekunden gestanden hatte. Auf die Imogen zugelaufen war. Er schaute auf die Dame in seinen Armen und konnte es sich nicht versagen, sie laut und wütend anzuschreien: „Verstehen Sie jetzt, dass Sie in einem explodierten Gebäude nichts zu suchen haben? Sie hätten verletzt werden können!“

Imogens Augen wurden groß, und für die Dauer eines Herzschlags sah er etwas wie Angst darin. Und er verabscheute es, dass es sie verstummen ließ.

Dann kehrte ihr Feuer zurück, hitziger als zuvor. „Ich wäre nicht dort gewesen, wenn Sie besser aufgepasst hätten!“

Er konnte einen wütenden Aufschrei kaum unterdrücken. Er sollte sie absetzen. Auf die Füße stellen und sie hier stehenlassen, auf dieser Straße in Spitalfields. Diese Irre.

Das würde er auch. Gleich.

Sobald er sicher war, dass ihr nichts zugestoßen war.

„Du liebe Güte“, warf Sesily Calhoun wie aus weiter Ferne ein. „Seht ihr seine Muskeln?“

„Ich frage mich, ob ich Henry überreden könnte, sich wieder einen Bart wachsen zu lassen“, sagte die Duchess of Clayborn. „Es ist so aufregend, wenn sie dir erlauben, ihn abzurasieren.“

Thomas sah zu den Frauen, die sie beobachteten. „Sind Sie nicht verheiratet, Myladys?“

„Das schon, aber nicht tot“, sagte Mrs. Calhoun, während die Duchess of Clayborn gut gelaunt nickte. „Wir bewundern nur, wie elegant Sie unsere Freundin gerettet haben.“

Ihre Freundin, die noch immer in seinen Armen lag, und deren weiches Gewicht ihn daran erinnerte, dass sie in Sicherheit war. Dass sie beide am Leben waren. Dass sein Herz in seiner Brust schlug.

„Nicht, dass ich hätte gerettet werden müssen“, sagte Imogen leise. „Besser gesagt, ich hätte nicht gerettet werden müssen, wenn Sie der Treppe nicht so nahe gekommen wären.“

Er konnte das Stöhnen nicht unterdrücken, das tief aus seiner Brust aufstieg.

Sie hob die Brauen. „Aber da Sie der Treppe zu nahe gekommen sind und ich hineingelaufen bin, waren Sie natürlich zur Stelle, um mich zu retten, Tommy.“

Er achtete gar nicht darauf, wie der Kosename, den nur seine Mutter und seine Schwester benutzten, mit ihrer leisen, aristokratischen Stimme klang, und berichtigte sie. „Detective Inspector.“

Herrgott, sie war so weich, und sie roch so süß, wie Törtchen in einer Geschäftsauslage, wie Birnen mit Sahne. Und während er sie hielt und sich sagte, Setz sie ab, verdammt, übernahmen ihr Duft und das Gefühl, sie zu halten, die Kontrolle über die Situation. Es war ihm unmöglich, irgendetwas anderes zu spüren als sie. Sie zu riechen. Sie anzusehen – diese rosigen Wangen, die dunklen, funkelnden Augen und das Lächeln, das er weder wahrnehmen noch sich merken sollte.

Als sie eine Hand auf seine Brust legte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Für einen einzigen, stürmischen Moment verlor Thomas Peck die Beherrschung. Und das gefiel ihm gar nicht.

„Das ist ein wunderschönes Geräusch“, sagte sie. „Dieses Harrummm.“ Sie redete von ihm. Über das Geräusch, das er gemacht hatte.

Er setzte sie ab. Unverzüglich.

3. KAPITEL

An diesem Abend, kurz bevor das Abendessen aufgetragen wurde, erhielt Imogen eine Nachricht von ihrem Bruder. Sie lebte im selben Haus wie ihr Bruder, dem sechsten Earl of Dorring, und zwar schon immer, da ihr Vater der fünfte Earl of Dorring gewesen war, doch das spielte keine Rolle. In den acht Jahren, seit ihr Vater gestorben war und der Titel an ihren Bruder gegangen war, hatte Charles Edward Carlisle sich allergrößte Mühe gegeben, jeden Umgang mit seiner jüngeren Schwester zu vermeiden.

Charles war neun Jahre älter, was das Körperliche anging, und nach Imogens Schätzung neunzig Jahre älter, was die Seele anging. Als ihr Vater starb, hatte Charles es gut bezahlten Gouvernanten, Köchinnen und Haushälterinnen überlassen, sich um seine jüngere Schwester zu kümmern. Ein ganzes Heer an Dienstboten, das Imogen nur allzu gern mit ihren Gerätschaften im obersten Stock des Ostflügels von Dorring House oder in den Tiefen des Kellers sich selbst überließ.

Von Zeit zu Zeit mutmaßte Imogen, dass ihr Bruder vielleicht einfach nicht wusste, wo sie zu finden war – doch ganz gleich, ob Charles in der Lage war, den Ostflügel oder den Keller zu finden, er hatte noch nie nach ihr gesucht. Also war es auch keine Überraschung, dass er heute Abend nicht damit anfing.

Doch am Abend um halb neun erreichte sie seine Nachricht.

Schwester, stand dort. Ich muss mit dir reden.

„Charmant“, sagte Imogen leise zu dieser Aufforderung, die zwei Dinge zeigte: Erstens war etwas Ernstes in Gange, denn er lud sie nicht häufig zu einem Gespräch ein. Und zweitens war er zum Abendessen zu Hause, was nur selten vorkam, da Dorring nur ungern mit seiner Schwester dinierte und stattdessen häufig ganz langweilig in seinem Club oder mit seiner Mistress speiste.

Es sollte erwähnt werden, dass Imogen mit dieser Regelung vollauf zufrieden war. Sie saß viel lieber in der Küche und aß dort eine leckere warme Mahlzeit, als im kalten Speisezimmer auszuharren, am Kopfende der riesigen polierten Tafel, und so zu tun, als wäre die Beziehung zu ihrem Bruder etwas anderes als nicht existent.

Außerdem gab es immer Lamm, wenn Charles zum Dinner zu Hause war.

Sie verzog das Gesicht, schob die schwere Brille, die sie zum Schutz trug, in die Stirn und trat von der Werkbank in ihrem Labor im Keller von Dorring House zurück. Sie sah den Diener an, der die Nachricht gebracht hatte. „Bitte richten Sie meinem Bruder aus, dass ich ihm gerne Gesellschaft leiste, sobald ich hier fertig bin. Ich bin mitten bei der Arbeit, wie Sie sehen.“

Geoffrey, der rotwangige junge Diener, schien den Blick nicht von einem brodelnden Topf auf einem behelfsmäßigen Herd in der Nähe abwenden zu können. Er sprach in Richtung Feuer, seine Stimme klang eindeutig besorgt. „Ja, das sehe ich, Mylady, aber der Earl hat darauf bestanden …“

Imogen seufzte. „Ich verstehe. Es ist dringend.“

„Jawohl, Mylady.“

Imogen schnappte sich einen Lappen, nahm den Topf vom Feuer und stellte ihn auf einen großen flachen Stein in der Ecke des höhlenartigen Raumes. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und winkte in Richtung Treppe. „Also los. Hören wir uns an, was der Earl zu sagen hat.“

Der Diener antwortete nicht, warf jedoch einen skeptischen Blick in Richtung Topf, aus dem es immer noch dampfte. Er schluckte, und sein großer Adamsapfel bewegte sich in seinem langen, dünnen Hals. „Ist das …“

„Absolut sicher.“ Imogen lächelte. „Ich habe nur einmal etwas aus Versehen explodieren lassen.“

„Was ist das?“, fragte er spürbar erleichtert.

„Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Nur ein wenig leichtes Schießpulver.“

Er machte große Augen. „Mylady …“

Sie tat seine Bedenken mit einer Handbewegung ab. „Kein Grund, sich zu sorgen, Geoffrey. Es ist nicht annähernd so gefährlich wie das übliche Zeug. Dieses hier dient nicht dazu, zu töten, sondern Dinge in die Luft zu jagen. Schlösser und Tresore und so etwas.“

Er sah nicht überzeugt aus.

Sie lächelte. „Vielleicht sollten wir dieses Geheimnis für uns behalten, was? Und jetzt suchen wir meinen Bruder.“

Nach kurzem Überlegen kam der junge Mann zu dem Schluss, dass es ein schwerwiegenderes Vergehen war, den Earl warten zu lassen, als seiner Schwester zu gestatten, das Haus in die Luft zu jagen, also folgte Imogen dem Diener die Treppe hinauf und durch den langen Korridor zum Studierzimmer ihres Bruders. Einen Raum, den sie nur selten betrat.

Der Diener öffnete die Tür und betrat den imposanten hohen Raum mit der dunklen Holzvertäfelung. Es roch intensiv nach Tabak und Leder – der Raum war von Generationen früherer Earls bewohnt worden, bis der gegenwärtige ihn für sich beansprucht hatte. Der Diener verkündete: „Lady Imogen, Mylord.“

Imogen verdrehte die Augen und ging an dem jungen Mann vorbei. „Danke, Geoffrey. Obwohl sich unsere Wege nicht oft kreuzen, bin ich zuversichtlich, dass mein Bruder mich erkennen wird.“

„Mylady.“ Geoffrey machte einen kleinen, akkuraten Diener und verließ das Zimmer. Im Eiltempo.

Imogen konnte es ihm nicht verübeln. Sie wünschte, sie könnte dasselbe tun.

Ihr Bruder saß am gewaltigen Schreibtisch der Dorrings, geschnitzt aus dem Rumpf einer versunkenen spanischen Galeone, die irgendein Ururahn der Dorrings auf hoher See attackiert hatte. Er las einen Brief und schaute nicht auf. „Setz dich.“

Imogen setzte sich nicht. Sie wartete und musterte dabei die makellose aristokratische Perfektion ihres Bruders.

Falls unversehens ein Reisender aus der Vergangenheit auftauchen und sagen würde „Bitte zeigen Sie mir einen modernen Gentleman“, würde ganz London ihn direkt nach Dorring House führen. Charles war dreiunddreißig Jahre alt, hochgewachsen und schlank. Sein Haar hatte die Farbe eines Sandstrandes, und die Augen waren blau wie das Wasser, das zu so einem Strand gehörte. Seine Nase war lang und gerade und würde jeden Porträtmaler in Begeisterung versetzen. In ihrem ganzen Leben hatte Imogen nie erlebt, dass auch nur ein Fitzelchen nicht an seinem Platz gewesen wäre.

Imogen dagegen war gut zwanzig Zentimeter kleiner, ein ganzes Stück runder und hatte ganz gewöhnliche braune Augen. Ihre Locken waren überaus widerspenstig, und falls sie je porträtiert werden sollte, könnte ihr Gesicht als ausgezeichnete Vorlage für einen perfekten Kreis dienen.

Bevor sie überhaupt den Mund aufmachten, entpuppte Charles sich wieder einmal als zutiefst anständig und todlangweilig. Imogen dagegen war vieles, aber das ganz bestimmt nicht.

Dass sie Geschwister waren, zeugte schon fast von einem göttlichen Sinn für Humor.

Sie war es leid, zu warten. „Hast du eigentlich jemals Falten in der Kleidung?“

Schweigen. Eigentlich nicht überraschend. Charles machte niemals ein unerwartetes Geräusch. Er hatte nichts auch nur andeutungsweise Explosives an sich.

„Hattest du noch nie einen Tintenfleck auf dem Ärmel?“

Er drehte seinen Brief um und las weiter, als hätte sie gar nichts gesagt.

Imogen warf sich in einen der Sessel vor seinem Schreibtisch. „Wie oft lässt du dir die Haare schneiden?“

Charles seufzte tief und hob eine Hand, um ihr zu bedeuten, dass sie warten sollte.

„Du hast mich gerufen, Charles. Wenn du anderweitig beschäftigt bist, kann ich auch wieder gehen …“

Er ließ den Brief sinken und schaute auf. „Du warst … Grundgütiger, was hast du denn da an?“

Sie blickte an sich herunter. „Eine Schürze.“

„Um Himmels willen, warum?“

„Aus demselben Grund, aus dem vermutlich die meisten Menschen Schürzen tragen – zum Schutz.“

„Die meisten Menschen tragen Stoffschürzen, um ihre Kleider vor Soßenflecken zu schützen. Du trägst eine Lederschürze.“

„Soll ich dich für deine rasche Auffassungsgabe loben?“

Er legte beide Hände auf die Tischplatte. „Warum trägst du eine Lederschürze?“

„Um mich vor Suppe zu schützen?“

Er ging nicht darauf ein. „Imogen.“

„Charles.“

Sie starrten sich einen langen Moment an, während er abzuwägen schien, wie lange die Unterhaltung dauern würde, falls er sie weiter wegen ihrer Aufmachung bedrängte. Verglichen damit, falls er einfach zum Punkt kam. Er entschied sich für die kürzere Variante. „Also gut.“

„Bleibst du zum Abendessen?“

„Das hatte ich vorgehabt.“

„Lamm.“

„Vermutlich.“ Er hob seinen Brief. „Darf ich?“

Sie seufzte. „Mach schon.“

„Du wurdest gesehen.“

„Ich werde an vielen großartigen Orten gesehen, Charles. Wo genau?“

Er schaute auf das Papier vor sich. „Spitalfields.“ Er erschauderte sichtlich. „Ein wahrlich entsetzlicher Name für einen Ort.“

Imogen erstarrte. Man hatte sie bei O’Dwyer and Leafe’s gesehen. Das sollte sie nicht überraschen. Ein Haus war mitten in der Nacht in die Luft gesprengt worden – das hatten die Leute spätestens am Morgen mitbekommen. Aber sie war nicht nur einfach gesehen worden – man hatte sie erkannt. Und noch schlimmer, diese Person kannte ihren Namen. Das bedeutete … eine ganze Menge. Und es schloss die Möglichkeit ein, dass jemand, der nicht nach Spitalfields gehörte, an diesem Morgen dort gewesen war.

„Wer hat dir das erzählt?“

„Da deine Antwort deine Anwesenheit bestätigt, sehe ich keinen Grund, warum das eine Rolle spielen sollte.“

Doch es spielte eine große Rolle.

War es Tommy gewesen?

Ausgeschlossen war es nicht. Er mochte ein absoluter Bär von einem Mann sein, mit dunklem Haar und blauen Augen, und noch dazu in der Lage, mit ihr zu streiten und sie dabei durch die halbe Welt zu tragen – alles durchaus hervorragende Eigenschaften. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er zu den Männern gehörte, die irgendeinem idiotischen Kodex folgen würden, nachdem sie eine Frau aus einem einstürzenden Gebäude gerettet hatten. Gut möglich, dass er sich prompt auf den Weg gema...

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