Cora Collection Band 45

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Können Männer und Frauen Freunde sein, oder kommt ihnen doch immer die Liebe dazwischen?

WENN AUS FREUNDSCHAFT PLÖTZLICH LIEBE WIRD von LUCY MONROE
„Wir sind Freunde. Und Freunde haben keinen Sex miteinander!“ Der faszinierende Milliardär Neo Stamos stellt klar, was er von seiner Beziehung mit der bezaubernden Pianistin Cassandra erwartet. Doch keine Regel kann verhindern, dass er sie insgeheim begehrt wie keine Frau zuvor …

KOMM, TRAU DICH von JO LEIGH
Seit ihrer gemeinsamen Collegezeit sind Trevor und Lee Freunde, und Lees zuweilen verrückte Ideen können Trevor kaum mehr schrecken – bis sie ihn mit einem pikanten Vorschlag aus der Fassung bringt: Lee will mehr von ihm: Sex. Doch Trevor hat Angst, dadurch ihre wertvolle Freundschaft zu zerstören ...

GESTERN FREUNDE, HEUTE MEHR? von JENNIFER TAYLOR
Egal, wozu er sie einlädt: Eves Antwort lautet Nein. Dr. Ryan Sullivan versteht es nicht. Dass er und Eve zusammen im Dalverston Krankenhaus arbeiten, findet er wunderbar. Schließlich kennen sie sich schon seit dem Studium, waren damals beste Freunde! Er ahnt nicht, warum Eve so reserviert ist: Nie hat sie den einen heißen Kuss vergessen …


  • Erscheinungstag 22.10.2021
  • Bandnummer 45
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502221
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Monroe, Jo Leigh, Jennifer Taylor

CORA COLLECTION BAND 45

PROLOG

Der Hafen von Seattle sah genauso aus wie all die anderen Häfen, die Neo Stamos auf der Welt gesehen hatte, seit er mit vierzehn Jahren auf dem Frachter Hera angeheuert hatte. Und doch war dieser Hafen etwas Besonderes. Denn hier änderte sich Neos Leben: Er ging an Land und kehrte nie wieder auf die Hera zurück.

Er und sein Freund Zephyr Nikos hatten ein falsches Alter angegeben, als sie sich vor sechs Jahren um Aufnahme in die Crew bemüht hatten – ein kleines Opfer, um das Leben, wie sie es aus Griechenland kannten, hinter sich zu lassen. Als Mitglieder einer Athener Straßengang hatten Zephyr und er eine Gemeinsamkeit entdeckt: Sie wollten mehr im Leben erreichen, als sich die Ränge der Gang hochzuarbeiten.

Sie würden es schaffen, versprach sich der inzwischen einundzwanzigjährige Neo nun, als die Sonne im Osten aufging.

„Bereit für das nächste Kapitel?“, fragte Zephyr.

Neo nickte, den Blick auf den Hafen gerichtet, in den sie einliefen. „Es wird nicht mehr auf der Straße geschlafen.“

„Wir schlafen seit sechs Jahren nicht mehr auf der Straße.“

„Manch einer würde sich fragen, ob die Kojen auf der Hera so viel besser sind.“

„Sind sie.“

Insgeheim stimmte Neo zu, doch er sagte es nicht laut. Zephyr kannte seine Einstellung. Alles war besser, als sich mehr schlecht als recht durchzuschlagen und trotzdem noch den Regeln anderer gehorchen zu müssen. „Was jetzt kommt, wird besser sein.“

„Genau. Es hat uns sechs Jahre gekostet, um genug Geld zusammenzubringen, aber jetzt liegt ein neues Leben vor uns.“

Sechs Jahre harte Arbeit und Verzicht. Sie hatten praktisch jede Drachme zur Seite gelegt. Für zwei junge Männer, die erst im Waisenhaus und dann auf der Straße aufgewachsen waren, war es viel Geld. Kleidung, Bücher und andere Notwendigkeiten besorgten sie sich auf unübliche, vielleicht nicht ganz legale Weise – zumindest, wenn man Glücksspiel für Minderjährige für illegal hielt.

Wann immer sie nicht gearbeitet hatten – oder gewettet, um die mickrige Heuer aufzustocken –, hatten sie alles gelesen, was sie an Informationen über Unternehmensführung und Immobiliengeschäfte in die Finger bekamen. So war jeder von ihnen zum Experten auf einem Gebiet geworden, und sie würden ihr Wissen kombinieren, anstatt einzeln ihre Anstrengungen verdoppeln zu müssen. Gemeinsam hatten sie einen Plan ausgearbeitet, wie sie ihre Mittel zuerst durch den Kauf und Verkauf von Immobilien erheblich erhöhen konnten, um dann irgendwann eine eigene Immobilienfirma im ganz großen Stil aufzuziehen.

„Unser neues Leben als Businesstycoons Zephyr Nikos und Neo Stamos“, fügte Zephyr mit Inbrunst hinzu.

Neo hatte fast immer einen ernsten Ausdruck im Gesicht, doch jetzt zog ein Lächeln auf seine Lippen. „Bevor wir dreißig sind.“

„Bevor wir dreißig sind“, bekräftigte Zephyr mit der gleichen Entschiedenheit, die Neo fühlte.

Sie würden es schaffen. Versagen war keine Option.

1. KAPITEL

„Das ist ein Witz, oder?“

Neo starrte auf die aufwendige Geschenkurkunde mit dem Logo einer bekannten Wohltätigkeitsorganisation. Ganz bestimmt wollte Zephyr Nikos, sein ältester und einziger Freund, und nicht zu vergessen sein Geschäftspartner, ihn auf den Arm nehmen.

„Nein, kein Witz. Herzlichen Glückwunsch zum Fünfunddreißigsten, filos mou.“ Anders als früher, als sie nur Englisch miteinander gesprochen hatten, um ihre Sprachkenntnisse aufzupolieren, flochten sie heute griechische Wendungen in ihre Gespräche ein, damit sie ihre Muttersprache nicht vergaßen.

„Ein Freund würde wissen, dass ich mit einem solchen Geschenk nichts anfangen kann.“

„Im Gegenteil. Nur ein Freund kann beurteilen, wie passend und dringend notwendig dieses kleine Geschenk ist.“

„Klavierstunden?“ Und dann auch noch für ein ganzes Jahr. Kam gar nicht infrage! „Ich glaube kaum, dass ich die nutzen werde.“

Zephyr lehnte sich an den riesigen Mahagonischreibtisch, der mehr wert war, als sie in ihrem ersten Jahr verdient hatten. „Da bin ich anderer Meinung. Du hast die Wette verloren.“

Neo funkelte seinen Freund böse an. Alles, was er jetzt noch sagte, würde wie Gejammer klingen, hielten sie einander doch seit Jahren vor, dass Wettschulden Ehrenschulden waren. Er hätte es besser wissen müssen, als sich mit diesem Wetthai von einem Freund anzulegen.

„Sieh es als eine Art ärztliche Verordnung an.“

„Wird mir jetzt verordnet, eine Stunde pro Woche sinnlos zu vergeuden? Ich habe nicht einmal eine halbe zu erübrigen. Vielleicht weißt du ja mehr als ich …“ Könnte eines der weltweit laufenden Bauprojekte schlicht gestrichen worden sein? „… aber in meinem Terminkalender ist kein Platz für Klavierstunden.“ Wette hin oder her.

„Etwas geht tatsächlich vor sich, ohne dass du auch nur das Geringste davon mitbekommst, und das nennt sich Leben. Überall um dich herum spielt es sich ab, nur bist du so beschäftigt mit unserer Firma, dass du es verpasst.“

„Stamos und Nikos Enterprises ist mein Leben.“

Zephyr bedachte Neo mit einem mitleidigen Blick, so, als hätte er nicht ebenso hart gearbeitet, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. „Die Firma sollte unser Ticket zu einem neuen Leben sein, nicht das Einzige, wofür wir leben. Erinnerst du dich nicht mehr? Wir wollten vor unserem dreißigsten Lebensjahr Tycoons sein.“

„Das waren wir auch.“

Drei Jahre, nachdem sie den Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatten, hatten sie die erste Million zusammengehabt. Einige weitere Jahre und sie waren Multimillionäre gewesen. Inzwischen waren er und Zephyr Hauptaktionäre eines globalen Multimilliarden-Dollar-Unternehmens. Stamos & Nikos Enterprises trug nicht nur Neos Namen, die Firma bestimmte jede Stunde seines Tagesablaufs. Und er hatte überhaupt nichts dagegen.

„Du wolltest ein großes Haus für dich und eine Familie gründen, weißt du noch?“, fragte Zephyr ironisch.

„Die Zeiten ändern sich.“ Von manchen Kindheitsträumen nahm man eben Abschied. „Mir gefällt mein Penthouse.“

Zephyr verdrehte die Augen. „Darum geht es doch gar nicht.“

„Worum geht es dann? Bist du etwa der Meinung, dass ich unbedingt Klavier spielen lernen sollte?“

„Ehrlich gesagt, ja. Selbst wenn dich dein Arzt beim letzten Gesundheitscheck nicht gewarnt hätte … Ich hätte dir auch sagen können, dass du kürzertreten musst. Bei deinem Stress muss man kein Arzt sein, um zu sehen, dass du der optimale Kandidat für einen Herzinfarkt bist.“

„Ich treibe regelmäßig Sport, gehe sechsmal die Woche ins Fitnessstudio. Meine Haushälterin bereitet meine Mahlzeiten nach einem genauen Diätplan vor, ich esse regelmäßiger und gesünder als du. Mein Körper ist in Topform.“

„Du schläfst keine sechs Stunden pro Nacht, und du hast absolut kein Stressventil.“

„So? Was ist dann mein Training?“

„Ein weiterer Beweis für deinen Ehrgeiz. Du treibst dich immer zu Höchstleistungen an, egal was du tust.“

Zephyr musste es wissen, schließlich war er beim Training dabei und stachelte Neos Ehrgeiz erst recht an. Na schön, seit ein paar Jahren verließ Zephyr das Büro immer um sechs, anstatt noch bis spät in den Abend zu arbeiten. Und vielleicht hatte er sich auch ein Hobby zugelegt, das nichts mit Immobilien zu tun hatte. Aber deswegen war sein Leben nicht besser als Neos, es war nur ein wenig anders.

„Du brauchst dringend Abwechslung, mein Freund. Du hast mehr Elan als jeder andere, den ich kenne, aber es wird Zeit, dass du einen Ausgleich findest.“

Da redete ja genau der Richtige! „Und Klavierstunden werden meinem Leben einen neuen Sinn geben?“ Vielleicht war Zephyr selbst reif für eine Pause. Der Mann verlor allmählich den Bezug zur Realität!

„Das nicht. Es gibt dir nur eine Stunde pro Woche, in der du einfach Neo Stamos sein kannst und nicht der griechische Tycoon, der Unternehmen mitsamt Mitarbeitern aufkaufen und wieder verkaufen könnte.“

„Ich handle nicht mit Menschen.“

„Nein, wir kaufen Immobilien und Land, entwickeln und verkaufen wieder. Und wir sind verdammt gut darin, es mit Profit zu tun. Aber wann ist genug genug?“

„Ich bin zufrieden mit meinem Leben, so wie es ist.“

„Nur bist du nie zufrieden mit deinem Erfolg.“

„Sag nicht, du wärst anders.“

Zephyr zuckte mit einer Schulter, sein maßgeschneidertes Anzugjackett machte die lässige Bewegung anstandslos mit. „Wir reden hier über dich.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Wann hast du das letzte Mal mit einer Frau geschlafen, Neo?“

„Sind wir nicht längst über diese Art von Strichlisten hinweg, Zee?“

Zephyr grinste. „Ich will nicht die Zahl deiner Eroberungen wissen. Ich weiß, du hast Sex“, er wurde wieder ernst, „aber du hast noch nie wirklich liebevoll mit einer Frau geschlafen.“

„Wo liegt da der Unterschied?“

„Du hast Angst vor Intimität.“

„Erklär mir, wie wir von Klavierstunden auf dieses blödsinnige Psychogeschwätz kommen. Seit wann bist du unter die Amateurpsychiater gegangen?“

Zephyr wirkte tatsächlich gekränkt! „Ich stelle lediglich fest, dass dein Leben nicht genügend Facetten aufweist. Du musst neue Erfahrungen machen, aufbrechen zu neuen Horizonten.“

„Jetzt klingst du wie die Werbung einer Reisegesellschaft.“ Wie eine schlechte!

„Ich klinge wie der Freund, der sich Sorgen macht. Ich möchte nicht, dass du vor deinem vierzigsten Geburtstag ins Gras beißt, weil der Stress zu viel wird.“

„Woher hast du eigentlich diese Informationen über meinen Gesundheitszustand?“

„Gregor hat mich neulich auf dem Golfplatz beiseite genommen und mir gesagt, dass du dich noch totarbeiten wirst.“

„Er hat die Schweigepflicht verletzt. Ich werde ihn verklagen.“

„Nein, wirst du nicht. Er ist unser Freund.“

„Er ist dein Freund und mein Arzt.“

„Genau davon rede ich, Neo. Du musst ein Gegengewicht finden. Dein Leben besteht nur aus Arbeit.“

„Wenn deiner Meinung nach Beziehungen so wichtig sind, warum hast du dann keine?“

„Ich gehe mit Frauen aus, Neo. Und bevor du jetzt anführst, dass du das auch tust … sich mit einer Frau zu verabreden und schon vorher zu planen, Sex mit ihr zu haben und sie dann nie wiederzusehen, ist keine Beziehung.“

„In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich?“

„In diesem, genau wie du, mein Freund. Also hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen, und nimm das Geschenk an. Du wolltest doch immer Klavier spielen lernen.“

„Immer? Wann?“

„Als wir uns als Jungs auf den Straßen Athens herumgetrieben haben.“

„Ich habe mehrere Kindheitsträume aufgegeben.“ Und im Tausch für sein jetziges Leben hatte er es bereitwillig getan. Das, was er aus sich gemacht hatte, war bestimmt nicht schlecht für jemanden, dessen Vater sich abgesetzt hatte, noch bevor der Sohn zwei Jahre alt gewesen war, und dessen Mutter mehr von Alkohol gehalten hatte als von Kindererziehung.

Trotzdem fühlte er, dass er langsam nachgab – wenn auch nur, um den einzigen Menschen auf der Welt, für den er bereit war, Kompromisse einzugehen, nicht zu enttäuschen. „Na schön, ich versuche es. Zwei Wochen lang.“

„Sechs Monate.“

„Einen.“

„Fünf.“

„Zwei. Mein letztes Angebot.“

„Es kann dir nicht entgangen sein, dass ich für ein ganzes Jahr bezahlt habe.“

„Sollte es mir Spaß machen, werde ich das Jahr vielleicht nutzen.“

Aber Neo hatte nicht die geringsten Zweifel, wie das Experiment ausgehen würde.

Schon zum zweiten Mal innerhalb einer Minute strich Cassandra Baker sich das dunkelblaue Designerkleid mit dem großen weißen Spitzenkragen glatt. Nur weil sie wie eine Einsiedlerin lebte, hieß das nicht, dass sie sich auch so kleiden musste. Selbst wenn andere sie nur selten sahen – und dann auch nur in ihrem Zuhause –, halfen hübsche Kleider ihr dabei, sich einigermaßen normal zu fühlen. Immer funktionierte es zwar nicht, aber zumindest versuchte sie es.

Eigentlich sollte sie jetzt spielen. Es entspannte sie. Das sagte man ihr zumindest immer wieder und manchmal glaubte sie selbst daran. Doch ihre schlanken Finger lagen reglos auf der Klaviatur. In weniger als fünf Minuten würde Neo Stamos zu seiner ersten Unterrichtsstunde erscheinen.

Wie jedes Jahr hatte sie der Spendengala zwölf Monate Meisterkurse bei ihr, der berühmten, wenn auch zurückgezogen lebenden Pianistin und Komponistin von New-Age-Musik, überlassen. Und sie war sich sicher gewesen, dass auch dieses Mal ein Musikliebhaber die Meisterkurse ersteigern würde. Vielleicht ein aufstrebendes neues Talent … Nie hätte sie vermutet, dass ein absoluter Neuling, noch dazu ein milliardenschwerer Großunternehmer, für ein Jahr ihr Schüler sein würde. Es war der Albtraum für eine Frau, die Schwierigkeiten hatte, einem Fremden ihre Tür zu öffnen.

Um sich über den Mann kundig zu machen, hatte sie sämtliche Artikel, die sie über ihn finden konnte, gelesen und im Internet recherchiert. Geholfen hatte es nicht, im Gegenteil. Auf den Pressefotos wirkte er eher wie jemand, der für Musik, gleich welcher Richtung, nichts übrig hatte. Warum in aller Welt wollte ein solcher Mann Klavierunterricht nehmen?

Nun, offenbar wollte er. Denn als die Summen bei der Auktion bereits in die Zehntausende gegangen waren, da war Zephyr Nikos vorgetreten und hatte einhunderttausend Dollar geboten. Einhunderttausend Dollar! Für wöchentlich eine Stunde ihrer Zeit! Verstehen konnte Cass es noch immer nicht. Selbst für ein Jahr war das ein mehr als extravagantes Gebot. Verständlicherweise war die Organisatorin der Gala vor Begeisterung übergeschäumt. Eigentlich hielt Cass Telefongespräche mit Leuten, die sie kaum kannte, kurz, doch die ältere Frau hatte ausführlich von der Auktion erzählt. Und es rührte sie ganz besonders, dass die Stunden ein Geschenk von Mr Nikos an seinen lebenslangen Freund und Geschäftspartner Neo Stamos waren.

Auch die Termine hatte nicht Mr. Stamos’ persönlich ausgemacht, seine Assistentin hatte Cass angerufen. Da ihr eigenes Übungsprogramm flexibel war und sie praktisch nie ausging, stellte die Planung kein Problem dar. Dennoch ließ die sicherlich sehr kompetente, allerdings auch sehr reservierte Assistentin es klingen, als müsste Mr. Stamos seinen Erstgeborenen opfern, um am Dienstag um zehn Uhr zur ersten Stunde zu erscheinen.

Was Cass nur noch nervöser machte, als sie ohnehin schon war, wenn sie einem Schüler zum ersten Mal begegnete. Sie konnte sich nicht vorstellen, wieso ein immens reicher, viel zu gut aussehender und noch dazu offensichtlich übermäßig beschäftigter Unternehmer Klavierunterricht nehmen wollte. Seit ihrem letzten öffentlichen Auftritt hatte Cass keine solche Unruhe mehr in sich verspürt. Auch wenn sie sich schon den ganzen Morgen sagte, dass das unsinnig war … es half nicht.

Als es an der Haustür klingelte, zuckte sie zusammen. Ihr Puls begann zu rasen, ihr Atem wurde unregelmäßig. Sie drehte sich auf dem Schemel zur Tür, aber sie stand nicht auf …

Sie musste aufstehen. Musste zur Tür gehen und ihren neuen Schüler begrüßen.

Es klingelte ein zweites Mal. Die Ungeduld in dem Laut brach ihre Starre. Sie sprang auf.

Auf dem Weg zur Tür schossen ihr all die beunruhigenden Fragen durch den Kopf, die sie schon den ganzen Morgen plagten. Würde Neo Stamos vor ihrer Tür stehen oder seine Assistentin? Vielleicht ein Leibwächter oder der Chauffeur? Redeten Milliardäre mit ihrem Klavierlehrer, oder ließen sie die Konversation von irgendwelchen Untergebenen bestreiten? Würde sein Chauffeur oder sein Leibwächter während der Unterrichtsstunde mit im Raum sein wollen? Oder vielleicht auch seine Assistentin …?

Bei der Vorstellung, so viele fremde Leute in ihrem bescheidenen Haus zu haben, begann Cass zu hyperventilieren. Sie war stolz auf sich, dass sie dennoch weiter auf die Tür zuging. Vielleicht war er ja allein gekommen. Eine Überlegung, die einen ganzen Berg von neuen Fragen vor ihr auftürmte. Ob es ihm recht war, sein Luxusauto in der einfachen Nachbarschaft im Westen Seattles zu parken? Sollte sie ihm anbieten, seinen Wagen in die leere Garage zu stellen?

Ein drittes Klingeln ertönte, gerade als sie die Tür aufzog. Mr. Stamos, der in natura noch imposanter aussah als auf den Fotos, schämte sich seiner Ungeduld eindeutig nicht.

„Miss Cassandra Baker?“

Augen, grün wie die Blätter der Bäume im Frühsommer, waren fragend auf sie gerichtet. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um dem dunkelhaarigen Tycoon in das überwältigend attraktive Gesicht sehen zu können.

„Ja.“ Sie zwang sich, ihm das gleiche Angebot zu machen wie jedem ihrer Schüler. „Sie können mich Cass nennen.“

„Sie sehen aus wie eine Cassandra, nicht wie eine Cass.“ Seine tiefe Stimme klang in ihren Ohren wie eine perfekt gestimmte Saite.

„Meine Schüler nennen mich alle Cass.“ Auch wenn es ihr unpassend vorkam, diesen Mann als Schüler zu bezeichnen.

Offensichtlich ging es ihm genauso, denn es zuckte um seine Mundwinkel. „Ich nenne Sie Cassandra.“

Sie starrte ihn an, wusste nicht, wie sie seine Arroganz auffassen sollte. Er schien sich nichts dabei zu denken, sondern es für selbstverständlich zu halten, dass er sie nennen konnte, wie er es für angebracht hielt.

„Ich glaube, wir können erst mit dem Unterricht anfangen, wenn Sie mich einlassen.“

Nur ein Hauch von Ungeduld war in seiner Stimme zu hören, dennoch fühlte Cass sich ungeschickt und unhöflich. „Natürlich … Möchten Sie Ihren Wagen vielleicht in der Garage parken?“

Er blickte nicht zu dem schnittigen Mercedes zurück, der in ihrer Auffahrt stand, schüttelte nur knapp den Kopf. „Das wird nicht nötig sein.“

„Fein. Dann kommen Sie herein.“ Sie drehte sich um und ging voraus zum Klavierzimmer.

Der große Raum war einst der Salon des im späten neunzehnten Jahrhundert gebauten Hauses gewesen, jetzt bot er ihrem Fazioli-Flügel die perfekte Umgebung. Ein einzelner großer Queen-Anne-Sessel stand an der Wand, daneben ein rundes Seitentischchen, ansonsten nahm kein weiteres Mobiliar dem Zimmer die luftige Atmosphäre.

Cass deutete auf die Klavierbank, die vor dem Flügel stand. „Nehmen Sie Platz.“

Er folgte ihrer Aufforderung. Der Anblick überraschte sie: Er wirkte wesentlich entspannter vor dem Flügel, als sie sich in seinem Büro gefühlt hätte. Er musste größer sein als ein Meter neunzig, und doch bot er kein ungelenkes Bild auf der Bank. Er hatte große Hände mit langen Fingern … und Schwielen, die weder zu einem Pianisten noch zu einem Milliardär passten. In dem perfekt sitzenden Armani-Anzug, der die breiten Schultern betonte und muskulöse Schenkel erahnen ließ, gehörte er eigentlich in ein Vorstandszimmer, dennoch wirkte er hier nicht fehl am Platz.

Vielleicht fehlte dem dunkelhaarigen Adonis ja das Gen, das für Verlegenheit zuständig war.

„Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten?“

„Wir haben bereits mehrere Minuten der Unterrichtsstunde vertan. Es wäre zweckmäßiger, wenn wir die Nettigkeiten übergehen könnten.“

„Ich werde die Minuten auch gern an die Stunde anhängen.“ Sie fühlte sich schuldig, obwohl sie sich ziemlich sicher war, keinen Grund dafür zu haben.

„Ich nicht.“

„Ich verstehe.“ Seltsam, aber seine kurz angebundene Art beruhigte ihre Nerven. Oder war es nur die Erleichterung, dass er nicht mit seinem ganzen Gefolge erschienen war? Wie auch immer … sie empfand seine Anwesenheit deutlich weniger aufreibend als befürchtet.

Aber gut, keine Nettigkeiten mehr. „Um Zeit zu sparen, brauchen Sie dann nächste Woche nicht erst zu klingeln, sondern können direkt hereinkommen“, bot sie an.

Er kniff die Augen zusammen. „Sie schließen Ihre Tür nicht ab?“ Er wartete nicht auf ihre Antwort. „Ich habe die Kette vorgelegt, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe.“

Für einen Mann in seiner Position muss es wohl normal sein, sämtliche Türen sicher hinter sich zu verschließen. „Es wundert mich, dass Ihre Leibwächter nicht vorher das Haus untersucht haben.“

„Ich beschäftige Sicherheitsleute, aber mein Leben ist kein Fernsehkrimi. Ich habe Erkundigungen einziehen lassen, bevor meine Assistentin die Termine ausgemacht hat.“ Er musterte ihre zierliche Gestalt von oben bis unten. „Sie stellen wohl kaum eine Gefahr für mich dar.“

„Ich verstehe“, sagte sie noch einmal. Unbehagen machte sich breit bei der Vorstellung, dass man sie überprüft hatte.

„Es ist nichts Persönliches.“

„Nein, nur notwendig.“ So wie sie sich über ihn im Internet informiert hatte. Allerdings war sie wahrscheinlich sehr viel detaillierter unter die Lupe genommen worden. Vermutlich wusste er alles über ihre Geschichte, über das, was ihr Manager ihre „Eigenheiten“ nannte. Dennoch behandelte er sie nicht wie einen Sonderling.

„Richtig.“ Er blickte betont auf seine Uhr.

Keine Rolex – das fand Cass interessant. Aber sie sagte nichts dazu. Er hatte deutlich gemacht, dass er für den Unterricht hier war und nicht, um zu plaudern.

So verging die restliche Stunde erstaunlich schnell … trotz der Anspannung, die der Multimilliardär in Cass auslöste und die so anders war, als sie es erwartet hatte.

Neo verstand nicht, wieso er am nächsten Dienstag mit einem ungewohnten Gefühl von Vorfreude aufwachte, bis ihm klar wurde, dass seine zweite Klavierstunde für diesen Tag angesetzt war.

Cassandra Baker war genauso, wie der Bericht der Überprüfung sie beschrieb. Sie fühlte sich unwohl in der Gesellschaft Fremder und war sehr zurückhaltend und schüchtern. Und doch hatte sie etwas an sich, das ihn bezauberte. Es gab wesentlich wichtigere Dinge auf seiner heutigen Agenda, dennoch war das zweite Treffen mit der weltbekannten Pianistin, die keine Konzerte mehr gab, das Erste, woran er beim Aufwachen gedacht hatte.

Er konnte kaum glauben, wie sehr er die Zeit mit Cassandra Baker genossen hatte. Sicherlich, sie war keine Schönheit mit dem schlichten braunen Haar, den Sommersprossen auf der Nase und der zierlichen Figur, sie gehörte auch nicht zu dem Typ Frau, mit dem er sich sonst umgab. Sie passte eher in die Kategorie „Mädchen von nebenan“, und von denen hatte er in letzter Zeit wirklich wenige getroffen. Ohne Zephyrs Einmischung wäre er Cassandra Baker vermutlich nie begegnet.

Dabei hatte Zee ihn bereits vorher mit Cassandras Musik bekannt gemacht. Zu Weihnachten hatte er ihm ihre CDs geschenkt. Zuerst hatte Neo die Musik beim Training laufen zu lassen, dann hatte er sie manchmal über seinen iPod gehört, wenn er am Computer arbeitete, und irgendwann war er dazu übergegangen, Cassandras Songs auch in seiner Wohnung abzuspielen. Auf den Namen der Künstlerin aber hatte er nie wirklich geachtet. Auch als er ihn auf der Geschenkurkunde gelesen hatte, bedeutete er ihm nichts. Erst als der Bericht zurückgekommen war, hatte Neo den Namen Cassandra Baker mit der Musik in Verbindung gebracht, die ihm so gut gefiel.

Und er war beileibe nicht der Einzige. Die Verkaufszahlen von Cassandra Bakers CDs konnten sich sehen lassen. Er hätte nicht gedacht, dass eine so berühmte Künstlerin sich so unscheinbar geben würde. Sie unternahm nichts, um ihr Talent und den Ruhm herauszustellen, legte stattdessen sehr viel mehr Wert darauf, ihr Dasein als Durchschnittsbürgerin zu untermauern.

Ihre bernsteinfarbenen Augen waren allerdings alles andere als durchschnittlich. Nicht nur die Farbe war außergewöhnlich – vor allem die absolute Ehrlichkeit, die sich in ihnen spiegelte, hatte Neo fasziniert. Und obwohl Cassandra Baker keine klassische Schönheit war, hatte ihre Zartheit und Verletzlichkeit ihn gefesselt. Irgendetwas war an der stillen Pianistin, das ihn bezauberte. Vielleicht war es auch nur das Wissen darum, dass sie diese eingängige Musik schrieb.

Was immer es war, er freute sich darauf, sie besser kennenzulernen. Wann hatte er sich das letzte Mal einen so persönlichen Luxus erlaubt, der nichts mit Sex zu tun hatte?

Als Neo bei Cassandras Haus ankam, war die Tür nicht abgeschlossen, genau wie sie gesagt hatte. Es störte ihn, dass sie nicht auf Sicherheit achtete, noch mehr beunruhigte ihn die Musik, die er aus dem Klavierzimmer dringen hörte. Wenn Cassandra spielte, konnte jeder unbemerkt ins Haus eindringen. Das Stirnrunzeln stand noch immer auf seiner Stirn, als er das Zimmer betrat.

Sie saß am Flügel und sah auf, ohne ihr Spiel zu unterbrechen. „Guten Morgen, Neo.“

„Ihre Tür war nicht abgeschlossen.“

„Das hatten wir doch vereinbart.“

„Es ist nicht sicher.“

„Ich dachte, Sie wollten Zeit sparen und direkt mit dem Unterricht beginnen.“

Er wartete nicht auf ihre Aufforderung, setzte sich gleich zu ihr auf die Bank. „Sie konnten mich nicht kommen hören.“

„Das brauchte ich auch nicht. Ich wusste doch, dass Sie kommen.“

„Darum geht es nicht.“

„Nicht?“ Sie sah ihn an, als wüsste sie wirklich nicht, wovon er sprach.

„Nein.“

„Nun … sollen wir dann da ansetzen, wo wir letzte Woche aufgehört haben?“

Neo war es nicht gewohnt, dass man so einfach über seine Einwände hinwegging. Und doch war er nicht verärgert, sondern musste im Gegenteil diese stille Frau bewundern, die ihn mit wenigen Worten zu dem Grund seines Hierseins zurückbrachte. Und das war mit Sicherheit nicht die Diskussion über unverriegelte Türen.

Cassandras sanfte Stimme, mit der sie ihn durch die Stunde führte, gefiel ihm sehr. Ihre Leidenschaft für die Musik schwang in jeder Anweisung mit und zeigte sich in der Art, wie sie die Tasten anschlug, wenn sie zusammen spielten. Ein Mann würde einiges dafür geben, von seiner Geliebten mit solcher Hingabe berührt zu werden …

Dieser Gedanke musste schuld daran sein, dass Neo bei etwas so Harmlosem wie Klavierunterricht tatsächlich plötzlich erregt war.

2. KAPITEL

Cassandra hielt sich die Hand vor den Mund, als sie jetzt zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten gähnte. In den Nächten vor dem Unterricht mit Neo schlief sie nie gut, und das schon seit fünf Wochen.

Anfangs war es die Nervosität gewesen, wieder einen Fremden in ihr Leben zu lassen, doch inzwischen hatte sich diese Unruhe in freudige Erwartung verwandelt. Cass konnte nicht sagen, warum. Neo war nicht unbedingt freundlich, sie hätte ihn nie als etwas anderes als einen ehrgeizigen Geschäftsmann bezeichnet, und doch genoss sie seine Gesellschaft. Er nahm den Unterricht ernst, auch wenn nur allzu offensichtlich war, dass er zwischen den Stunden nicht übte.

Sein Benehmen war definitiv ruppig, ja sogar arrogant. Seltsamerweise empfand Cassandra in seiner Nähe dennoch einen Frieden, wie sie ihn sonst mit niemandem erfuhr. Sie versuchte dieses Wohlgefühl zu ergründen, doch trotz aller Anstrengung konnte sie keine Erklärung dafür finden.

Was die „Keine-Nettigkeiten“-Regel betraf, so bestand er inzwischen nicht mehr so nachdrücklich darauf. Er beschwerte sich nicht, wenn sie über ihr Lieblingsthema dozierte – Musik. Er stellte Fragen, die Interesse und erstaunliches Verstehen zeigten. So scheute sie sich auch nicht, das Thema anzusprechen, das ihr seit dem ersten Treffen keine Ruhe ließ.

„Sie fahren einen Mercedes.“

„Ja.“

Es war die Einladung, weiterzureden, während er die Akkorde spielte, die sie ihm soeben gezeigt hatte.

„Sie tragen einen Designeranzug, aber keine Rolex.“

„Sie sind eine gute Beobachterin“, sagte er mit diesem kleinen Zucken in den Mundwinkeln, das sie so gerne sah.

„Vermutlich.“

„Ich verstehe nur nicht, worauf Sie hinauswollen.“ Er sah sie fragend an.

„Ich hätte erwartet, dass Sie einen Ferrari fahren.“

„Ah … ich verstehe.“ Er lächelte.

Es war ein richtiges Lächeln, und alles um Cass drehte sich plötzlich. Als hätte ihr jemand in den Magen geschlagen. Das war nicht gut. Sie reagierte sonst nie so auf einen Schüler. Oder einen anderen Mann. Aber dieses Lächeln … es sollte einen Warnhinweis dafür geben! Etwa: Vorsicht, ein Blick kann tödlich sein!

„Die wenigsten Menschen würden ihre Vorurteile über reiche Männer zugeben.“

„Ich bin nicht sehr bewandert darin, das, was ich denke, zu verschleiern.“ Sie ging generell nicht gern unter Menschen. Wenn es dann aber auch noch auf Täuschung und diplomatisches Verheimlichen ankam, war sie völlig verloren.

Sein Lächeln wandelte sich in ein breites Grinsen. „Gut zu wissen.“

„Ist es das?“ Hatte sie sich vorher in Gefahr geglaubt, so war dieses charmante Grinsen ihr Untergang.

„Auf jeden Fall. Aber zurück zu Ihrer Frage. Es war doch eine Frage, oder?“ Er sprach mit einem leichten griechischen Akzent, den sie absolut hinreißend fand.

Sie sollte wirklich häufiger unter Menschen gehen, dann wäre sie vielleicht geübter im Umgang mit Männern. Sicher, als ob das passieren würde! Sie unterdrückte den Seufzer. „Ja. Und wahrscheinlich eine neugierige dazu.“

„Ihre Neugier stört mich nicht. Wenn die Paparazzi allerdings die Maße meiner letzten Freundin wissen wollen … die Art Neugier stört mich.“

Hitze schoss ihr in die Wangen. „Nun, ich kann Ihnen garantieren, dass ich eine solche Frage niemals stellen würde.“

„Nein, dazu sind Sie viel zu unschuldig.“ Und seltsamerweise gefiel ihm das. „Man schafft kein riesiges Vermögen, indem man sein Geld für unsinnige Sachen ausgibt. Designeranzüge sind notwendig, um Investoren und Käufern die entsprechende Fassade zu bieten. Meine Armbanduhr ist genauso präzise wie eine Rolex, kostet aber nur ein paar Hundert Dollar anstatt ein paar Tausend. Mein Wagen ist teuer genug, um Eindruck zu machen, aber nicht zu teuer für einen Gebrauchsgegenstand, der lediglich dazu dient, mich von Punkt A nach Punkt B zu bringen.“

„Anders als andere Männer sehen Sie Ihr Auto also nicht als Spielzeug an.“

„Mit Spielzeugen habe ich schon nicht mehr gespielt, als ich das Waisenhaus verließ.“

Cassandra hatte gelesen, dass er in einem Kinderheim aufgewachsen war, bevor er Athen verlassen hatte. Wenn man bedachte, wie viel ansonsten über ihn berichtet wurde, rankten sich um seine Jugendjahre unzählige Rätsel.

Aber das kannte sie aus eigener Erfahrung. In ihrer offiziellen Biografie stand nur, dass ihre beiden Eltern tot waren. Die langwierige Krankheit ihrer Mutter wurde mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht das stille Haus, angefüllt mit der Angst, die Person zu verlieren, die sie und ihr Vater über alles liebten.

Der plötzliche Tod ihres Vaters durch einen massiven Herzinfarkt hatte damals Schlagzeilen gemacht, vor allem, weil das der Paukenschlag gewesen war, mit dem die brillante Konzertkarriere Cassandra Bakers ihr Ende fand. Es war der Rückzug von der Bühne, der die Presse monatelang in Aufruhr versetzt hatte.

„Manche Männer beschließen, die verlorene Kindheit nachzuholen.“

„Dazu bin ich zu beschäftigt. Sie hatten auch keine wirkliche Kindheit.“

Er sagte es so nüchtern, als wäre es nicht von Bedeutung. Aber hatte Cass nicht tatsächlich schon vor langer Zeit entschieden, dass es keine Bedeutung hatte? Die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern.

„Warum Klavierstunden?“, lenkte sie ab. Sie wollte nicht über die jämmerlichen prägenden Jahre ihrer Kindheit reden.

„Ich habe eine Wette verloren.“

„Eine Wette mit Ihrem Geschäftspartner?“ Das ergab mehr Sinn als alles, was sie sich ausgedacht hatte.

„Ja.“

„Wenn das, was Sie über Sparsamkeit sagen, stimmt, dann verstehe ich nicht, wieso er als ebenso reich gilt wie Sie. Er hat hunderttausend Dollar für Meisterklassen ausgegeben, die Sie nicht wollen. Das ist in meinen Augen ziemlich unsinnig.“

„Ich will den Unterricht doch.“ Neo schockierte sich selbst mit dem Geständnis. „Als Junge wollte ich unbedingt Klavier spielen lernen. Damals hatte ich nicht die finanziellen Möglichkeiten, und heute ist meine Zeit noch knapper als damals das Geld.“

„Trotzdem nehmen Sie sich Zeit für den Unterricht.“

„Weil Zephyr die Ausgabe nicht als unsinnig ansieht. Er ist der Überzeugung, dass ich auch etwas anderes tun sollte, als nur zu arbeiten.“

„Wenigstens eine Stunde pro Woche.“ Ihrer Meinung nach war das nicht gerade viel. „Dann hätte er Ihnen sicherlich einen wesentlich günstigeren Klavierlehrer beschaffen können.“

„Sowohl Zephyr als auch ich stellen immer nur die Besten an. Sie sind die Beste.“

„Das hat man mir gesagt, ja.“ Oft. Seit sie im Alter von drei Jahren als Wunderkind entdeckt worden war.

„Jetzt sind Sie dran, meine Fragen zu beantworten.“

„Wenn Sie möchten …“ Und wenn sie konnte.

„Warum spenden Sie einer Wohltätigkeitsorganisation ein Jahr lang Ihre Dienste als Klavierlehrerin, obwohl Sie eine berühmte Komponistin und Konzertpianistin sind?“

Sie hatte mit der Frage gerechnet, die jeder stellte – warum sie keine Konzerte mehr gab. Sie selbst konnte sich diese Frage nicht beantworten. So war sie dermaßen verblüfft, dass es dauerte, bis ihr eine Erwiderung einfiel. „Viele neue Talente wollen mit mir arbeiten. Das ist die eine Chance für sie, es zu tun. Ich ziehe ein ruhiges Leben vor, aber ohne neue Gesichter kann es einsam werden. Ich will nicht als die Frau gelten, die ein Leben als Einsiedlerin führt.“ Selbst wenn sie in vielerlei Hinsicht genau das tat.

„Sind Sie enttäuscht, dass Ihre Meisterklassen an einen Anfänger gegangen sind?“

„Nein, nervös. Um ehrlich zu sein sogar panisch.“ Sie lächelte zerknirscht. „Ich habe meinen Manager angefleht, mich irgendwie da rauszuholen.“

„Er hat sich weder bei Zephyr noch bei mir gemeldet.“ Neo kniff abschätzend die Augen zusammen. „Wieso hatten Sie solche Angst? Selbst in Anbetracht Ihrer Einschränkungen … das haben Sie doch schon öfter gemacht.“

„Nicht für einen erfolgreichen Milliardär.“

„Ich bin genau wie jeder andere Mann.“

Sie runzelte die Stirn. „Für jemanden, der Geradlinigkeit schätzt, ging Ihnen diese Lüge sehr glatt über die Zunge. Sie halten sich nicht für irgendeinen beliebigen Mann.“

Das angedeutete Lächeln zog wieder auf seine Lippen. „Sie sind hellsichtiger als angenommen. Nur wenige sind so zielgerichtet und entschlossen, um das erreichen zu können, was Zephyr und ich erreicht haben.“

„Und nun macht Zephyr sich Sorgen, dass Sie zu zielgerichtet sind?“

„Ich beging den Fehler und stimmte bei meinem letzten Gesundheitscheck den Bedenken zu, die mein Arzt äußerte. Gregor ist mein Arzt und Zephyrs Freund … er ließ das bei Zephyr durchblicken.“

„Die Bedenken Ihres Arztes haben Sie schockiert, richtig?“ Sie war über sich selbst überrascht, dass sie dieses Gespräch fortsetzen wollte.

„Woher wissen Sie das?“

„Sie scheinen mir ein Mann zu sein, der sehr genau auf seine körperliche Kondition achtet, um damit auch seine Position im Geschäftsleben zu sichern. Es muss Sie schockiert haben, dass es da einen Faktor gibt, den Sie nicht eingeplant hatten.“

„Ich dachte, Sie sind Pianistin, nicht Psychiaterin.“

Das zumindest konnte sie erklären. „Mir fällt es leichter, Leute zu beobachten, als mit ihnen zu interagieren.“

„Mit Ihrer Einschätzung treffen Sie sehr präzise den Punkt.“

„Danke, dass Sie es zugeben. Auch ich schätze Ehrlichkeit.“

„Dann haben wir etwas Wichtiges gemeinsam.“

Sie rückte auf der Klavierbank etwas von ihm ab und versuchte, ihre Reaktion auf seine Nähe zu ignorieren, die sie seit der ersten Übungsstunde fühlte. „Ja. Und noch etwas haben wir gemeinsam: Wir beide wollen, dass Sie Klavier spielen lernen. Also lassen Sie uns weitermachen.“

Für ihre Reaktion auf Neo hatte Cass keine Vergleiche, an denen sie sich hätte orientieren können. Im Alter von neunundzwanzig Jahren mangelte es ihr an jeglicher Erfahrung im Schlafzimmer. Auf ihren Konzerttourneen war keine Zeit für Verabredungen geblieben, und seitdem sie sich von der Bühne zurückgezogen hatte, setzte sie sich keinen Situationen mehr aus, bei denen sie einen Mann hätte kennenlernen können.

Sie hatte nie geküsst – zumindest keine romantischen Küsse – und noch nie hatte sie dieses Flattern im Unterleib gespürt. Natürlich hatte sie über Erregung gelesen, aber sie hatte sie nie selbst erfahren – was sie in den Augen der restlichen Welt wohl zu einem Freak machte. Sie war nicht nur noch Jungfrau, sondern komplett unschuldig, und sie war sich auch keineswegs sicher, ob sie es riskieren wollte, diesen Zustand je zu ändern.

Jetzt jedoch jagte unbekannte Erregung durch sie hindurch, ließ ihre Knie zitterten und ihren Puls rasen. Ihre Brustwarzen zogen sich schmerzhaft zusammen, sie musste sich auf die Lippe beißen, um einen Seufzer zurückzuhalten.

So konnte das nicht weitergehen, sie würde sich noch zur Närrin machen. Und so tat sie das, was sie immer getan hatte, wenn ihr Leben zu unangenehm wurde – sie konzentrierte sich auf die Musik und ließ ihre Finger über die Tasten fliegen.

„Der Klang, den Sie diesem Instrument entlocken, ist phänomenal.“

Neos tiefe Stimme verstärkte die Empfindungen in ihr nur noch. Cass musste einen Schauer unterdrücken. „Sie sollten hören, wenn ich richtig spiele.“

„Vielleicht ist es mir ja eines Tages vergönnt.“

„Vielleicht.“ Sie lud nur selten jemanden ein, sich in den einzigen Sessel zu setzen und ihr beim Spiel zuzuhören. Selbst ihr Manager hatte es inzwischen aufgegeben, sie darum zu bitten. „Versuchen Sie es.“

Es gelang ihm nicht, bis sie die Finger auf seine legte und ihn führte. Für ihr seelisches Gleichgewicht war es eine Katastrophe, doch sehr wirkungsvoll, um ihm die Fingerstellung beizubringen. Bis der Alarm seiner Armbanduhr sie an das Ende der Stunde erinnerte, konnte er das Stück recht passabel spielen. Cass hingegen war nur noch ein Nervenbündel – was sie allerdings hinter der Maske der Meisterpianistin kaschierte.

„Es gibt Übungen, um die Finger zu trainieren“, sagte sie, ohne aufzuschauen. „Aber Sie zu bitten, zwischen den Stunden zu üben, wäre wohl vergebliche Mühe.“

Er zuckte mit einer Schulter. „Ich habe hier mehr Spaß als erwartet.“

„Das freut mich zu hören.“ Sie lächelte. „Musik ist Balsam für die Seele.“

„Manchmal kann sie es sein.“ Er stand auf. „Ich kann nicht versprechen, ob ich üben werde, aber ich werde mir ein Klavier anschaffen. Meine Assistentin wird Sie anrufen und um eine Empfehlung bitten.“

Neos Assistentin rief an, aber nicht wegen einer Kaufempfehlung, sondern um den Termin in der nächsten Woche abzusagen. Neo würde nicht in Seattle sein.

„Bitte erwähnen Sie das niemandem gegenüber. Es könnte zu Spekulationen führen, die den momentan laufenden Geschäftsverhandlungen schaden.“ Der Ton der Frau besagte eindeutig, dass, wäre es nach ihr gegangen, Cass keine Erklärung für die Absage erhalten hätte.

Neo sah das offensichtlich anders. Cass lächelte vor sich hin, während sie ernst versprach, nichts zu verraten.

Unglückseligerweise war die Presse zwar nicht über Neos Abwesenheit informiert, aber offensichtlich waren seine wöchentlichen Besuche bei ihr inzwischen bekannt geworden. Am Dienstagmorgen weckte das Zuschlagen von Autotüren und lautes Stimmengewirr Cass auf. Eigentlich war die Straße, in der sie wohnte, sehr ruhig. Sie eilte zum Fenster und lugte vorsichtig durch den Vorhang, als es auch schon aufdringlich an der Haustür klingelte.

Drei große Kamerawagen und zwei Autos parkten vor ihrem Haus. Die Hausklingel schrillte weiter, während Cass sich hastig anzog. Sie würde die Leute einfach ignorieren. Sie stand nicht mehr im Licht der Öffentlichkeit. Die Medien hatten hier nichts verloren.

Da hämmerte es lautstark gegen die Balkontür ihres Schlafzimmers. Cass schrie gellend auf. Der Verstand sagte ihr, dass es nur ein findiger Reporter war, der auf den Balkon geklettert war, doch die Panik ließ sich vom Verstand nicht eindämmen.

Sie griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch und wählte die Nummer ihres Agenten. Als sie Bob stockend berichtete, was sich vor ihrem Haus zutrug, sagte er nur, sie solle sich beruhigen. So etwas sei schließlich die beste Promotion für ihre CDs.

Cass widersprach nicht. Sie hatte Mühe, sich vor Angst nicht zu übergeben. Sie unterbrach die Verbindung und wählte Neos Nummer. Nur der Anrufbeantworter meldete sich. Sie hinterließ eine Nachricht, ohne genau zu wissen, was sie überhaupt sagte.

Es klingelte unablässig an der Haustür, das Hämmern an der Balkontür hörte auch nicht auf. Völlig verstört zog Cass sich ins Badezimmer zurück, verschloss die Tür und kauerte sich zitternd hinter die altmodische Zinkbadewanne.

So zusammengerollt saß sie immer noch da, als es an der Badezimmertür klopfte.

„Cassandra! Bist du da drinnen? Mach die Tür auf, pethi mou. Ich bin’s, Neo.“

Neo war nicht in der Stadt, das hatte seine Assistentin gesagt. Cass schüttelte wild den Kopf. Schweißtropfen liefen an ihren Schläfen herab.

Jemand rüttelte am Türknauf. „Cassandra, öffne die Tür.“

Trotzdem, das war Neos Stimme … Cass hasste diese Panikattacken, aber noch mehr hasste sie es, sich anderen in diesem Zustand zu zeigen. Andererseits sagte ihr der Verstand auch, dass sie die Tür öffnen sollte.

Das nächste Klopfen kam leise und sacht, und so war auch Neos Stimme. „Bitte, Kleines, schließ die Tür auf.“

Sie zwang ihre verkrampften Muskeln, ihr zu gehorchen, und rappelte sich auf. „Ich komme“, krächzte sie.

„Danke.“

Sie streckte die Hand aus, drehte den Schlüssel um und zog die Tür auf. Neo stand davor, ohne Jackett und mit grimmiger Miene. Er schien vollkommen außer sich zu sein.

Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Ich … sie … irgendjemand hat den Medien die Dienstagsstunden gesteckt.“

„Ja.“

„Ich dachte, sie würden gewaltsam ins Haus eindringen.“

„Es ist gut, dass sie es nicht getan haben.“

Cass nickte benommen.

„Du siehst aus, als könntest du eine heiße Dusche gebrauchen. Ich mache dir inzwischen einen Tee.“

„Ich … Ja, das ist eine gute Idee.“ Ihr Blick irrlichterte durch den Raum, zu Neo, zu dem Spiegel an der Wand. Abrupt wandte sie sich ab. Sie sah aus wie ein Wrack, ungekämmt, bleich, mit einem gehetzten Ausdruck in den Augen. Schweißflecke prangten auf ihrer Bluse. Sie brauchte mehr als nur eine Dusche, sie brauchte eine komplette Verwandlung. Aber sie würde sich mit heißen Wasserstrahlen und frischem Tee zufriedengeben müssen.

„Kommst du allein zurecht?“, fragte Neo.

„Ja, sicher.“ Sie war entsetzt, dass er sie so gesehen hatte. Sie hätte ihn nie gebeten, bei ihr zu bleiben, und wenn es sie ihren Flügel gekostet hätte.

Erst nach der heißen Dusche wunderte Cass sich darüber, wie Neo ins Haus gekommen war. Sie würde wohl keine Antwort auf ihre Frage bekommen, bis sie nach unten in die Küche gegangen war. Also rubbelte sie sich das Haar so trocken wie möglich, kämmte sich, zog frische Sachen an und ging nach unten.

Neo erwartete sie bereits. Er war allein und deutete auf den dampfenden Becher auf dem Küchentisch. „Trink das.“

Sie setzte sich, nippte und verzog sofort den Mund. „Ist dir die Zuckerdose ausgerutscht?“

„Süßer Tee wirkt gegen Schock.“

„Du sagst das mit solcher Überzeugung.“

„Ich habe meine Assistentin angerufen. Sie hat nachgesehen.“

Cass lachte auf, sie konnte nicht anders. „Ich wette, das hat ihr diebischen Spaß gemacht.“ Neo zuckte nur mit den Schultern. „Wie bist du ins Haus gekommen?“, fragte sie.

„Dein Manager Bob hat mich reingelassen. Er hat wohl einen Schlüssel.“

„Ich weiß noch, dass er gekommen ist.“ Aber sie hatte sich geweigert, ihm die Tür zu öffnen, weil sie dachte, er wollte sie dazu überreden, der Presse ein Interview zu geben.

„Als ich ankam, stand nur noch ein Sendewagen vor der Tür.“

„Wieso bist du hier?“

„Du hast auf meine Voicemail gesprochen.“

„Angeblich warst du doch gar nicht in der Stadt.“

„War ich auch nicht.“

Er war zurückgekommen, um ihr zu helfen? Sie hatte Schwierigkeiten, das zu glauben, aber sie war auf jeden Fall froh, dass er hier war. Ein Blick auf die Digitaluhr der Mikrowelle sagte ihr, dass es bereits später Nachmittag war.

Kein Wunder, dass ihre Muskeln so verkrampft waren. Über acht Stunden hatte sie zusammengekauert hinter der Badewanne gesessen. „Ich komme mir vor wie ein Idiot.“

„Du bist kein Idiot.“

Sie schnaubte und nippte an dem viel zu süßen Tee.

Neo setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Du bekommst lähmende Panikattacken, wenn du vor Publikum auftreten sollst.“

„Heute hat niemand von mir verlangt, dass ich auftrete.“

„Das verlangen die Paparazzi jedes Mal, wenn sie sich in unser Leben drängen. Sie verlangen, dass wir die richtige Inszenierung spielen, damit sie ihre Leserschaft mit dem neuesten Klatsch bedienen können.“

„Glaubst du, Bob hat etwas über deine Klavierstunden an die Presse weitergegeben?“ Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass Klavierunterricht für eine solche Aufregung wie heute Morgen sorgen würde.

Neo griff hinter sich nach einer Zeitung, legte sie aufgeschlagen vor Cass auf den Tisch. Die Seite zeigte ein Foto von Neo, wie er das Haus betrat, aufgenommen offensichtlich mit einem Teleobjektiv. „Sie glauben, hier geht etwas viel Pikanteres vor sich als Klavierstunden. Sie halten dich für meine neueste Gespielin.“

Cass schauderte – nicht vor dem Gedanken, seine Gespielin zu sein, sondern bei der Vorstellung, wegen eines Missverständnisses von der Presse gejagt zu werden.

„Dass ich unsere Treffen geheim gehalten habe, gab Grund für die wildesten Spekulationen. Dafür muss ich mich entschuldigen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe meinen Pressemanager angewiesen, eine Erklärung abzugeben. Dennoch fürchte ich, dass es dauern wird, bis sich alles wieder beruhigt hat.“

„Das ist schon in Ordnung. Ich habe überreagiert.“

„Die meisten Menschen wären wohl fassungslos, wenn plötzlich eine Reportermeute vor ihrem Haus auftaucht.“

„Und auf meinem Balkon. Jemand hat versucht, über den Balkon in mein Schlafzimmer zu kommen.“

Neo verzog wütend die Miene. „Das ist doch das Allerletzte!“

„Stimmt. Ich hatte fürchterliche Angst.“ Dabei wusste sie durch ihre Phobie vor Menschenmengen gar nicht mehr, was normale Angst war.

„Verständlich.“

„Vermutlich hast du keine Lust auf eine Unterrichtsstunde, oder? Ich meine, da du schon hier bist …“

Er lächelte. „Vielleicht. Aber erst nach dem Essen.“

Neo schickte seinen Leibwächter los, um etwas zu essen zu holen, und Cass war überrascht, dass sie tatsächlich Hunger hatte und essen konnte.

„Dein Manager wollte bleiben, um mit dir zu reden“, sagte Neo wie nebenbei, als sie mit dem Essen fertig waren und das Geschirr zusammenräumten. „Ich habe ihn weggeschickt.“

„Danke. Wahrscheinlich wollte er mich überreden, Interviews zu geben.“

„Den Eindruck hatte ich auch.“ Und das hatte Neo ganz und gar nicht gefallen.

„Er meinte, das würde den CD-Absatz ankurbeln.“

„Wann hat er dir das gesagt?“

„Ich habe ihn angerufen, bevor ich in deiner Firma anrief. Ich weiß nicht einmal, warum ich in deinem Büro angerufen habe. Ich habe nicht vernünftig überlegt.“

„Ich bin froh, dass du es getan hast. Schließlich bin ich der Grund für das Problem. Daher sollte ich auch für die Lösung sorgen.“

„Ich glaube, Neo Stamos, du bist ein guter Mensch.“

Er wirkte völlig überrumpelt von ihren Worten, fing sich aber schnell wieder. „Das fasse ich als Kompliment auf.“

„Es war auch so gemeint.“

Neo blieb bis neun Uhr, auch wenn sie keine Unterrichtsstunde mehr abhielten. Als Cass immer öfter gähnte, verabschiedete er sich.

„Du brauchst Ruhe, geh schlafen.“

Cass lachte leise. „Ja, ich bin völlig fertig. Ich gehe gleich zu Bett.“

Als sie ihn an der Tür verabschiedete, hoffte sie für einen Moment, dass er sie küssen würde, doch er drückte nur leicht ihre Schulter. Und während sie die Tür hinter ihm schloss, schüttelte sie über ihre eigene Dummheit den Kopf. Warum sollte ein Mann wie Neo Stamos sie küssen? Sie spielte nicht in seiner Liga. Und dann war da ja auch noch ihr Problem.

Nein, sie versteckte sich nicht in ihrem Haus. Selbst wenn sie die meisten Dinge online bestellte, so ging sie doch auch einkaufen, in dem kleinen Supermarkt um die Ecke und manchmal auch in Kaufhäusern. Sie machte ihre Aufnahmen im Studio, solange die Crew immer dieselbe war – und Bob niemanden mitbrachte, der zusehen wollte. Aber das tat er schon lange nicht mehr, nachdem sie sich schlichtweg geweigert hatte, vor selbst kleinstem Publikum zu spielen, und einfach gegangen war. Ihre Agoraphobie zeigte sich hauptsächlich dann, wenn sie vor Publikum auftreten sollte. Außerdem löste die Vorstellung, dass Fremde in ihr Heim, in ihren Zufluchtsort eindrangen, immer eine lähmende Angst in ihr aus.

Wie lange hätte sie wohl dort im Bad gesessen, wenn Neo nicht gekommen wäre? Sie konnte nicht sagen, warum Neos Anwesenheit sie so beruhigte, aber sie war ihm unermesslich dankbar dafür.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen arbeitete Cass an einem Stück für ihre neue CD, als es an der Haustür klingelte. Sie ignorierte es. Neos Presseerklärung war herausgekommen und müsste eigentlich alle Gerüchte zerschlagen haben. Was nicht hieß, dass nicht doch ein gewiefter Reporter noch einen Kommentar von der „unnahbaren Pianistin“ zu ergattern hoffte. Sicher würden einige nicht locker lassen, schließlich brachte eine geheime Liebschaft zwischen dem Milliardär und der Pianistin höhere Auflagenzahlen als harmlose Klavierstunden.

Es klingelte ein zweites Mal, doch Cass sah nicht ein, warum sie an die Tür gehen sollte. Sie erwartete niemanden, und Freunde oder Geschäftspartner wussten, dass sie vorher anrufen mussten.

Dann schrillte das Telefon. Cass stieß einen frustrierten Seufzer aus. Wenn das so weiterging, würde das Stück nie Form annehmen, bei den ständigen Unterbrechungen.

Sie erhob sich und nahm das Telefon auf. „Hallo?“

„Miss Baker?“

„Ja.“ Wieso rief Neos Assistentin sie an? Ach ja, richtig … „Sie wollen eine Empfehlung für einen Flügel haben.“

„Nein, deshalb rufe ich nicht an.“

„Oh.“ In Cass machte sich Enttäuschung breit. „Muss Mr. Stamos für nächste Woche wieder absagen?“ Vielleicht wollte er ja überhaupt nicht mehr kommen. Nach den Geschehnissen von gestern würde es sie nicht wundern.

„Nein.“

Vielleicht sollte sie endlich mit dem Raten aufhören, wenn sie doch nur falsch lag. Es wurde langweilig, wenn keine Chance bestand, das Rätsel zu lösen. Zudem behagten ihr die Vermutungen nicht, die ihr in den Kopf schossen.

Die Frau am anderen Ende räusperte sich. „Mr. Stamos hat einen Schlosser beauftragt, sich um Ihre Haustür zu kümmern und oben an Ihrer Balkontür ein zusätzliches Schloss anzubringen. Der Schlosser steht vor dem Haus, aber wie es scheint, funktioniert Ihre Klingel nicht.“

„Mit der Klingel ist alles in Ordnung. Ich gehe nur nicht an die Tür, wenn ich niemanden erwarte.“ Mehr sagte Cass nicht. Erklärungen zu ihrer Eigenart, so hatte die Erfahrung sie gelehrt, verkomplizierten die Dinge nur.

Vor allem bei einem so kalten Fisch wie Neos Assistentin.

„Worum genau dreht es sich denn?“ Ihr war nichts an der Tür aufgefallen, aber vielleicht hatte Neo ja etwas bemerkt.

„Mr. Stamos hat angewiesen, dass ein Selbstschließmechanismus angebracht wird.“

„Mr. Stamos hat …“ Sie war zu verdattert, um den Satz zu Ende zu sprechen. „Ohne mich zu informieren?“

Natürlich wusste sie, dass es ihm nicht gefiel, wenn sie die Haustür unverschlossen ließ, keine Woche verging, ohne dass er nicht eine entsprechende Bemerkung fallen ließ. Aber es war ihre Art, sich mental auf Besucher einzustellen. Es mahnte sie, offen für andere zu sein.

Allerdings konnte er doch unmöglich annehmen, dass sie jetzt, da die Paparazzi ihr Haus umschwirrten, ihre Haustür nicht abschloss, oder?

„Ob er Sie informiert hat, weiß ich nicht, ich führe lediglich seine Anweisungen aus.“

„Ich soll einen Fremden in mein Haus lassen, nur weil Ihr Boss es sagt? Ich habe eine solche Nachrüstung weder angefragt noch habe ich ihr zugestimmt.“ Sie hatte geglaubt, Neo würde sie verstehen. Wenigstens ein bisschen. „Nein.“

„Nein? Aber Mr. Stamos …“

„Bitte rufen Sie Ihren Handwerker an und annullieren Sie den Auftrag“, unterbrach Cass die andere.

„Das kann ich nicht. Mr. Stamos …“

„Ist nicht der Eigentümer dieses Hauses. Und ich, als die Eigentümerin“, betonte sie überdeutlich, „habe nicht vor, irgendetwas an meinen bestens funktionierenden Schlössern ändern zu lassen.“

„Mr. Stamos wird nicht sehr glücklich sein, wenn er das hört“, warnte die Assistentin unheilvoll.

„Ich bin sicher, Mr. Stamos beschäftigen wesentlich wichtigere Dinge.“

„Zweifelsohne, doch er hat klare Anweisungen gegeben.“

Eines konnte man wohl über Neo sagen: Ihm wurde absolute Loyalität von seinen Angestellten entgegengebracht. Nun, sie gehörte nicht zu diesem Kreis. „Er hätte das vorher mit mir absprechen sollen.“

„Für gewöhnlich fragt Mr. Stamos nicht nach der Meinung anderer.“

„Wirklich? Das wäre mir nie aufgefallen“, erwiderte Cass mit einem Hauch Sarkasmus. Dann allerdings verzog sie zerknirscht den Mund. Neo wollte ihr nur etwas Gutes tun, auch wenn er dafür den falschen Ansatz gewählt hatte. Denn auch wenn sie es sich noch so sehr wünschte – er verstand sie offenbar nicht. „Pfeifen Sie bitte Ihren Schlosser zurück.“

Ein pikiertes Schnauben drang an Cass’ Ohr. „Ich werde den Schlosser wissen lassen, dass seine Dienste im Moment nicht benötigt werden. Mr Stamos wird informiert werden, dass dies auf Ihren Wunsch hin geschieht.“ Der klirrend kalte Ton der Assistentin hätte eigentlich die Leitungen einfrieren lassen müssen.

„Tun Sie das. Des Weiteren sagen Sie Ihrem Boss auch, dass ich, falls meine Arbeitszeit noch einmal von seinem Schlosser oder irgendeinem anderen seiner Mitarbeiter unterbrochen wird, diese Zeit von seinen Stunden abziehen werde. Er wird seine nächste Klavierstunde dann damit zubringen müssen, sich meine Übungen anzuhören, anstatt selbst zu üben.“

Bei dem Schweigen vom anderen Ende zog ein kleines Lächeln auf Cass’ Gesicht. Es war eine leere Drohung, aber es fühlte sich gut an, es gesagt zu haben. Ob Neo den Humor darin sah? Oder würde er auch das nicht verstehen?

„Ich werde ihm Ihre Nachricht ausrichten.“

„Danke.“

Neo war wütend auf sich. Er hätte Cassandra wegen des Schlossers vorwarnen sollen. Hätte auch ihren aalglatten Manager zu ihrem Haus bestellen sollen, damit der die Arbeiten überwachte. Stattdessen hatte er seine Assistentin beauftragt, sich darum zu kümmern – so wie er es immer tat. Und das war jetzt dabei herausgekommen.

Über Cassandras Drohung musste er allerdings grinsen. Ein Privatkonzert der berühmten Pianistin zu erhalten war wohl kaum eine Strafe. Trotzdem fühlte er sich schuldig – ein ihm völlig unbekanntes Gefühl. Genau wie das Bewusstsein, dass er es verbockt hatte.

Deshalb rief er Cassandra von seinem Privathandy aus an – mitten in einer Konferenzschaltung mit dem Projektteam in Hongkong.

„Hallo?“ Sie antwortete nach dem dritten Klingeln und klang definitiv genervt.

Warum er das dennoch reizend fand, war ihm absolut unklar.

„Du hast meinen Schlosser weggeschickt.“

„Genau genommen hat das deine Assistentin gemacht. Ich bin nicht an die Tür gegangen.“

„Warum nicht?“

„Ich dachte, es wäre ein Reporter.“

Neo unterdrückte das Stöhnen. Wie hatte er so dumm sein können? Das hätte er sich doch denken müssen! „Ich meinte, warum hast du ihn wegschicken lassen?“

„Warum hast du mich nicht vorher gefragt, ob ich meine Schlösser austauschen lassen will?“

„Es ist notwendig. Du vergisst, deine Türen abzuschließen.“

„Ich vergesse es nicht, sondern ich lasse die Tür absichtlich offen, wenn ich jemanden erwarte.“

„Das macht es nicht viel besser.“

„Falls es dich beruhigt … ich gedenke nicht, meine Tür in nächster Zeit unverschlossen zu lassen. Ich habe keine Lust, dass ein Reporter plötzlich ungebeten in meinem Haus steht.“

„Wenn man deine Abneigung gegenüber Fremden bedenkt, gehst du viel zu lax mit deiner Sicherheit um. Der Schlosser war so oder so nur eine provisorische Lösung. Du brauchst das volle Sicherheitsprogramm.“

„Nein.“ Nicht das geringste Wanken lag in ihrer Stimme.

Aber Neo hatte schon mit wesentlich härteren Verhandlungspartnern zu tun gehabt. „Sieh es als Geschenk an, weil du mich in dein Heim eingelassen hast.“

„Heißt das, es geht hier um deine Sicherheit?“

„Würde es dich überzeugen, wenn es so wäre?“

„Für einen ehrlichen Mann verstehst du erschreckend gut zu manipulieren.“

„Danke.“

„Ich lasse keine Fremden in mein Haus.“

„Ich war auch ein Fremder.“ Neo dachte daran, dass Zephyr ihn gewarnt hatte, seine Ungeduld könnte ihm irgendwann zum Problem werden. Es war nicht das erste Mal, dass sein Freund recht behielt.

„Nicht ganz. Erstens: Ich war auf einen neuen Schüler eingestellt. Zweitens: Ich hatte mich über dich informiert. Und drittens … mein Manager hat mit seiner Kündigung gedroht, falls ich mich weigere, die Stunden zu geben.“

„An mich hast du dich doch sehr schnell gewöhnt. Du wirst auch mit dem Sicherheitsberater fertig.“

„Nein.“

„Cassandra, du bist unvernünftig.“

Sie lachte auf, entnervt und amüsiert zugleich. „Ich bin unvernünftig?“

„Das Ganze dauert maximal eine Stunde. Der Mann wird sich nach deinen Terminen richten.“

„Ich will ihn nicht sehen.“ Sie klang sehr entschieden.

„Cassandra, so sei doch vernünftig.“ Ihr Schweigen sagte mehr als jedes Wort, und Neo musste zugeben, dass es an ihm nagte.

„Wenn du so besorgt bist“, kam es schließlich durch die Leitung, „können wir deine Stunden auch im Tonstudio abhalten.“ Cass schwieg wieder, dachte offensichtlich über den eigenen Vorschlag nach. „Ja, das würde gehen.“

„Ich will meine Klavierstunden nicht in deinem Aufnahmestudio nehmen.“

„Und ich will keinen Fremden in meinem Haus haben.“

Die wachsende Erregung, die er in ihrer Stimme hören konnte, beunruhigte ihn. Es war nicht seine Absicht, seine schüchterne Musikliebhaberin aufzuregen. „Wenn ich die Sicherheitsberatung übernehme, würdest du dich dann einverstanden erklären?“, überraschte er sich selbst mit seiner Frage.

Seine Assistentin wohl auch, ihrer verblüfften Miene nach zu urteilen.

Für ihren Manager war Cassandra gestern nicht aus dem Bad gekommen, aber Neo zuliebe schon. Es sollte nichts Besonderes für ihn sein, schließlich war er daran gewöhnt, dass Angestellte und Geschäftspartner ihm trauten. Dennoch würde es ihm etwas bedeuten, wenn Cassandra ihm ihr Vertrauen schenken könnte.

„Du als Sicherheitsberater? Nein. Du bist viel zu beschäftigt.“ Sie holte hörbar Luft. „Hör zu, ich … ich bitte meinen Manager. Er sagt, dass diese Unterrichtsstunden meiner Karriere guttun würden, obwohl ich bis zu dem Fiasko gestern nicht wusste, was er damit meinte. Bob kann das übernehmen.“

Amüsiertheit mischte sich mit einer für Neo ganz und gar untypischen Geduld – er hatte sie also so durcheinandergebracht, dass sie akzeptierte. Er selbst musste allerdings auch ziemlich durcheinander sein, denn er wollte nicht, dass Bob derjenige war, der ihr half. Obwohl er vor gerade einmal fünfzehn Minuten noch selbst an diese Möglichkeit gedacht hatte. „Willst du nicht dabei sein? Schließlich bist du die Eigentümerin, wie du gegenüber meiner Assistentin deutlich gemacht hast.“

„Richtig. Nun … bist du sicher, dass wir uns nicht besser im Studio treffen sollten?“

Er ging nicht darauf ein und bedeutete seiner Assistentin stattdessen, die beiden ersten Termine morgen früh zu verschieben. „Morgen um zehn komme ich mit dem Sicherheitsberater vorbei.“

„Das ist nicht nötig. Ich sagte doch …“

„Wenn dein Manager dich hätte überzeugen können, hätte er es sicherlich schon getan.“

„Bisher hatte ich ja auch keinen Milliardär als Schüler. Du hast vermutlich zu Recht ein hohes Sicherheitsbedürfnis, aber ich bin nur eine mäßig erfolgreiche Musikerin.“

„Du bist eine brillante Pianistin mit einer riesigen Fangemeinde, auch wenn du nicht mehr auftrittst. Du hättest schon vor Langem ein Sicherheitssystem in deinem Haus installieren lassen sollen.“

„Ich akzeptiere deine Argumentation, dennoch ist sie stark durch deine eigenen Erfahrungen gefärbt.“ Sie klang inzwischen leicht gestresst. „Das musst du doch erkennen.“

„Ich halte nichts von unnützen Debatten, das ist reine Zeitverschwendung. Wir sehen uns dann morgen früh.“ Er hörte, wie sie empört nach Luft schnappte, bevor er die Verbindung unterbrach.

Cass starrte auf das Telefon in ihrer Hand, rief die Nummer des letzten Anrufers auf das Display und wählte sie. Neo antwortete nach dem ersten Klingeln.

„Weitere Debatten bringen nichts, außer dass ich wütend werde.“

Jemand musste dem Mann heute Morgen eine Extraportion Arroganz in den Kaffee gegeben haben! „Es ist allgemein üblich, sich mit einem ‚Auf Wiederhören‘ am Telefon zu verabschieden“, merkte Cass spitz an. „Bitte versuche, dich in Zukunft daran zu erinnern.“

„Ich merke es mir. Auf Wiederhören.“

„Auf Wiederhören.“ Sie bekam noch sein leises Lachen mit, bevor er die Verbindung erneut unterbrach.

Sie lächelte ebenfalls vor sich hin, auch wenn sie nicht wusste, warum. Doch als sie an den Flügel zurückkehrte und beim Spielen ständig hellgrüne Augen vor sich sah, ahnte sie, dass sie in Schwierigkeiten steckte.

Pünktlich um zehn Uhr am nächsten Morgen fuhr Neo auf die Auffahrt vor Cass’ Haus. Sie hatte sich ins Musikzimmer gesetzt, um auf ihn zu warten, und hörte das sonore Brummen seines Mercedes.

Sie hatte es nicht geschafft, ihre Nerven mit Klavierspielen zu beruhigen. Schließlich brachte Neo einen Fremden mit. Einen Fremden, der Veränderungen an ihrem Haus vornehmen wollte. Veränderungen, an die sie sich noch immer würde gewöhnen müssen, wenn Neo das Jahr seines Klavierunterrichts längst abgeschlossen hatte.

Er klingelte, drehte aber gleichzeitig den Türknauf, wie Cass vermutet hatte. Dann hörte sie Schritte, und nur Sekunden später betrat Neo zusammen mit einem blonden Mann das Zimmer.

„Cassandra.“ Vorwurfsvoll sah der Milliardär sie an. „Du hast gesagt, du lässt deine Tür nicht mehr unverschlossen.“

„Den Schlüssel habe ich erst vor ein paar Minuten gedreht. Weil ich wusste, dass du pünktlich kommst.“

Mit gerunzelter Stirn schüttelte Neo den Kopf. „Und was, wenn der Verkehr uns aufgehalten hätte?“

„Das würde der Verkehr nicht wagen.“

Er hakte nicht weiter nach, und sie war ihm dankbar dafür. Sie brauchte diese kleine Routine, um ihre Fassung zu bewahren.

Einen Berater im Haus zu haben war eigentlich eine alltägliche Sache, keinen normalen Menschen würde das belasten. Doch Cass war nicht normal. Das hatte sie schon vor langer Zeit begriffen, noch bevor ihr klar geworden war, wie sehr ihre Eigenart sich auf ihr Leben auswirken würde. Sie nahm sich zusammen und verdrängte das diffuse Gefühl von Bedrohung.

„Ich bin Cassandra Baker. Willkommen in meinem Haus.“

Der Sicherheitsberater streckte die Hand aus. „Cole Geary. Es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen. Ich bin ein großer Fan von Ihnen. Ich habe alle Ihre CDs.“

Mit einem höflichen Lächeln schüttelte sie seine Hand. „Mr. Geary, es freut mich immer zu hören, dass meine Musik den Menschen gefällt. Musik ist das Licht meines Lebens.“

„Das hört man auch in Ihrem Spiel.“

Neo räusperte sich, als wollte er sagen: Herrschaften, wir verschwenden unsere Zeit …

Cole wurde sofort nüchtern und sachlich. „Mr. Stamos hat Bedenken hinsichtlich der fehlenden Sicherheitsvorkehrungen in Ihrem Haus geäußert. Wäre es möglich, dass wir uns erst umsehen, bevor ich Vorschläge einbringe?“

Jetzt wäre ein „Natürlich“ angebracht, doch Cass wollte Cole Geary nicht in ihrem Haus haben, ganz egal, wie freundlich er schien und ob er ein Fan von ihr war oder nicht. Anstatt seine Frage zu beantworten, sprudelte sie heraus: „Ich will keine Gitter vor den Fenstern.“ Sie schränkte sich selbst bereits genug ein.

„Wie schon gesagt …“

„Ja, natürlich“, mischte Neo sich ein und legte Cass die Hand auf den Rücken. „Zeigen wir Cole doch den Rest des Hauses.“

Cass sah Neo an, flehte lautlos um Verständnis für die Emotionen, die in ihr tobten. Seit ihrer Kindheit plagten und beschämten sie sie. Der einzige Therapeut, den sie auf Drängen ihres Vaters konsultiert hatte, hatte ihr auch nicht helfen können. Allerdings hatte sie damals Methoden erlernt, um mit der Angst besser umzugehen. Der Mann hatte ihr erklärt, dass das Aufwachsen mit einer schwerkranken Mutter im Haus und der Druck der Konzertauftritte von Kindheit an ihre natürliche Schüchternheit potenziert hatten. Zumindest war das seine Theorie.

Ihr war gesagt worden, dass sie an einer milden Form von Agoraphobie litt, doch wenn sie daran dachte, was es ihr abverlangte, einem Sicherheitsberater ihr Haus zu zeigen, fragte sie sich, wie mild diese Phobie wirklich war. „Bob hätte das übernehmen sollen.“

„Vertrau mir, Cassandra.“ Neo richtete seine Aufmerksamkeit allein auf sie. „Du und ich, wir machen das zusammen.“

„Ich stelle mich dumm an“, murmelte sie. Auch wenn es stimmte … sie machte sich ungern selbst nieder.

Neo schüttelte den Kopf. „Das ist die Welt, in der du lebst. Wenn du mir vertraust, wirst du sehen, dass es nichts gibt, weshalb du dir Sorgen machen musst.“

„Das sagte mein Vater auch immer.“ Bevor er sie gezwungen hatte, auf die Bühne zu gehen – und ihr damit keine andere Wahl gelassen hatte, als sich in ihrer Musik zu verlieren oder verrückt vor Angst zu werden. Noch heute brach Cass der kalte Schweiß aus, wenn sie an die gesichtslosen Massen in den ausverkauften Konzertsälen dachte. Die vielen Menschen, die gekommen waren, um das Wunderkind spielen zu hören. Musik war immer eine sehr persönliche Sache für sie gewesen, die Musik hatte ihr geholfen, der Realität mit einer kranken Mutter und einem Vater, den das Gefühl der Hilflosigkeit mürrisch machte, zu entfliehen.

„Davon kannst du mir später erzählen.“ Ernste grüne Augen musterten sie. „Dir sollte klar sein, dass ich nicht dein Vater bin.“

„Ja, ich weiß.“ Die Gefühle, die sie in Neos Nähe empfand, waren völlig anderer Natur. Und er spornte sie auch nicht an, vor einem riesigen Publikum aufzutreten. Cass atmete tief durch. „Na schön, zeigen wir ihm das Haus.“

Neo sah zu Cole. „Gehen wir.“

Der Sicherheitsberater nickte nur, ohne Cass einen von diesen argwöhnischen Blicken zu schicken, die sie normalerweise erhielt, wenn ihre Einschränkungen anderen deutlich wurden. Cass war so erleichtert, dass sie ihn schüchtern anlächelte.

Es war Neo, der die Hausbesichtigung leitete, obwohl er eigentlich nur ihre Eingangsdiele und das Musikzimmer kannte. Und er machte es perfekt.

Beim ersten Blick auf die alten Doppeltüren im Ess- und im Schlafzimmer, die vom Garten aus zu erreichen waren, verzog Cole das Gesicht. „Die sollten auf jeden Fall gegen metallverstärkte Türen mit Sicherheitsglas ausgetauscht werden.“

Ohne dass es ihr bewusst wurde, griff Cass nach Neos Arm. „Ist das wirklich nötig?“

„Du wirst den Tag mit mir verbringen, wenn sie die neuen Türen einbauen.“

Das war nicht ihre Frage gewesen, aber das Angebot hätte sie auch nicht so erleichtern dürfen. Neo war ihr Schüler, kein Freund oder Beschützer, und doch fühlte sie sich in seiner Gegenwart so sicher wie seit Jahren nicht mehr. Vielleicht sicherer, als sie sich je gefühlt hatte. Ein schwer verdaulicher Gedanke. In knapp einem Jahr, wenn sein Unterricht beendet war, würde Neo ohne einen Blick zurück aus ihrem Leben verschwinden. Sie allerdings bezweifelte, dass die Bekanntschaft mit ihm spurlos an ihr vorübergehen würde.

„Da wird sich deine Assistentin bestimmt freuen. Sie mag mich nämlich nicht“, sagte sie spitz, um ihre Erleichterung zu überspielen. Sie konnte sich eigentlich nicht vorstellen, einen ganzen Tag einem energiegeladenen Milliardär hinterherzulaufen. Doch zum ersten Mal dachte sie, dass das nicht hieß, dass sie es nicht zumindest ausprobieren könnte.

„Miss Parks? Sie ist eine sehr fähige Assistentin. Ich bezahle sie nicht dafür, dass sie Leute mag oder nicht.“

„Das bekommst du umsonst.“

„Was dich anbelangt, so verhalte ich mich eher untypisch. Sie war wohl überrascht.“

„Wieso?“ Endlich ließ sie seinen Arm los und strich den teuren Stoff glatt. „Selbst mir ist klar, dass dein heutiges Erscheinen nicht der Normalfall für dich ist.“

„Und dennoch bin ich hier.“

War es denn möglich, dass er die gleiche nahezu ursprüngliche Verbundenheit zu ihr fühlte wie sie zu ihm? Falls ja … wüsste sie damit umzugehen? Ein dynamischer Mann wie Neo Stamos würde sein Tempo nur wegen ihrer Eigenarten sicherlich nicht drosseln.

„Ich glaube, zum ersten Mal seit Jahren fühle ich eine neue Freundschaft wachsen.“

„Oh.“ Natürlich spürte er nicht dieselbe erstaunliche Anziehungskraft. Die schönsten und vor allem gesellschaftlich geschliffensten Frauen scharten sich um Neo, da würde Cass auf seinem Radar als Begleiterin nie auftauchen. Aber Freundschaft war nichts, das man leicht abtat. Sie zumindest nicht. So viele Freunde hatte sie nämlich nicht. „Ich fühle mich geehrt.“

„Ich mich auch – durch dein Vertrauen.“

Cole räusperte sich. „Ich habe jetzt genug gesehen, um meine Kalkulation vorzulegen.“

Neo zuckte zusammen, leicht nur, aber es sagte Cass, dass er, genau wie sie, den anderen Mann vergessen hatte. „Gut. Dann gehe ich davon aus, dass der Bericht heute Nachmittag auf meinem Schreibtisch liegt.“

„Ich würde auch gern eine Kopie erhalten“, meldete sich Cass zu Wort.

Coles Lächeln wurde viel herzlicher, als er sich ihr zuwandte. „Kein Problem.“

„Natürlich“, sagte auch Neo im gleichen Moment, und dann war er zusammen mit seinem Sicherheitsberater auch schon zur Tür hinaus.

4. KAPITEL

Mit jeder Empfehlung, die Cass in dem Bericht las, sank ihr Mut. Das alles würde niemals in einem Tag zu bewältigen sein. Auch wenn die Änderungen so diskret wie möglich gestaltet und ihrem bisherigen Lebensstil angepasst werden sollten, würden unzählige Handwerker mindestens eine ganze Woche dafür brauchen.

Cass war Cole dankbar für die Mühe, ihren Zufluchtsort in seiner Planung so wenig wie nur möglich zu verändern. Auch war es sehr nett von ihm gewesen, die Kalkulation persönlich vorbeizubringen und nicht per Kurier zu schicken. Dennoch änderte das nichts daran, dass er mehrere Nachrüstungen für ihr Haus vorgeschlagen hatte, bei denen Cass die Angstattacken vorprogrammiert sah. So zum Beispiel bei dem Alarmsystem, das er für jedes Fenster und jede Außentür vorgesehen hatte. Sollte sie aus Versehen den Alarm auslösen, würde nicht nur ein ohrenbetäubender Lärm losbrechen, sondern sich auch sofort eine Truppe von Sicherheitsleuten in Bewegung setzen, da der Alarm zum Sicherheitsdienst von Neos Firma weitergeleitet wurde.

Es gab noch viele andere Vorschläge, die anmuteten wie aus einem Science-Fiction-Film, doch absolut inakzeptabel war die Empfehlung, die alten Fliederbüsche abzuholzen. Ihre Mutter hatte sie vor all den Jahren gepflanzt, als die Familie hier eingezogen war.

Nun, wenn es um Neos Sicherheit ging, dann würde nichts anderes übrig bleiben, als die Übungsstunden ins Tonstudio zu verlegen. Was Cass ihm auch sofort sagte, als er kurz darauf anrief.

„Darüber hatten wir doch bereits gesprochen. Das ist keine praktikable Lösung.“

Autor

Lucy Monroe
<p>Die preisgekrönte Bestsellerautorin Lucy Monroe lebt mit unzähligen Haustieren und Kindern (ihren eigenen, denen der Nachbarn und denen ihrer Schwester) an der wundervollen Pazifikküste Nordamerikas. Inspiration für ihre Geschichten bekommt sie von überall, da sie gerne Menschen beobachtet. Das führte sogar so weit, dass sie ihren späteren Ehemann bei ihrem...
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Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills &amp; Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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<p>Seit Jo Leigh 1975 bei der großen Filmgesellschaft 20-Century-Fox als Lektorin in der Abteilung für Comedys einstieg, ist sie im Filmgeschäft zu Hause. Sie war für die Mediengesellschaften CBS, NBC und verschiedene andere große Produktionsfirmen tätig, wobei sie zunehmend Drehbücher konzeptionierte und bearbeitete. Kein Wunder, dass bei so viel Sachkenntnis...
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