Cora Collection Band 37

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HEISSE AFFÄRE IN LAS VEGAS von SHIRLEY JUMP

Das sieht Molly gar nicht ähnlich: Sie lässt sich auf eine sinnliche Nacht mit dem attraktiven Linc ein. Sie wissen nichts über einander, nicht einmal ihre Nachnamen. Ein Vergnügen ohne Verpflichtungen und Folgen - doch wie so oft kommt alles anders …

HEIRATE NIEMALS EINEN FREMDEN! von JACKIE BRAUN

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VIVA LAS VEGAS! von COLLEEN COLLINS

Gestern eine graue Maus - heute Nummerngirl in Las Vegas! Seit Corinne mit ihrer Cousine die Rollen getauscht hat, liegen die Männer ihr zu Füßen. Im ultraknappen Outfit genießt sie jeden begehrlichen Blick, besonders den von Leo - dem sexy Cop, der sie für eine Ganovin hält …


  • Erscheinungstag 12.03.2021
  • Bandnummer 37
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502146
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Shirley Jump, Jackie Braun, Colleen Collins

CORA COLLECTION BAND 37

1. KAPITEL

Zwei rosarote Striche.

Molly Hunter starrte gute dreißig Sekunden auf das weiße Stäbchen, das seine Botschaft wie eine Warnleuchte auf den pfirsichfarbenen Badezimmerfliesen der Ablage verkündete. Immer wieder legte sie es hin, hob es auf, starrte ein weiteres Mal auf den pinkfarbenen Doppelstrich.

Das konnte nicht sein. Das war … unmöglich.

Ihr Magen rebellierte erneut, als wollte er sie damit herausfordern, diesen Gedanken zu wiederholen. Schon die letzten Wochen war sie morgens mit einem Gefühl der Übelkeit und der Erschöpfung aufgewacht. Da jedoch im vergangenen Monat gleich drei Schüler ihrer Klasse an Grippe erkrankt waren, hatte sie ihren nervösen Magen darauf geschoben. Doch nicht auf …

Oh Gott! Diese Nacht in Las Vegas.

Vor zwei Monaten. War das wirklich schon so lange her? Wie konnte sie das übersehen haben?

Ganz ruhig! Sie hatte keinen Freund oder Ehemann, die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft war damit gering bis ausgeschlossen. Wobei „Gering“ sich dieses Mal wohl ganz schön ins Zeug gelegt hatte.

Ihre Gedanken huschten zurück zu jener Bar. Zu einem traumhaften Mann mit blauen Augen und dunklen Haaren. Ein Mann, von dem sie nicht mehr als den Vornamen wusste.

Linc.

„Keine Nachnamen. Keine Verpflichtungen. Nur diese eine Nacht.“

Eine verrückte, fast schon irrsinnige Nacht. Molly Hunter, die sonst nie irgendetwas tat, ohne es vorher genauestens zu planen, hatte jede Vorsicht in den Wind geschossen und einer geradezu elektrisierenden Anziehungskraft die Kontrolle über ihr Denken überlassen.

Seit jener Nacht hatte sie sich Mühe gegeben, diesen betörenden Mann zu vergessen, den sie in Las Vegas kennengelernt hatte. Eigentlich dachte sie auch, es wäre ihr ganz gut gelungen. Er war doch nur eine flüchtige Verlockung in ihrem Leben gewesen. Ein verrückter Fehltritt.

Und obwohl sie sich in Gedanken hin und wieder fragte, wo er gerade war oder ob er wohl ebenfalls an sie dachte, ermahnte sie sich, diesen One-Night-Stand dort ruhen zu lassen, wo er am besten aufgehoben war: in der hintersten Schublade ihres Bewusstseins – als delikate Erinnerung an eine einzige Nacht.

Immerhin war sie eine Vorschullehrerin, und das Aufregendste in ihrem Leben waren ihre Versuche, während der Sommermonate Highschool-Schülern Nachhilfeunterricht in Englisch zu erteilen. Sie war eine in jeder Beziehung bodenständige Frau, die „so etwas“ nie tun würde.

Na ja, nie stimmte wohl nicht so ganz. Aber so gut wie nie.

Nach Las Vegas war sie aus einem ganz bestimmten Grund gefahren: Um ihrer guten Freundin Jayne Cavendish dabei zu helfen, über das herzzerreißende Ende ihrer Beziehung mit Rich Strickland hinwegzukommen. Die vier Freundinnen – Molly, Jayne, Alex Lowell und Serena Warren – hatten ein Mädels-Wochenende voller Maniküren, Martinis und unvergesslicher Erinnerungen geplant.

Am ersten Abend hatte das auch geklappt, doch schon am zweiten hatte die Abenteuerlust gesiegt und jede von ihnen war auf eigene Faust losgezogen. Ein paar von ihnen hatten sich dabei ein klein wenig Ärger eingehandelt.

Molly sogar ziemlich viel davon. Sie schüttelte noch einmal kräftig den Stab, dann betrachtete sie ihn erneut. Die beiden rosafarbenen Striche blieben.

Du bist schwanger!, schrien sie ihr in ihren quietschfröhlichen Pastellfarben entgegen.

Jawohl, und dazu noch völlig unvorbereitet auf solch ein lebensveränderndes Ereignis, schrie sie innerlich zurück.

Oh Gott, was sollte sie jetzt nur tun?

„Hallo! Molly!“

Die helle, gut gelaunte Stimme ihrer Mutter hallte durch Mollys Bungalow in San Diego. Hastig räumte Molly den Schwangerschaftstest mitsamt Papier und Verpackung beiseite, verstaute rasch alles in dem weißen Korb, der als Mülleimer diente, und stopfte mehrere Taschentücher obendrauf. Dann verließ sie das Badezimmer, durchquerte die Küche und zog dabei den Gürtel ihres weißen Frotteebademantels enger. Rocky, ihr Jack-Russel-Mischling, trottete neben ihr her und beäugte schwanzwedelnd jeden ihrer Schritte.

„Mom? Was machst du denn so früh schon hier?“

Sie griff nach dem Hundefutter, dann nach dem kleinen Edelstahlnapf neben dem Behälter.

Dabei wich sie dem neugierigen Blick ihrer Mutter aus und hoffte, dass sich keine verräterische Röte in ihr Gesicht schlich. Sie konnte nur beten, dass Jayne nicht allzu bald aufwachte. Mit den Fragen ihrer derzeitigen Mitbewohnerin konnte sie sich nicht auch noch herumschlagen – zumal Jayne an besagtem Wochenende dabei gewesen war.

Molly fuhr sich durch die Haare. Hatte sie das wirklich getan? War sie so … unvorsichtig gewesen? War sie wirklich … schwanger?

„Früh?“ Cynthia Hunter blickte ihre Tochter verwundert an. „Lieber Himmel, Molly. Es ist zehn nach acht.“

Molly hielt beim Auffüllen von Rockys Napf inne.

„So spät schon?“

Rocky drängte sich an sie, den Schwanz nun regelrecht am Rotieren. Sie beeilte sich, den Napf auf den Boden zu stellen.

„Ich muss sofort los.“

„Aber Molly, ich dachte, wir setzen uns kurz zusammen und unterhalten uns ein wenig. Dein Job an der Sommerschule ist seit gestern zu Ende. Hast du jetzt nicht wahnsinnig viel Zeit um …?“

„Leider nicht.“

Molly hatte bereits auf dem Absatz kehrtgemacht und steuerte ihr Schlafzimmer an. Sie hatte schon zu viel Zeit damit verschwendet, im Bad auf dieses blöde Stäbchen zu starren – als würde das irgendetwas ändern.

Sie warf ihren Bademantel auf das ungemachte Bett – auf diesen Teil der Hausarbeit musste sie heute wohl verzichten, auch wenn es ihr schwerfiel. Stattdessen riss sie ihren Schrank auf und schnappte sich das erstbeste Outfit: eine graue lange Hose, ein kurzärmeliges lilafarbenes Oberteil und schwarze High Heels.

Es klopfte zweimal sanft an Mollys Schlafzimmertür.

„Möchtest du Frühstück, mein Schatz? Ich kann dir pochierte Eier machen.“

Beim bloßen Gedanken daran wäre Molly fast erneut ins Badezimmer gerannt.

„Nein, nein, danke, Mom.“

Sie zog den Pulli über den Kopf, knöpfte die Hose zu und schlüpfte in die Schuhe. Zu guter Letzt bürstete sie noch kurz durch ihre Haare, trug einen Hauch Make-up auf, und schon war sie fertig – oder zumindest einigermaßen vorzeigbar.

Molly verließ ihr Schlafzimmer wieder und überlegte dabei, was sie noch alles benötigte. Mitbringen musste sie zu dem heutigen Meeting eigentlich nichts, aber sie war gerne vorbereitet, nur für den Fall.

Sie griff nach der Mappe mit ihren Änderungsvorschlägen für den Lehrplan im nächsten Jahr. Oh, und den Antrag zum Ausbau des Lesekurses, an dem sie gerade arbeitete, brauchte sie noch. Gerüchte besagten, dass der Washington Elementary Kürzungen bevorstanden. Molly wollte sichergehen, dass sie davon nicht betroffen sein würde, falls sich die Gerüchte bewahrheiteten.

Sie ging immer noch ihren Tagesablauf durch, als sie um die Ecke bog und beinahe mit Jayne zusammenstieß.

„Oh, sorry!“

Jayne lachte und wischte sich ein paar vereinzelte Locken ihres kurzen haselnussbraunen Haars aus ihrer Stirn.

„Kein Problem. Ich sehe schon, du hast es eilig heute Morgen. Bist du wegen deines Termins mit der Verwaltung schon so früh unterwegs?“

Molly nickte.

Jayne musterte sie prüfend.

„Nervös? Irgendwie bist du heute nicht ganz du selbst.“

Gemeinsam steuerten sie das Wohnzimmer an, wo Molly sich zwischen den neugierigen Blicken ihrer Mutter und denen von Jayne regelrecht eingezwängt fühlte. Wie, in aller Welt, sollte sie dieses Geheimnis für sich behalten?

Nun, sie musste es einfach. Bisher war sie sich ja noch nicht einmal sicher. Noch nicht.

„Nein.“ Molly seufzte. „Doch.“

„Du wirst das ganz toll machen“, sagte Cynthia.

„Das ist nicht das Problem, Mom.“

Molly schob ihre Unterlagen in ihre dunkelbraune Ledertasche und legte diese auf den kleinen Wohnzimmerschreibtisch. „Der Etat gibt her, was er hergibt. Wenn dieses Jahr eine zweite Vorschulklasse finanziert werden kann, dann behalte ich meinen Job. Wenn nicht …“

„… dann nicht. Aber ich bin mir sicher, dass sich alles zum Guten wendet“, sagte ihre Mutter.

Jayne stimmte ihr mit aufmunternden Worten zu.

Molly nickte. Es war unvorstellbar für sie, nicht mehr an der Washington Elementary zu arbeiten und im Herbst keine neue Schar Vorschüler willkommen zu heißen. In die neugierigen Gesichter zu blicken, die geradezu aufblühten, wenn sie die Grundlagen lernten, vom Alphabet bis zur einstelligen Addition.

Molly liebte ihre Arbeit und konnte sich nicht vorstellen, irgendetwas anderes zu tun. Jahrelang hatte sie tagein, tagaus unterrichtet, und genau so stellte sie sich ihr Leben vor.

Aber wenn sie mit dem, was sie tat, wirklich so zufrieden war, warum wollte sie sich dann an jenem Abend unbedingt so gehen lassen? Sich benehmen, als wäre sie eine vollkommen andere Person?

Ein Psychologe hätte ihr wahrscheinlich attestiert, dass sie unbewusst versuchte, eine Leere in ihrem Leben zu füllen. Molly wischte den Gedanken beiseite. Diese Nacht war ein Fehltritt gewesen, sonst nichts. Es gab in ihrem Leben keine „Leere“. Sie war vollauf zufrieden.

Nach Las Vegas war sie doch nur gefahren, um Jayne zu unterstützen, die gerade durch eine schwierige Phase gegangen war. Das war alles.

„Du siehst blass aus“, sagte Cynthia, ging einen Schritt auf sie zu und legte die Hand auf die Stirn ihrer Tochter. „Hast du nicht gesagt, dass die Sommergrippe umgeht? Vielleicht hast du dir etwas eingefangen?“

„Etwas“ hatte sie sich in der Tat eingefangen.

„Du siehst wirklich etwas schlapp aus, Molly“, warf Jayne ein.

„Ich bin nur müde, das ist alles.“

Auf gar keinen Fall würde sie ihrer Mutter und ihrer Freundin von dem Schwangerschaftstest erzählen. Nicht, bevor sie bei einem Arzt gewesen war. Diese Schnelltests konnten sich irren.

Nach zwei Monaten?, flüsterte eine leise Stimme in ihr. Hast du im Biologieunterricht geschlafen?

Ihre Mutter sah sie skeptisch an.

„Wenn du mich fragst, hast du nicht gut genug auf dich achtgegeben, als du und Doug diese … Pause in eurer Beziehung hattet.“

Molly öffnete die Hintertür, ließ Rocky in den umzäunten Hof, dann wandte sie sich wieder ihrer Mutter zu. Jayne beschäftigte sich konzentriert damit, Kaffee zu kochen, um nicht in den Streit zwischen Mutter und Tochter verwickelt zu werden. „Mom, das war keine ‚Pause‘. Wir sind geschieden.“

Cynthia schüttelte den Kopf.

„Ich glaube noch immer, ihr könnt …“

„Nein, können wir nicht.“

Die Lippen ihrer Mutter kräuselten sich zunehmend, aber sie schwieg.

Molly seufzte, ließ es aber dabei bewenden. In Cynthias Augen konnte Douglas Wyndham nichts Falsches tun. Sie sah in ihm den perfekten Schwiegersohn, den Arzt, der viel im Leben erreichen würde.

Das Problem war nur: Die Ziele, die er anstrebte, waren ihren eigenen komplett entgegengesetzt.

Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie wusste ja noch nicht einmal sicher, ob die rosafarbenen Striche überhaupt gerechtfertigt waren. Zunächst würde sie ihren Arzt anrufen und versuchen, gleich nach ihrer Konferenz einen Termin zu bekommen. Erst dann konnte sie endgültige Gewissheit haben.

Gewissheit worüber? Dass sie in jener Nacht den womöglich größten Fehler ihres Lebens begangen hatte? Sie, Molly Hunter, die ihr Leben so geradlinig führte, dass man sie mit einem Lineal verwechseln konnte?

„Molly, ich glaube trotzdem …“

„Möchten Sie etwas Kaffee, Mrs. Hunter?“, fiel Jayne ihr ins Wort. Molly lächelte ihre Freundin dankbar an, erleichtert über diesen Themenwechsel.

Rocky kratzte an der Fliegengittertür. Molly ließ ihn herein, fischte sein Lieblingskauspielzeug unter dem Kühlschrank hervor und gab ihm einen letzten Klaps. Dann nahm sie die Tasche vom Tisch und kramte darin nach ihrer Sonnenbrille.

„Tut mir leid, Mom. Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für ein Schwätzchen. Ich wollte schon etwas früher zu dem Meeting.“

„Wenigstens Rocky freut sich, mich zu sehen.“

Ihre Mutter bückte sich und tätschelte Rockys Kopf, während sein Schwanz in gleichmäßigen Bewegungen gegen ihr Bein schlug.

Molly ging zur Vordertür, öffnete sie und wartete darauf, dass ihre Mutter ihr folgte.

„Ich ruf dich gleich danach an. Versprochen.“

„Hast du nicht etwas vergessen?“

Molly sah kurz hinunter zu ihrer Tragetasche, dann wieder zu Rocky, der glücklich an seinem Gummiknochen kaute.

„Hmm … Ich wüsste nicht, was.“

„Deine Schlüssel vielleicht?“

Cynthia deutete auf die Flurablage.

„Mein Gott, Molly, du bist heute aber wirklich vergesslich.“

Sie streckte den Arm aus und legte erneut ihre Handfläche auf Mollys Stirn.

„Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“

„Mir geht es gut.“

Bis auf diese kleine Baby-Sache. Vielleicht.

„Du wirkst etwas indisponiert.“

„Mom, niemand sagt heutzutage mehr ‚indisponiert‘.“

Hastig nahm Molly ihre Schlüssel an sich, dann ging sie zur Tür zurück.

„Mir geht’s bestens. Ganz ehrlich.“

„Jayne“, versuchte es Cynthia jetzt erneut. „Findest du nicht auch, dass Molly indisponiert aussieht?“

Jaynes Lächeln signalisierte, dass sie sich mit überbesorgten Müttern bestens auskannte.

„Wenn sie blass ist, Mrs. Hunter, dann bestimmt nur, weil sie in letzter Zeit zu beschäftigt war, um an die frische Luft zu gehen und im Garten zu werkeln.“

Molly formte mit ihren Lippen ein stummes „Danke“ in Jaynes Richtung.

Cynthia zuckte zweifelnd mit den Schultern.

„Wenn du das sagst.“

Jayne drückte Molly einen silbernen Thermosbecher in die Hand.

„Hier, damit überstehst du den Morgen.“

Molly grinste.

„Danke.“

Sie nahm den Kaffee entgegen, ohne Jayne zu sagen, dass sie nicht sicher war, ob sie überhaupt noch so viel Koffein trinken sollte.

„Hey, Kaffee kochen ist ja wohl das Mindeste, was ich tun kann, wo du es schon so lange mit mir aushältst.“

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, sagte Molly lächelnd. „Du bist eine tolle Mitbewohnerin, Jayne. Es ist schön, dich hier zu haben.“

Das war es wirklich. Seit Jayne Cavendish vor zwei Monaten eingezogen war, hatte sie jeden Tag viel Spaß. Sie hatte ganz und gar nichts dagegen gehabt, dass eine ihrer besten Freundinnen den freien Platz in dem kleinen Bungalow nutzen würde. Und sie nahm an, dass Jayne, die noch immer ihr gebrochenes Herz pflegte, ihre Gesellschaft ebenfalls sehr zu schätzen wusste.

Molly fühlte mit Jayne. Sie wusste, wie es war, wenn sich die Träume von einer glücklichen Zukunft plötzlich zerschlugen. Dies war auch ein Grund gewesen, warum Molly geglaubt hatte, ein Trip nach Las Vegas mit Jayne, Alex und Serena wäre genau die richtige Medizin, um Jayne dabei zu helfen, den Seitensprung ihres Verlobten zu vergessen. Und so hatten sie ein verrücktes, sorgloses Mädels-Wochenende voll unvergesslicher Erinnerungen geplant.

Am Ende war alles ganz anders gekommen. Alex war in Las Vegas geblieben, um als Concierge in Wyatt McKendrick’s Hotel zu arbeiten – und hatte sich in den smarten Hotelier verliebt. Serena, die an diesem Wochenende Hals über Kopf Jonas Benjamin geheiratet hatte, wohnte jetzt ebenfalls in Las Vegas. Bisher hatte ihre Ehe gehalten, auch wenn sie über ihr Leben mit ihrem Politikerehemann wenige Worte verlor.

Molly vermisste ihre Freundinnen sehr. Und bis auf dieses eine Wochenende, an dem Wyatt die ganze Clique für ein schnelles Mittagessen und eine Einkaufstour eingeflogen hatte, mussten sie ihren Kontakt auf SMS, Online-Chats und Telefonate beschränken.

Jayne drückte Molly kurz an sich, wünschte ihr Glück für ihr Meeting, dann verabschiedete sie sich. „Ich muss mich für die Arbeit fertig machen. Wir könnten heute Abend eine Pizza bestellen und ein paar Filme ausleihen.“

„Klingt toll.“

Bis auf den Teil mit der Pizza, der Mollys Magen erneut in Aufruhr versetzte. Nachdem Jayne gegangen war, öffnete Molly die Vordertür und bedeutete ihrer Mutter, vorauszugehen. Cynthia blieb jedoch, wo sie war.

„Mom, ich muss jetzt wirklich zu diesem Meeting.“

Ihre Mutter lächelte. Es war genau die Art von Lächeln, die Molly signalisierte, dass gleich eine Ansprache folgte, die sie beim besten Willen nicht hören wollte.

„Ich ruf Douglas gerne mal an, wenn du willst.“

„Nein, ich will nicht, dass du Doug anrufst.“

„Molly, wirklich. Ich finde, du machst es ihm schrecklich schwer. Könnt ihr zwei euch nicht einigen?“

Worüber? Sie und Doug waren nun schon seit zwei Jahren geschieden und ihre Mutter glaubte noch immer, ihre gescheiterte Ehe ließe sich kitten, indem man zum Telefonhörer griff und sich zum Abendessen verabredete. Sie verstand einfach nicht, welche Streitpunkte einen Keil zwischen Doug und sie getrieben hatten. Ihre unterschiedlichen Vorstellungen, angefangen von ganz allgemeinen Ansichten bis hin zu ihrer gemeinsamen Zukunft.

Sie war so naiv gewesen, als sie Doug geheiratet hatte. So benebelt von seinem Charme, der Art, wie er sich um jedes noch so kleine Detail gekümmert und ihr hektisches Leben auf einmal um so vieles einfacher gemacht hatte. Zunächst war es durchaus leicht gewesen, sich in Dougs geordnetes Leben einzufügen und alle Entscheidungen ihm zu überlassen.

Viel zu spät war ihr klar geworden, dass er gar nicht daran dachte, die starren Rituale, nach denen er sein Leben gestaltete, auch nur ansatzweise zu lockern. Am Ende musste sie erkennen, dass der Mann, der zunächst so geordnet und organisiert schien, in Wahrheit verbohrt und verschlossen gegenüber jenem Familienleben war, das sie sich selbst so sehr wünschte.

Sollte sie jemals wieder heiraten – und dahinter stand ein riesengroßes Fragezeichen – würde sie sich Wochen, wenn nicht gar Monate Zeit nehmen, um diesen Schritt noch einmal gründlich zu überdenken. Nichts überstürzen, das Denken ihrem Gehirn statt ihren Hormonen überlassen.

Sie würde sich klug verhalten. Nicht betört und geblendet. Niemals wieder.

„Doug geht es sehr schlecht“, fügte ihre Mutter hinzu und seufzte theatralisch.

„Ich will doch nur, dass du genauso glücklich wirst, wie dein Vater und ich es waren.“ Ihre Augen trübten sich kurz bei der Erwähnung von Mollys verstorbenem Vater.

„Ich bin glücklich, Mom.“

„Allein?“ Cynthia schüttelte den Kopf. „Wie ist das möglich?“

Molly wurde auf einmal klar, dass der Kummer ihrer Mutter mehr dem Verlust ihres eigenen Ehemannes vor achtzehn Monaten entsprang als einer wirklichen Sorge um den Niedergang von Mollys Ehe.

„Du findest schon wieder jemanden, Mom. Geh doch mal in diesen Bridge Klub, von dem du gesprochen hast. Oder in den Buchklub in der Bücherei.“

Cynthia wich ihrem Blick aus.

„Mom …“

„Die lesen diesen Monat ‚Sturmhöhe‘.“

„Du liebst doch Brontë.“

Cynthia wandte sich wieder ihrer Tochter zu.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte sie stattdessen und kehrte damit in ihre sichere Rolle als besorgte Glucke zurück. „Wenn du willst, kann ich gerne dableiben.“

Mollys Magen rebellierte, und beim bloßen Gedanken an die sechs Meilen weite Fahrt bis zur Arbeit wäre sie am liebsten umgekehrt und schnurstracks zurück ins Bett gegangen. Doch sie weigerte sich, das gegenüber ihrer Mutter zuzugeben.

„Geh ruhig in den Buchklub, Mom. Ich ruf dich später an.“

Sie drückte ihr einen Kuss auf die Wange und nahm dabei den vertrauten Duft in sich auf. „Versprochen.“

Bevor ihre Mutter den Satz beginnen konnte, zu dem sie gerade ansetzte, stieg Molly in ihr Auto und fuhr los. Sie winkte Cynthia noch einmal zum Abschied, dann fuhr sie aus der Auffahrt und bog in die Richtung ihrer Arbeitsstelle ab.

Erst zwanzig nach acht. Noch mindestens anderthalb Stunden, bis ihr Meeting mit der Verwaltung vorbei war und sie Dr. Carters Praxis aufsuchen konnte. Dieser Tag hatte gerade erst begonnen und trotzdem hätte sie schwören können, dass er bereits jetzt ein ganzes Jahr gedauert hatte.

„Ich weiß genau, was ich will, und das da ist es nicht.“

Lincoln Curtis stieß das Portfolio quer über den glattpolierten Mahagonitisch zu dem Architektenteam. Die drei Männer kauerten dort wie die Hühner auf der Stange. Sie trugen nahezu identische marineblaue Anzüge und rote Krawatten mit unterschiedlichen Mustern. Gerade so, als sei dieser Einheitslook eine Grundvoraussetzung, um für King Architecture arbeiten zu dürfen.

Was dann wohl auch erklärte, warum Lincoln das vorgelegte Design hasste. So fantasielos ihr Kleidungsstil war, so fantasielos waren auch ihre Ideen.

„Sir, wir können Ihnen gerne einen neuen Entwurf …“

„Danke, für mich war’s das. Und für Sie ebenfalls.“ Lincoln stand auf. „Trotzdem danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.“

Er eilte schnurstracks aus dem Konferenzraum, gefolgt von Conner Paulson, dem Finanzchef von Curtis Systems, jener Firma für Sicherheitssoftware, die Lincoln und sein Bruder vor zwölf Jahren im Keller ihrer Eltern gegründet hatten. In nur einem Jahr hatten die Brüder Curtis aus einer fixen Idee eine Firma gemacht, deren Kundenstamm einige der laut Fortune Magazine fünfhundert einflussreichsten Unternehmen umfasste.

Fünf Jahre nach ihrer Gründung hatten sie bereits Kaufangebote von internationalen Softwaregiganten für mehrere Millionen Dollar ausgeschlagen. Lincoln, der Ältere von beiden, hatte die Rolle des Geschäftsführers übernommen, der zwei Jahre jüngere Marcus den Posten des Vizepräsidenten.

Heute besaß Lincoln die Firma, von der er immer geträumt hatte – und sie war sogar noch größer, als er es sich in seinen Träumen ausgemalt hatte. Sie war in jeder Hinsicht perfekt.

Bis auf das leere Büro neben seinem eigenen. Es trübte den Erfolg, für den Linc so hart gearbeitet hatte. Aber er kannte und besaß nun mal nichts anderes. Und so ließ Lincoln Curtis sich von dieser Firma komplett vereinnahmen.

„Die Architekten haben genau das geliefert, worum du sie gebeten hast“, meinte Conner, während sie den breiten Gang entlangeilten, der zu Lincolns Büro führte.

„Was hat sich geändert, seit du dich im letzten Quartal mit ihnen getroffen hast?“

„Überhaupt nichts.“

Conner hüstelte. „Machst du Witze? Alles ist neuerdings anders bei dir.“

Lincoln blieb stehen. „Was meinst du damit?“

„Komm mir jetzt bitte nicht mit demselben alten Lied, das du mir schon die letzten beiden Monate vorgetragen hast: Dass dir nichts durch den Kopf geht. Dass alles in bester Ordnung ist.“ Conner tat so, als würde er seine Hand sprechen lassen. „Du redest mit mir, Linc. Ich kenne dich schon seit der ersten Klasse. Und zurzeit bist du so weit davon entfernt, zufrieden zu sein, wie die Erde vom Mars.“

„Was soll das denn bitte schön heißen?“

„Sieh mal, du hast den Tod deines Bruders sehr schwer verkraftet. Genau wie wir alle“, fügte Conner hinzu. „Aber du ganz besonders. Das werfe ich dir ja auch gar nicht vor. Ich an deiner Stelle aber …“

„Müssen wir dieses Gespräch wirklich führen?“

Conner öffnete den Mund, schloss ihn sogleich wieder. „Nein.“

„Prima.“

„Ich sage ja nur, dass du dich die ganze letzte Zeit wie ein Roboter verhältst. Du machst deine Arbeit, schuftest wie ein Wahnsinniger. Bis auf diesen einen Urlaub …“

„Ich dachte, wir verzichten auf dieses Gespräch.“

„Und danach …“ Conner hielt inne und sein Blick wurde vor lauter Mitgefühl sanfter. „Danach bist du wieder derselbe alte Linc. Es macht dir ja niemand einen Vorwurf, aber …“

„Lass gut sein“, sagte Linc mit warnendem Tonfall. Conner war sein bester Freund, aber nicht einmal mit ihm wollte Linc jenen verhängnisvollen Tag vor drei Jahren noch einmal durchleben.

Conner atmete tief aus und gab damit zu verstehen, dass er bereit war, das Thema zu wechseln.

„In letzter Zeit … Ich weiß nicht warum, aber deine Einstellung hat sich irgendwie geändert. Zum Guten, wie ich hinzufügen will. So wie die Idee für die Software für Kinder, die du vor ein paar Monaten hattest.“

„Eine Idee, die du und die anderen Anzugträger abgeschossen habt, wenn ich mich recht erinnere“, hob Linc hervor. „Und du hattest recht. Ich sollte nicht abschweifen und verrückten Ideen hinterherjagen, die am Ende nur die Betriebsmittel aufzehren, anstatt die Kasse zu füllen.“

Einen kurzen Moment lang hatte er gedacht, dass er vielleicht … etwas wiederbekommen konnte, das ihm beim ständigen Herumstochern in der Vergangenheit abhandengekommen war. Und so hatte er ein wenig mit seiner Idee jongliert, war aber wieder zur Vernunft gekommen, nachdem seine Buchhalter sie niedergeschmettert hatten.

„Hey, vielleicht funktioniert das Programm ja irgendwann einmal, Linc. Aber ganz ehrlich, ich sehe nicht, wie du nebenher noch Zeit für irgendetwas anderes haben kannst. Oder wie siehst du das?“ Conner legte eine Hand auf seinen Arm. „Von allen, die ich kenne, hast du den vollsten Terminplan. Ganz zu schweigen von …“

„Was?“, fragte Linc, als Conner plötzlich innehielt.

„Ich glaube ja auch, dass es toll für dich wäre, mal aus deiner bequemen Alltagsroutine aus Memos, Terminkalendern und Auftragslisten herauszukommen. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob ein Produkt für Kinder so ganz deine Baustelle ist.“

„Weil ich nicht weiß, was Spaß bedeutet“, vollendete Linc den Satz.

„Sagen wir’s mal so: Wenn ich mit jemandem eine wilde Party planen würde, kämst du mir nicht gerade als Erster in den Sinn.“ Conner grinste. „Aber eine Einladung würde ich dir natürlich trotzdem schicken.“

Linc lachte kurz auf. Wenn Conner wüsste, wie weit er sich in dieser Nacht vor zwei Monaten aus seiner Welt der Termine und Memos herausgewagt hatte.

Vor seinem inneren Auge sah er Molly – ihren Nachnamen hatte Linc nie erfahren, darauf hatten sie sich beide geeinigt –, die ihn anlächelte, während sie sich auf das bleiche, blütenweiße Laken des luxuriösen Doppelbettes zurücksinken ließ. Ihr dunkelbraunes Haar, das zerzaust um ihre Schultern hing, ihre grünen Augen, groß und funkelnd, ihr schlanker Körper, noch immer verlockend, obwohl er bereits so viele herrliche Momente damit verbracht hatte, jeden Zentimeter davon zu erforschen, zu schmecken und zu genießen.

Eine Nacht lang war Linc ein anderer Mensch gewesen.

„Wie bist du überhaupt auf diese Idee gekommen? So ganz aus dem Nichts?“

Sie erreichten den gläsernen Korridor, der die Zwillingstürme von Curtis Systems miteinander verband und eine atemberaubende Aussicht auf das Zentrum von Las Vegas bot. Zu beiden Seiten pulsierte die Stadt in ihrem unablässigen, kunterbunten Treiben.

„Ich habe mich damit schon eine ganze Weile getragen.“

Das war gelogen. Die Wahrheit würde jedoch Wunden öffnen, die Linc lieber unangetastet ließ.

Vor zwei Monaten hatte er beim Blick auf den Kalender bemerkt, dass es der Geburtstag seines Bruders war. Würde er noch leben, wäre Marcus in diesem Jahr sechsundzwanzig geworden.

In all den Jahren war Linc der Verwirklichung des Software-Programms, das die Keimzelle aller bedeutsamen Entwicklungen hier bei Curtis Systems bildete, um keinen Deut näher gerückt. Dem ersten Traum, den er und sein Bruder gemeinsam gehabt hatten.

Stundenlang hatte er in seinem Apartment gesessen und an alte Fehler und verpasste Chancen zurückgedacht. Und dann, ganz plötzlich, angefacht von Nostalgie, Bedauern oder vielleicht etwas ganz anderem, war er auf die Piste gegangen, in eine jener Bars in Las Vegas …

Und hatte am Ende mit einer Frau geschlafen, die er kaum kannte.

„Da ist doch noch etwas anderes“, sagte Conner. „Etwas, das du mir nicht verrätst.“

Linc erwiderte den neugierigen Blick seines Freundes. „Ich habe jemanden kennengelernt.“

Ein Ausdruck der Überraschung zuckte kurz über Conners Gesicht. „Toll. Du warst viel zu lange alleine. Also, wer ist sie? Und warum hast du sie letzte Woche nicht zu dem Wohltätigkeitsdinner mitgebracht?“ Conner grinste. „Sag bloß, du versteckst sie in deinem Apartment!?“

„Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich kenne nicht einmal ihren Nachnamen. Und dabei bleibt es auch.“

Diese eine Nacht mit Molly war völlig ausreichend. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine Beziehung. Und das nicht nur wegen der Ablenkung, sondern auch wegen der Erwartungen, die damit verbunden sein würden. Eine Frau in seinem Leben würde Zeit beanspruchen. Und Energie. Er müsste sich zwischen seiner Firma und seinem Privatleben entscheiden. Ein Organisationsproblem, für das er im Moment keine Lösung sah.

Conner blieb zögernd stehen und berührte Lincolns Arm.

„Du hattest einen One-Night-Stand? Du?

„Es war nicht nur ein One-Night-Stand. Es war …“

Lincoln suchte nach den passenden Worten um zu beschreiben, was vor zwei Monaten passiert war. Die berauschende Magie dieser Frau. Wie sie eine Seite in ihm zum Vorschein gebracht hatte, die er schon seit Jahren verloren geglaubt hatte. Wie er durch sie vergessen hatte …

Vergessen, wer er war. Welche Last er schon so lange mit sich herumtrug. Seine Schuld, seine Selbstvorwürfe. Eine Nacht lang konnte er einfach nur leben.

„Es war so viel mehr“, fuhr Lincoln fort. „Zumindest so lange, bis ich wieder in der Realität angelangt war.“

In den beiden Monaten, seit er Molly begegnet war, hatte er versucht, sie zu vergessen, indem er sich in seine Arbeit gestürzt hatte. Indem er seinen ohnehin schon sehr engen Terminplan noch enger gezurrt und bereits verplante Tage noch weiter vollgestopft hatte. Indem er sein Team dazu angespornt hatte, die Produktpalette der Firma um immer neuere und verbesserte Programme zu erweitern.

Und dennoch wanderten seine Gedanken immer wieder zurück zu dieser Nacht, zu diesen offenen Fragen, die keiner von ihnen gestellt hatte, weil sie sich darauf geeinigt hatten, sich die Antworten schuldig zu bleiben.

War das am Ende alles? Ein Rätsel, das es zu lösen galt?

„Wie dem auch sei. Es spielt keine Rolle. Diese Nacht liegt hinter mir.“

Während er das sagte, festigte sich seine Entscheidung, seine Erinnerungen in der Vergangenheit ruhen zu lassen. In seinem Leben war kein Platz für eine Beziehung.

Er war der Letzte, der sich eine solche Ablenkung leisten konnte. Und er musste nur einen Blick auf das leere Büro neben seinem eigenen werfen, um wieder zu wissen, warum.

„Wenn das wirklich ‚hinter dir‘ liegt“, meinte Conner und zeichnete dabei Gänsefüßchen in die Luft, „warum geht es dir dann immer noch durch den Kopf?“

„Das tut sie doch gar nicht.“ Linc machte ein finsteres Gesicht.

Conner sah ihn schmunzelnd an. „Oh-oh …“

Lincoln blickte hinaus auf die Stadt, auf die hell erleuchteten Gebäude, die sich meilenweit erstreckten, auf Eigenheime mit Stuckfassaden. Irgendwo dahinter lag die weite leere Wüste. Las Vegas stach aus dieser Leere hervor wie eine Wildrose aus einem schlichten Weizenfeld. Was man, offen gestanden, auch in Bezug auf sein Privatleben sagen konnte. Diese Nacht war ein einmaliger Ausrutscher gewesen – und würde das auch bleiben.

Lincolns Leben verlief in geraden Bahnen. Nur so konnte er die Kontrolle behalten und sich von den Versprechen ablenken, die er sich selbst vor Jahren gegeben hatte. Versprechen, die er gebrochen hatte.

Linc drehte sich vom Fenster weg und wandte sich Conner zu.

„Die Vergangenheit ist vorbei, Conner. Für mich zählt nur die Zukunft. Und meine Zukunft ist einzig und alleine diese Firma.“

2. KAPITEL

Molly saß weinend in ihrem Auto.

Kein Job. Kein Ehemann, der ihr unter die Arme greifen konnte. Keine Aussicht darauf, dass eins von beidem sich in absehbarer Zeit ändern würde.

Und dann war auch noch ein Baby unterwegs.

Wenn ihr Leben ein Buch gewesen wäre, sie hätte sich für diesen Tag kein schlimmeres Ende ausdenken können. In nur zwei Stunden hatte sich ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt.

Keine ausreichende Finanzierung … Stellenkürzungen … schwierige Entscheidungen … es tut uns so leid … wir wünschen Ihnen alles Gute …

Noch immer sah sie die Gesichter der Verwaltungsvorsitzenden vor sich, als diese ihr klarmachten, dass sie sie nicht weiter beschäftigen konnten. Die ihr aber versprachen, dass sie die Erste war, die sie wieder als Vorschullehrerin einstellen würden.

Im nächsten Herbst.

Gleich danach hatte sie die Arztpraxis aufgesucht, in der Hoffnung zu erfahren, dass sie die rosaroten Striche falsch interpretiert hatte. Oder dass sie einen defekten Test erwischt hatte. Oder einen Hormonschub.

Stattdessen war Dr. Carter zurück in den Untersuchungsraum gekommen und hatte mit breitem Lächeln verkündet: „Tolle Neuigkeiten, Molly. Sie sind schwanger!“

Da hatte sie angefangen zu weinen und seitdem nicht mehr aufgehört. Sie hatte geweint, während er ihr ein Rezept für schwangerschaftsfördernde Vitamine geschrieben hatte, während sie ihren nächsten Termin ausgemacht hatte und auch auf dem ganzen Nachhauseweg.

Oh, Gott, was sollte sie jetzt nur tun? Wie sollte sie damit umgehen?

Es schien noch immer so unwirklich, kaum vorstellbar. Die Worte „Sie sind schwanger“ wirbelten ihr noch immer im Kopf herum und klangen, als seien sie an eine völlig andere Person gerichtet.

Schwanger.

Sie parkte in ihrer Auffahrt und wartete, bis die letzten Tränen versiegt waren, dann wischte sie sich das Gesicht ab und traf ein paar Entscheidungen.

Erstens: Sie benötigte einen Job. Schließlich hatte sie eine Hypothek und obwohl Jayne Miete bezahlte, würde sie ohne ihr regelmäßiges Gehalt schon bald auf der Straße sitzen.

Ganz zu schweigen von ihrer Krankenversicherung, die sie brauchte, um die Kosten ihrer Schwangerschaft zu begleichen. In sieben Monaten musste Molly für ein weiteres kleines Leben sorgen und das bedeutete, dass sie ab jetzt so viel Geld wie möglich zur Seite legen musste.

Ein weiteres Leben.

Die Worte hallten in ihr nach und noch immer fiel es ihr schwer, ihre Lage so ganz zu verstehen.

Ein Baby.

So viele Jahre hatte sie davon geträumt, hatte es sich vorgestellt, als sie Doug geheiratet hatte …

Doug hatte jedoch unmissverständlich deutlich gemacht, dass Kinder nicht in seiner Lebensplanung vorkamen. Nicht jetzt, nicht später und auch zu keinem anderen Zeitpunkt. Das war der Anfang des Endes ihrer Ehe gewesen. Der Moment, in dem ihr bewusst geworden war, dass sie einen Mann geheiratet hatte, der keinen einzigen ihrer Zukunftsträume mit ihr teilte.

Jetzt stand sie vor der Zukunft, die sie immer gewollt hatte. Mal abgesehen davon, dass sie alleine war. Und kurz davor, kein Geld mehr zu haben. So hatte sie sich ihren Traum wahrlich nicht vorgestellt. Wie hatte ausgerechnet sie in eine solche Situation geraten können?

Sie war immer so vorsichtig gewesen, so bodenständig. Und kaum brach sie ein einziges Mal aus ihren selbst gesteckten Grenzen aus, war sie am Ende schwanger, alleine und arbeitslos.

Mannomann, das Schicksal hatte wirklich einen ausgeprägten Sinn für Humor.

Molly seufzte. Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem weiteren Taschentuch, dann beschäftigte sie sich mit Problem Nummer zwei.

Dem Vater des Kindes.

Selbst wenn sie ihn vielleicht gar nicht mehr sehen wollte, sich sogar einredete, dass diese Nacht in Las Vegas niemals passiert war – es ging einfach nicht.

Sie musste es ihm sagen. Irgendwie. Und zwar irgendwann in den kommenden Monaten.

Wie würde Linc reagieren? Sie kannte ihn ja nicht einmal gut genug um zu wissen, wie er seinen Kaffee morgens am liebsten trank. Ganz zu schweigen von solch einer großen Sache.

Was hatte sie bloß getan?

Doch ganz egal, ob er etwas mit dem Baby zu tun haben wollte oder nicht – schon des Kindes wegen musste sie einfach wissen, wer dieser Mann war. Was, wenn es irgendein medizinisches Problem gab? Wenn ihr Kind sie irgendwann einmal nach seinem Vater fragen würde?

Sie dachte zurück an jene verrückte, heißblütige Nacht vor zwei Monaten.

Dachte Linc manchmal auch an sie? Fragte er sich gelegentlich, ob ihre kurzzeitige Unzurechnungsfähigkeit irgendeine Konsequenz gehabt hatte? Wenn sie ihm erneut gegenübertrat, wie würde er sich dann verhalten? Was würde er sagen?

Wahrscheinlich hatte er sie längst vergessen und würde sich bei einer erneuten Begegnung nicht einmal an ihren Namen erinnern – geschweige denn an das, was zwischen ihnen passiert war.

Bei einem so gut aussehenden Mann, noch dazu in einer Stadt wie Las Vegas, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass es Dutzende von Frauen in seinem Leben gab. Molly war möglicherweise nur eine in einer langen Reihe unverbindlicher Verabredungen.

Oder vielleicht auch nicht.

Sie hatte doch keine Ahnung, welche Art Mann er wirklich war. Schließlich waren sie sich einig gewesen, alles beiläufig und ungezwungen anzugehen. Keine persönlichen Details, keine emotionalen Bindungen, kein Aufbau einer Beziehung.

Wollte sie ihn überhaupt wiedersehen? Das war doch die viel wichtigere Frage. Wollte sie sich wirklich noch einmal ihrer bisher dümmsten Entscheidung stellen? Nein. Was sie wollte und was sie musste, waren jedoch zwei völlig verschiedene Paar Schuhe.

Und schließlich Entscheidung Nummer drei: Sie musste diese ganze Sache für sich behalten. Zumindest so lange, bis sie sich über alles andere klar geworden war.

Sie konnte sich jetzt schon die Reaktion ihrer Mutter vorstellen. Bestimmt würde sie Doug anrufen und versuchen, Molly wieder mit ihrem Exmann zusammenzubringen. Ganz egal, ob beide füreinander bestimmt waren oder ob er etwas mit Kindern zu tun haben wollte. Ganz davon abgesehen, dass das Kind noch nicht einmal sein eigenes war.

Genau, sie würde niemandem davon erzählen. Nicht, solange sie keine Notwendigkeit sah.

Molly stieg aus dem Auto und betrat das Haus. Rocky begrüßte sie mit der üblichen Begeisterung, leckte, bellte und sprang sein Frauchen an. Sie ließ ihn nach draußen, dann ging sie zurück ins Wohnzimmer, um ihre Tasche auf dem zerkratzten Beistelltisch aus Ahornholz abzulegen.

Jayne arbeitete noch, und so hatte Molly das Haus ganz für sich alleine, was ihr gottlob etwas Zeit gab, den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen.

Als sie an ihrem Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers vorbeikam, streifte ihr Blick den Computer, dann wanderte er zu dem Stapel Software-Programme neben dem Monitor.

Software.

Linc.

Die Nacht in der Bar.

Unmöglich … Das war eine verrückte Idee. Völlig durchgeknallt.

Eine, die ihr ein gebrochenes Herz bescheren würde. Vor allem wenn Linc ihr sagen würde, dass er sich nicht mehr erinnern konnte. Weder an sie noch an ihr Gespräch über das Software-Produkt, das er auf den Markt bringen wollte.

Andererseits – war diese Idee denn verrückter als jene, die sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte?

Kaum war Molly aus dem Taxi gestiegen, traf sie trockene, drückend warme Luft mit der Wucht eines Faustschlags. Wie eine dicke, ihr den Atem raubende Decke legte sich die Augusthitze über sie.

„Sie sind sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte sie den Taxifahrer.

Der ältere Mann am Steuer deutete auf die beiden hoch aufragenden Glastürme. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen und waren durch eine ebenfalls komplett gläserne Brücke miteinander verbunden.

Das Gebäude war äußerst imposant, mit eleganten, geradlinigen Formen und einer klaren Fassade aus Glas und glänzendem Metall. Ein deutlicher Kontrast zu dem bunten Trubel des Las Vegas Strip, jener Ansammlung von Hotels und Kasinos, der ein kleines Stück hinter ihnen lag.

„Curtis Systems, Ma’am. Nicht zu verfehlen.“

Molly bedankte sich und bezahlte den Fahrer. Dann trat sie in den Schatten des Gebäudes von Curtis Systems. Angesichts des über zwanzigstöckigen Gebäudes kam sie sich klein und unbedeutend vor.

Jetzt, wo sie ihr Ziel endlich erreicht hatte, hielt eine innere Unsicherheit sie davon ab, weiterzugehen.

Sie sollte nach Hause fahren, die ganze Idee vergessen. Sich etwas anderes überlegen.

Allerdings gab es kaum eine andere Lösung – jedenfalls keine, mit der sie sowohl ihr Jobproblem lösen und gleichzeitig den Vater ihres Kindes kennenlernen würde.

Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass der Linc, den sie vor zwei Monaten in der Bar kennengelernt hatte, dieser Linc war.

Als sie im Internet mithilfe ihrer wenigen Informationen über ihn nach Linc gesucht hatte, war sie auf zwei verschiedene Softwarefirmen in Las Vegas gestoßen. Natürlich gab es noch viel mehr Softwarefirmen, aber dies waren die beiden einzigen mit einem Angestellten namens Linc.

Die erste existierte schon gar nicht mehr. Alles, was sie gefunden hatte, war ein von Unkraut überwuchertes Grundstück mit einem „Zu verkaufen“-Schild.

Blieb nur noch Curtis Systems.

Die Suche nach dem Firmennamen hatte bei Google Hunderte von Ergebnissen erzielt, und jedes hatte den kometenhaften Erfolg des Unternehmens dokumentiert. Google hatte nicht gelogen.

Sie blickte hier auf ein wahrlich monumentales Firmengebäude. Es dokumentierte eine Erfolgsstory ersten Grades. Und nach den Informationen, die sie im Internet gefunden hatte, arbeitete Linc nicht nur hier – er war der Eigentümer und Geschäftsführer!

Der Mann, dem sie begegnet war, der ihr so normal vorgekommen war, stand an der Spitze dieser gewaltigen, multinationalen Multimillionen-Dollar-Firma?

Noch einmal spielte sie kurz mit dem Gedanken, einfach umzudrehen und zurück nach San Diego zu fahren. Dann wanderte ihre Hand zu ihrem Bauch, zu dem neuen Leben, das in ihr heranwuchs. Und da wusste sie, dass sie dieses Gebäude betreten musste.

Nicht nur für den Job, den sie brauchte, sondern vor allem auch für ihr Baby.

Nur zwei Tage waren vergangen, seit sie den ersten Schwangerschaftstest gemacht hatte, und schon hatte sie sich daran gewöhnt, dieses kleine Leben „mein Baby“ zu nennen. Sie konnte sich bereits vorstellen, wie der kleine Junge oder das kleine Mädchen später einmal in dem kleinen Bungalow in der Gull View Lane leben würde. Und darauf freute sie sich.

Sie betrat das Gebäude und schritt über den glatten Marmorboden des Foyers, bis zu dem Rezeptionsschalter aus Granit. Eine freundlich aussehende Blondine war gerade noch damit beschäftigt, einen Anruf weiterzuleiten, dann warf sie Molly ein Lächeln zu.

„Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich möchte gerne zu … Linc.“

Molly hielt inne, dann fügte sie den Nachnamen hinzu, obwohl es sich seltsam anfühlte, die beiden Worte gemeinsam auszusprechen.

„Lincoln Curtis, bitte.“

„Haben Sie einen Termin?“

„Nein.“

Die Freundlichkeit zog sich etwas aus den Zügen der Blonden zurück.

„Es tut mir sehr leid, Miss, aber Mr. Curtis ist ein viel beschäftigter Mann. Ohne Termin …“ Mit einer Handbewegung deutete sie an, dass da nichts zu machen war.

Termin?

Wie sollte sie einen Termin bekommen? Was sollte sie denn sagen?

Hallo, ich bin die Frau aus der Bar, mit der Sie einen One-Night-Stand gehabt haben. Ich muss Sie dringend sprechen, haben Sie zehn Minuten Zeit?

Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass er sich gar nicht mehr an diese Nacht erinnern konnte, geschweige denn an sie. Das wäre entsetzlich.

„Ich habe vor ein paar Monaten mit Mr. Curtis über eine mögliche Anstellung in dieser Firma gesprochen“, sagte Molly, was nur zur Hälfte gelogen war. Sie hatten vor zwei Monaten wirklich miteinander gesprochen. Und ganz nebenbei hatte er auch angedeutet, ob sie nicht für ihn arbeiten wolle. Sie war allerdings nicht sicher gewesen, ob er das so ganz ernst gemeint hatte.

„Er sagte, ich soll vorbeikommen, wenn ich mal in der Stadt bin.“

Die Blonde hob skeptisch eine Augenbraue.

„Das hat Mr. Curtis gesagt?“

Molly nickte und fügte ein Lächeln hinzu.

Die Blonde überlegte kurz, ob das stimmen konnte, sah Molly dabei von oben bis unten an, als seien ihre eisblauen Augen Lügendetektoren.

„Erwartet er Sie denn?“

Nein. „Ja, ich glaube schon.“

Die Blonde musterte Molly erneut, dann wandte sie sich ihrem Computer zu und hämmerte auf mehrere Tasten.

„Nach dem Terminplan hier sollte Mr. Curtis gerade ein Meeting beenden. Bis zum nächsten hat er sechs Minuten Pause, danach ist er für den Rest des Tages ausgebucht.“

„Sind Sie sicher? Hat er nicht einmal eine Viertelstunde übrig?“

Die Blondine lachte. „Sie kennen Mr. Curtis wohl nicht sehr gut. Er nimmt sich selten genug Zeit zum Mittagessen.“

Doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck sanfter.

„Ich sollte Ihnen das nicht erzählen, aber wenn Sie zu seinem Büro in den zwanzigsten Stock fahren, erwischen Sie ihn vielleicht zwischen den Meetings.“

Molly bedankte sich bei der Rezeptionistin, dann ging sie zu den Fahrstühlen.

Zunächst fühlte sie sich gelöst, angesichts ihrer Begeisterung über den errungenen Erfolg. Aber als sich die Fahrstuhltüren öffneten und sie ins Innere trat, wurde ihr auf einmal bewusst, wohin sie gerade fuhr.

Die mit Marmor und Messing ausgekleidete Kabine setzte sich mit einem leisen Surren in Bewegung. Molly wurde jedoch flau im Magen und ihre Unsicherheit kehrte zurück – ob das nun an ihren Nerven lag oder an dem Baby oder an beidem.

Vielleicht erinnerte Linc sich gar nicht mehr an sie … Wenn er ihr sagte, dass das Jobangebot nur ein Scherz gewesen war? Oder sie erfahren musste, dass er verheiratet war?

Oder noch schlimmer: Wenn er sie bat, zu gehen?

Die Fahrstuhlkabine kam im zwanzigsten Stock sanft zum Stehen und die Türen öffneten sich.

Molly holte tief Luft, dann trat sie hinaus. Im Flur angekommen, zögerte sie kurz. Nach rechts? Oder nach links? Sie hätte fragen sollen.

„Molly?“

Die Stimme, tief und dunkel wie gute Schokolade, traf sie mit derselben Wucht wie die Erinnerung, die sie auslöste. Daran, wie sie in dieser Bar saß, berauscht, aber nicht von dem Drink, den sie kaum angerührt hatte, sondern von ihrer Unterhaltung. Von der Art, wie er sie ansah und dabei ihr wahres Ich zu sehen schien. Wie er ihr zuhörte.

Molly drehte sich um, und da stand er. Linc. Er sah noch genauso aus – nun ja, fast genauso – wie in jener Nacht.

Er stand neben einer mit Kirschholz getäfelten Tür mit der Aufschrift „Konferenzzimmer“.

Ein zweiter Mann, den sie kaum wahrnahm, stand neben ihm. Sie sah nur Linc, in seinem maßgeschneiderten Marineanzug, in dem jeder andere Mann lediglich gut ausgesehen hätte. Linc jedoch gab dieser Anzug eine Aura der Macht. Mit seiner Größe von knapp einem Meter neunzig beherrschte er die weiten Flure von Curtis Systems.

„Was machst du denn hier?“, wollte er wissen.

Jetzt oder nie. Sie trat einen Schritt vor.

„Ich habe dich gesucht.“

Ein Ausdruck von Überraschung legte sich auf seine Züge.

Der Mann neben ihm sah mit offensichtlicher Neugier von Molly zu Linc, dann wieder zurück. Mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung bedeutete Linc ihm, sie alleine zu lassen. Der andere Mann grinste ihn an, sagte noch irgendetwas über ein Meeting, dann ging er den Korridor hinunter.

„Warum?“, fragte Linc, während er einen Schritt nach vorne trat und seine Stimme senkte. „Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, uns nicht wiederzusehen.“

Jedes filmreife Wiedersehen, das sie sich insgeheim ausgemalt hatte, verpuffte, als sie seinen neutralen Tonfall bemerkte.

Mollys Hand bewegte sich schützend zu ihrem Bauch und sie beschloss, dass sie auf gar keinen Fall die Bombe mit der Schwangerschaft platzen lassen würde. Nicht jetzt.

„Eigentlich hast du mir gesagt, dass ich dich aufsuchen soll, wenn ich mal wieder in Las Vegas bin. Nun … Jetzt bin ich in Las Vegas … und habe dich aufgesucht.“

„Ich …“ Er dachte eine Sekunde lang nach und in diesem kurzen Moment überkam sie ein Anflug von Panik. Bestimmt hatte sie das Falsche getan.

„Das stimmt. Aber ich habe nicht gedacht, dass du mich beim Wort nehmen würdest.“

Sie war den ganzen weiten Weg hierhergekommen, in dem Glauben, sie könne einfach so in Lincs Leben marschieren, ihn an sein Jobangebot erinnern, ihm von dem Baby erzählen und ihn dabei besser kennenlernen …

Und nun zerplatzte dieser vorsichtige Traum vor ihren Augen.

„Mir ist klar, dass ich dich gerade ziemlich überfalle“, sagte sie und wollte eigentlich nur weg von hier, bevor die Tränen doch noch gewannen oder Linc noch etwas sagte, das ihrer Verfassung einen weiteren Knacks geben würde. Aber sie gab nicht so leicht auf.

„Wenn das ein schlechter Zeitpunkt ist, könnten wir auch einen Termin ausmachen.“

„Geht es um diese Nacht? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?“ Er hatte die Stimme nun fast zu einem Flüstern gesenkt.

Das war die Gelegenheit, ihm die Wahrheit zu beichten. Sie öffnete ihre Lippen, um zu sagen: „Ich bin schwanger“, doch dann schloss sie sie wieder.

Linc hatte bisher nicht gerade begeistert auf ihr plötzliches Kommen reagiert. Er war zurückhaltend, kurz angebunden. Fast schon … verärgert.

Diese zusätzliche Belastung brauchte sie nun wirklich nicht. Nicht jetzt. Davon abgesehen war der Flur vor einem Konferenzraum der letzte Ort, an dem sie eine solche Neuigkeit loswerden wollte. Sie würde auf einen besseren Zeitpunkt warten. Sobald Linc den Schock ihres Wiedersehens verdaut hatte. Bestimmt war das sein Problem: Schock. Nicht etwa Bestürzung. Oder Enttäuschung.

„Nein“, sagte sie schließlich. „Ich habe dich bloß beim Wort genommen, was dein Jobangebot angeht.“

„Jobangebot?“

Oh, verdammt. Jetzt sah er wirklich verwirrt aus. Sie hätte nicht herkommen sollen. Definitiv wäre es besser gewesen, in San Diego zu bleiben. Trotzdem plapperte sie einfach weiter, als ob sie damit diese ohnehin bereits verfahrene Situation retten könnte.

„Wegen dieser Software für Kinder, die du auf den Markt bringen willst.“

Plötzlich fühlte sie sich beengt, ihr wurde heiß und das Gefühl von Reue legte sich wie eine Zentnerlast auf ihre Schultern.

„Aber ich sehe schon, dass wohl gerade ein schlechter Zeitpunkt ist.“

Oh, Mann, jetzt wiederholte sie sich auch noch.

„Ich sollte einfach …“

„Nein, nein …“ Er streckte die Hand nach ihr aus, ohne sie zu berühren. „Lass uns an einen ruhigeren Ort gehen. Hast du schon etwas gegessen?“

Warum wollten ihr alle ständig Nahrung einflößen?

Mollys Magen wehrte sich noch immer sehr stark, was durch das Gespräch und ihre Nerven noch schlimmer geworden war. Trotzdem schüttelte sie den Kopf, wenn auch nur, um den neugierigen Blicken der Leute in den angrenzenden Büros zu entgehen. Und um hier rauszukommen.

„Nein, habe ich nicht.“

Linc überbrückte die Distanz zwischen ihnen und legte seine Hand auf ihren Rücken. Es war nur eine leichte Berührung, aber sie löste einen Sturm der Erinnerungen in ihr aus. Daran, wie sie mit ihm in dieser Bar gewesen war. Wie er sie zum ersten Mal berührt hatte …

Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen: Sie belauerten sich eine halbe Stunde lang, berührten sich immer wieder. Ihre Hände und Finger näherten sich einander, um dann wieder zurückzuweichen. Weil jeder von ihnen zwar auf Tuchfühlung gehen wollte, aber keiner es wagte, den ersten Schritt zu tun.

Wie sie dann gleichzeitig nach ihren Drinks griffen und ihre Finger sich zufällig streiften. Molly verspürte in diesem Moment eine elektrische Entladung in sich, so stark wie nie zuvor. Von da an war sie ihm ausgeliefert, gefangen in seinem Bann.

Dieselbe elektrische Entladung, wenn auch abgeschwächt durch das nüchterne Tageslicht und die geschäftigen Leute um sie herum, entzündete sich jetzt in Molly, als Linc sie in den Fahrstuhl führte.

Sie fuhren schweigend nach unten, zusammen mit einem Dutzend anderer Menschen, dann traten sie in die Lobby und schließlich durch den Eingang von Curtis Systems hinaus ins Freie.

Kaum hatten sie den Gehsteig erreicht, nahm er seine Hand von ihr, und sie verspürte leichte Enttäuschung …

Die sie sogleich wieder abschüttelte. Sie war nicht hier, um mit Lincoln Curtis eine Beziehung anzufangen. Unter keinen Umständen wollte sie das. Sie hatte gerade genügend andere Probleme. Außerdem kannte sie den Mann kaum. Eine einzige Nacht, noch dazu unter Einfluss einiger Drinks und jeder Menge Hormone, war wohl kaum die Basis für eine rationale Entscheidung.

Linc hob eine Hand, und augenblicklich hielt eine schnittige schwarze Limousine vor ihnen.

Der Fahrer sprang heraus, kam um das Auto herum und öffnete die Tür für sie. Linc bedeutete Molly, zuerst einzusteigen, dann rutschte er neben sie auf den Sitz – nah genug, dass sie die Wärme seines Körpers spüren konnte, aber gerade noch weit genug weg, um sie nicht zu berühren.

„Dein eigener Fahrer?“, sagte sie. „Ich bin beeindruckt.“

Einmal mehr wurde ihr der Unterschied zwischen dem Linc, den sie in jener Nacht kennengelernt hatte, und dem wahren Linc deutlich vor Augen geführt.

Dieser Mann in der Bar – war auch nur irgendetwas an ihm authentisch gewesen? Wer war dieser Lincoln Curtis, der da neben ihr saß? Dieser unnahbare, wohlhabende und mächtige Geschäftsführer war jedenfalls nicht der gewandte Allerweltstyp, an den sie sich erinnerte.

Was hatte er in dieser Nacht nur in ihr gesehen? Und warum hatte er ihr nicht die volle Wahrheit über sich gesagt? Vielleicht war er schon zu vielen Leuten begegnet, die ihn bei Erwähnung seines Reichtums nur noch als Millionär wahrnahmen und nicht mehr als Menschen.

„Halb so wild“, antwortete er. „Das Auto und der Fahrer sind ein notwendiges Übel. Es spart einfach Zeit.“

„Weil es so viel mehr Zeit kosten würde, selbst zu fahren?“, scherzte sie.

„Weil ich arbeiten kann, während Saul fährt.“

Linc deutete auf einen Laptop, der auf einem kleinen Tisch an der linken Seite des Fahrzeugs angebracht war – neben einem eingebauten Telefon und einem kleinen Fernsehbildschirm.

Der Linc aus der Bar hatte so entspannt gewirkt, so normal. Dieser Linc hier kam ihr wie das genaue Gegenteil vor. Und das lag nicht nur an dem Chauffeur und dem Anzug. Er benahm sich irgendwie anders. Als ob eine riesengroße Verantwortung auf seinen Schultern lastete.

Als sich das Auto vom Bordstein entfernte, warf sie einen Blick zurück auf das riesenhafte Gebäude von Curtis Systems. Und da wurde ihr klar, dass es genauso war.

Hatte sie ihn in jener Nacht falsch gedeutet? Oder war ihre Erinnerung in den letzten beiden Monaten verschwommen?

Nein, daran lag es nicht. Er hatte sich definitiv anders verhalten. Die Frage war nur: weshalb?

„Ich dachte, du musst zu einer Besprechung“, sagte sie. „Die Rezeptionistin hat gesagt, dass du den ganzen Nachmittag beschäftigt bist. Ganz ehrlich, mir macht es nichts aus, zu einem besseren Zeitpunkt wiederzukommen.“

„Ich habe tatsächlich eine Besprechung“, sagte er. „Ich bin heute vollkommen ausgebucht.“

Er atmete angestrengt aus und machte damit seiner ganzen Verantwortung Luft. Dann sah er sie an, so als könne er noch immer nicht fassen, dass sie auf seiner Türschwelle aufgetaucht war.

„Aber ich bekomme nicht jeden Tag solch … unerwarteten Besuch.“

„Das ist ja eine tolle Art, unsere …“

Sie wollte „Beziehung“ sagen, aber da sie ja eigentlich gar keine hatten, sagte sie schließlich: „… Situation zu beschreiben.“

„Du hast mich heute auf dem falschen Fuß erwischt. Ich habe nicht damit gerechnet, dich wiederzusehen.“

Sie bemerkte die hölzerne Note seines Parfüms. Plötzlich hatte sie erneut ein Bild aus jener Nacht vor Augen: Er, in einem einfachen Nadelstreifenhemd, mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln. Aber noch mehr als an seine Kleidung erinnerte sie sich an die Art, wie er sie geküsst hatte.

Ein Kuss, der in ihr eine Hitze entfacht hatte wie nie zuvor. Er hatte sich Zeit gelassen. Ganz langsam waren seine Lippen über ihre geglitten, seine Hand über ihren Hals, als wollte er …

„Wie hast du mich überhaupt gefunden?“, fragte Linc.

„Das … ähm …“ Molly lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Gegenwart. „… war gar nicht so schwer. Es gibt nicht so viele Software-Firmen mit einem Mitarbeiter namens Linc. Zumindest wenn man Google glaubt.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Ich wusste allerdings nicht, dass dir Curtis Systems gehört.“

„Du hast gedacht, ich bin eine einfache Arbeitsbiene.“

Ein Lächeln huschte über seine Lippen und kurz sah es aus, als wolle er noch etwas sagen, doch das Klingeln seines Telefons unterbrach ihn dabei. Linc seufzte, sah kurz aufs Display, dann entschuldigte er sich und nahm den Anruf entgegen.

Sie hörte ihn mehrere Minuten lang über irgendein architektonisches Design diskutieren, dann beendete er das Gespräch. Er hatte kaum aufgelegt, als es erneut klingelte. Linc seufzte und warf Molly einen kurzen Blick zu.

„Stört es dich, wenn ich noch ein paar Dinge erledige, bevor wir essen gehen? Das dauert nur eine Minute, versprochen.“

„Kein Problem, ich versteh schon.“

Er nahm den Anruf entgegen, dann machte er einige weitere. Molly bekam mit, dass er die ganzen nächsten Besprechungen absagte und die Verantwortung an andere Personen in der Firma übertrug.

Es war ein krasser Kontrast zwischen ihrer eigenen kleinen Welt, in der Fünfjährige sich mit Farben und Zahlen beschäftigten, und Lincs Multimillionen-Dollar-Deals.

Schließlich legte er auf und schloss seinen Laptop.

„Tut mir leid.“

„Die Arbeit eines Geschäftsführers ist nie ganz getan, und so weiter?“

„So ähnlich.“

Linc verstaute das Telefon in seiner Gürteltasche. Gleichzeitig kam das Auto vor einem italienischen Restaurant mit einer grellroten Markise und mehreren Bistrotischen zum Stehen.

Linc stieg aus und reichte Molly seine Hand.

Als ihre Hand von seinem vertrauten festen Griff erfasst wurde, verspürte sie wieder dieselbe elektrische Spannung, an die sie sich noch so gut erinnerte.

Doch fast so schnell, wie er sie erfasst hatte, ließ er sie auch wieder los.

Hatte er dasselbe gespürt? Oder wollte er nur höflich sein?

Molly beschloss, nicht zu fragen. Sie hatte ihre Prioritäten: einen Job zu ergattern sowie Informationen für ihr Kind zu sammeln.

Eine Minute später saßen sie schon in einer abgeschiedenen Nische im hinteren Teil des Restaurants.

„Möchtest du etwas Wein?“, fragte Linc.

„Äh … nein, danke. Ich bleibe beim Wasser.“ Sie rutschte unwohl auf ihrem Platz herum. „Es ist noch zu früh.“

„Du hast recht.“

Danach erwähnte er den Wein nicht mehr, und sie war sich sicher, dass er nicht ahnte, weshalb sie den Alkohol tatsächlich abgelehnt hatte.

Warme Brotstangen wurden zusammen mit dem Wasser serviert, dann verschwand der Kellner und ließ sie alleine.

Molly versuchte, ihre leichte Übelkeit mit dem Brot zu bekämpfen. Und es funktionierte – zumindest ein wenig. Dennoch war sie nicht sicher, ob sie etwas essen konnte.

„Also … Warum jetzt?“, fragte Linc. „Warum besuchst du mich gerade heute, nachdem zwei Monate vergangen sind?“

Röte schoss ihr ins Gesicht. Wusste er Bescheid? Sah man ihr die Schwangerschaft an der Nasenspitze an? Hatte es ihm jemand erzählt?

Sie schüttelte diese Gedanken ab. Sie war einfach nur paranoid. Lincs Frage war zu erwarten gewesen und völlig gerechtfertigt.

Sie konnte ihm die Wahrheit sagen. Sie konnte ihm sagen, dass sie Hunderte, Tausende Male seit dieser Nacht an seine Augen gedacht hatte, an seine Berührungen. Doch das hätte sie beide erneut in amouröse Verwicklungen gestürzt und dazu war Molly momentan alles andere als bereit. Schon gar nicht, wenn ihre Gefühle offensichtlich nicht erwidert wurden.

„Ich bin nicht hergekommen, um wieder etwas anzufangen“, sagte sie, überzeugt, dass Offenheit die beste Herangehensweise war. „Ich bin hergekommen, weil ich mich für das Softwareprogramm interessiere, das du erwähnt hast.“

Linc lehnte sich zurück und legte seinen Arm über die Lehne der Sitzecke.

„Erstaunlich, dass du dich daran noch erinnerst.“

„Es hörte sich sehr interessant an: Interaktiv, fördert das Lesen, und gleichzeitig bringt es Kindern etwas über die Natur bei. Etwas, das sowohl computerunterstütztes Lernen als auch das Interesse an Aktivitäten im Freien weckt.“

„Dieses Programm … Das war nur so eine Idee“, sagte Linc. „Meine Firma beschäftigt sich eigentlich mit anderen Dingen. Wir haben uns auf Sicherheitssysteme für große Konzerne spezialisiert. Betrugsprävention, Schutz vor Hackern … Dieses andere Programm … Das war nur ein Traum.“

„In dieser Nacht hat es aber so geklungen, als sei es dir ziemlich wichtig.“

„Ich …“ Er hielt kurz inne. „Vor langer Zeit dachte ich, das sei die Art von Firma, die ich führen wollte. Die Art von Software, die ich herstellen wollte. Aber damit lässt sich kein Geld verdienen. Und wenn man eine Firma leitet, muss man praktisch denken. Ich habe die Idee sogar meinem Team vorgestellt – und die haben sie abgeschossen.“

„Du hast nicht mehr vor, das Programm zu entwickeln?“

„Ich würde es liebend gerne tun … Irgendwann.“

Sein Blick driftete an irgendeinen weit entfernten Ort, und einen Moment lang sagte er gar nichts mehr, bis er sich ihr schließlich wieder zuwandte.

Irgendwann? Darauf konnte sie nicht warten.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Speisekarte, gab es aber bald auf, die Liste der Pastagerichte und Salate zu studieren.

„Es ist nur … Du klangst so begeistert, als du über dieses Programm gesprochen hast. Es hörte sich an, als sei das deine Firma. Nicht diese hier.“

Er seufzte und schob seine Speisekarte zur Seite.

„Vor langer Zeit …“

Er führte den Satz nicht zu Ende.

„Vor langer Zeit – und weiter?“

Der Kellner kam zurück und nahm ihre Bestellungen auf. Molly hatte sich die Karte kaum angesehen und bestellte lediglich eines der Tagesgerichte. Linc, der ganz offensichtlich schon einmal hier gewesen war, entschied sich für ein Pastagericht mit Hühnerfleisch.

„Du wolltest etwas sagen, bevor wir unterbrochen wurden“, sagte Molly als sie wieder alleine waren.

Linc nahm seine Serviette, die neben dem Gedeck lag, und faltete sie zu einem Dreieck, das er aber gleich wieder ein wenig aufklappte.

„Weißt du, was das ist?“

Sie lachte. „Nein.“

„Für ein Kind ist das ein Schiff. Ein Hut. Ein Weihnachtsbaum. Die Möglichkeiten sind unendlich.“

Er legte das grüne Hütchen auf dem Salzstreuer ab. Erst schwankte es etwas, dann fand es die Balance.

„Als Kind war ich genauso. In allem habe ich ständig etwas anderes gesehen. Meine Eltern haben sich beschwert, dass ich nur in meiner Fantasie gelebt habe und nie in der Welt da draußen.“

„Du hast bestimmt viel gelesen.“

Er schmunzelte. „Alles, was mir in die Hände gekommen ist. Ich war ein totaler Bücherwurm. Bin ich immer noch.“

„Ich auch.“ Sie grinste. „Ich liebe Bücher.“

Sie tauschten ein Lächeln.

„Da haben wir wohl etwas gemeinsam?“

„Kann man so sagen.“

Oh, sie spürte das Band, diese zarte Verbindung zwischen ihnen – genau wie in jener Nacht. Sie versuchte, das Gefühl zu ignorieren. Sie wollte keine Brücke errichten. Nicht zwischen ihr und Linc. Sie war wegen des Babys hier. Nur deswegen.

„Erzähl weiter!“

„Nun, meine Eltern waren es leid, zu sehen, wie ich meine Nase vierundzwanzig Stunden am Tag in Bücher versenkt habe, deshalb schickten sie mich ins Ferienlager. Eins von diesen achtwöchigen. Mein Bruder war auch dort, aber er war schon immer gerne draußen. Er fühlte sich in dem Camp wie ein Fisch im Wasser.“

„Und du nicht?“

Linc schmunzelte.

„Lieber Gott, nein. Ich habe sieben von diesen acht Wochen gebraucht, um mich einzugewöhnen. Aber eines Tages ist einem Betreuer aufgefallen, dass ich gelesen habe, statt bei den anderen Kindern mitzumachen. Er hat dafür gesorgt, dass ich ein Projekt zugeteilt bekomme – ein Camp-Tagebuch. Eine Art geschriebene und fotografierte Collage über das Ferienlager, um es späteren Teilnehmern zurückzulassen. Als eine Art Vorschau auf die Höhepunkte des nächsten Camps.“

Seine Augen begannen bei der Erinnerung zu leuchten, seine Züge wurden lebendiger.

„Das war für dich genau das Richtige.“

Er nahm einen Schluck von seinem Drink, nickte dann.

„Absolut. Die Idee dieses Betreuers war brillant. So konnte er mich dazu bringen, nach draußen zu gehen, Informationen zu sammeln und mehr über das Camp in Erfahrung zu bringen. Danach konnte ich zu meiner eigentlichen Leidenschaft zurückkehren: Büchern. Und dabei fand ich heraus, wie sehr ich es liebte, mich in der Natur aufzuhalten.“

„Und daraus ist dann die Idee für die Software entstanden?“

„So ziemlich. Mein Bruder … Er war der Abenteuerlustigere von uns beiden. Es gab keine Herausforderung, die er nicht in Angriff nahm. Er liebte das Buch. Für ihn war es ein Grund, um immer wieder ins Camp zurückzukehren, und …“

Lincs Stimme wurde leiser und er hielt einen langen Moment inne. Dann räusperte er sich und fuhr fort.

„Jedenfalls war er derjenige, der die Idee hatte, Bücher mit einem Computerprogramm zu kombinieren. Damals waren Computerspiele und – programme natürlich weit von ihrem heutigen Niveau entfernt. Und wir waren nur Kinder, wir wussten nicht, was wir da überhaupt taten. Diese erste Idee entzündete aber den Funken in uns, der uns später dazu brachte, gemeinsam die Firma zu gründen. Und unser erstes Projekt sollte diese Software sein, aber …“

Er spielte mit dem grünen Papierhut an der Spitze seines Strohhalms herum.

„Was ist passiert?“

„Die Marktanalyse ergab, dass mit Programmen für Kinder kein Geld zu verdienen war. Dafür aber mit Sicherheitssoftware. Also entschieden wir uns für die lukrativere Variante.“

Er pflückte das grüne Dreieck vom Strohhalm und knüllte ihn zusammen.

Ein praktisch denkender Mann. Eigentlich sollte sie froh sein. Schließlich entsprach diese Art von Vernunftentscheidung auch Mollys eigener Natur.

Stattdessen verspürte sie ein Gefühl der Enttäuschung.

Was hatte sie erwartet? Dieselbe wilde Spontaneität, die sie in dieser anderen Nacht bei ihm bemerkt hatte?

„Hast du deine Entscheidung jemals bereut?“

„Nein. Ich tat, was gut für die Firma war. Für die Leute, die in sie investiert hatten. Die Leute, die von Anfang an daran geglaubt hatten.“

Obwohl er voller Überzeugung sprach, bemerkte sie einen Hauch von Bedauern in seiner Stimme – ein Echo ungenutzter Möglichkeiten.

„Nun, wo du die Firma zum Mega-Erfolg geführt hast …“, sagte sie lächelnd, „… hast du doch sicher Zeit, einigen deiner früheren Träume nachzugehen. Ich meine, du bist doch der Boss. Du und dein Bruder, ihr könntet Vogelhäuser oder Hula-Hoop-Reifen herstellen, wenn ihr das wolltet. Wer will euch davon abhalten?“ Molly hob eine Augenbraue.

Ihre Blicke trafen sich und in diesem Moment entstand durch ihren gemeinsamen Gedanken wieder eine Verbindung zwischen ihnen.

Diese Nacht. Diese unglaubliche, spontane, heißblütige, verrückte Nacht.

„Nun, für gewöhnlich treffe ich keine spontanen Entscheidungen“, sagte Linc und ein Funke flammte in seinen blauen Augen auf. Nur ganz kurz, dann war er wieder erloschen. „Im Geschäftsleben richtet sich jede Entscheidung nach Analysen, Zahlen, finanziellen Vorhersagen.“

Wenn irgendetwas an ihm schrie: Ich bin kein Familienmensch, dann das.

„Es geht also nicht darum, ob ich diese Software produzieren will“, fuhr Linc fort. „Es geht vielmehr um weise Geschäftsentscheidungen. Wie mein Team mir schon klargemacht hat, wäre das vermutlich eine Verschwendung von Firmengeldern.“

Offensichtlich hatte er seine Entscheidung getroffen. Sie musste eine andere Möglichkeit finden, um für ihr Baby zu sorgen. Und wenn es darum ging, den Vater des Babys näher kennenzulernen …

Bevor sie die Stadt verließ, würde sie Linc ganz einfach sagen, dass sie schwanger war, und ihm die Entscheidung überlassen, ob er etwas mit dem Kind zu tun haben wollte. Vielleicht würde er das befürworten, vielleicht auch nicht.

Der bloße Gedanke daran, dass er ihr und dem Kind den Rücken kehren könnte, ließ eine Woge der Enttäuschung über ihr zusammenschlagen. Ganz gleich, wie oft sie sich selbst eingeredet hatte, dass sie keine begeisterte Reaktion auf ihre Anwesenheit erwartet hatte …

Sie schnappte ihre Handtasche und begann, sich aus der Sitznische hinauszumanövrieren.

„Tut mir leid, dass ich dir so viel Zeit gestohlen habe. Ich dachte, als ich dich in dieser Nacht kennengelernt habe, da …“ Sie atmete aus. „Ich habe dich falsch eingeschätzt, nehme ich an.“

Sie stand auf und wollte los, doch Linc hielt sie mit einer Berührung am Arm auf.

Autor

Colleen Collins
Im Alter von drei Jahren fing sie bereits an Comedians zu imitieren (So behauptet es zumindest ihr Vater). Es muss eine Art Ausblick in die Zukunft gewesen sein, weil sie Jahre später als stand-up und improvisations Comedian in Los Angeles und Denver auftrat. Nebenbei wirkte sie als Co – Autorin...
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