Cora Collection Band 73

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SÜSS WIE DER DUFT VON ZIMTSTERNEN von MELISSA MCCLONE

Der Bergretter Jake Porter plant einen Weihnachtseinsatz. Ausnahmsweise geht es nicht um Eingeschneite oder Verschüttete. Sondern um die bezaubernde Carly, die das Lachen und Lieben verlernt hat …


DIE SCHÖNE AUS DEN BERGEN von LINDA CASTILLO

Seit John Maitland als Crewmitglied der Rettungsflieger die Fremde halb erfroren in den Bergen gefunden hat, steht seine Welt Kopf. Er will sie – am liebsten für immer. Doch es gibt ein Problem: Sie hat ihr Gedächtnis verloren und niemand weiß, ob ihr Herz nicht bereits einem anderen gehört ...

SO SÜSS, SO SINNLICH ... von AMALIE BERLIN

Wyatt wirft so leicht nichts um. Aber Imogen hat es scheinbar zu ihm in die Berge verschlagen, um seinen wunden Punkt aufzuspüren: Erst entlockt ihm die sexy Aushilfsschwester sein Geheimnis, und nun droht er sie zu verlieren – wie einst seine Familie. Oder hat er das Schicksal diesmal in der Hand?


  • Erscheinungstag 23.12.2023
  • Bandnummer 73
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517195
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

MELISSA McCLONE, LINDA CASTILLO, AMALIE BERLIN

CORA COLLECTION BAND 73

PROLOG

Aufmerksam überprüfte Jake Porter noch einmal seine Ausrüstung. Biwaksack, Lawinensuchgerät, Sonde, Schneeschaufel – nichts fehlte. Er schloss den Kletterrucksack, richtete sich auf und schaute aus dem Fenster.

Irgendwo dort oben am Mount Hood – oder Wy’east, wie die Indianer den Berg getauft hatten – steckten seine Freunde in einem der schwersten Dezemberschneestürme, an die man sich in der Kaskadenkette erinnerte. Sie brauchten Hilfe, und er war bereit. Nichts war für ihn schlimmer, als untätig herumzustehen.

Die übrigen Mitglieder der Bergungsmannschaft saßen an den paar Tischen der Wy’east-Berghütte und besprachen die bevorstehende Rettungsaktion. Ihre Gesichter waren angespannt, die Stimmen gedämpft. Übermüdete Reporter tranken Kaffee und stellten Fragen, einige Fotografen hielten die frühmorgendlichen Vorbereitungen mit der Kamera fest. Weißes Neonlicht verlieh dem Raum etwas Ominöses, das, ebenso wie das Wetter, zu Jakes düsterer Stimmung passte.

Die Sichtverhältnisse waren miserabel. Der Sturm heulte mit einer Geschwindigkeit von sechzig bis siebzig Stundenkilometern, und das Thermometer stand auf minus zehn Grad. Das bedeutete Erfrierungen und Lawinengefahr in den höheren Lagen und machte die Mission lebensgefährlich. Trotzdem hatte Jake in seinen fünf Jahren als Freiwilliger der OMSAR – dem Oregon-Mountain-Search-and-Rescue-Team – keinem Bergungsmanöver so ungeduldig entgegengefiebert wie diesem.

Er war nicht der Einzige, den übrigen Männern erging es ebenso. Ihr regionales OMSAR-Team war vollständig erschienen, als der Aufruf einging. Die meisten wussten bereits aus den Nachrichten, was sich ereignet hatte, und waren aufbruchsbereit. Jetzt warteten alle auf das Signal zum Start.

Während Jake den Nylonriemen um die Schneeschaufel fester zurrte, sah er zum Gipfel empor. Wo waren seine Freunde? Was war geschehen? Sie hätten den Abstieg normalerweise problemlos bewältigen müssen.

Iain Garfield war ein hervorragender Bergsteiger, der mit nur dreiundzwanzig Jahren bereits als einer der besten im Pazifischen Nordwesten galt und von Großunternehmen gesponsert wurde. Sein Foto und Artikel über seine zahlreichen Erstbesteigungen rund um die Welt erschienen regelmäßig in den Fachzeitschriften. Den Mount Hood schaffte er im Alleingang – wenn es sein musste, sogar mit verbundenen Augen.

Dasselbe galt für Nick Bishop. Niemand kannte den Berg besser als er. Während seines Studiums hatte er ihn einmal bei Nacht solo durchstiegen und war am nächsten Morgen frisch und ausgeruht zu einer Semesterprüfung an der Uni erschienen.

Seit er verheiratet war und Kinder hatte, unterließ er allerdings solche tollkühnen Abenteuer. Er wusste, wie gefährlich es sein konnte, den Mount Hood zu unterschätzen, denn letztendlich blieb der Berg fast immer der Stärkere.

Funkgeräte knisterten, und jemand fragte, wann mit der Ankunft des Pistenfahrzeugs gerechnet werden konnte. Zeit wird’s, dachte Jake ungeduldig. Doch noch zehnmal lieber als die „Schneekatze“ wäre ihm, dass jetzt die Tür aufginge und seine Freunde hereinkämen, um mit ihrer gelungenen Besteigung zu prahlen.

Aber die Tür blieb zu. Niemand kam herein, und das ungute Gefühl in Jakes Magengegend wurde stärker.

Nick war sein bester Freund, seit ihren Kindergartentagen waren sie unzertrennlich. Alles – na ja, fast alles – unternahmen sie gemeinsam. Auch der Bergwacht waren sie gleichzeitig als Freiwillige beigetreten. Nur diesmal hatte er ihn im Stich gelassen.

Jake schluckte. Eigentlich hätte er mit von der Partie sein sollen, denn mit der Besteigung hatten sie Iains bevorstehende Hochzeit mit Nicks jüngerer Schwester Carly zelebrieren wollen. Aber er hatte sich ausgeklinkt – der Trauung beiwohnen zu müssen, war schon schlimm genug.

Jetzt machte er sich wegen dieser Entscheidung bittere Vorwürfe. Hätte er sich, anstatt an sich selbst zu denken, den Freunden angeschlossen, wäre vielleicht alles anders gekommen …

Sean Hughes, der Leiter der Rettungsmannschaft, stand am Eingang und winkte ihn und zwei weitere Teamkameraden, Bill Paulson und Tim Moreno, jetzt zu sich. „Nach den letzten Meldungen besteht weiterhin Lawinengefahr, und das Wetter soll noch schlechter werden. Im Moment sieht der Plan so aus: Die Schneekatze bringt uns bis zum Fuß des Palmergletschers, von dort funken wir einen Standortbericht ans Hauptquartier. Danach wird entschieden, wie es weitergeht.“

Jake erstarrte. Am Palmer befanden sich die Endstation des Skilifts und eine Berghütte zum Aufwärmen und Abwarten, doch damit war seinen Freunden nicht gedient.

Er zog den Reißverschluss seines Parkas zu. „Nick würde nicht herumsitzen, wenn einer von uns in seiner Lage wäre“, sagte er schroff.

„Wer sagt, dass wir das tun? Wir geben unseren Bericht durch, dann ziehen wir los, bis wir sie finden.“

Jake schnallte den Rucksack um. „Und das werden wir, verdammt noch mal.“

Bill und Tim nickten zustimmend. Die Sicherheit der Bergungsmannschaft hatte Vorrang, das wussten sie. Doch daran dachte jetzt keiner, hier ging es um das Leben ihrer Kameraden.

„Gehen wir!“, befahl Sean. Er knipste seine Stirnlampe an und trat hinaus in die Kälte. Jake, Bill und Tim folgten, ebenso die Reporter mit ihren Kameras. Blitzlichter flammten auf, als sich die vier in der Dunkelheit durch das Schneegestöber zum Pistenfahrzeug vorkämpften.

Jakes Schneebrille vereiste innerhalb von Sekunden, und in der kalten Luft schmerzte jeder Atemzug. Wie musste es erst auf dem Gipfel sein! Er dachte an seine Freunde.

Wo waren sie und in welcher Verfassung? Waren sie verletzt? Vielleicht funktionierte ihr Mobiltelefon dort oben nicht. Vielleicht hatten sie sich in einer Schneehöhle in Sicherheit gebracht und warteten. Vielleicht …

„Jacob!“

Die vertraute weibliche Stimme wirkte wie Balsam auf seine Seele, und er rief sich ins Gedächtnis, dass Carly Bishops Herz Iain gehörte, nicht ihm. Aber nichts sprach dagegen, sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr.

Eine grüne Wollmütze schützte das lange blonde Haar. Ihre Wangen waren von der Kälte und die Augen vom Weinen gerötet, doch weder das eine noch das andere konnte ihrem Aussehen etwas anhaben.

„Hallo, Carly.“

Einer der Fotografen war ihr gefolgt und ließ sie jetzt nicht aus den Augen. Vermutlich würde der Kerl sein letztes Hemd dafür hergeben, ein Bild von der Verlobten des einen und Schwester des anderen Verunglückten zu schießen, ging es Jake durch den Kopf. „Geh in die Lodge, hier draußen ist es zu kalt.“

Sie steckte die behandschuhten Fäuste in die Taschen der orangefarbenen Daunenjacke, die, wie Jake wusste, ihrem Verlobten gehörte. „Auf dem Gipfel ist es kälter.“

Dort, wo Iain und Nick jetzt sind … Die unausgesprochenen Worte hingen in der Luft.

Jake blinzelte. Ob wegen der Kälte oder aus einem anderen Grund, war nicht sicher. „Wir holen sie runter“, sagte er leise.

„Ich … ich habe gehört, dass die Suche abgebrochen wurde, bis sich das Wetter verbessert.“

„Für uns ist das Wetter gut genug.“

„Danke, Jake.“ Tränen glitzerten in ihren Augen. „Du kannst dir nicht vorstellen, was das für uns alle bedeutet.“

Oh doch, das konnte er! Die Bishops standen ihm näher als seine eigenen Eltern. Das war einer der Gründe, weshalb er in Carly immer nur Nicks kleine Schwester gesehen hatte. Das und ihr Alter – sie war zweiundzwanzig, vier Jahre jünger als er. Jetzt schien ihm dieser Unterschied kaum der Rede wert, aber früher war er ihm enorm vorgekommen.

Im Moment glich sie allerdings mehr denn je einem hilflosen, unglücklichen Kind. Er suchte nach Worten, um sie zu trösten, fand aber keine.

„Ich weiß, wie schwierig das sein wird, was euch bevorsteht. Und wie gefährlich. Aber ich … ich zähle auf dich, Jake, auf dich und die anderen. Dass ihr alles versuchen werdet, um sie … um sie zurückzubringen.“ Ihre Stimme versagte, dann flüsterte sie: „Morgen ist …“

Der vierundzwanzigste Dezember. Ihr Hochzeitstag. Die Einladung hing an seiner Kühlschranktür, das Geschenk für sie und Iain lag unter dem Weihnachtsbaum. Die Tränen liefen ihr jetzt ungehindert über die Wangen, und bei dem Anblick blutete sein bereits wundes Herz noch stärker.

Mit der behandschuhten Hand wischte er die salzigen Tropfen beiseite. Mehr wagte er nicht, und das hatte nichts mit dem Fotografen zu tun, der sie noch immer beobachtete. „Das verspreche ich dir, Carly. Wir finden sie, und wir bringen sie zurück. Heute noch.“

Wenn nicht, bleibe ich auch oben.

1. KAPITEL

Sechs Jahre später

Es schneite, und der Himmel war grau.

Carly Bishop betrachtete das hübsche, von hohen Tannen umringte Holzhaus mit den bunten Lichterketten. Im Vorgarten stand ein Schneemann mit einer Karottennase. Die elektrische Kerze im Fenster flackerte so einladend, dass man sie für eine Wachskerze halten könnte.

Den Rollkoffer hinter sich herziehend, ging Carly langsam auf die Veranda zu. An der Haustür hing ein Kranz aus duftenden Kiefernzweigen mit einer roten Samtschleife. Alles war, wie sie es in Erinnerung hatte – das Haus, der Kranz, die Kerze im Fenster und selbst der Schneemann …

Als hätte die Zeit stillgestanden, als wären die letzten sechs Jahre nicht mehr als ein böser Traum. Jeden Moment würde die Tür aufgehen und Nick vor ihr stehen, eine rote Mütze mit weißem Bommel auf dem Kopf, um sie lachend willkommen zu heißen. Und gleich darauf Iain …

Iain.

Sie kniff die Augen zu, als würden die schmerzhaften Erinnerungen dadurch vergehen.

Ich verstehe nicht, dass du zwei Tage vor unserer Hochzeit klettern gehen willst. Warum gibst du nicht zu, dass dir der Mount Hood mehr bedeutet als ich, Iain?

All das hatte sie vergessen wollen. Den Streit, die Vorwürfe, danach die Tränen, als er sich von seinem Vorhaben nicht abbringen ließ – ein Vorhaben, das er mit dem Leben bezahlte. Die Verzweiflung und das Schuldgefühl, als die Männer der Bergwacht seinen und Nicks leblosen Körper nach Hause brachten.

Hierher zurückzukommen, war ein Fehler gewesen. Sie hätte in Philadelphia bleiben sollen, wo sie ein neues Leben begonnen hatte. Weit weg von dem grausamen Berg, der Ursache all ihres Leids. Unglücklicherweise war ihr nichts anderes übrig geblieben, als Hannahs Bitte nachzukommen. Ihre Schwägerin, Nicks Witwe, erwartete ein Baby von ihrem zweiten Mann und brauchte jemanden, um auf die beiden Kinder aus der ersten Ehe aufzupassen. Carlys Neffen und Nichte.

Würde sie der Aufgabe gewachsen sein? Sie bezweifelte es.

Nur für zwei Wochen, sagte sie sich, Weihnachten und Neujahr. Ich werde es überleben, so schlimm kann es nicht sein, oder?

Da sie Weihnachten seit sechs Jahren ignorierte, zog sie es vor, sich die Antwort schuldig zu bleiben.

Entschlossen ging sie die paar Stufen hinauf und überquerte die Veranda. An der Eingangstür streckte sie unwillkürlich die Hand nach der Klinke aus und zog sie im letzten Moment zurück. Dies war nicht länger das Haus ihres Bruders. Sie drückte auf die Klingel und wartete.

Als sich von innen Schritte näherten, straffte sie die Schultern und zwang sich zu einem Lächeln. Jahrelanger Umgang mit Kunden hatte sie gelehrt, in allen Situationen unbeschwert zu wirken, egal, wie es in ihr aussah.

Die Haustür ging auf. „Willkommen zu Hause, Carly.“

Die warme Stimme gehörte einem Mann, wenn auch nicht dem, den sie zu sehen erwartete. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Garrett Willingham, dem gut aussehenden, stets konventionell gekleideten Wirtschaftsprüfer, mit dem Hannah seit zwei Jahren verheiratet war. Dieser hier war größer, athletisch gebaut – und er kam ihr bekannt vor.

„Jacob Porter! Was tust du hier?“

Der heimliche Schwarm ihrer Schulmädchenjahre! Ihrer und der ihrer Freundinnen. Breitschultrig, fast zwei Meter hoch stand er vor ihr, das braune Haar im Nacken ein bisschen zu lang. Durchtrainiert und mit dem gleichen offenen Blick in den blauen Augen, dem gleichen Lächeln auf den Lippen – und noch umwerfender als früher. Carlys Puls begann schneller zu schlagen.

„Ich warte auf dich.“ Er lächelte verschmitzt, so wie damals, wenn Nick und er sie auf den Arm nehmen wollten. „Fröhliche Weihnachten.“

„Fröh…“ Das Wort blieb ihr im Halse stecken, wo es einen bitteren Geschmack hinterließ. „Frohes Fest. Wo ist Hannah?“

„Sie hat einen Arzttermin, Garrett ist mitgefahren. Und da sie nicht sicher waren, ob sie vor deiner Ankunft zurück sind – oder vor dem Schulbus mit Kendall und Austin –, haben sie mich gebeten, die Stellung zu halten.“

Erst jetzt bemerkte Carly das hellblaue Oberhemd mit dem Button-down-Kragen, die kakifarbene Hose mit der Bügelfalte und die braunen Lederschuhe. Sie dachte an seine ehemalige Uniform aus Jeans, T-Shirt und Joggingschuhen. Vermutlich kam er direkt von der Arbeit.

„Das ist nett von dir.“ Wenn auch nicht sonderlich überraschend. Solange sie denken konnte, war Jacob Porter bei den Bishops mehr zu Hause gewesen als bei seinen eigenen Eltern. Er gehörte zur Familie, damals wie heute.

Sie selbst verdankte ihm den Job in Philadelphia, Nicks Kinder ihre Fertigkeit im Skilaufen und Fischen und Hannah sogar ihren zweiten Mann – Jacob hatte sie und Garrett miteinander bekannt gemacht.

„Komm ins Haus, bevor du erfrierst. Großstadtmädchen wie du sind an unsere Temperaturen nicht gewöhnt.“ Er griff nach dem Koffer und streifte dabei ihre Hand. Seine war warm und stark und schwielig. Bei dem flüchtigen Kontakt zuckte sie unwillkürlich zusammen und zog ihre Hand hastig zurück.

„In Philadelphia ist es auch kalt“, erwiderte sie brüsk und trat in den Flur.

Wohltuende Wärme und die behagliche Atmosphäre eines Heims umfingen sie. Sie dachte an ihre eigene Wohnung, in der davon nichts zu spüren war.

„Du hast dich kein bisschen verändert“, sagte er.

Du schon – zum Besseren. „Hier hat sich auch nicht viel verändert.“ Sie sah sich um und biss sich auf die Lippen.

Im Kamin knisterte das gleiche einladende Feuer wie an jenem furchtbaren Weihnachtsmorgen vor sechs Jahren, als Hannah mit rot geweinten Augen die Kinder aufforderte, die Geschenke zu öffnen, die Santa Claus für sie dagelassen hatte. Wieder schloss sie die Augen, um die Erinnerungen zu verdrängen, doch es war vergebens.

Der würzige Duft des mit bunten Lichtern, goldenen Kugeln und silbernen Glöckchen geschmückten Weihnachtsbaums und das prasselnde Feuer brachten alles wieder zurück – die Bescherung, danach die Hast, mit der Hannah und sie den Baum entfernten, um den Kindern zukünftige Assoziationen zwischen Weihnachten und der Beisetzung ihres Vaters zu ersparen.

Nach allem, was sie über die Jahre gehört hatte, war ihnen das auch gelungen. Bei ihr dagegen würde das eine stets mit dem anderen verbunden bleiben.

Sie vernahm ein Geräusch und drehte sich um. Jacob stand hinter ihr und betrachtete sie mit einem unergründlichen Ausdruck. Der Tag fiel ihr ein, an dem sie ihn nach einem Streit mit Iain um Rat gebeten und er sie genauso angesehen hatte. So, als wolle er sie in die Arme nehmen.

Ihr wurde heiß, doch das musste am Kaminfeuer liegen. Schnell schlüpfte sie aus dem Mantel.

„Gib her.“ Er nahm das Kleidungsstück und hängte es an einen Garderobehaken. „Wie schön, dich nach so langer Zeit wiederzusehen.“

„Gleichfalls.“ Es stimmte. Seltsamerweise weckte das Wiedersehen mit ihm keine schlimmen Erinnerungen. „Was macht die Brauerei?“

„Ich kann nicht klagen.“

Den Porters gehörte eine erfolgreiche kleine Brauerei in Hood Hamlet, einem Dorf am Fuß vom Mount Hood, deren Brauhaus bei Bergsteigern, Touristen und Leuten aus der Gegend das ganze Jahr über sehr beliebt war. Nick hatte dort zeitweise gearbeitet, Iain und sie ebenfalls.

„Hannah sagt, Philadelphia gefällt dir.“

„Das stimmt.“

„Sie erwähnte auch etwas von einem festen Freund.“

„Falsch. Vielleicht hätte sie das gern, aber dazu nimmt mich mein Job zu sehr in Anspruch.“ Unter den paar männlichen Bekannten, mit denen sie hin und wieder ausging, war keiner, für den sie sich ernsthaft interessierte.

„Zu sehr damit beschäftigt, Karriere zu machen, wie? Brauhaus-Chefin … Ich bin beeindruckt.“

Carly nickte. „Nicht übel, das gebe ich zu.“ Die Arbeit machte ihr Spaß, doch ein Karrieretyp war sie nie gewesen. Wonach sie sich gesehnt hatte, war, Iains Frau zu werden und Kinder zu haben. Doch das Schicksal hatte anders entschieden. „Ich glaube, ich habe dir nie richtig dafür gedankt, dass du mir damals die Stelle als Kellnerin verschafft hast. Ohne deine Hilfe wäre ich heute nicht dort, wo ich bin. Mit anderen Worten, ich stehe in deiner Schuld.“

„Du schuldest mir gar nichts. Aber …“, er zwinkerte, „… sollte ich über die Feiertage im Brauhaus Verstärkung benötigen, gebe ich dir Bescheid. Einverstanden?“

„Einverstanden.“ Er mochte inzwischen besser aussehen, aber ansonsten war er immer noch derselbe. Carly fand diese Erkenntnis irgendwie tröstlich. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Weißt du noch, wie wir uns die Köpfe zerbrochen haben, um Namen für euer Weihnachtsbier zu finden?“

Er nickte. „Ja. Auch, dass du einmal sogar bei Shakespeare eine Anleihe machen wolltest. Aus ‚Macbeth‘, wenn ich mich recht erinnere.“

Carly grinste. „Nicht Macbeth – Hamlet.“

Er grinste zurück. „Als ob die Jungs hier wüssten, dass Hamlet ein anderes Wort für Dorf ist!“

„Auf jedem Flaschenetikett steht ‚Gebraut in Hood Hamlet‘. Das Wortspiel ist nicht zu übersehen.“

„Aber noch lange kein Grund, ein Weihnachts-Ale ‚Bier oder kein Bier, das ist hier die Frage‘ zu nennen.“

„Ich fand den Namen sehr originell.“

„Was auch immer. Für dieses Jahr habe ich etwas Besseres im Sinn.“

„Vielleicht sollte ich ihn dann unserem Braumeister anbieten.“

„Nur zu. Wie sich das mit ‚Gebraut in Philadelphia‘ vertragen soll, ist mir allerdings schleierhaft. Vom geistigen Diebstahl ganz zu schweigen.“

Carly lachte. „Da hast du auch wieder recht. Ich lasse es wohl besser bleiben.“

Das kleine Geplänkel war so unterhaltsam. In Philadelphia gab es niemanden zum Rumalbern, und sie stellte fest, wie sehr ihr das fehlte. Aber dort kannte sie auch niemand so gut wie Jacob Porter. Niemand wusste, wie und wer sie gewesen war, bevor sich ihre Träume und Hoffnungen zerschlugen.

„Wie soll euer Weihnachtsbier dieses Jahr denn heißen?“, fragte sie. „Oder ist das noch ein Betriebsgeheimnis?“

„Ganz und gar nicht.“ Er sah sie an. „Nicks Winter-Ale.“

Der Name hing in der Luft wie die Sprechblase eines Comicstrips. „Sein Rezept. Kurz bevor er …“ Carly verstummte.

Ihr Leben kam ihr vor wie die zwei Hälften eines Ganzen – die Zeit vor dem Unfall und die danach. Mit den Jahren war es leichter geworden, damit zurechtzukommen, doch in diesem Moment spürte sie die Trennung besonders schmerzhaft.

Jake nickte. „Ja, und eine sehr gute Rezeptur, an der er lange gearbeitet hat. Es wird langsam Zeit, das Bier auf den Markt zu bringen.“

Ihr Bruder war so stolz darauf gewesen! Es sollte im folgenden Jahr gebraut werden. Mühsam schluckte sie die aufsteigenden Tränen.

„Das ist wundervoll, Jacob. Nick wäre überglücklich.“

„Dasselbe sagen deine Eltern auch.“

Nach seinem Tod hatten die Eltern sich scheiden lassen und waren von hier weggezogen. Ihre Mutter lebte in Arizona, ihr Vater immer noch in Oregon. Beide hatten wieder geheiratet. „Hast du es ihnen mitgeteilt?“

„Ja. Sie wollen eine Probeflasche und ein paar Etiketten.“

„Das verstehe ich gut.“ Niemand konnte den leeren Platz füllen, den Nick in den Herzen der Eltern hinterlassen hatte, weder sie noch die Enkel. „Bekomme ich auch eine Flasche?“

„Du bekommst einen Kasten und so viele Etiketten, wie du möchtest.“

„Danke.“

„Komm, gehen wir in die Küche, ich muss für die Kinder einen Imbiss vorbereiten. Wenn sie aus der Schule kommen, sind sie hungrig.“

Du machst ihnen zu essen?“ Sie sah zu ihm hoch – er überragte sie um mindestens einen Kopf. „Als ich noch zur Schule ging, war es umgekehrt, ich musste euch versorgen.“

„Du kannst mir zuschauen, denn demnächst musst du Kendall und Austin versorgen.“

„Ich weiß, wie man einen Imbiss zubereitet. Seit sechs Jahren verköstige ich mich selbst, falls du das vergessen hast.“

„Ich dachte ja nur …“

„Keine Sorge, ich komme schon mit den beiden zurecht.“ Während der alljährlichen Sommerferien unternahm sie mit ihnen regelmäßig eine zweiwöchige Reise irgendwo in den Staaten, allerdings nie hier im Pazifischen Nordwesten.

Er lächelte, und die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln machten ihn noch attraktiver. „Wir werden ja sehen, ob du in ein paar Tagen noch der gleichen Meinung bist.“

Das hoffe ich doch. Mit Kendall und Austin hatten Carlys Bedenken allerdings nichts zu tun, dafür umso mehr mit der Wirkung, die ihr langjähriger Freund auf sie hatte. Aber das würde sie in den Griff bekommen, sie war schon mit ganz anderen Dingen fertiggeworden. Herausfordernd streckte sie das Kinn vor. „Mach dir keine Sorgen.“

Wegen der Kinder machte sich Jake auch keine Sorgen, eher seinetwegen.

Er nahm einen Apfel aus der Obstschale und konzentrierte sich darauf, ihn in Schnitze zu teilen, vielleicht lenkte ihn das von Carlys verwirrenden Kurven ab. Und von ihrer seidigen blonden Mähne.

Er hatte vergessen, wie schön sie war. Ob von der Kälte draußen oder der Wärme hier drinnen, ihr Gesicht hatte einen rosigen Schimmer. Dichte lange Wimpern umrahmten die klaren braungrünen Augen, in denen er anstelle des unbegrenzten Optimismus von früher eine neue Tiefe entdeckte.

Der Mund dagegen war immer noch der gleiche, und die weichen roten Lippen, die ihm jetzt zulächelten, erinnerten Jake an jenen Tag, als er drauf und dran gewesen war, sie zu küssen, und sich im letzten Moment anders besann. Damals hatte er sie verloren – jetzt daran zurückzudenken, war keine gute Idee.

Heftiger als beabsichtigt hieb er mit dem Messer auf den Apfel.

Carly sah von dem Teller, auf dem sie Käsestückchen und Cracker anordnete, zu ihm herüber. „Vorsicht, Jacob! Sonst verlierst du noch den Finger.“

Jake schwieg. Die Gefahr, sein Herz zu verlieren, machte ihm weit mehr zu schaffen. Noch dazu an eine Frau, die ihn Jacob nannte, was außer seinem Vater niemand wagte.

Vor sechs Jahren hatte sie Hood Hamlet – und ihm – den Rücken gekehrt. Er verstand ihre Gründe, aber der Abschied war deswegen nicht leichter gefallen. Und nun war sie plötzlich wieder da, wenn auch nur für zwei Wochen. Lange genug, um sein Leben auf den Kopf zu stellen. Dazu durfte es nicht kommen! Er musste Abstand halten, im Interesse aller.

Davon ganz abgesehen verdiente Carly einen besseren Mann als ihn.

„Fertig.“ Sie stellte Käse und Cracker auf den Tisch. „Was kommt als Nächstes dran?“

„Der Kakao.“ Er reichte ihr den Kessel mit kochendem Wasser.

Sie zog die Stirn kraus. „Ist das nicht zu heiß?“

„Dem lässt sich mit Eiswürfeln abhelfen.“

Sie sah ihn von der Seite an. „Du machst das anscheinend nicht zum ersten Mal, wie?“

Jake arrangierte die Apfelschnitze auf einem Teller. „Ich helfe aus, wenn Not am Mann ist.“

„Und wie oft kommt das vor?“

„Ab und zu.“

„Hannah und Garrett haben Glück, dass sie dich haben.“

Die Haustür wurde aufgerissen und zugeschlagen. Aus dem Flur drangen schrille Kinderstimmen und lautes Getrampel.

Jake schaute auf die Uhr der Mikrowelle. „Früher als üblich“, meinte er lakonisch.

„Du lieber Himmel, das hört sich wie eine Büffelherde an.“

„Büffel machen weniger Lärm.“

Lächelnd ging Carly in den Flur. Jake folgte ihr und versuchte, nicht auf ihren appetitlichen Anblick in den engen Jeans zu starren. Vielleicht sollte er am Abend wieder mal ausgehen, um auf andere Gedanken zu kommen.

„Tante Carly!“ Der siebenjährige Austin rannte auf sie zu und warf ihr stürmisch die Arme um den Hals. „Du bist da.“

„Das habe ich dir doch gesagt, als ich das fremde Auto in der Einfahrt stehen sah“, belehrte ihn seine zwei Jahre ältere Schwester Kendall. Sie kam näher und umarmte ihre Tante ebenfalls.

Carly drückte die beiden fest an sich. „Seit letztem Sommer seid ihr ganz schön gewachsen.“

Austin strahlte sie an. „Ja, wir sind fast groß.“

Carly lachte. „Fast.“

„Mommy sagt, wir sollen uns mit dem Wachsen Zeit lassen. Ich habe ihr erklärt, dass das nicht geht.“

Kendall rollte mit den Augen. „Mom meinte das doch nur im Spaß.“

„Spaß oder nicht, ich kann es ihr nachfühlen.“ Sie gab beiden einen liebevollen Kuss auf den Kopf. „Ich wünschte, ihr würdet nie groß werden.“

Jake verspürte einen Stich im Herzen, als er das Trio betrachtete. Die Kinder hingen an ihr und brauchten sie. Nicht für zwei Wochen einmal im Jahr, sondern regelmäßig. Sie war ihre Tante, die Schwester ihres Vaters.

Carly musterte ihren Neffen. „Ich kann nicht glauben, wie ähnlich du deinem Daddy siehst, Austin.“

„Welchem? Dem ersten oder dem zweiten?“, fragte er ernsthaft.

Kendall seufzte. „Dem ersten natürlich. Nicht wahr, Tante Carly?“

„Ja, den meine ich.“ Ihre Stimme bebte ein wenig.

Jake hätte sie gern getröstet – er wusste, was sie empfand. Ihm war es ebenso ergangen, als Nicks Kinder Garrett zum ersten Mal Daddy nannten, obwohl er den Mann wirklich mochte.

„Als er so alt war wie du, sah er genauso aus“, fuhr Carly fort. „Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.“

Kendall streckte das Kinn vor. „Aber ich habe seinen Charakter geerbt. Das hast du doch gesagt, Onkel Jake, oder?“

„Allerdings“, bestätigte er. Nicks Tochter besaß nicht nur die Angewohnheiten, sondern auch die Furchtlosigkeit ihres Vaters.

„Das ist mir auch schon aufgefallen“, sagte Carly.

Kendall grinste. „Du musst dir mein Zimmer anschauen kommen, Tante. Alles ist in Lila und Blau und Grün. Onkel Jake hat mir einen grünen Knautschsessel geschenkt. Mit Fellbezug.“

„Das klingt richtig cool“, meinte Carly mit einem Blick auf den Onkel.

„Mein Zimmer sieht wie ein Raumschiff aus“, piepste Austin, während er ihre Hand umklammert hielt und aufgeregt auf und ab hopste. „Onkel Jake hat die Decke mit Sternen und Planeten bemalt, die im Dunkeln leuchten.“

„Onkel Jacob verwöhnt euch beide ganz schön, wenn ihr mich fragt.“

„Du meinst Onkel Jake“, korrigierte Kendall.

„Richtig, Onkel … Jake.“

Das erste Mal, dass sie mich so nennt, dachte er. Daran könnte ich mich gewöhnen.

„Ich brenne darauf, eure Zimmer zu sehen“, versicherte Carly lächelnd. „Aber erst kommt der Imbiss.“

„Super! Wir sind halb verhungert.“ Neffe und Nichte polterten in die Küche.

Carly sah ihnen nach. „Wie schon gesagt – eine Büffelherde.“

„Das hast du gut gemacht“, bemerkte Jake anerkennend.

Sie zuckte mit den Schultern. „Sie sind Kinder. Das Leben geht weiter.“

„Trotzdem … Hut ab. Hannah und ich tun, was wir können, um Nicks Andenken aufrechtzuerhalten.“

„Ich weiß. Und dafür bin euch dankbar.“ Sie betrachtete das gerahmte Foto von Garrett, Hannah und den zwei Kindern auf dem Kaminsims. „Ich mag ihn sehr. Er betet Hannah an und könnte den beiden kein besserer Vater sein. Trotzdem ist es … nicht leicht. Er und Nick sind so verschieden.“

„Hannah wollte keinen zweiten Nick, Carly.“

Ihr Blick verschleierte sich erneut. „Da kann ich sie allerdings gut verstehen.“

Tröstend legte Jake einen Arm um sie, und instinktiv lehnte sie sich an seine Schulter.

Wie gut sich das anfühlte! Er dachte an die wenigen Male, in denen er sie auch so gehalten hatte. An den Tag, an dem sie sich, vierzehnjährig, beim Schneeschuhlaufen verirrte und er sie, vor Kälte zitternd, in die Arme nahm, als er sie fand. Damals erkannte er zum ersten Mal, dass sie kein Kind mehr war.

Oder an den Tag, als sie die Fahrprüfung bestanden hatte und mit ihrem brandneuen Führerschein protzte – ebenso mit dem neuen Minirock. Als er sie beglückwünschte und dabei kurz an sich drückte, wusste er, dass sie erwachsen, aber für ihn zu jung war. Und immer noch Nicks kleine Schwester.

Jetzt war sie nur noch Carly Bishop, eine schöne junge Frau. Nicht nur schön – wunderschön. Und ungebunden.

Unwillkürlich zog er sie näher und legte auch den zweiten Arm um sie. Ihr Körper fühlte sich warm und weich und biegsam an. Das Haar duftete nach Zitrone und Kräutern.

Ein berauschendes Gefühl überkam ihn. Es war, als wäre ein lange gehegter und sorgfältig begrabener Traum plötzlich Wirklichkeit geworden, und er brachte es nicht fertig, sich von ihr zu lösen. Sanft küsste er sie auf die Stirn.

Jemand kicherte.

Jake fuhr zurück und sah zur Tür. Dort stand Austin und betrachtete Carly und ihn aus weit geöffneten Augen.

Kendall kam aus der Küche gelaufen. „Was ist los?“

„Onkel Jake hat Tante Carly geküsst“, verkündete ihr Bruder strahlend. „Jetzt muss er sie heiraten.“

2. KAPITEL

Heiraten? Jacob und sie? Was für eine groteske Idee!

Sprachlos sah Carly zu, wie Kendall und Austin in die Hände klatschten und in die Luft sprangen. Die beiden waren außer Rand und Band. Dem musste sofort ein Ende gemacht werden, sonst stand ihr in den nächsten zwei Wochen einiges bevor.

Sie steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund, so wie Nick es ihr vor langer Zeit beigebracht hatte, und stieß einen schrillen Pfiff aus. Die Kinder verstummten sofort.

„Ab in die Küche!“, sagte sie streng. „Wehe, wenn ich noch einen Mucks von euch höre.“

Verblüfft kamen die beiden dem Befehl nach, sogar Jacob gehorchte. Carly unterdrückte ein Lächeln.

Beim Hinausgehen blieb er allerdings stehen und zwinkerte ihr zu. Seine Wimpern waren lang und dicht wie die eines Mädchens. Welche Verschwendung bei einem Mann!

„Warum hast du mir unsere Hochzeit verschwiegen?“, murmelte er spöttisch. „Ich hätte die Ringe mitgebracht.“

Sie wurde rot. „Ruhe!“

„Zu Befehl.“

Die drei setzten sich an den Tisch und sagten kein Wort.

„Na also.“ Sie nahm zwischen den Kindern Platz und schob ihnen die Teller mit dem Imbiss hin. „Wie kommst du darauf, dass Onkel Jake mich heiraten muss, Austin?“

Der Kleine nahm sich einen Apfelschnitz. „Er hat dich geküsst, und wenn ein Mann eine Frau küsst, muss er sie heiraten. Sammy Ross aus meiner Klasse behauptet das.“

„Was du nicht sagst“, meinte Jake, ohne die Miene zu verziehen. „Und woher weiß dieser Sammy über so etwas Bescheid?“

„Weil er fünf große Schwestern hat.“

„Das erklärt alles. Dann pass nur gut auf, wen ich in Zukunft küsse.“

Carly unterdrückte ein Grinsen.

„Du darfst nur die Frau küssen, die du heiratest, Onkel Jake. Und das ist jetzt Tante Carly.“

Sie maß ihn mit einem strengen Blick. „Austin …“

Kendall fiel ihr ins Wort. „Hör nicht auf ihn, Tante Carly, er redet wie immer dummes Zeug. Trotzdem wäre es cool, wenn ihr heiraten könntet. Du würdest nicht mehr weggehen, und ich könnte bei eurer Hochzeit Blumen streuen. Das wollte ich schon lange.“ Treuherzig schaute sie ihre Tante an. „Sag Ja, Tante Carly, bitte, bitte!“

Sie verspürte einen Stich. Es fiel ihr schwer, das Mädchen zu enttäuschen, doch das ließ sich nicht ändern. Neben Weihnachtsliedern stand auch der Hochzeitsmarsch auf ihrer schwarzen Liste. „Tut mir leid, Kendall, aber von Hochzeit ist nicht die Rede.“

Die Nichte machte ein langes Gesicht, und in ihren Augen glitzerte es verdächtig.

Carly griff nach der kleinen Hand und drückte sie. Was für eine Rabentante sie doch war! Noch keine Stunde im Haus, und sie brachte einen ihrer Schützlinge bereits zum Weinen. Vielleicht sollte sie abreisen, bevor sie weiteres Unheil anrichtete.

„Hört auf, Trübsal zu blasen“, wies Jake die beiden zurecht. „Nächste Woche bekommt ihr ein neues Brüderchen oder Schwesterchen, eure Tante ist zu Besuch, Weihnachten steht vor der Tür – ist das nicht Grund genug zum Freuen?“

Austin sah ihn vorwurfsvoll an. „Du hast sie geküsst, ich hab’s gesehen. Jetzt musst du sie heiraten, sonst bist du ein Feigling.“

„Ich habe deine Tante ja nur auf die Stirn geküsst, das tun Freunde ab und zu.“ Über den Tisch hinweg lächelte er ihr zu. „Alte Freunde.“

Carly schwieg. Ganz so belanglos war der Kuss denn doch nicht gewesen, zumindest nicht für sie. Als Jake die Arme um sie legte, hatte sie sich so geborgen wie schon lange nicht mehr gefühlt und nur einen Wunsch gehabt – dass es nie enden würde. Zum Glück war Austin rechtzeitig aufgetaucht, sonst hätte sie Jacob womöglich noch wiedergeküsst. Auf den Mund, nicht auf die Stirn.

Woher kam dieses plötzliche Verlangen, einen Mann zu küssen? Und obendrein Jacob! Sie war doch kein Teenager mehr! Es wäre gut, wenn sie sich das in Zukunft vor Augen hielte.

Austin gab nicht auf. „Wenn du eine Frau also nur auf die Stirn küsst, dann musst du sie nicht heiraten?“, fragte er seinen Onkel neugierig.

Carly seufzte. „Dein Sammy mag ja viel wissen, Austin, aber doch nicht alles. Zum Heiraten gehört mehr als ein Kuss.“

„Was denn, Tante Carly?“

Sie warf Jake einen beschwörenden Blick zu. Warum half er ihr nicht? Stattdessen lehnte er sich zurück und grinste. Der Teufel sollte ihn holen! Wäre sie bloß in Philadelphia geblieben!

„Nun …“, sie holte tief Luft, „… zuerst begegnet man jemandem, den man gern hat. Dann geht man eine Weile miteinander aus, bis man sich in den Menschen verliebt. Danach überlegt man sich gründlich, ob man ihn – oder sie – wirklich lieb genug hat, um viele Jahre miteinander leben zu wollen. Und erst, wenn man ganz sicher ist, heiratet man.“

Sie atmete auf – besser konnte sie es einem Siebenjährigen nicht erklären. Sie schaute zu Jake hinüber, der ihr anerkennend zunickte. Bedeutete das, dass sie sich aus der Affäre gezogen hatte?

„Und wann küsst man sich?“, wollte Kendall wissen.

Diesmal vermied es Carly, Jake anzusehen. „Das kommt irgendwann ganz von allein, aber erst später.“

„Viel später“, stimmte er zu.

Das Mädchen sah von ihm zu Carly, dann von Carly zu ihm. „Das heißt also, ihr beide könntet immer noch heiraten. Und ich könnte Blumen streuen.“

„Nein, das heißt es nicht. Onkel Jake und ich sind … Freunde.“

„Kann man einen Freund denn nicht heiraten?“

Verflixt, für eine Neunjährige war Kendall viel zu gewieft. „Doch, das kann man, nur … Jake und ich kennen uns schon so lange, dass wir sozusagen wie … wie Bruder und Schwester sind.“

Was nicht stimmte. Als Teenager hatte sie ihn nie wie einen Bruder betrachtet, damals wollte sie ihn als festen Freund.

„Aber er ist doch nicht dein Bruder“, beharrte das Mädchen. „Mein Daddy war dein Bruder.“ Eine Falte erschien über ihrer Nase. Wie bei ihrem Vater, ging es Carly durch den Kopf. „Und wenn du ihn heiratest, dann wird er für Austin und mich ein richtiger Onkel. Und ich könnte Blumen streuen, so wie Jessica Henry, die durfte das schon zweimal. Ich noch nie“, fügte sie anklagend hinzu.

Carly konnte sich gut daran erinnern, wie es ist, in diesem Alter seinen Freundinnen unterlegen zu sein. Sie schuldete ihrer kleinen Nichte ein echtes Trostpflaster und keine leeren Worte, auch wenn das bedeutete, die immer noch schmerzende Wunde neu aufzureißen. „Als du drei Jahre alt warst, hättest du fast Blumen gestreut, Kendall.“

Die Augen des Mädchens leuchteten auf. „Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

„In einem hübschen Kleid?“

„Einem sehr hübschen Kleid aus rotem Samt mit einem weißen Spitzenkragen und einem Blumenkranz im Haar.“

„Du sahst wie eine kleine Prinzessin aus“, versicherte Jake.

„Warum gibt es dann kein Foto von mir in dem Kleid?“

Jake machte den Mund auf, um zu antworten, doch Carly kam ihm zuvor. „Weil die Hochzeit nicht stattfand.“

„Warum nicht?“

Die unschuldige Frage traf sie mitten ins Herz. „Der … der Mann, den ich heiraten wollte – er hieß Iain –, kam beim Bergsteigen ums Leben, zusammen mit deinem Daddy.“

„Er starb mit Daddy oben am Berg? Und deshalb konntet ihr nicht heiraten?“

„Ja.“ Sie spürte Jakes Blick auf sich ruhen, doch sie brachte es nicht fertig, ihn zu erwidern. Sie wusste, was sie darin finden würde – Anteilnahme und Mitleid. Beides hatte man damals in so reichem Maße bekundet, das es ihr für den Rest des Lebens genügte. Es war einer der Gründe, weshalb sie in eine Großstadt zog, wo niemand von der Tragödie wusste.

Kendall nahm einen Cracker und knabberte daran. „Habe ich Iain gekannt?“

Carly nickte. „Ja, und er dich. Er sagte immer, du und Austin, ihr wärt so cool. Er hatte euch sehr lieb.“

„Fehlt er dir?“

Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, obwohl dieses Frage- und Antwort-Spiel mehr und mehr zur Tortur ausartete. Dennoch nahm sie es dem Mädchen nicht übel – wie könnte sie auch!

„Ja, manchmal fehlt er mir.“ Sie atmete tief durch. Alles, was sie wollte, waren fünf Minuten mit Iain, um ihm in Liebe Adieu sagen zu können, nicht im Zorn, wie sie es getan hatte. „Aber weißt du was? Er ist immer noch bei mir, genau wie dein Daddy noch immer bei dir ist. Hier drinnen, im Herzen.“

„Das behauptet Mommy auch“, sagte Austin. Er war so still gewesen, dass Carly ihn fast vergessen hatte. „Aber ich kann mich gar nicht an ihn erinnern. Nicht mal, wenn ich ein Foto von ihm sehe.“

„Das ist doch klar, Kleiner.“ Jake zerzauste den blonden Wuschelkopf. „Du warst kaum ein Jahr alt.“

„Fast noch ein Baby“, fügte Carly liebevoll hinzu. „Wenn du möchtest, erzähle ich dir von deinem Daddy. Damit du ihn besser kennenlernst.“

Austin lächelte. „Onkel Jake und Mommy haben mir schon viel von ihm erzählt. Aber deine Geschichten will ich auch hören.“

„Einverstanden.“ Sie räusperte sich. „Ein paar sind richtig gut.“

„Ich kann mich an ihn erinnern“, verkündete Kendall stolz. „Und dass er mir oft etwas vorgesungen hat.“

Carlys Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es war, als könne sie Nicks Stimme oben im Kinderzimmer hören.

„Dein Daddy hat dich immer in den Schlaf gesungen. Wenn er aufhörte, hast du jedes Mal geweint“, sagte Jake.

Austin lachte. „Heulsuse, Heulsuse …“

„Halt den Mund“, fuhr Kendall ihn an. „Du bist es, der bei allem gleich losheult.“

Austin sah sie finster an. „Das stimmt nicht!“

„Genug, ihr beiden“, wies Jake sie zurecht.

Der Junge widmete sich erneut seinem Imbiss, Kendall sah nachdenklich aus. „Weißt du was, Onkel Jake? Wenn du gleich heute anfängst, mit Tante Carly auszugehen, dann könntest du sie heiraten, bevor sie nach Philadelphia zurückmuss. Und ich könnte bei eurer Hochzeit Blumen streuen.“

„Ich …“ Jake verstummt, unsicher, was er antworten sollte.

„Du gibst nicht auf, wenn du etwas unbedingt haben willst, Kendall, wie?“, fragte Carly.

Das Mädchen nickte.

„Genau wie dein Vater.“ Sie lächelte. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm …

„Ich mache dir einen Vorschlag“, fuhr sie fort. „Falls ich eines Tages heiraten sollte, darfst du bei meiner Hochzeit Blumen streuen. Und Austin kann den Ring auf einem kleinen Kissen tragen.“

„Ehrenwort, Tante Carly?“

„Ehrenwort.“

„Ich hoffe, ihr habt gut zugehört“, warnte Jake. „Falls sie heiratet. Nicht wenn.“

Carly schenkte ihm einen dankbaren Blick.

Kendall und Austin drehten sich gleichzeitig zu ihr. „Okay – falls. Aber dann ganz bestimmt, nicht wahr?“

Sie lächelte ihnen zu. „Ganz großes Ehrenwort.“

Arme Carly, dachte Jake. Die Kinder haben ihr ganz schön zugesetzt. Wetten, dass sie am liebsten davongelaufen wäre? Aber sie hat sich tapfer geschlagen.

Während er ihren Koffer ins Gästezimmer hinauftrug, warf er einen Blick über die Schulter. Sie war auf der Treppe stehen geblieben und betrachtete die zahlreichen Fotos an der Wand.

„Diesen Kreuzweg hatte ich ganz vergessen“, murmelte sie.

„Du meinst, die Familiengalerie.“

„Ich nenne es so, wie es mir vorkommt.“

„Ich auch.“

Vor langer Zeit war es sein größter Wunsch, Teil der Bishop-Familie zu werden und auch sein Foto an dieser Wand zu sehen. Sein Hochzeitsfoto. Mit Carly als Braut. Aber Iain kam ihm zuvor, und sie gab dem kühnen jungen Bergsteiger ihr Jawort. Nach einem handfesten Streit nahm sie es fast zurück, und er hoffte auf eine zweite Chance. Doch dann versöhnten sie sich, und das war das Ende vom Lied.

Damals redete er sich ein, dass es für alle Beteiligten am besten so sei – bis für sie alle eine Welt zusammenbrach.

Iain verunglückte tödlich am Tag vor der Hochzeit, und Carly wurde nicht Braut, sondern so etwas wie Witwe.

Nick hinterließ eine Witwe und zwei vaterlose Kinder.

Was ihn selbst betraf … nun, das Leben ging weiter.

Seine damaligen Gefühle für Carly gingen nur ihn an. Wichtig war, für sie da zu sein, wenn sie einen Freund brauchte, und dafür zu sorgen, dass sie glücklich wurde. Erst dann würde er mit sich selbst wieder im Reinen sein.

Er nahm die letzten Treppenstufen.

„Wenn Hannah so weiter fotografiert, geht ihr bald der Platz aus.“

Er drehte sich um – sie hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

„Keine Sorge, sie findet mit Sicherheit eine neue Wand. Fotografieren ist ihre Leidenschaft.“

„Allerdings. Wohin sie geht, die Kamera ist immer dabei.“

„Ich hoffe, diese erste Begegnung mit Kendall und Austin war nicht zu anstrengend.“

„Wie man’s nimmt. Zum Glück kommt es nicht jeden Tag zu einem Frontalzusammenstoß mit der Vergangenheit.“

„Nur gut, dass du einen Airbag hattest, um den Aufprall zu mildern.“

„Welchen Airbag?“

„Na, mich.“

„So? Viel habe ich davon nicht gemerkt.“

„Viel Hilfe hattest du auch nicht nötig, du bist sehr gut allein zurechtgekommen. Nur hin und wieder ein kleines Luftkissen, und das war ich.“

Carly lächelte. „Du ein Kissen? Der Mann aus Stahl?“

Jake grinste – sie hatte den alten Spitznamen nicht vergessen. „Ich betrachte das als ein Kompliment.“

„Das sieht dir ähnlich.“

Er lachte. „Immer noch Nicks freche kleine Schwester, wie?“

„Wahrscheinlich liegt es an der Umgebung. Hier fallen mir manche Dinge wieder ein.“ Sie wurde ernst. „Aber das hat auch sein Gutes. Wenn man weit weg ist, vergisst man auch.“

Er öffnete die Tür und trat ins Gästezimmer, wo er den Koffer aufs Bett legte. „Du hast uns allen gefehlt, Carly.“

„Ihr mir auch.“

Jake bemerkte, dass sich ihre Stimme ebenso verändert hatte wie ihr Äußeres. Sie verriet eine innere Reife, die sie früher nicht besaß. Nein, sie war nicht mehr dieselbe Frau, und er fand die Carly von heute noch anziehender als das Mädchen von damals.

„Was du den beiden vorhin versprochen hast … dir ist hoffentlich klar, dass sie dich beim Wort nehmen werden.“

„Das erwarte ich auch.“

„Demnach hast du vor, eines Tages zu heiraten?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Eins habe ich gelernt – die Zukunft lässt sich nicht programmieren. Aber wenn ich einem Mann begegne, in den ich mich verliebe, dann überlege ich es mir vielleicht.“

Nicht gerade die Antwort, die er erwartet hatte. Sei’s drum. „Das hört sich nicht an, als wärst du auf der Suche nach einem Hochzeitskleid.“

„Der Richtige ist mir eben noch nicht begegnet.“

Außer Iain, fügte er im Stillen hinzu.

Manchmal fragte Jake sich, ob eine Ehe zwischen Carly und dem abenteuerlichen Berufsbergsteiger gut gegangen wäre. Wie dem auch sein mochte, verwunden hatte sie seinen Tod immer noch nicht. Jakes Schuldgefühl flackerte erneut auf.

„Aber ausgeschlossen ist es nicht“, betonte er, entschlossen, das Seine beizutragen, damit sie ihn fand. Bei Hannah war ihm das gelungen, und für Carly wünschte er sich das gleiche Happy End. Sie verdiente es, und er war es ihr schuldig.

„Schon möglich.“ Sie klappte den Kofferdeckel auf und machte sich ans Auspacken.

Sehr zuversichtlich klang das nicht, aber Iain war auch kein Mann gewesen, den man so leicht vergaß. Selbstsicher und verwegen, mit einem Herzen aus Gold. Und ein begnadeter Bergsteiger. Jake hatte ihn gemocht, bewundert und auch beneidet. Um seinen Charme, seinen Mut und vor allem um Carlys Liebe.

Bis zu dem furchtbaren Tag, als er seinen zerschundenen leblosen Körper aus dem Schnee gezogen hatte. Die Erinnerung an jenen Moment hatte ihm jahrelang Albträume verursacht. Auch jetzt sah er ihn wieder vor sich und blinzelte mehrmals, als könne er dadurch die Schreckensvision verscheuchen.

„Ich bin sicher, du wirst es“, sagte er.

Neuerliches Schulterzucken. „Sollten wir nicht nach den Kindern schauen?“

Jake lauschte den lebhaften Stimmen unten in der Küche. „Alles gut.“

„Etwas laut, würde ich sagen.“

„Das ist normal. Sorgen mache ich mir erst, wenn ich sie nicht höre. Lass nur, später gehen wir hinunter und helfen ihnen mit den Hausaufgaben.“

„Du musst es wissen. Wie sieht es übrigens bei dir aus?“

„Hausaufgaben sind für mich längst passé.“

„Davon rede ich nicht.“ Sie nahm ein schwarzes Top aus dem Koffer und warf es ihm an den Kopf, so, wie sie vor Jahren ein Geschirrtuch oder Sweatshirt nach ihm geworfen hatte. Und genau wie früher fing er es geschickt auf. „Gut gezielt, aber leider daneben.“

Im Gegensatz zu damals empfand er die Geste diesmal als zu intim, was möglicherweise mit dem Wurfobjekt, einem sexy Spitzenhemdchen, zusammenhing.

Offenbar wurde ihr das auch bewusst, denn sie errötete leicht. „Entschuldige. Alte Gewohnheiten sterben nicht so leicht.“

„Macht nichts.“ Er reichte ihr das intime Dessous. „Was wolltest du wissen?“

„Wie es mit deinen Heiratsabsichten aussieht.“

Er hatte gehofft, sie würde dieses Thema nicht anschneiden. Da er jedoch damit angefangen hatte, war er ihr eine Antwort schuldig. „Ein paar Monate lang war ich verlobt, ansonsten …“

Sie sah von ihrer Beschäftigung auf. „Davon weiß ich ja gar nichts.“

Er hob die Schultern. „Das war vor vier … nein, vor fünf Jahren.“

„Und?“

Seine Züge verhärteten sich. „Darüber möchte ich nicht sprechen. Abgesehen davon ist es längst vorbei.“

An die Verlobung dachte er so selten wie möglich zurück. Denn während Hannah und Carly sich nach der Tragödie wieder in den Griff bekamen, war Jake Porter am Boden zerstört gewesen.

„Na, sag schon“, drängte sie. „Hast du sie geküsst und musstest sie dann heiraten?“

Er lächelte schwach. „Nein, ganz so einfach war es nicht.“ Auf diesen Abschnitt seines Lebens war er alles andere als stolz. „Ich … eine Zeit lang war ich ziemlich oft auf Partys, und auf einer habe ich jemanden kennengelernt. Wir gingen ein paarmal miteinander aus, dann haben wir uns verlobt.

Sie war hübsch und liebenswert, aber zum Glück ging mir noch rechtzeitig auf, dass wir nicht zusammenpassten. Danach dachte ich nicht mehr ans Heiraten, es war auch nicht der richtige Zeitpunkt.“

Stattdessen hatte er versucht, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen.

„Und jetzt?“

„Jetzt sehe ich keinen Grund, den Status quo zu ändern.“

Carly grinste. „Mir geht es auch nicht anders.“

Und das konnte Jake einfach nicht verstehen. Carly war die geborene Braut, sie hatte ihren Hochzeitstag kaum abwarten können. Und hätte er vor sechs Jahren weniger egoistisch gehandelt, wäre alles anders gekommen, dessen war er sich sicher. Carly und Iain wären verheiratet, und Nick wäre noch am Leben.

An ihm war es, zu retten, was sich retten ließ. Nicht nur für Hannah und Nicks Kinder, sondern auch für Carly Bishop.

Vor allem für sie.

3. KAPITEL

Im Wy’east-Pub, wie das Brauhaus der kleinen Brauerei hieß, herrschte Hochbetrieb, jeder Platz war besetzt. Von ihrem Tisch aus ließ Carly den Blick durch den festlich geschmückten Raum schweifen – lauter Freunde und Bekannte, denen sie vor sechs Jahren zum letzten Mal begegnet war. Bei Nicks und Iains Beerdigung.

Vieles hatte sich hier verändert und alles zum Besseren. Der Saal war heller, die Einrichtung gemütlicher und die Speisekarte länger.

Das ist Jacobs Werk, dachte sie. Seit sich sein Vater aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatte, leitete er den Betrieb.

Biergeruch, vermischt mit verlockenden Düften aus der Küche, hing in der Luft, und fröhliches Stimmengewirr übertönte die Musik, die aus den Lautsprechern kam. Die entspannte Atmosphäre erinnerte Carly an ihren Pub in Philadelphia.

Eine grüne Girlande mit bunten Lichtern, Kiefernzapfen und Stechpalmenzweigen schmückte die Bar. Von den Deckenbalken hingen frische Tannenkränze, in einer Ecke des kleinen Podiums stand ein Weihnachtsbaum, unter dem hübsch verpackte Geschenke lagen.

Wenigstens spielen sie keine Weihnachtsmusik, dachte sie und drehte dem Podium den Rücken.

„Deine Anbeter warten – lass sie nicht länger schmachten“, spöttelte Hannah, die Hände vor dem enormen Bauch verschränkt.

Carly lächelte gezwungen, ihr graute vor dem, was bevorstand. Sie schob den Teller mit den Resten der Fleischpastete zurück und stand auf, um die Runde zu machen.

An allen Tischen war es das Gleiche. Jeder umarmte sie, jeder stellte dieselben Fragen, und jedes Mal gab sie die gleiche Antwort.

Ja, sie lebte jetzt in Philadelphia.

Nein, sie war nicht verheiratet.

Doch, sie vermisste Iain immer noch.

Mit jeder Wiederholung fiel es ihr schwerer, denn etwas Ähnliches hatte sie schon zweimal durchgemacht, erst beim Begräbnis ihres Bruders, danach bei Iains. Damals waren es Beileidsbezeigungen – alle wohlgemeint, aber nichtsdestoweniger hart zu ertragen. Sie biss die Zähne zusammen und lächelte, und nach dem fünften Tisch fiel es ihr leichter. Nach dem zehnten antwortete sie automatisch.

Sie warf einen Blick durch den Saal – wo war Jacob? Sie hatte erwartet, ihm hier zu begegnen, schließlich waren das sein Pub und seine Gäste. Sie spürte so etwas wie Enttäuschung – mit ihm an ihrer Seite fiele ihr dieser Spießroutenlauf bestimmt leichter. So wie gestern die Ankunft und das erste Beisammensein mit den Kindern.

Nach einer Stunde, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, kehrte sie an ihren Tisch zurück. Teller und Essensreste waren inzwischen entfernt und durch einen Krug Bier und eine Cola für Hannah ersetzt worden. Schwägerin und Schwager hielten Händchen. Carly kam sich wie ein Eindringling vor.

Was hatte sie hier zu suchen?

Sie schluckte und setzte sich. „Na, ihr zwei Turteltauben? Wo sind die Kinder?“

„Sie leisten Jake Gesellschaft.“

Er war also anwesend. „Ich habe ihn nirgends gesehen.“

„Er ist schon den ganzen Abend da.“

Und hat durch Abwesenheit geglänzt – wenigstens, solange ich mit am Tisch saß.

Sie stützte die Ellbogen auf und das Kinn in die Hände. Nach der Saalrunde war sie seelisch und körperlich zu geschafft, um sich seinetwegen Gedanken zu machen. „Ich bin überrascht, wem ich alles begegnet bin. Sogar unser OMSAR-Team ist vollzählig erschienen.“

„Die ganze Stadt weiß von deiner Ankunft“, sagte Garrett mit einem Seitenblick auf seine Frau. „Ich frage mich nur, von wem“, fügte er mit Unschuldsmiene hinzu.

Hannah wurde rot. „Ich … ich habe es ein paarmal erwähnt.“

Garrett lachte. „Deine Vorstellung von ein paarmal kenne ich, Darling.“

„Tut mir leid.“

Carly seufzte im Stillen. Jetzt machte die Ärmste sich ihretwegen auch noch Vorwürfe. Sie lächelte ihr zu. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Im Grunde genommen ist es mir ganz recht so, es erspart mir Einzelbesuche. Heute Abend habe ich jeden begrüßt und alle Fragen beantwortet.“

Hannah strich sich eine Strähne hinter das Ohr. „Tapferes Mädchen.“

„Das ist sie“, bekräftigte Garrett. Er füllte ein Glas aus dem Krug und schob es ihr hin. „Hier, du hast eine Stärkung verdient.“

„Danke, die kann ich gebrauchen.“ Sie lächelte ihm zu – er war wirklich ein sehr netter Mann.

Hannah strahlte sie an. „Weißt du auch, was du da trinkst?“ Sie machte eine Kunstpause. „Nicks Winter-Ale!“

Richtig – wie hatte sie das vergessen können? Eine Welle von Emotionen überkam sie, als sie ihr Glas hob. „Auf Nick.“

„Auf Nick“, wiederholte Garrett. „Einen Meisterbrauer.“

„Und auf Iain“, schloss Hannah.

Langsam trank Carly den ersten Schluck, darauf bedacht, sich ein unparteiisches Urteil zu bilden.

Das Bier war hervorragend. Vollmundig und erfrischend, mit der richtigen Ausgewogenheit von Hopfen und Malz und einem Hauch von Zimt. Es war perfekt – aber etwas anderes hatte sie von ihrem großen Bruder auch nicht erwartet.

„Das war er – ein Meisterbrauer.“ Das Herz lief ihr über vor Freude und Stolz. „Das ist das beste Ale, das ich je getrunken habe. Wenn es nicht prämiert wird, verstehe ich die Welt nicht mehr.“

Zwei Hände legten sich ihr auf die Schultern, warm, stark und verlässlich.

Carly brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wem sie gehörten – Jacobs vertrauten Duft würde sie unter Tausenden wiedererkennen.

Als er den Druck seiner Finger leicht verstärkte, lief ihr ein Prickeln über die Haut – das erste nach langer, langer Zeit. Sie schluckte und sagte sich, dass die platonische Geste nichts zu bedeuten hatte.

„Dein Wort in Gottes Ohren. Oder vielmehr in den Ohren der Preisrichter.“

Sie schaute zu ihm auf. „Das Ale ist köstlich.“

„Ich freue mich, dass es dir schmeckt.“

„Von heute an ist das mein Lieblingsbier.“

„Meins auch. Besonders, wenn es dieses Lächeln auf deine Lippen zaubert.“ Jake sah sie an, als gäbe es außer ihnen niemanden im Saal. Carly wurde heiß, und sie wandte den Kopf.

„Danke, dass du es brauen lässt.“ Sie betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit vor ihr. „Es … es bedeutet mir eine Menge.“

„Ich weiß.“

Er weiß ein bisschen zu viel. Sie trank einen tiefen Schluck, doch gegen die Schmetterlinge in ihrem Bauch war das kühle Getränk machtlos.

Seine Hände ruhten noch immer auf ihren Schultern.

Na und? Kein Grund, gleich auszurasten.

Dennoch atmete sie auf, als er zurücktrat und sich auf den Stuhl neben ihr setzte. Dabei streifte er sie mit dem Schenkel, und die Schmetterlinge flatterten noch stärker. Sie rückte ein wenig beiseite. „Wo sind die Kinder?“

„Sie spielen Karten in meinem Büro und essen Plätzchen. Angeblich waren sie immer noch hungrig.“

Hannah zog die Stirn kraus. „Du verziehst sie nach Strich und Faden, Jake.“

„Ich verwöhne sie ein bisschen, daran hast du doch nichts auszusetzen, oder?“ Er grinste wie ein kleiner Junge und sah dabei so unbekümmert aus, dass Carly sich plötzlich wie eine alte Frau fühlte. Eine unglückliche alte Frau.

Weshalb nur? Seit Langem war sie zum ersten Mal wieder zu Hause, umgeben von Freunden und Angehörigen, in einer entspannten, sorglosen Atmosphäre. Was mehr konnte sie sich wünschen?

Iain und meinen Bruder.

Sie sah zu ihrer Schwägerin hinüber, deren Hand auf Garretts Schulter ruhte. Wie ertrug sie es? Nicht nur an Abenden wie diesem, sondern jeden Tag und jede Nacht. Sie lebte in Nicks Haus, mit seinen zwei Kindern, in einer Stadt, in der sie jede Straße, jedes Gebäude an ihn erinnerten.

Irgendwie hatte sie es geschafft, neu zu beginnen; die Vergangenheit zu bewältigen und wieder zu lieben. Nichts von all dem war ihr selbst gelungen. Sie konnte sich glücklich schätzen, wenn sie diesen Abend einigermaßen überstand.

Carly starrte auf ihre Hände. Da war kein Verlobungsring mehr, und sie hatte nie einen Ehering getragen. Dennoch …

Verstohlen sah sie Jake von der Seite an, und als sich ihr Puls beschleunigte, verspürte sie Scham. Wie konnte sie sich zu dem Mann neben ihr hingezogen fühlen? Hier, an diesem Ort, wo Iain als Barmann und sie als Kellnerin gearbeitet hatten. Wo sie Polterabend gefeiert hätten, wäre er vom Mount Hood zurückgekommen.

Aber er war nicht zurückgekommen. Er starb, und sie lebte, auch wenn es ihr vorkam, als wäre sie seitdem hundert Tode gestorben.

In all den Jahren hatte sie nur ein Ziel vor Augen gehabt – die Vergangenheit zu vergessen. Vielleicht wurde es Zeit, Hannahs Beispiel zu folgen und damit zu leben. Vielleicht würde es dann auch ihr gelingen, neu zu beginnen und zu lernen, wieder zu lieben.

Frauen nachzulaufen brachte ebenso wenig, wie dem Familienoberhaupt zu widersprechen oder ohne Steigeisen einen Berg zu erklimmen. Während Jake am nächsten Tag den vereisten Bürgersteig entlangeilte, sagte er sich, dass er Carly ja nicht nach-, sondern nur hinter ihr herlief.

Vom Fenster seines Büros, wo er und sein Vater mal wieder endlose Argumente über Geschäftsführung ausfochten, hatte er sie unten auf der Straße erspäht und gesehen, wie ihr das Mobiltelefon aus der Tasche fiel. Ein Handy ist wichtiger als ein Bankauszug, sagte er sich und eilte die Treppe hinab und aus dem Gebäude.

„Carly!“

Sie blieb stehen und drehte sich um. „Jacob?“

Mit ein paar Schritten war er bei ihr. „Warum redest du mich ständig mit meinem Taufnamen an?“

„Weil er dir nicht gefällt, wie Nick mir irgendwann mal anvertraut hat.“

„Wie aufmerksam. Und ich mühe mich deinetwegen auch noch ab.“ Er zeigte ihr das winzige Telefon. „Eigentlich sollte ich es behalten.“

„Mein Handy!“ Sie griff danach, doch er streckte den Arm über den Kopf, sodass es außer Reichweite war. „Das ist unfair!“

„Na und? Es ist die Rache für den Jacob.“

„Gib her!“ Sie sprang hoch, aber nicht hoch genug.

„Pech gehabt.“

Carly presste die Lippen zusammen. „Solltest du es vergessen haben, Jacob … Du und Nick, ihr habt mich früher herumkommandiert, als wäre ich euer Dienstmädchen. Die einzige Möglichkeit, mich an dir zu rächen, war, dich mit deinem Taufnamen auf die Palme zu bringen.“

„Und wie hast du dich an deinem Bruder gerächt?“

„Ich habe seine Unterwäsche rosa gefärbt.“

„Das war aber nicht nett.“

„Als Iain und ich das erste Mal zusammen ins Kino gingen, habt ihr euch in die Reihe hinter uns gesetzt und die ganze Zeit gelästert. War das nett?“

Er lachte. „Okay, vielleicht haben wir ein bisschen übertrieben.“

„Ein bisschen?“

„Na schön, du hast gewonnen.“ Er reichte ihr das Handy.

„Ich habe gar nicht gemerkt, dass es mir aus der Tasche gefallen ist. Offenbar ist heute mein Glückstag.“

Meiner auch.

In dem roten Parka, den engen Jeans und den hohen Stiefeln sah sie fantastisch aus. Und diese Augen! Ebenso klar wie zwei Bergseen, nur nicht so kalt.

„Übrigens, vielen Dank für den Kasten Bier und die Etiketten.“ Sie steckte d...

Autor

Melissa Mc Clone
<p>Melissa war schon immer ein Fan von Märchen und Geschichten mit Happy End. Doch bis ihre Englischlehrerin Liebesromane im Unterricht thematisierte, hatte sie das Genre noch nicht für sich entdeckt. Aber danach hatte sie eine neue Leidenschaft. Überflüssig zu sagen, dass sie ihrer Lehrerin auf ewig dafür dankbar ist. Nach...
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Linda Castillo
<p>Linda Castillo wurde in Dayton/Ohio geboren und arbeitete lange Jahre als Finanzmanagerin, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Sie lebt mit ihrem Ehemann, vier Hunden und einem Pferd auf einer Ranch in Texas.</p>
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Amalie Berlin
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