Cora Collection Band 24

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

NUR DU WECKST MEIN VERLANGEN von SHARON KENDRICK
"Du bringst mich um den Verstand!" Nie hätte Jay gedacht, dass sich hinter der kühlen Fassade von Model Keri Stevens eine so sinnliche Frau verbirgt. Kann sie sich auf eine Affäre einlassen - oder will sie mehr? Schließlich liebt Bodyguard Jay seine Freiheit über alles!

DIE PRINZESSIN UND DER BODYGUARD von VIVIAN LEIBER
Unvergessliche erotische Stunden verbringt Prinzessin Serena mit ihrem Bodyguard Dylan. Doch dann muss sie glauben, dass er sie im Auftrag des Hofes verführt hat und sie einer Intrige ihres Ex-Mannes zum Opfer gefallen ist!

DU BIST MEIN STERN von DAY LECLAIRE
Maxi will unbedingt ein Baby. Per Anzeige sucht sie den passenden Vater - mit einem Riesenecho. Wie gut, dass ihre Mutter den attraktiven Noah als Bodyguard für sie angeheuert hat. Da kann er sie bei der Auswahl beraten - oder ist er vielleicht der perfekte Kandidat?


  • Erscheinungstag 13.03.2020
  • Bandnummer 24
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728670
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sharon Kendrick, Vivian Leiber, Day Leclaire

CORA COLLECTION BAND 24

1. KAPITEL

Er sagte nicht viel, aber vielleicht war das auch gut so. Es gab nichts Schlimmeres als einen Fahrer, der seinen Mund nicht halten konnte.

Keri lehnte sich bequem in den weichen Ledersitz der Luxuslimousine zurück und betrachtete den Mann auf dem Fahrersitz vor ihr. Nein, er war definitiv keiner, der ständig plauderte, eher der starke, einsilbige Typ. Er schien sehr kräftig zu sein – davon zeugten zumindest seine breiten Schultern –, und dazu war er auf jeden Fall sehr schweigsam. Zur Begrüßung hatte er ihr nur andeutungsweise zugenickt, mehr nicht, als er sie am frühen Morgen vor ihrer Londoner Wohnung abgeholt hatte, und seitdem war von seiner Seite nicht viel mehr gekommen.

Sie fröstelte. Draußen schneite es weiter – dicke, scheinbar flauschige Flocken, die auf der Wange schmolzen und sich in den Haaren festsetzten wie widerspenstiges Konfetti. Sie zog ihren Lammfellmantel fester und kuschelte sich hinein.

„Brrr! Könnten Sie vielleicht die Heizung etwas höher stellen? Ich friere hier hinten ganz schön!“

Die Augen fest auf die Fahrbahn geheftet, drehte Jay an einem Knopf.

„Kein Problem.“

„Und hätten Sie etwas dagegen, sich etwas zu beeilen? Ich wäre gerne irgendwann heute Abend noch zurück in London, bitte.“

„Ich tue mein Bestes“, antwortete er ungerührt.

Er würde nur so schnell fahren, wie es die Straßenverhältnisse erlaubten, nicht mehr und nicht weniger. Aus seiner Position konnte er einen kurzen Blick in den Rückspiegel und auf Keri Stevens werfen. Das Fotomodell streifte sich gerade ein Paar pelzbesetzte Handschuhe über die schlanken Finger. Hätte sie aufgeschaut, hätte sie mit Sicherheit die eindeutige Irritation in seinem Gesicht erkennen können. Was sie aber wahrscheinlich nicht sonderlich aus der Fassung gebracht hätte – er war ja nur der Fahrer und eingestellt worden, um sie bei Laune zu halten. Vor allem aber, um ein Auge auf das kostbare Collier zu haben, dessen atemberaubende Diamanten an diesem außergewöhnlich kalten Nachmittag an ihrem Schwanenhals gefunkelt hatten.

Er hatte ihr zugeschaut – ihr und den Stylisten, Fotografen und deren zahlreichen Assistenten um sie herum –, und er hatte den routinierten, beinahe gelangweilten Gesichtsausdruck bemerkt, mit dem sie das ganze Theater ertrug. Wenn er ehrlich war, fand auch er das Ganze ziemlich ermüdend. So ein Fotoshooting für ein Magazin erforderte offenbar eine ziemliche Menge an Geduld. Damit konnte er normalerweise wunderbar umgehen – wenn sich die Warterei lohnte. Dies hier schien allerdings zunächst reine Zeitverschwendung gewesen zu sein.

Jay fand es vollkommen verrückt, dass eine Frau bereit war, freiwillig unter freiem Himmel ein leichtes Abendkleidchen zu tragen – und das an einem so bitterkalten Tag.

Sie war atemberaubend, musste er zugeben, so wie die Diamanten – wenn man Diamanten mochte, was er persönlich nicht tat. Eingerahmt von ihren schwarzen, locker fallenden Haaren wirkte ihr Gesicht auf den Fotos sehr blass, wie von einer hauchdünnen Eisschicht überzogen, und ihre Augen schienen so dunkel wie Zweige unter einer frisch gefallenen Schneedecke. Ihre Lippen waren voll und rot – karmesinrot, wie edler rubinroter Wein – und in ihrer Form eine reine, glitzernde Provokation. Der zarte silbrige Mantel rundete das winterliche Ambiente des Fotos ab und schmiegte sich wie Raureif um ihren Körper, um die festen, wohlgeformten Brüste und die reizenden Kurven ihrer Hüften.

Aber – es schien, als sei sie aus Eis oder Wachs: zu perfekt, um wahr zu sein, und vollkommen unnatürlich. Er fragte sich, ob diese Frau aus Fleisch und Blut war und Schmerz empfinden konnte. Wenn man mit ihr schliefe, würde sie in wilder, hemmungsloser Leidenschaft aufschreien? Oder würde sie nur ihr perfekt frisiertes Haar ordnen und es über ihre Schultern werfen?

„Wie lange werden wir wohl für den Rückweg nach London brauchen, was meinen Sie?“

Unsanft unterbrach die Stimme des Models seine Gedanken.

„Wie lange was?“, fragte er.

Keri seufzte ungeduldig. Es war ein sehr langer Tag gewesen, und um ehrlich zu sein, wollte sie jetzt nichts lieber, als schnellstens nach Hause zu kommen, ein heißes Bad zu nehmen und es sich dann mit einem guten Buch im Bett gemütlich zu machen. Stattdessen stand dummerweise noch eine Einladung zum Abendessen an. Nicht, dass das Date mit David nicht wundervoll werden würde – das war es immer. Doch die Wahrheit war, dass bei ihr der Funke nicht übergesprungen war – David fiel klar in die Kategorie „Freund“ und würde dort bleiben, was wohl auch das Beste war. Ein Paar zu sein bedeutete nur Ärger. Das sagte Keri zumindest ihre – wenn auch begrenzte – Erfahrung.

Jay kniff die Augen zusammen und richtete den Blick wieder konzentriert auf die Straße. Der Schnee wurde jetzt immer dichter. Der Himmel war so fahl und grau, dass man kaum erkennen konnte, wo die fallenden, wirbelnden Flocken endeten und der Himmel begann. Am Wegesrand ragten kahle, knöcherne Bäume auf – so tot und abweisend, man konnte sich kaum vorstellen, dass sie je wieder Blätter, Früchte oder Blüten tragen sollten.

„Schwer zu sagen“, murmelte er. „Kommt drauf an.“

„Worauf?“ Etwas an dieser unbeeindruckten, selbstsicheren Art machte sie nervös. Was für ein Fahrer war das überhaupt, der ihr noch nicht einmal annäherungsweise eine Ankunftszeit nennen konnte?

Jay bemerkte den leicht ungeduldigen Ton in ihrer Stimme und unterdrückte ein Lächeln. So war es also, wenn man der Untergebene war – beinahe hatte er es vergessen. Die Leute sagen dir, was du zu tun hast, und stellen dir Fragen, auf die sie Antworten erwarten – so, als sei man eine Art allwissende Maschine.

„Darauf, wie schlimm es mit dem Schnee wird“, meinte er. Dann bemerkte er das gefährliche Schlittern der Vorderreifen, runzelte alarmiert die Stirn und ging sofort mit dem Tempo herunter.

Er hatte einen leicht amerikanischen Akzent, und für einen Moment meinte Keri einen spöttischen Unterton herauszuhören. Misstrauisch starrte sie auf seine unbeweglichen breiten Schultern. Machte er sich über sie lustig?

Durch eine Lücke im Vorhang aus dichtem Haar, der ihr in die Augen fiel, konnte Jay erkennen, dass sie ihre zarte, blasse Stirn ganz leicht in etwas irritierte Falten gelegt hatte.

Sie fuhren weiter in die winterliche Dämmerung. Die Schneeflocken waren mittlerweile keine weichen Bilderbuchflocken mehr, sondern klein und hart, fast schon Eis. Der Wind trieb sie zu weißen, kalten Wirbeln zusammen, wie Schwärme bösartiger Bienen.

Etwas später sah er erneut in den Rückspiegel. Keri war in der Zwischenzeit eingeschlafen, den Kopf zurückgelehnt, ihr Haar ausgebreitet wie ein schwarz glänzendes Kissen. Die Decke war hinuntergeglitten, und durch den Schlitz in ihrem Rock kamen ihre langen Beine zum Vorschein – so ziemlich die längsten Beine, die er je bei einer Frau gesehen hatte. Beine, die sich um den Hals eines Mannes legen konnten wie eine todbringende Schlange. Bewusst wendete Jay seine Augen ab, nicht ohne vorher noch einen flüchtigen Blick auf ihr aufreizendes Seidentop geworfen zu haben.

Die Wetterverhältnisse boten schließlich schon Ablenkung genug: Die engen Straßen wurden mit jeder Sekunde unwegsamer und unsicherer, der Schnee immer dichter. Dazu brach die Dunkelheit herein, die Sicht wurde immer schlechter, und der Wagen begann, an Tempo zu verlieren, als er auf die ersten Schneeverwehungen stieß.

Lange, bevor es passierte, hatte er gewusst, dass es gefährlich werden würde – wirklich gefährlich. Das sagte ihm sein In­stinkt und dazu seine Erfahrungen mit den schlimmstmöglichen Wetterbedingungen. Die Scheibenwischer flatterten wie verrückt, aber völlig nutzlos über die Windschutzscheibe. Vor ihnen schien nichts als ein einziger eisiger Abgrund zu sein. Die Straße neigte sich ein wenig, und er ging vom Gas. Sie befanden hier wirklich in einer schönen, aber ziemlich abgelegenen und einsamen Gegend.

In der Dunkelheit bemerkte er ein Gebäude, das sie gerade passierten. Und nachdem er den Wagen noch eine Weile durch das Schneegestöber gelenkt hatte, wurde ihm klar, dass er umkehren musste. Das Haus war ihre einzige Rettung. Mit voller Kraft trat er auf die Bremse.

Der Ruck weckte Keri, und sie öffnete ihre Augen, noch in der behaglichen Welt zwischen Schlaf und Aufwachen. Sie gähnte.

„Wo sind wir?“, fragte sie schläfrig.

„Irgendwo im Nirgendwo“, antwortete er nur lakonisch. „Schauen Sie doch selbst.“

Die tiefe männliche Stimme holte sie sofort aus ihrem schlaftrunkenen Zustand, und sie realisierte, wo sie war. Er scherzte nicht.

Während sie geschlafen hatte, war aus der verschneiten Landschaft etwas geworden, das man nicht mehr erkennen konnte. Die Nacht war hereingebrochen, und alles war schwarz und weiß, wie das Negativ einer Fotografie, und es wäre wunderschön, wäre es nicht so … bedrohlich. Und sie waren mittendrin. Im Nirgendwo, wie er richtig gesagt hatte.

„Warum haben Sie angehalten?“, wollte sie wissen.

Was denken sie wohl, warum ich angehalten habe?

„Weil das Schneetreiben hier zu stark ist.“

„Nun, und wie lange werden wir jetzt für den Rückweg brauchen?“

Jay blickte ein weiteres Mal hinaus und dann in ihr schönes, verdutztes Gesicht. Es war offensichtlich, dass sie keine Ahnung vom Ernst der Lage hatte, also musste er es ihr erklären. Ganz vorsichtig natürlich.

„Wenn das so weitergeht, kommen wir überhaupt nicht zurück, zumindest nicht heute Abend – wenn wir Glück haben, schaffen wir es bis zum nächsten Dorf.“

Das hörte sich an wie aus einem schlechten Film.

„Aber ich will nicht in irgendein Dorf!“, rief sie. „Ich will nach Hause!“

Ich will, ich will. Diese Frau hatte vermutlich ihr ganzes bisheriges Leben damit verbracht, das zu bekommen, was sie wollte. Tja. Heute nicht.

„Das wollen wir beide, Schätzchen“, sagte er düster. „Aber wir müssen wohl nehmen, was wir kriegen können.“

Das „Schätzchen“ ließ sie ihm durchgehen. Jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um eingeschnappt zu sein, nur weil er ein bisschen zu vertraulich wurde.

„Können Sie nicht einfach weiterfahren?“

Vorsichtig drückte Jay das Gaspedal und löste dann den Fuß wieder.

„Keine Chance. Wir stecken fest.“

Sie saß kerzengerade.

„Was meinen Sie damit?“

Was, zur Hölle, denken Sie, was ich damit meine?

„Wie ich gesagt habe: Wir sitzen fest. Es gibt eine Menge Schneeverwehungen auf der Straße. Und darunter ist Eis, eine tödliche Kombination.“

Keri schloss die Augen. Bitte sag, dass das gerade nicht passiert. Sie öffnete die Augen wieder und zwang sich, ruhig zu blei­ben.

„Und, was schlagen Sie nun vor? Was sollen wir tun?“, fragte sie betont kühl.

Mit wir meinte sie wohl eher ihn.

„Ich denke, wir suchen uns eine Unterkunft.“

„Nein.“ Sie musterte seinen muskulösen Körper. „Können Sie uns nicht den Weg freischaufeln?“

„Ach, mit dem Schneepflug, der natürlich zufällig gerade in der Nähe ist?“ Jay lachte. „Schätzchen, ich glaube, Sie sind es, die nicht versteht – selbst wenn ich uns ausbuddeln würde, hätten wir nur begrenzt etwas davon. Diese Straße ist nicht mehr passierbar. Tut mir leid, aber so sieht’s aus.“

Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie verstummte sogleich, als sie zum ersten Mal wirklich in seine graugrünen Augen blickte – es waren stolze, glitzernde Augen, die ihr den Atem stocken ließen, und es war lange her, dass einem Mann das gelungen war. Es war überhaupt das erste Mal, dass sie ihn richtig betrachtete, aber normalerweise schaute man sich ja auch den Fahrer nicht unbedingt genauer an, oder? Fahrer gehörten zur Ausstattung, waren Teil des Wagens – oder zumindest sollten sie das. Keri sog trockene Luft ein, verwirrt, dass ihr Herz plötzlich zu klopfen begonnen hatte – als wollte es sie daran erinnern, dass es noch da war. Meine Güte, warum verdiente sich ein Mann wie er seinen Lebensunterhalt als Fahrer?

Sein Gesicht war gut geschnitten, mit ausgeprägten Wangenknochen, die einen reizvollen Kontrast zu seinen vollen, sinnlichen Lippen darstellten. Ein faszinierender Kranz dichter Wimpern verlieh seinen Augen einen rätselhaften Ausdruck.

Er war, ganz einfach, hinreißend.

Jay bemerkte, dass sie ihn wohlwollend betrachtete. Fast amüsierte es ihn auf seltsame Weise, dann aber zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Dies hier war Arbeit, kein Vergnügen – und selbst wenn es das wäre, stand er gar nicht auf verwöhnte, hübsche Mädchen, die erwarteten, dass man sprang, wenn sie nur den Mund aufmachten.

„Es müsste doch möglich sein, jemanden anzurufen und um Hilfe zu bitten.“

Keri begann, auf der Suche nach ihrem Handy, in ihrer Handtasche zu wühlen.

„Klar, lassen Sie sich nicht stören“, murmelte er. „Versuchen Sie es, rufen Sie den Notdienst an und sagen Sie denen, dass wir in Schwierigkeiten sind.“

Schon sein Tonfall machte ihr klar, dass sie vermutlich keinen Empfang hatten. Doch sein sturer Stolz löste bei ihr eine Mischung aus Frustration und wachsender Panik aus, und sie begann, wie wild auf den Tasten herumzudrücken.

„Kein Glück?“, fragte er etwas spöttisch.

Ihre Hand zitterte, aber sie schaffte es, das Gerät so würdevoll wie möglich wieder in die Tasche gleiten zu lassen.

„Also sitzen wir wirklich fest“, bemerkte sie tonlos.

„Sieht ganz so aus.“

Ihre Augen wirkten riesig, dunkel und sehr verführerisch in ihrem blassen, herzförmigen Gesicht – das von der Natur nur dazu gemacht war, beim Mann den Beschützerinstinkt auszulösen. Mit der Natur war es schon eine komische Sache, dachte er – eine Nase, zwei Augen und ein Mund konnten so komponiert werden, dass sie ein gewöhnliches Gesicht in ein besonders reizvolles verwandelten. Das war einfach Glück – wie so vieles im Leben.

„Hören Sie zu“, sagte er gedehnt. „Ich habe im Vorbeifahren ein Haus gesehen. Es wäre sehr viel sinnvoller, wenn wir dort Zuflucht suchen würden. Ich werde es mir mal anschauen.“

Die Aussicht, allein im Auto zu bleiben, trug nicht gerade zur Besserung ihrer Laune bei. Was wäre, wenn er in der kalten, verschneiten Nacht verschwände und nicht wiederkäme? Was, wenn in dieser Zeit jemand am Auto auftauchte? Eigentlich hatte sie gar keine Wahl – wenn sie es recht bedachte, war es wohl sehr viel sicherer, mit ihm zu gehen, als allein im Auto zu bleiben. Er zeigte zwar für ihren Geschmack ein bisschen zu wenig Respekt, aber zumindest schien er zu wissen, was er tat.

„Nein, ich möchte nicht, dass Sie mich hier allein lassen“, sagte sie. „Ich komme mit Ihnen.“

„Dazu sind Sie ja aber wohl nicht richtig angezogen, oder?“

„Tja, ich hatte mich ja auch nicht auf eine Wandertour eingestellt.“

„Schon gut, aber sind Sie sicher, dass Sie sich das zutrauen?“

„Ich schaffe das schon“, antwortete sie eigensinnig.

„Das werden Sie wohl müssen – ich werde Sie nämlich auf keinen Fall tragen.“

Er sah, wie sie schon den Mund öffnete, um seine Bemerkung zu kommentieren. Und er ertappte sich dabei, gelogen zu haben. Natürlich würde er sie tragen, weil er gar nicht anders konnte. Männer würden für eine so wunderschöne Frau meilenweit durch jede Art von Landschaft laufen.

„Knöpfen Sie Ihren Mantel zu“, wies er sie mit rauer Stimme an. „Und setzen Sie Ihre Mütze auf.“

Keri setzte zum Protest an – er hatte schließlich nicht mit ihr zu sprechen, als sei sie ein Idiot. Aber etwas sagte ihr, dass sich die Kräfteverhältnisse verschoben hatten und er nicht mehr nur der Fahrer war. Ganz plötzlich und unmissverständlich signalisierte seine Körpersprache, dass er nun die Verantwortung übernommen hatte. Für eine Frau, die es gewohnt war, dass alle Männer nur so an ihren Lippen hingen, war das etwas Neues.

Jay stieg aus, kam um das Auto herum und öffnete die Tür für sie – nicht ohne Schwierigkeiten, denn unterdessen hatte sich davor eine Menge Schnee aufgetürmt.

„Seien Sie vorsichtig“, warnte er sie. „Es ist kalt, und es ist tief. Folgen Sie mir einfach, okay? So nah und so schnell Sie können. Und tun Sie genau, was ich sage.“

Das hörte sich ganz nach Befehl an. Aber es sah so aus, als wüsste er ganz genau, wohin er gehen würde, während Keri kaum in der Lage war, zwischen Straße, Feld, Himmel und Hecke zu unterscheiden. Sie schnappte ein wenig nach Luft, als sie in das blendende Weiß hineinstolperte, und es bereitete ihr einige Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Immer wieder hielt er an und sah sich skeptisch nach ihr um.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“

Sie nickte.

„Ich bin ein bisschen langsam, oder?“

Meine Güte, Sie sind eben eine Frau und dafür nicht gemacht. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich hoffe nur, Ihre Finger frieren nicht allzu sehr.“

„Von welchen Fingern sprechen Sie?“ Keri zitterte.

Er lachte, und es klang unerwartet, seltsam melodiös, und sein Atem formte gefrorene Wölkchen in der Luft.

„Es ist nicht mehr weit“, versprach er beruhigend.

Dicht hinter ihm fragte sie sich, wie er da so sicher sein konnte. Schneeflocken wirbelten ihr ins Gesicht und schmolzen auf ihren Lippen. Die Stiefel, die sie für so bequem und praktisch gehalten hatte, waren höchstens für einen kurzen Spaziergang durch Londons Straßen geeignet. Ihre Füße fühlten sich an, als hätte man sie in Sardinenbüchsen gezwängt, und ihre Zehen begannen bereits, zu brennen und zu schmerzen. Und ihre Finger waren tatsächlich furchtbar kalt – so kalt, dass sie kaum noch ein Gefühl darin hatte.

Selten war sie sich ihres Körpers so bewusst gewesen, erst recht nicht auf so unangenehme, ungewohnte Weise, und das brachte eine ebenso ungewohnte Angst mit sich. Hatte sie nicht schon des Öfteren Zeitungsartikel über Menschen gelesen, die erfroren oder in Wetterverhältnissen wie diesen verschollen waren?

Ein Schauer durchfuhr sie, der nichts mit der Kälte zu tun hatte. Warum waren sie nicht einfach im Wagen und dort bis zum Morgen sitzen geblieben? Zumindest hätte man sie dort leicht finden können. Sie biss sich hart auf die Unterlippe, spürte es aber kaum und blieb dann abrupt stehen.

„Hier!“, rief er, und die Befriedigung ließ seine Stimme tief und kehlig klingen. „Ich wusste es!“

Keri schaute angestrengt nach vorn, ihr Atem ein schmerzvolles, eisiges Keuchen in ihren Lungen.

„Sind wir da?“, fragte sie schwach.

„Ja. Da vorne ist es!“

Als sie neben ihm ankam, tauchte das Haus vor ihr in seiner ganzen Größe auf. Allerdings wirkte es weder warm noch besonders gemütlich. Es war ein altes, ziemlich heruntergekommenes Landhaus, und der Weg dorthin war vollkommen verschneit. Licht war keines zu sehen, und die hohen Fenster hatten keine Vorhänge, aber immerhin bot es Schutz.

Und dann tat Keri das, was jede Frau in dieser Situation getan hätte: Sie brach in Tränen aus.

2. KAPITEL

Jay kniff die Augen zusammen und warf ihr einen schnellen, etwas abschätzigen Blick zu. Das war so typisch Frau! Die Kanadier hatten mindestens fünf verschiedene Bezeichnungen für Schnee, die Isländer noch unzählige mehr – und etwas ganz Ähnliches galt für die Tränen der Frauen. Sie begannen aus allen möglichen Gründen zu weinen, und nur selten aus einem wirklich ernsten Grund. Diese Tränen hier, stellte er fest, waren wahrscheinlich reine Tränen der Erleichterung.

Er ignorierte sie.

„Da ist niemand zu Hause“, sagte er halb zu sich selbst. Falls hier überhaupt jemand wohnte.

Ihr Tränenausbruch hatte sie selbst überrascht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal geweint hatte. Das gehörte zu den Dingen, die sie in ihrem Job gelernt hatte: ihre Gefühle stets hinter einem strahlenden, professionellen Lächeln zu verstecken. Wahrscheinlich sollte sie dankbar sein, dass er sie gar nicht beachtet hatte. Dummerweise war sie gleichzeitig enttäuscht, dass er noch nicht einmal versucht hatte, sich um sie zu kümmern, zumindest ein bisschen – und so rieb sie sich mit ihrer kalten Hand betont die Augenwinkel.

„Woher wollen Sie das wissen?“, schniefte sie.

Das zu erklären würde länger dauern, als aktiv zu werden, und so begann Jay, kräftig an die Haustür zu klopfen. Er wartete eine Weile, aber wie er sich bereits gedacht hatte, rührte sich nichts.

„Treten Sie mal einen Schritt zurück“, wies er sie knapp an.

„Sie haben doch jetzt nicht etwa vor, die Tür einzutreten, oder?“, fragte sie ihn ungläubig.

Er schüttelte den Kopf, auch wenn er für einen Moment versucht war, ihr tatsächlich eine kleine Demonstration seiner männlichen Stärke zu geben.

„Nein, ich werde stattdessen das Schloss aufbrechen.“

„Das können Sie nicht machen! So etwas nennt man Einbruch!“

Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu.

„Und was würden Sie vorschlagen?“, entgegnete er unbeeindruckt. „Dass wir hier die ganze Nacht herumstehen und uns zu Tode frieren, um uns die Medaille für brave Bürger zu verdienen?“

„Nein, natürlich nicht, ich …“

„Warum halten Sie dann nicht mal für eine Minute den Mund und lassen mich machen, würden Sie das tun?“

Diese Anweisung grenzte schon wieder deutlich an absolute Unhöflichkeit, aber Keri hatte keine Zeit, zickig zu werden. Auch, weil er zu ihrer Überraschung aus der Tasche seines Anoraks etwas zu Tage beförderte, das einem Schraubenzieher glich. Im Handumdrehen hatte er die Vordertür geöffnet. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihren entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte.

„Sie sehen überrascht aus“, sagte er schmunzelnd.

„Überrascht würde ich vielleicht nicht gerade sagen – aber wie, zur Hölle, haben Sie das so schnell geschafft?“, fragte sie beim Hineingehen. Fest schloss er die Tür hinter ihnen.

„Das wollen Sie nicht wirklich wissen“, wiegelte er ab. „Verbuchen Sie es einfach als eins meiner zahlreichen Talente.“

Sie beäugte ihn skeptisch, während er schon dabei war, sich umzusehen.

Das Ganze gefiel ihm, gestand Jay sich ein. Er hatte schon vergessen, wie es war, sich auf sein Wissen zu verlassen, sich mit dem Unerwarteten auseinander setzen zu müssen und seinen Instinkt und seine Kraft zu benutzen. Es war lange her, dass er das zuletzt getan hatte. Viel zu lange her.

„Hier wohnt niemand“, sagte er leise. „Zumindest nicht immer.“

„Woher wissen Sie das?“

„Weil es kalt ist – wirklich kalt. Und es riecht neutral – wenn Menschen länger an einem Ort leben, dann hinterlassen sie ihren ganz spezifischen Geruch.“

Er blickte auf den Boden, wo ein ganzer Stapel offensichtlich unangetasteter Post lag.

„Aber es ist noch etwas anderes, mehr als das. An einem unbewohnten Ort spürt man die Einsamkeit“, fügte er hinzu.

Einsam … ja, unabhängig von seiner abgelegenen, rein geographisch isolierten Lage verströmte das Haus tatsächlich ein Gefühl von Einsamkeit. Keri erkannte, dass dies für sie auch eine tiefer gehende, ganz persönliche Bedeutung hatte – man konnte furchtbar beschäftigt sein, sich aber dennoch bisweilen schrecklich allein fühlen.

„So, da sind wir“, stellte er fest. Allein und gestrandet, in einem schönen Haus mit einer noch schöneren Frau. Eine zwar unerwartete, aber vielleicht gute Änderung seiner Pläne für diesen Tag.

Er hatte seine Stimme gesenkt, sie war tiefer geworden. Keri starrte ihn an, und plötzlich traf sie die Realität der Situation wie ein Schlag. Jetzt gab es nur ihn und sie. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erschien er ihr mehr und mehr in einem anderen, intensiveren Licht, und es verwirrte sie. Er war nicht länger nur irgendwer, den ihre Agentur für das Shooting engagiert hatte, sondern … jemand ganz anderes.

Ein Mann.

Der erste Eindruck, den sie bereits im Auto gewonnen hatte, war ganz richtig gewesen. Er war … beeindruckend. Sehr groß, größer noch als sie, und das passierte ihr auch nicht besonders oft, denn Keri war hoch gewachsen für eine Frau – so wie es üblich war bei Models. Aber es war nicht nur seine Größe, die ihn für sie so attraktiv machte, es war etwas Subtileres, Gefährlicheres, und es hatte mit der fast greifbaren Männlichkeit zu tun, die er ausstrahlte, einer beinahe animalischen Hitze, die dem Wetter draußen trotzte.

Keri schluckte. Die Hände in ihren Handschuhen begannen, feucht zu werden. Und plötzlich schien es ihr, als sei der Raum kleiner geworden, fast klaustrophobisch, obwohl die Halle in Wirklichkeit hoch und geräumig war. Vielleicht empfand er das auch so, denn er streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.

„Mal sehen, ob wir nicht ein bisschen Licht … verdammt!“

„Was ist los?“

„Das hätte ich mir denken können. Kein Strom.“ Er fluchte leise, holte ein Feuerzeug aus der Tasche, ließ es aufschnappen und zündete es mit dem Daumen. Sofort leuchtete sein Gesicht im Schein der hellen Flamme reizvoll auf.

Er musterte sie von oben bis unten. „Sind Sie okay?“

Tja, bis er das Feuerzeug hinausbefördert hatte, war es ihr den Umständen nach gut gegangen. Tränenverschmiert zwar, dazu unterkühlt und leicht traumatisiert, das ja – aber hauptsächlich froh, jetzt ein Dach über dem Kopf zu haben. Und wenn es schon nicht warm war, so doch zumindest trocken.

Die Flamme des Feuerzeugs warf tiefe Schatten auf sein Gesicht, und seine Augen glitzerten kalt und intelligent. Er wirkte selbstsicher und unerschütterlich, während sie sich dagegen eher ein wenig benommen fühlte.

„Mir … mir geht es gut“, brachte sie hervor. Sie musste sich einfach zusammenreißen. Es sah ganz danach aus, als würden sie eine Zeit lang hier bleiben müssen – und wenn das tatsächlich so war, so hieß es, ganz schnell ein möglichst neutrales Verhältnis zwischen ihnen herzustellen. Damit sie beide wussten, wo sie standen. Sie brauchten Grenzen, die es nicht zu übertreten galt. Sie dürfte ihn nicht als Mann sehen.

Er ist bloß der Fahrer, Herrgottnochmal, Keri, wies sie sich zurecht. Und ein Bodyguard, der angestellt wurde, um … um …

„Oh, mein Gott!“, rief sie aus.

Er warf ihr einen etwas genervten Blick zu. „Was ist los?“

„Die Kette! Sie sollen doch auf die Kette achten!“

Missbilligend verzog er den Mund. „Tja, ist das nicht wieder typisch Frau? Da ist sie nun in Sicherheit, und alles, woran sie denken kann, sind Diamanten!“

Er fuhr mit der Hand in die Tasche, zog lässig die Juwelen hervor und ließ sie über seine Hand gleiten. Eindrucksvoll versprühten sie ihr heiß-kaltes Feuer auf seiner gebräunten Haut.

„Sehen Sie?“ Er schenkte ihr einen etwas spöttischen Blick. „Nun zufrieden?“

Keri war alles andere als das. Sie war es gewohnt, geachtet und angebetet zu werden – Männer, die ihr mit solch großspurigen Macho-Allüren begegneten, die mit Anweisungen um sich warfen, in fremde Häuser einbrachen und davon offenkundig gänzlich unbeeindruckt blieben, gehörten normalerweise nicht zu ihrem Bekanntenkreis.

Sie müssen eher zufrieden sein“, stellte sie fest. „Zufrieden und froh, dass Sie sie nicht verloren haben – schließlich sind die Diamanten ja doch etwas mehr wert als Ihr Job.“

Jay musste lächeln. Diese Bemerkung sollte ihm wohl seine Position zuweisen, aber Miss Beauty würde bald erkennen, dass er kein Mann war, der sich in konventionelle Kategorien einordnen ließ. Vorgeblich nachlässig ließ er den Schmuck wieder in seiner Tasche verschwinden.

„Das ist wahr“, stimmte er ihr mit Unschuldsmiene zu. „Ich kann Sie ja nicht glauben lassen, ich hätte sie auf dem Schwarzmarkt verpfändet, nicht wahr? Jetzt lassen Sie uns aber erst mal schauen, ob wir irgendwo eine Kerze finden. Außerdem müssen wir ein Feuer anmachen. Aber ich glaube, wir sollten zuerst den Rest des Hauses in Augenschein nehmen.“

Sie klapperte mit den Zähnen vor Kälte. „Mit der Aussicht, was genau zu finden?“

„Mit der Aussicht, Süße, zu sehen, welche Annehmlichkeiten dieser Ort zu bieten hat.“

Da – er machte es schon wieder! „Ich bin nicht Ihre Süße!“

Empfindlich war sie auch noch. „Nun, dann sollten wir uns vielleicht mal bekannt machen“, sagte er gedehnt. „Schließlich weiß ich noch nicht einmal Ihren Namen.“

Wie absurd, sich auf diese Weise gegenseitig vorzustellen! Als ob alle Regeln des sozialen Umgangs über den Haufen geworfen und neu erfunden worden wären. Aber in was hatten sie sich verwandelt? „Ich heiße Keri.“ Sie zögerte. „Und Ihren Namen weiß ich auch nicht.“

Diese Frau hatte offenbar keine Ahnung, wie sie auf diese Situation reagieren sollte, stellte er leicht amüsiert fest. Oder, wie sie auf ihn reagieren sollte. Vielleicht war sein erster Eindruck doch richtig gewesen – dass sie blutleer war und unfähig, voller Leidenschaft zu lieben.

„Ich heiße Linur“, verkündete er herausfordernd. „Jay Linur.“

Es war ein ungewöhnlicher Name, und vielleicht war das der Grund, warum er gut zu ihm passte. Erneut spürte sie die Notwendigkeit, Grenzen zu ziehen.

„Und – Sie sind Amerikaner?“

Er wusste genau, was sie zu tun versuchte. Dieser scheinbar vage interessierte, leicht herablassende Tonfall. Seine Augen sprühten vor Energie.

„So faszinierend mein Name für Sie zu sein scheint … mir ist kalt bis auf die Knochen – also warum vertagen wir die Diskussion nicht auf später, wenn wir uns umgeschaut haben? Wollen Sie nicht losgehen und das Haus erkunden?“

„Habe ich denn eine Wahl?“

„Tja, ich schätze, wir könnten hier auch weiter herumstehen und höflich Konversation betreiben …“

„Ich will Sie nicht unter Druck setzen“, meinte sie betont freundlich. „Das könnte unter Umständen zu viel verlangt sein.“

Er lächelte knapp. „Das könnte tatsächlich möglich sein“, bestätigte er fast schmeichelnd. Ihr unterschwelliger Spott brachte sein Herz beinahe so zum Rasen wie ihre rosigen Lippen.

Keri versuchte, so nahe wie möglich bei ihm zu bleiben, ohne ihn jedoch zu berühren. Nur die schwache Flamme des Feuerzeugs beleuchtete ihren Weg. Jay führte sie in einen Raum, bei dem es sich offenbar um die Küche handelte – auch wenn sie eine solche Art Küche noch nie zuvor gesehen hatte. Vom Durchgang aus nahm sie undeutlich einige altmodisch aussehende Utensilien wahr.

„Ich werde mich auf die Suche nach Kerzen machen“, schlug er vor. „Warten Sie hier.“

Ich gehe ohnehin nirgends hin, weil ich gar nicht kann, dachte sie ziemlich niedergeschlagen und sah ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand. Er braucht mich überhaupt nicht, aber ich brauche ihn. Sie konnte hören, wie er Schränke und Schubladen öffnete, und vernahm das Klappern von Porzellan. Als er wieder auftauchte, hatte er zwei Kerzen dabei, die er mit flüssigem Wachs auf Unterteller geklebt hatte. Eine gab er ihr, und der Widerschein der Flamme tanzte in seinen Augen.

„Halten Sie sie gerade“, wies er sie an.

„Also, mit einer Kerze kann ich gerade noch umgehen!“

Der Schalk in seinen Augen sagte ihr, dass er dies bezweifelte, aber er beließ es dabei.

„Kommen Sie, wir schauen uns erst einmal oben um.“

Es gab drei Schlafzimmer, sie wirkten geisterhaft und verlassen.

„Ich fühle mich wie in einem Spukschloss“, wisperte Keri. „Jeden Moment können wir mit einem Geist zusammenstoßen.“

„Das fehlte mir gerade noch“, murmelte er. „Kommen Sie, es gibt keinen Grund, sich hier aufzuhalten.“

Sie gingen zurück nach unten und bewegten sich nun in entgegengesetzter Richtung vorwärts, weg von der Küche. Auf der anderen Seite der Halle gab es eine schwere Eichentür. Jay stieß sie auf und wartete einen Moment, bis die Flamme wieder stillstand.

„Kommen Sie hier herüber, Keri“, rief er, und er klang aufgeregt. „Schauen Sie sich das an!“

Keri erreichte die Tür und folgte seinem Blick. „Gütiger Himmel“, sie atmete aus.

Hinter der Tür befand sich ein großzügiger Raum, der aussah, als stamme er aus einem vergangenen Zeitalter. Es gab einen riesigen Kamin, eine Menge Bücher stapelten sich in Regalen, und zahlreiche Bilder hingen an den Wänden. Jay hielt die Kerze hoch über sie, sodass Keri sehen konnte, dass die Decke mit dunklen Holzornamenten verziert war.

Jay holte weitere Kerzen aus der Tasche, zündete sie an und stellte sie auf dem Kaminsims und einem niedrigen Tisch auf.

Es war erstaunlich, welchen Unterschied ein bisschen Licht machte, und je heller es durch die Kerzen wurde, desto weniger Furcht einflößend wirkte der Raum.

Keri begann erneut, mit den Zähnen zu klappern. Die eisige Kälte machte sich auf ihrer ohnehin schon kalten Haut immer mehr bemerkbar. Jay registrierte das.

„Ich werde mal schauen, dass ich hier ein Feuerchen entzünde. Warum spielen Sie nicht in der Zeit ein bisschen Pfadfinder und gucken, was Sie sonst so zu unserer weiteren Versorgung finden können.“

Sie sah ihn ratlos an, woraufhin er einen etwas ungeduldigen Seufzer von sich gab und anfing, leicht entflammbares Holz zusammenzusuchen.

„Nahrung“, erklärte er. „Essen, Getränke, Kaffee – was auch immer.“

Keri warf einen ängstlichen Blick in Richtung Dunkelheit. „Ich? Ganz allein?“

„Es gibt hier nichts, wovor man Angst haben müsste.“ Seine Stimme klang versöhnlich und aufmunternd. „Hier, nehmen Sie eine Kerze mit.“

Sie hob die Hand zum Kopf. „Aber bevor ich irgendetwas tue, muss ich dieses Ding loswerden.“

Er verengte die Augen, als sie sich ihre feuchte Mütze vom Kopf zog. Sie schüttelte ihre Haare, die erst nachtschwarz glänzend um ihren Kopf tanzten und sich dann in sanften Wellen über ihre Brüste legten. Es war ein atemberaubender Moment, die Geste so elegant wie die einer Tänzerin, und Jay fragte sich, ob sie natürlich war oder ob Keri sie erst im Laufe ihrer Model-Karriere eingeübt hatte. Er zwang sich dann aber, sich zusammenzureißen und nicht an sie als Frau zu denken – schließlich war dies nur ein Job.

Allerdings ein Job, der sich gerade in etwas vollkommen anderes zu entwickeln begann, als Jay noch am Morgen erwartet hatte … Er kniete sich hin und sah ihren endlosen Beinen hinterher. Und er spürte ein schon längst vergessen geglaubtes Ziehen in seiner Leistengegend – seine instinktive Reaktion auf eine schöne Frau. Gott, es war so lange her, dass ihm das zum letzten Mal passiert war.

„Nun gehen Sie mal und schauen, dass Sie etwas zu trinken besorgen“, forderte er sie auf. „Ich bin schon ganz ausgetrocknet.“

Gehen Sie mal? Gehen Sie mal? „Sprechen Sie gefälligst nicht so mit mir!“, sagte sie ruhig, aber bestimmt.

Überrascht schaute er auf. „Was meinen Sie?“

„Sie wissen doch ganz genau, wovon ich spreche!“

„Sie meinen, Sie können einfach nicht mit einem Mann umgehen, der Sie nicht zufällig anhimmelt. Ist es das?“

„Drehen Sie mir gefälligst nicht das Wort im Mund herum!“

Würden ihre Füße nicht so furchtbar wehtun und hätte sie nicht solche Angst, die Kerze könne ausgehen, dann wäre Keri wahrscheinlich in einer dramatischen Geste aus dem Zimmer gerauscht. Aber Jay Linur schien kein Mann zu sein, der sich davon hätte beeindrucken lassen, und so ging sie einfach hinaus, wenn auch mit betont geradem Rücken und hocherhobenem Haupt.

Sie fand den Weg zurück in die Küche und sah sich um. Es schien nicht sehr hoffnungsvoll. Im Schrank fanden sich nur einige Zinnteller und ein paar verstaubte Teebeutel, die sicher ungenießbar waren.

Keri füllte einen Kessel mit Wasser und drehte an einigen Knöpfen, doch es passierte nichts – und dann fiel ihr ein, warum. Sie ging zurück in den großen Raum, wo Jay es bereits geschafft hatte, eine – wenn auch winzige – Flamme zu entzünden.

Er blickte zu ihr hoch. „Was ist los?“

„Ich kann kein Wasser heiß machen. Es gibt hier keinen Strom – erinnern Sie sich?“

Jay schaute sie prüfend an. „Und was ist mit Gas?“ Er zog fragend die Augenbrauen hoch und schüttelte dann den Kopf. „Ich glaube es ja nicht – Sie hielten es gar nicht für nötig, genau nachzuschauen, stimmt’s?“

Ihr war danach, ihm zu sagen, dass sie Model war und nicht die Leiterin eines Pfadfinderlagers für kleine Mädchen. Und dass sie persönlich überhaupt nichts Heißes trinken wollte. Wenn ihm danach war – bitte sehr, sollte er sich doch selbst einen Tee machen. Aber sein leicht warnender Gesichtsausdruck brachte sie dazu, nichts darauf zu erwidern. Mit ihm hier festzusitzen entwickelte sich immer mehr zu einem wahr gewordenen Albtraum – allerdings, das musste sie sich eingestehen, wäre es sogar ein noch schlimmerer Albtraum, wäre er nicht da.

„Nein, Sie haben recht“, gab sie widerstrebend zu.

„Na, dann würde ich vorschlagen, Sie gehen zurück in die Küche und versuchen es noch einmal.“

Er tat es schon wieder – er fertigte sie ab wie ein Schulmädchen. Das konnte sie nicht so stehen lassen, irgendwann musste sie ihn darauf aufmerksam machen, und vielleicht war es das Beste, wenn sie es jetzt sofort tat.

„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie nicht gerade der Charmanteste sind?“

„Oh.“ Er schwieg einen Moment. „Ist es also Charme, den Sie von mir wollen, Keri?“

Die Frage traf sie genauso wie sein geheimnisvoller, herausfordernder Blick und der seidige, fast streichelnde Unterton seiner Stimme. Und plötzlich wurde sie sich der zarten Spur eines unwillkommenen Gefühls im Inneren bewusst, zu undeutlich noch, um es genau definieren zu können. Fast so, als ob … Sie schüttelte den Kopf, um es wegzuschieben und zu verleugnen, und schenkte ihm ihr kühlstes Lächeln. Das, mit dem man eigentlich die meisten Männer verunsichern konnte – ein frostiges, absolut distanziertes Lächeln.

„Keine Spur – aber wenn Sie sich mit Ihrer arroganten, machomäßigen, herumkommandierenden Art etwas zurückhalten könnten – dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

Nun hob er die Augenbrauen, begleitet von einem lakonischen Ausdruck.

„Ach, mögen Sie das nicht?“

„Zeigen Sie mir eine Frau, die es tut!“

„Ich könnte Ihnen Heerscharen davon zeigen!“ behauptete er, und seine Stimme war weicher geworden – er dachte an zwei ganz bestimmte Frauen.

Ich jedenfalls bin keine von ihnen!“

Er beobachtete, wie sie auf immer noch kalten Füßen aus dem Zimmer humpelte, mit ihrem beinahe sündig kurzen Lederrock, und er konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie der Rock beim Gehen zart ihre Schenkel berührte.

Keri wusste erst nicht recht, wohin mit sich in der Küche. Sie versuchte, dieses seltsame prickelnde Gefühl loszuwerden – obwohl es sie in gewisser Weise auch erregte. Als sei ihr Blut plötzlich in ihren Adern zum Leben erwacht, um ihr bewusst zu machen, wo und wie es sich durch ihren Körper bewegte. Hier zu ihrer Schläfe. Da zu ihrem Handgelenk. Und hier. Und hier. Und dort auch. Da.

Ihre Wangen brannten, es war fast schon unangenehm. Irgendwie war er dafür verantwortlich. Er hatte etwas Unbekanntes und auch Ungewolltes in ihr geweckt – mit seinem sanften Spott und der herausfordernden Art, sie anzuschauen. Und er tat es so verdammt unverhohlen!

Hatte sie vielleicht erwartet, er würde in ihrer Gegenwart schüchtern auftreten, wie es so viele Männer taten? Verwirrt und auch etwas verzaubert von ihrem Aussehen und ihrem Status? Besonders jemand, dessen Job es war, Autos zu fahren – völlig nebensächlich, wie gut er aussah und was für einen tollen Körper er hatte.

Sie drückte die Hände an ihre brennenden Wangen und hasste sich ein bisschen für diese körperliche Reaktion, die sie nicht kontrollieren konnte. Es war höchste Zeit, sich zusammenzureißen, pragmatisch zu sein und einen kühlen Kopf zu behalten. Es war wichtig, sich immer wieder klarzumachen, dass er sie nicht würde provozieren können, wenn sie sich schlicht nicht aus der Ruhe bringen ließ.

Keri fand einen angeschlagen aussehenden Kochtopf in einem der Schränke und kehrte schließlich ziemlich entnervt und mit einem abgebrochenen Fingernagel, aber mit zwei dampfenden Tassen Tee ins große Zimmer zurück. Wenigstens hatte er es geschafft, das Feuer in Gang zu bekommen, und auch wenn die Flammen noch eher spärlich an einem der großen Holzscheite leckten, so tauchten sie den Raum doch bereits in weiche, Behaglichkeit verbreitende Rot- und Orangetöne.

Sie zog ihren Mantel aus, näherte sich der Wärme des Feuers und reichte ihm eine der Tassen. Dann kauerte sie sich auf dem Boden zusammen und wünschte sich sehnlichst, etwas anderes und vor allem Praktischeres zu tragen als ihren Lederrock. Warum, um alles in der Welt, hatte sie ihn an einem solch kalten Tag überhaupt angezogen?

Auch Jay Linur hatte sich mittlerweile seiner ziemlich abgetragenen Jacke entledigt, aber im Gegensatz zu ihr offenbar keinen Wert auf elegante Kleidung gelegt. Sein Outfit war praktisch und strapazierfähig. An seinen langen, schlanken Beinen trug er ein Paar ausgeblichene Jeans, und ein weicher, dunkler Pullover wärmte seinen Oberkörper. Lichtfunken aus dem Feuer schienen in seinem zerzausten, etwas zu langen schwarzen Haar zu tanzen. Ein bisschen hatte er etwas von einem Piraten, und er passte einfach großartig zu dem antiken Kamin.

Er wirkte, als fühlte er sich vollkommen zu Hause, wie er so lässig und entspannt auf dem Teppich ausgestreckt lag und ins Feuer sah – voller verwegener, arroganter Selbstsicherheit, die Augen von seinen langen, dichten Wimpern verdeckt. Jay wandte den Kopf, um sie mit scheinbar mäßigem Interesse zu betrachten.

Keri setzte ihre Tasse ab und kratzte leise jammernd mit dem beschädigten Nagel über ihre Handfläche.

„Haben Sie sich verletzt?“, fragte er sanft.

„Nicht wirklich, aber ich habe mir den Nagel abgebrochen – und ich kann ihn noch nicht einmal gerade feilen, weil ich meinen Kosmetikkoffer im Auto gelassen habe.“

Er stieß ein kurzes Lachen aus. „Draußen sind Temperaturen unter Null, es schneit immer noch ohne Ende, wir sind im Nirgendwo gestrandet, und alles, worüber Sie sich Sorgen machen, ist Ihr verdammter Fingernagel!“

Keri war eindeutig ins Hintertreffen geraten. „Es geht hier nicht bloß um Eitelkeit, wenn Sie darauf hinauswollen – zufällig hängt mein Job unter anderem vom Zustand meiner Hände ab. Ich sollte nächste Woche ein Shooting für ‚Nail Varnish‘ machen.“ Tatsächlich verspürte sie gerade zum ersten Mal das Bedürfnis, ihren Job vor irgendwem zu rechtfertigen. Aber warum – warum gerade jetzt und warum gerade ihm gegenüber?

Jay nippte an seinem Tee und zog eine Grimasse. Er fragte sich, in welcher Welt sie lebte, in der ein abgebrochener Fingernagel solche Bedeutung haben konnte. Keine Welt, in der er je würde leben können, so viel war klar. Tja, jedem das Seine, so war es wohl.

Er setzte angewidert die Tasse ab. „Was, zur Hölle, haben Sie denn da hineingetan? Arsen vielleicht?“

„Oh, tun Sie mir bitte den Gefallen und bringen mich nicht dazu, es noch zu tun! Ich habe eben das genommen, was da war“, gab sie etwas gereizt zurück. „Und das waren nun einmal Teebeutel, die nach Mittelalter aussahen.“

„Wobei ich allerdings glaube, dass es im Mittelalter noch keine Teebeutel gab“, bemerkte er trocken.

Fast musste Keri lachen. Beinahe. Grenzen setzen, erinnerte sie sich. „Sie haben wohl auf alles eine Antwort parat, nicht wahr, Mr. Linur?“

Er schaute sie an. Oh ja. Die Antwort blickte ihm gerade direkt ins Gesicht. Die Lippen leicht geöffnet, so weich und glänzend, dass sie praktisch dazu einluden, geküsst zu werden. Aber er war nicht auf das Interesse einer eiskalten Schönheit angewiesen, deren ganzer Lebensinhalt darin bestand, sich auf ihr zufällig von Mutter Natur bestimmtes Aussehen zu verlassen – nichtsdestotrotz hielt ihn das nicht davon ab, sie zu begehren.

„Versuchen Sie es“, murmelte er. „Stellen Sie mir jede Frage, die Sie wollen.“

Da war es wieder – dieses prickelnde Gefühl, dass etwas außer Kontrolle geraten war, als hätte sie zu viel Champagner in zu kurzer Zeit getrunken. Keri schluckte. „Okay, wie wäre es für den Anfang damit – was schlagen Sie vor, um uns beide hier herauszubekommen?“

3. KAPITEL

Jay zuckte die Schultern. „Ich habe auch keine Ahnung, wie ich uns hier herauskriegen könnte“, sagte er schlicht.

Keri zog die Augenbrauen hoch. „Meinen Sie damit, dass wir hier für immer bleiben müssen?“

Keine Sorge, Süße, dachte er bei sich, der Gedanke gefällt mir so gut, wie er dir zu gefallen scheint.

„Die Aussicht ist verführerisch – aber nein, sicher werden wir hier nicht für immer bleiben. Wir können allerdings jetzt gerade nicht viel tun, zumindest nicht, bevor es aufhört zu schneien. Ich fürchte, bis dahin müssen wir es einfach aussitzen.“

Diese Aussicht machte sie mehr als unruhig.

„Und wie lange kann das dauern?“

„Wer weiß? Bis es anfängt zu tauen oder bis uns jemand findet.“

Aber wie konnte man sagen, wie lange das sein würde? „Sie haben noch nicht einmal versucht, per Telefon um Hilfe zu bitten!“, warf sie ihm vor.

„Ganz einfach, weil es kein Telefon gibt. Ich habe nachgeschaut.“

„Wie kann es sein, dass jemand heutzutage kein Telefon hat?“

„Ich schätze, das hier ist ein Ferienhaus, und die Besitzer haben sich bewusst entschieden, hier ohne jeglichen Komfort auszukommen.“

Plötzlich sehnte sich Keri schrecklich nach dem Sicheren, Berechenbaren. Wie nach der Sicherheit ihres Londoner Apartments – das so verschieden von diesem altmodischen Gemäuer war wie nur möglich. Wo sich Wärme mit dem simplen Betätigen eines Schalters erzeugen ließ, und wo sie es als beruhigend empfand, dass draußen Taxis und Autos herumfuhren.

„Das ist doch wirklich die reinste Ironie“, meinte sie und erschrak, wie laut ihre Stimme in dem großen Raum klang. „Ein Haus, das als Zufluchtsort gedacht ist – und wir stecken hier fest.“

„Na, hören Sie, es könnte sehr viel schlimmer sein“, sagte er etwas vorwurfsvoll. „Immerhin haben wir ein Dach über dem Kopf.“

Das hatten sie tatsächlich. Und zwar sie beide, ganz allein. Und Keri hatte recht behalten – in einer Lage wie dieser galten keine Regeln; sie mussten für jede jeweils neu entstehende Situation erfunden werden.

„Was werden wir also tun?“

Er setzte sich auf. „Als Erstes müssen wir etwas essen.“

„Essen?“, echote sie ratlos.

„Sie nehmen doch Nahrung zu sich, nehme ich an?“

Jay beobachtete sie im Schein des Kaminfeuers. Sie war mehr als schlank – er sah Ecken und Schatten und lange, grazile Beine, sie erinnerte an ein hoch gewachsenes, edles Rennpferd. Der Lederrock saß auf ihren Hüften, die schmal waren wie die eines Jungen, und wenngleich sie Brüste besaß, so waren sie doch recht klein, wie die eines jungen Mädchens. Jay mochte Frauen mit Kurven, mit straffer Haut und einem Körper, den man anfassen konnte, mit sanft geschwungenen, weichen und fraulichen Formen.

„Obwohl, wenn ich Sie mir so anschaue, dann essen Sie sicher nicht besonders viel.“

„Auch wenn es Ihnen seltsam erscheinen mag – aber der wohlgenährte Typ ist in meiner Branche zurzeit nicht besonders gefragt“, konterte sie trocken.

„Was ich persönlich allerdings nie verstanden habe.“

„Heißt das, Sie mögen keine schlanken Frauen?“

Er kniff die Augen zusammen. „Vorsicht, Keri, das hört sich ziemlich danach an, als seien Sie auf ein Kompliment aus, und ich schätze, davon bekommen Sie ohnehin überdurchschnittlich viele.“

Das stimmte allerdings. Tatsächlich konnte Schönheit aber eine zweischneidige Klinge sein. Sie verdiente ihr Geld damit, ihr gutes Aussehen zu verkaufen, und gleichzeitig wünschte sie sich oft, dass die Menschen durch ihre attraktive Hülle hindurchblickten, zu der Frau dahinter. Einer Frau mit den gleichen Problemen und Unsicherheiten, die jede normale andere Frau auch hatte.

Etwas in die Enge getrieben, fuhr sie sich mit der Hand durch das lange dunkle Haar. „Da besteht wohl zurzeit keine Gefahr, schätze ich. Ich muss aussehen, als hätte ich mich rückwärts durchs Unterholz geschlagen.“

Ihre Frisur war von der Mütze zerzaust, und sie hatte ihr Haar nicht gebürstet, dazu fiel es ihr in ebenholzfarbener Unordnung über das seidige Top. Ihre Wangen waren rosig, von der Kombination aus Kaminfeuer und den Nachwirkungen ihres Marsches durch den Schnee. Dennoch wirkte sie noch unberührbarer und begehrenswerter als in der Rolle der diamantenbehängten Eisprinzessin in silberner Robe, die noch einige Stunden zuvor für die Kameras posiert und geglitzert hatte.

„Falls Sie es genau wissen wollen, Sie sehen etwas … wild aus“, sagte er vorsichtig. „Wie eine Waldnymphe, die man gerade aus einem langen Schlaf geweckt hat.“

Sie war weder jemals im Leben „wild“ genannt worden – noch hatte man sie je mit einer Waldnymphe verglichen. Die Poesie in seinen Worten hatte auf Keri eine so verführerische, so starke Wirkung, dass sie einen Moment lang ein langsames, pulsierendes Glühen von Verlangen spürte. Bis sie sich daran erinnerte, dass es verrückt war.

Vollkommen verrückt.

„Haben Sie nicht etwas von Essen gesagt?“

„Klar.“ Er stand auf und fragte sich, ob sie wusste, wie reizend sie aussah, wenn sie die Eisprinzessinnenhülle ablegte und darunter ganz weich war. „Wie wäre es mit einer fairen Arbeitsteilung? Ich gehe los und suche nach Brennholz, und Sie zaubern uns eine Mahlzeit. Schauen Sie einfach, was da ist – und fertig.“

„Ich warne Sie – es gab in dieser Küche“, sagte sie bedächtig, „nicht sehr viel, was mit Essen im weitesten Sinne zu tun hat – nichts außer ein paar alten Büchsen.“

„Na, dann los, öffnen Sie diese!“, forderte er sie auf und warf einen weiteren Holzscheit ins Feuer.

Keri erkannte schnell, dass dies leichter gesagt als getan war, schon weil der Dosenöffner ziemlich museumsreif aussah.

Jay betrat die Küche, als sie gerade frustriert eine Dose auf den Tisch knallte. Großartig, dachte er. Ein kleiner Wutanfall, warum auch nicht.

„Gibt es ein Problem?“, fragte er lakonisch.

„Bitte sehr, versuchen Sie es doch!“, entgegnete sie eingeschnappt.

Er nahm die Dose und las das Etikett. Seine Stimme war kühl. „Eingelegte Pfirsiche?“

„Tja, offenbar sind frische Früchte hier leider gerade Mangelware …“

„Das meinte ich nicht!“, unterbrach er sie.

„Nun ja, die Auswahl ist einfach nicht besonders groß.“

„Wenn Sie denken, ich kann von eingelegten Pfirsichen leben, dann liegen Sie ziemlich falsch.“

„Und, würde es Ihnen dann etwas ausmachen, die Dose dann vielleicht für mich zu öffnen?“

Das war schnell erledigt, und er schob die geöffnete Dose angewidert von sich, als sei der Inhalt vergiftet. Dann beugte er sich hinunter und untersuchte den Inhalt des Schranks. Nachdem er einige Zeit herumgekramt hatte, förderte er schließlich ein Päckchen Spaghetti sowie eine Dose Fleischsoße zu Tage. „Was ist hiermit nicht in Ordnung?“

Sie hielt es für keine gute Idee, ihm die Einschränkungen ihres Speiseplans zu erklären, aber schon rutschte ihr etwas heraus. „Ich esse keinen Weizen.“

Jay schüttelte sich. Frauen und ihre Essensmacken!

„Dafür habe ich kein Problem mit Weizen“, sagte er kühl. „Wäre es also zu viel verlangt, diese Nudeln zu kochen?“ Er sah, wie sich ihr Mund bereits öffnete, um zu protestieren. Dann aber lenkte sie ein.

„Sie bekommen Ihre Nudeln.“

„Gut.“ Er wandte sich zum Gehen und verließ die Küche ohne ein weiteres Wort.

Er dachte, dass sie ohne Zweifel wunderschön war – aber so nützlich wie ein Iglu während einer Hitzewelle. Die Aussicht, die Nacht hier mit ihr zu verbringen, brachte einen winzigen Muskel in seiner Schläfe in Bewegung, und dann fiel ihm der einzige Raum ein, den sie noch nicht erforscht hatten. Vielleicht barg der Keller ja irgendwelche unerwarteten Schätze. Irgendetwas, um die Anspannung ein wenig zu lösen.

Er kehrte mit einem Ausdruck von Triumph im Gesicht in die Küche zurück – und dazu mit einer staubigen Flasche Wein in der Hand. Vorsichtig stellte er sie auf dem Tisch ab.

„Schauen Sie sich das an! Ist es zu glauben?“

Mürrisch schaute Keri hinter dem dampfenden Topf auf. Die Hälfte der Spaghettis waren ihr auf dem Weg in den Topf aus der Hand geflutscht, und den Finger hatte sie sich auch noch verbrüht. „Eine Flasche Wein – na und?“

„Das ist nicht irgendeine Flasche Wein“, setzte er dem entgegen und fuhr mit dem Daumen fast ehrfürchtig über das Etikett, als streichele er die Haut einer Frau. „Zufällig ist es eine Flasche St. Julien du Beau Caillou.“

Er hatte seine Stimme voll Anerkennung gesenkt, und seine französische Aussprache war beinahe perfekt. Keri war sprachlos.

„Sie kennen sich mit Wein aus, nicht wahr?“

Der Ton ihrer Stimme sagte schon alles. „Ungewöhnlich für einen Wald- und Wiesenfahrer, ist es das, was Sie meinen?“, provozierte er sie. „Sie dachten wohl, ich sei mehr der Biertyp, oder?“

„Ehrlich gesagt, hatte ich noch nicht wirklich darüber nachgedacht.“

Lügnerin, dachte er. Du hast mich doch längst in die kleine Schublade deiner stereotypen Erwartungen gesteckt. Obwohl – hatte er mit ihr nicht genau das Gleiche getan, wenn er ganz ehrlich war? Sie jedenfalls schien dem tatsächlich zu entsprechen – mit ihren seltsamen Essgewohnheiten und ihrer generellen Unfähigkeit, sich mit unerwarteten, misslichen Gegebenheiten auseinander zu setzen. Sie war gut darin, hübsch auszusehen, und nicht viel mehr, zumindest, soweit er das bisher beurteilen konnte.

Jay fand einen Korkenzieher und hob fragend seine dunklen Augenbrauen.

„So, trinken Sie nun ein Glas Wein mit mir, Keri, oder bleiben Sie lieber bei Ihrem Wasser?“

Normalerweise würde sie sich natürlich ans Wasser halten, ja – aber an diesem Abend war das etwas anderes. Möglicherweise würde der Wein ihre angeschlagenen Nerven etwas beruhigen und ihr helfen einzuschlafen. Sie wagte kaum, daran zu denken, wo und wie sie später die Sache mit dem Schlafengehen arrangieren würden.

„Ich trinke ein Glas mit Ihnen“, sagte sie etwas gehemmt.

„Wie überaus großmütig von Ihnen“, murmelte er. Der Korken löste sich mit einem befriedigenden Geräusch.

Währenddessen schaute Keri in den kleineren Topf mit der Fleischsauce und verzog das Gesicht. Selbst in einem Hundenapf hatte sie schon Appetitlicheres gesehen.

Jay füllte zwei Gläser mit Wein und beobachtete sie dabei, wie sie mit beiden Händen den schweren Topf mit den Nudeln zum Spülbecken trug. Meine Güte, dachte er, ihre Handgelenke waren so schmal, als könnten sie jeden Moment brechen.

„Lassen Sie mich das machen“, sprang er ein. Er schob die Ärmel seines Pullovers hoch und nahm ihr den Topf ab, bevor sie ihn fallen lassen konnte, benutzte den Deckel zum Abgießen und schüttelte dabei ein wenig ungläubig den dunklen Kopf. „Irgendwie kann ich es ja nicht glauben, dass Sie … wie alt sind Sie überhaupt?“

Es war wohl sinnlos, ihn darauf hinzuweisen, dass ihn das nichts anging. „Sechsundzwanzig.“

„Sechsundzwanzig! Und Sie können noch nicht mal mit Spaghettis umgehen!“

„Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert“, konterte sie. „Und ich habe keinen Vertrag unterschrieben, in dem steht, dass Frauen unbedingt kochen können müssen.“

„Dann tut mir der Mann leid, den Sie mal heiraten.“

„Tja, was das betrifft, müssen Sie sich keine Sorgen machen“, gab sie etwas heftiger als beabsichtigt zurück. Ihre Aufmerksamkeit war auf seine Arme gelenkt worden – die gebräunt waren, muskulös und dazu bedeckt mit feinen dunklen Härchen.

Ein plötzlicher Anflug von Interesse brachte sein Blut in Wallung. „Sie meinen also, es ist kein Kandidat in Sicht?“

Sie nahm die Veränderung in seiner Stimme wahr, in der nun etwas Glühendes lag, und ihre Blicke trafen sich für einen kurzen, unvergesslichen Moment.

Keri war es durchaus gewohnt, dass ein Mann sie voller Interesse anschaute – sie hatte es in der Vergangenheit oft genug erlebt –, aber niemals war es so gewesen wie jetzt und hatte eine solch heftige, umwerfende Wirkung auf sie gehabt. Ein Blick, so kurz, es hätte auch eine Illusion sein können – doch es hatte ausgereicht.

Was ihren Puls zum Rasen brachte, war das Wissen, dass dieser Mann hier vollkommen anders war als all diejenigen, denen sie bisher begegnet war. Ein Mann mit Ecken und Kanten, stark und verantwortungsvoll – und der erstaunlicherweise dazu in der Lage war, ein französisches Weinetikett mit perfekter Aussprache zu lesen.

Sie wollte ihn anschreien: „Schauen Sie mich nicht so an!“ Sie wollte ihm sagen, dass das überhaupt nicht infrage kam – wenn es das war, was er dachte. Auch wenn dabei ein anderer, bisher tief verborgener Teil von ihr sich fragte, wie es wohl sein mochte, sich an seine starke, muskulöse Brust zu schmiegen.

„Keri?“, riss er sie sanft aus ihren Gedanken.

Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, ihre eigene dagegen hörte sich tief an, heiser – vollkommen anders als ihr üblicher kühler Tonfall. „Ja?“

„Könnten Sie ein paar Teller herunterholen, bitte?“

Er konnte die Verwirrung in ihren Augen sehen, als sie sich rasch abwandte. Also hatte sie es auch gespürt – diese unerklärliche Chemie, die zwischen Mann und Frau entstehen konnte und manchmal fast greifbar wurde, wenn man es am wenigsten erwartete.

Nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte es erwartet – weil er einfach heißblütig war, wie jeder normale Mann. Bringt man einen attraktiven Mann mit einer attraktiven Frau zusammen und tut ein wenig Atmosphäre hinzu, so ist das Ergebnis ziemlich absehbar. Jay war daran gewöhnt, dass die Frauen auf ihn zukamen.

Aber Miss Beauty war da anders. Sie war eine Frau, die Schutzwälle aufbaute – wahrscheinlich eine Notwendigkeit, wenn man so aussah wie sie. Sie würde auf der Hut sein vor Männern, die interessiert waren an ihr – und welcher Mann, der alle Sinne beieinander hatte, würde sie nicht wollen?

Keri stellte einen Teller auf den Tisch, und ihre Hand zitterte dabei leicht.

„Essen Sie nichts?“, fragte er.

„Das da werde ich nicht essen, mir reichen die Pfirsiche.“

„Sie machen doch Spaß!“

„Nein, Jay, ich meine es ernst. Das ist schon in Ordnung – und überhaupt sollte man keine schweren Mahlzeiten mehr zu sich nehmen, bevor ich meine … nach sechs Uhr“, beendete sie den Satz und fuhr sich über die Lippen, die plötzlich ganz trocken waren. Sie hätte beinahe gesagt vor dem Schlafengehen, hatte es sich aber im letzten Augenblick verkniffen.

„Ganz, wie Sie meinen.“ Er zuckte mit den Schultern, nahm sich von den Nudeln und dachte, dass er es mochte, wie sie seinen Namen aussprach – ganz langsam und süß, als habe sie jeden Buchstaben in Honig getaucht.

Keri sah ihm dabei zu, wie er eine für ihre Begriffe riesige Portion auf seinen Teller lud.

„Sie haben nicht wirklich vor, das alles alleine zu essen?“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Ich habe großen Appetit!“, sagte er ernst.

Sie merkte, wie ihre Knie weich wurden. Es war furchtbar. Oder war es vielleicht unvermeidlich, dass es nicht mehr möglich war, klar zu denken oder es zu vergessen, sobald sich dieses gewisse Gefühl und Bewusstsein einmal in den Sinn geschlichen hatte? Er ist dein Fahrer, Keri, erinnerte sie sich zum wiederholten Male.

„Nun kommen Sie schon, Keri. Lassen Sie uns diese ganzen Köstlichkeiten mit hinübernehmen. Wir könnten vor dem knisternden Feuer sitzen und dann …“

„Dann was?“, wollte sie wissen, und ihre Stimme hob sich alarmiert.

„Dann – dann können Sie mir Ihre Lebensgeschichte erzählen.“ Er grinste anzüglich. „Erst mal.“

4. KAPITEL

Irgendwo zwischen Küche und dem riesigen Wohnzimmer hielt Keri Zwiesprache mit sich.

Es hatte keinen Sinn zu leugnen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, sogar auf eine sehr einschüchternde Weise. Er war unglaublich attraktiv, dazu hatte er Verantwortung übernommen und sie in Sicherheit gebracht, und auch das übte eine gewisse Anziehung auf sie aus. Ein Mann mit Beschützerqualitäten entsprach definitiv einem jahrhundertealten urweiblichen Bedürfnis – auch wenn sie bis zu diesem Moment nicht gewusst hatte, dass auch sie es besaß.

Er sah so aus, als sei er schon stark und verantwortungsvoll zur Welt gekommen. Das Aussehen war nicht mehr als nur die äußere Hülle – und sie wusste nur allzu gut, was sich möglicherweise dahinter verbergen konnte. Was Jay Linur von all den anderen unterschied, war eine Art innere Ausgeglichenheit und Souveränität.

Das war schon bemerkenswert für einen Fahrer. Besonders erstaunlich war, dass es ihn nicht im Geringsten zu verunsichern schien, hier mit ihr eingeschlossen zu sein. Vielleicht war es so, weil er nichts zu verlieren hatte und er deswegen in der Lage war, sie so zu behandeln, wie sie selten behandelt wurde – als sei sie bloß irgendeine Frau und er nur irgendein Mann.

Und ein Mann, das war er definitiv. Ein Mann, der in der Lage war, eine Krise zu meistern, aber auch ein Mann, den sie nach diesem Abend nie mehr wiedersehen würde. Sie tat also gut daran, ihn schnell zu vergessen, und mit ihm sein markantes Profil. Außerdem sollte sie damit aufhören, Blicke auf seinen muskulösen Körper zu werfen.

Das Feuer knisterte mittlerweile ziemlich laut – und aus dem goldenen Schein der Flammen stieg von den bernsteinfarbenen und karmesinroten Holzscheiten ein wundervoller Duft auf, der durch das Zimmer zog. Mit klopfendem Herzen bemerkte Keri, dass er einige Decken aus dem oberen Stockwerk zum Wärmen für sie beide auf dem Boden gestapelt hatte, wenn auch in ziemlichem Abstand voneinander.

„Hmm, das riecht gut“, versuchte sie, ihre Unsicherheit zu überspielen.

„Apfelholz“, informierte er sie und stellte dabei das Tablett ab. „Und ich habe noch ein Bund getrockneten Lavendel im Korb gefunden. Ein herrlicher Duft, nicht wahr?“

Keri nickte. Er hatte sich auf dem Boden ausgestreckt, und nach einem Moment der Unentschlossenheit tat sie es ihm gleich. Weil es sinnvoll war. Dort war es am wärmsten – so nah am Feuer wie nur möglich.

Sie sagte sich, dass dieses weiche, flackernde Licht schon dem Klischee nach dazu da war, eine romantische Stimmung herzustellen, und sie musste sich darüber im Klaren sein und sich erinnern, dass die hier erzeugte Stimmung nicht mehr war als eine Illusion.

Jay nahm die Gläser vom Tablett. Wenn sie so nachdenklich war, sah sie erstaunlich jung aus – sanfter und süßer. Aber Models waren tough – das mussten sie schließlich sein. Ein paar hatte er kennen gelernt – Frauen mit so vielen verschiedenen Masken, dass man am Ende nicht mehr wusste, ob darunter wirklich Substanz und Persönlichkeit vorhanden waren.

„Hier.“ Er reichte ihr den Rotwein.

„Danke.“ Sie drehte den Kopf und nahm das Glas in Empfang, verunsichert von seinen kalten, forschenden Augen, die sie genauestens zu untersuchen schienen, als sei er der Wissenschaftler und sie das Objekt.

„Essen Sie doch“, ermunterte er sie mit leicht neckendem Unterton. „Hmm … die Pfirsiche sehen ja verführerisch aus!“

Keri hatte ihren Appetit schon seit Jahren streng unter Kontrolle. Schließlich erwartete man von ihr, dass sie in die Kleider passte, die man ihr für Shootings oder den Laufsteg zuteilte. Aber im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleginnen rauchte sie nicht mehr – und wann immer sie sich dabei ertappte, etwas essen zu wollen, das ihrer schlanken Figur womöglich geschadet hätte, lenkte sie sich mit einem Spaziergang ab, las ein Buch oder arrangierte Blumen. Eine Art Verdrängungstherapie, die normalerweise wunderbar funktionierte – nur, dass keine dieser Maßnahmen hier und jetzt durchführbar war.

Sie nahm ein Stückchen Pfirsich und einen großen Schluck Wein. Gleichzeitig versuchte sie, den Geruch von Jays Essen zu ignorieren und nicht hinzuschauen, wenn er genüsslich die Spaghetti um seine Gabel drehte und mit beinahe sinnlichem Genuss aß.

Für eine Weile sagte er nichts, und es war offensichtlich, dass es ihm schmeckte. Dann hielt er ihr eine Gabel mit Nudeln direkt vor die Nase. „Hier. Probieren Sie doch mal“, wollte er sie überreden.

Der Geruch war fast quälend appetitlich. „Ich esse keinen Weizen“, erklärte sie schwach. „Schon vergessen? Genauso wenig wie … rotes Fleisch … erst recht nicht, wenn es aus der Dose kommt.“ Daraufhin rümpfte sie die Nase mit einem Ausdruck von Verachtung, der jedoch nicht ganz echt war.

„Wer nicht will, der hat schon.“ Er manövrierte die Gabel zurück zu sich und ließ sie in seinem eigenen Mund verschwinden.

„Kommen Sie schon“, versuchte er es dann erneut. „Sie wissen doch, dass Sie es wollen.“

Wieder befand sich eine dampfende, duftende Portion Nudeln nur wenige Zentimeter entfernt vor ihr. Keri reagierte vollkommen instinktiv und öffnete den Mund beinahe automatisch. Lachend schob Jay das Essen hinein, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Sie schloss die Augen und begann zu kauen, vor Angst, seinen triumphierenden Blick ertragen zu müssen, aber die schiere Gier – eine neue und ziemlich Furcht einflößende Eigenschaft – hatte sie überwältigt, und ihr entfuhr unbewusst ein genießerischer kleiner Seufzer.

„Und, schmeckt es Ihnen?“, murmelte er.

Langsam öffnete sie die Augen, aber was sie in seinem Gesicht las, war keineswegs Triumph, sondern eine Art Befriedigung, als bereite es ihm Freude, ihr dabei zuzusehen, wie sie ihrem Hungergefühl nachgab.

Keri zuckte die Schultern und warf ihm einen leicht beschämten Blick zu. „Es ist köstlich“, musste sie zugeben.

Er füllte die Gabel wieder, hielt sie ihr entgegen, und auch die zweite Gabel landete da, wo schon die erste gelandet war, zwei weitere folgten. Dann schüttelte sie den Kopf und wehrte ihn ab. „Das reicht jetzt, ich darf jetzt nichts mehr essen – wirklich, Jay – ich nehme Ihnen ja Ihr ganzes Abendessen weg!“

Er zog in Erwägung, ihr zu sagen, dass er genug für zwei auf den Teller gefüllt hatte, entschied sich aber dagegen. Wenn sie dachte, er hätte es geplant, würde sie ihre Abwehr sicher wieder verstärken, und das wollte er ganz und gar nicht. Also nahm er sich wieder eine Gabel.

Es war ganz still, nur das Feuer knisterte, ihre Augen waren auf seine geheftet, als habe er sie derart verzaubert, dass sie unfähig war, diesen süßen Bann zu brechen.

Er leckte sich genüsslich die Lippen und lächelte. „Eine für mich, und eine … für Sie.“

Keri öffnete den Mund wie ein folgsames Kind, sie fühlte sich schwach und stark zugleich, als er fortfuhr, sie zu füttern. Das Essen füllte sie mit Wärme und Energie, aber es war eine eigentümliche, ungewohnte Art von Energie, und mit ihr kam eine gewisse Hilflosigkeit, als sie erkannte, dass sie niemals zuvor Essen an sich als ein so sinnliches Erlebnis empfunden hatte.

Sehr bald war der Teller vollkommen leer gegessen. Jay betrachtete ihn befriedigt und schaute sie an. „Das habe ich wirklich genossen.“ Er meinte das Füttern, nicht das Essen.

Sie nahm einen weiteren Schluck Wein und stimmte ihm zu.

Jay warf einen Blick auf die Pfirsiche, die golden und glänzend auf dem Teller lagen, übersüß und unwiderstehlich – und das Verlangen wurde sogar noch stärker. „Immerhin haben wir noch Nachtisch“, meinte er sanft, und in seinen Augen lag eine stille Herausforderung. „Sie sind dran.“

Aber Keri konnte nicht. Allein die Vorstellung, die weiche Frucht in seinen Mund gleiten zu lassen, wühlte sie auf. Ihre Hand würde zittern – sie wusste es einfach. Und er würde wissen, was in ihrem Kopf vorging.

Und in ihrem Körper.

Ihre Glieder fühlten sich schwer und angenehm müde an, doch dazu kam das Gefühl, dass ihr Blut sich dick wie Sirup durch ihre Adern bewegte und sich unerbittlich bis in die Spitzen ihrer Finger und Zehen ausbreite, und dabei waren all ihre Sinne in höchste Anspannung versetzt.

Sie schüttelte den Kopf, sie fühlte sich nüchtern und unerträglich schummrig zugleich. „Ich möchte nichts mehr, vielen Dank. Ich bin satt – aber bedienen Sie sich doch.“

Jay wollte die Pfirsiche nicht. Nicht, wenn sie ihn nicht damit füttern würde, wie er es mit den Nudeln getan hatte, und der kurze Moment der Enttäuschung wurde von dem noch reizvolleren Gefühl der Erwartung abgelöst.

Es war lange her, dass er etwas gewollt hatte, von dem er noch nicht wusste, ob er es bekommen würde.

„Ich muss auch passen“, meinte er träge und lehnte sich nach hinten gegen das Sofa, wiegte die Weinflasche in seiner Hand und genoss die lebendige Schönheit des Feuers. „Also, wie lange arbeiten Sie schon als Model?“

Die Frage beendete die seltsam angespannte Stimmung, worauf sie zwar gehofft hatte, aber gleichzeitig deswegen auch gegen eine gewisse unvernünftige Bestürzung ankämpfte. Eine Unterhaltung dieser Art war weitaus sicherer – und das war doch schließlich erstrebenswert, oder?

Der Wein hatte sie zweifellos gesprächiger gemacht. „Seit ich die Schule verlassen habe – obwohl, das stimmt nicht ganz –, ich war noch in der Schule, als ich anfing.“ Sie fand, dass er sehr entspannt aussah, wie er so dalag, ein Bein angewinkelt. Lässig balancierte er sein Gewicht auf einer Seite, den Ellbogen aufgestützt. Der Wein warf reflektierende rubinrote Flecken auf seine starken Hände, und sie ertappte sich dabei, wie sie sich diese Hände vorstellte, die gekonnt über ihren Körper wanderten. Oh, verdammt, Keri, schimpfte sie mit sich – wann hast du nur angefangen, solche Fantasien zu haben?

Es gelang ihr, wieder zum Thema zurückzukehren. „Ich war mit meiner Schwester zu Besuch in London …“

„Ist sie auch Model?“

Keri schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist Mutter. Und Witwe.“ Sie beeilte sich weiterzusprechen, weil die Gedanken zu schmerzlich wurden.

„Wir haben bloß in einem Café gesessen, da kam eine Frau auf mich zu und fragte mich, ob ich je übers Modeln nachgedacht hätte.“

„So, wie das immer in Filmen passiert?“

„Ein bisschen, ja.“

„Und, hatten Sie vorher schon einmal daran gedacht?“

Keri zuckte die Schultern. „Mir ist es ab und zu in den Sinn gekommen – andere Leute haben mir immer wieder gesagt, ich solle es versuchen, aber …“

Seine Augen sprühten. „Aber?“

„Na ja, was mich wirklich interessierte, waren Innenarchitektur und Design. Dazu war ich ziemlich groß und dünn und nicht gerade selbstbewusst.“

„Ich kann mir denken, dass das ja nicht gerade die beste Voraussetzung für jemanden war, der eine Karriere vor der Kamera anstrebte“, bemerkte er.

Sie hatte damals dasselbe gedacht, aber rasch erkannt, dass man sich die Modelbranche nur als Scheinwelt vorstellen musste – und schon fiel es sogar ganz leicht, so zu tun, als sei man überaus selbstsicher und mit sich vollkommen im Einklang.

„Ich hatte Glück“, sagte sie ehrlich. „Die ganze Unsicherheit verflog schlagartig, wenn eine Kamera auf mich gerichtet war – und dazu habe ich eines dieser Gesichter, das auf Fotos besser aussieht als im wirklichen Leben.“

Da war er allerdings anderer Ansicht. In Wirklichkeit schien ihr Gesicht viel weicher und weniger unnahbar – und sie wirkte viel weiblicher, wenn sie nicht für irgendeinen Fotografen posierte. „Sie meinen also, die Kamera liebt sie?“

„Bisher ja – und ich hoffe, dass es auch noch eine Weile so bleibt.“

„Und was passiert, wenn es damit vorbei ist?“

Ihre Miene verdüsterte sich. Mit traumwandlerischer Sicherheit hatte er den wunden Punkt eines jeden Models getroffen – die Angst, nicht mehr gefragt zu sein. „Manche sind jahrelang ganz oben“, gab sie defensiv zurück.

„Danach habe ich nicht gefragt“, meinte er nachdenklich. „Ich wollte wissen, wann das sein kann und was dann passiert – denn ich nehme an, nur einige wenige üben den Beruf bis ins hohe Alter aus.“

Keri nippte erneut an ihrem Wein, weil es für den Moment einfacher zu sein schien, als sofort auf seine Frage zu antworten. Leider war er ziemlich gut darin, nach den richtigen Dingen zu fragen. Oder nach den falschen. Ihr fiel keine Antwort ein, die ihn zufrieden stellen würde – oder sie. Vielleicht, dass sie ab und an von einem „normalen“ Leben träumte? Wenn sie sagte, sie wolle heiraten und Kinder bekommen, so hörte sich das ziemlich dürftig an und zudem so, als sei sie unausgefüllt – nur, weil sie keinen Mann hatte.

Denn das stimmte nicht – manchmal hatte sie einfach diesen Traum, den wohl jede Frau hat: den Traummann zu finden, der in jeder Hinsicht zu einem passte und die emotionalen wie körperlichen Bedürfnisse befriedigte. Das eine war ohne das andere nicht möglich – und wenn man keines von beiden je wirklich hatte …

Sie wurde sich bewusst, dass er sie immer noch fragend anschaute, und sie hoffte, dass diese kritischen Augen ihre plötzlich glühenden Wangen nicht bemerkt hatten – und selbst wenn es so wäre, dann könnte sie es immer noch auf das Feuer schieben.

Keri starrte in die züngelnden Flammen. „Ich habe mir nie wirklich Gedanken über die Zukunft gemacht.“

„Die Innenarchitektur- und Design-Pläne sind also einfach auf der Strecke geblieben?“

„Ich schätze, ja.“ Sie schaute zu ihm auf und begegnete seinem fragenden Blick mit einem Schulterzucken. „Ich habe allerdings ein paar Projekte betreut – aber nur zum Spaß, wirklich –, mein Apartment und das Haus meiner Schwester, aber ich fand es großartig.“

„Na also, warum wechseln Sie nicht das Fach und starten eine zweite Karriere?“

„Weil ich noch nicht das Alter erreicht habe, um in meiner Branche zum alten Eisen zu gehören“, bemerkte sie etwas he­rausfordernd. „Und selbst wenn dem so wäre – es ist furchtbar schwierig, dort einzusteigen, außer man hat eine Menge Erfahrung. Und um Erfahrungen überhaupt sammeln zu können – da muss man schon ganz unten auf der Leiter anfangen.“ Sie verzog missmutig das Gesicht. „Und ich bin nicht sicher, ob ich das könnte. Jedenfalls nicht jetzt.“

„Aber Sie könnten sich doch jederzeit selbstständig machen“, schlug Jay vor.

Autor

Vivian Leiber
Mehr erfahren
Sharon Kendrick
Fast ihr ganzes Leben lang hat sich Sharon Kendrick Geschichten ausgedacht. Ihr erstes Buch, das von eineiigen Zwillingen handelte, die böse Mächte in ihrem Internat bekämpften, schrieb sie mit elf Jahren! Allerdings wurde der Roman nie veröffentlicht, und das Manuskript existiert leider nicht mehr. Sharon träumte davon, Journalistin zu werden,...
Mehr erfahren
Day Leclaire
<p>Day Leclaire lebt auf der Insel Hatteras Island vor der Küste North Carolinas. Zwar toben alljährlich heftige Stürme über die Insel, sodass für Stunden die Stromzufuhr unterbrochen ist, aber das ansonsten sehr milde Klima, der Fischreichtum und der wundervolle Seeblick entschädigen sie dafür mehr als genug. Day interessiert sich seit...
Mehr erfahren