Dich zu spüren

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Eleanor Thorpe ist am Tiefpunkt angekommen: Sie wurde schon wieder verlassen, findet keinen Job und als wäre das nicht genug, möchte irgendjemand sie auch noch umbringen. Ein wenig Hoffnung schöpft sie, als ein gut aussehender Fremder ihr das Leben rettet! In den starken Armen Liam Quinns fühlt sie sich endlich sicher, beschützt - und begehrt. Wenn sie bloß nicht dauernd dieses Gefühl hätte, unter Beobachtung zu stehen …


  • Erscheinungstag 23.07.2018
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757991
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Liam Quinns Nase juckte, als er den moderigen Dachboden betrat. Bei jedem Schritt wirbelte Staub auf. Es roch nach altem Holz, und die Dielenbretter knarrten unter seinen Füßen. In der Ecke stand ein klappriges Sofa aus Rosshaar, und an der gegenüberliegenden Wand entdeckte er einen winzigen Kamin, der nicht mehr in Gebrauch war. Die ersten drei Stockwerke des Hauses in Charlestown wurden gerade renoviert und in Eigentumswohnungen umgewandelt, wie es mit so vielen Häusern in dieser alten Gegend Bostons passierte.

Liam spähte in die Dunkelheit hinter kunstvollen Spinnweben. Irgendwo in den Ecken lauerten bestimmt Fledermäuse, die nur darauf warteten, sich auf ihn zu stürzen. Er hasste Fledermäuse. „Es ist saukalt hier.“

„Die Präsidenten-Suite im ‚Four Seasons‘ hat leider keine Fenster zur richtigen Straßenseite“, entgegnete Sean trocken.

„Ich hatte ein Date heute Abend. Cindy Wacheski wollte sich mit mir um zehn im Pub treffen.“

„Dir werden noch die Frauen in Boston ausgehen, die du mit deinem Charme verzaubern kannst“, meinte Sean.

„Zum Glück kommen jeden Tag neue Frauen in die Stadt“, scherzte Liam. „Ich könnte dich mit einigen bekannt machen.“ Er hob seine Kamera, die um seinen Hals hing, betrachtete seinen Bruder durch die Linse und drückte den Auslöser. „Du siehst aus wie ein Mann, der dringend Sex braucht.“

Das Blitzlicht erhellte den dunklen Dachboden. Fluchend hielt Sean sich die Hand vor die Augen. „Das hier ist eine Überwachung. Jeder unten auf der Straße kann den Blitz sehen.“

„Klar, bestimmt sind Horden von Touristen auf der Straße, die ausgerechnet zu diesem Haus hochschauen.“ Liam schüttelte spöttisch den Kopf. „Hättest du dir nicht irgendein Haus mit Heizung aussuchen können? Was könnte sich denn lohnen, auf diesem Dachboden zu fotografieren?“

„Nicht hier, sondern auf der anderen Straßenseite. Wirf mal einen Blick dorthin.“

Liam nahm sein Teleobjektiv aus der Kameratasche und schraubte es auf die Kamera. Dann ging er zu dem schmutzigen Dachbodenfenster und sah hinaus auf die Straße. Er konnte draußen nichts Besonderes erkennen. Der Gehsteig unten war leer, in der schmalen Straße parkten links und rechts Autos.

„Das ist ein wichtiger Fall“, erklärte Sean. „Wenn du mitmachst, kannst du nicht wieder aussteigen. Du musst dich entscheiden.“

„Du könntest wenigstens so tun, als wärst du dankbar“, entgegnete Liam. „Ich bin dein Bruder und Mitbewohner. Ich bezahle die Hälfte der Miete, räume hinter dir auf und nehme Nachrichten für dich entgegen, wenn du nicht in der Stadt bist. Ich muss dir bei diesem Fall nicht helfen. Ich habe selber wichtige Arbeit zu erledigen. Was, wenn ich einen Auftrag vom ‚Globe‘ bekomme? Als Freiberufler muss man immer verfügbar sein. Letzte Woche hatte ich ein gutes Foto auf Seite drei des Sportteils. Hast du es gesehen?“

„Die bezahlen dir Pfennigbeträge. Und die Miete habe ich schon seit drei Monaten nicht mehr von dir gesehen.“

„Na ja, im Augenblick bin ich etwas knapp bei Kasse.“

„Wenn du diesen Job für mich machst, teile ich mein Honorar mit dir.“

Seit er vor vier Jahren wegen chronischer Gehorsamsverweigerung von der Polizeiakademie geflogen war, arbeitete Sean als Privatdetektiv. Von den sechs Brüdern war Sean der am wenigsten zugängliche. Er war schweigsam und verschlossen, ein absoluter Einzelgänger. Die einzigen Menschen, in deren Gesellschaft er sich wohl fühlte, waren seine Brüder, und selbst die wussten meistens nicht, was in seinem Kopf vorging. Seit etwa einem Jahr hatte er sich noch mehr abgekapselt.

Sean hatte sich auf die Beschattung von fremdgehenden Eheleuten und säumigen Schuldnern spezialisiert. Er besserte sein Einkommen auf, indem er im Pub seines Vaters in South Boston bediente. Und wenn er Hilfe brauchte, wandte er sich gewöhnlich an seinen kleinen Bruder. Liam konnte immer ein bisschen zusätzliches Geld gebrauchen.

Sean war der perfekte Privatdetektiv. Ständig beobachtete er die Menschen in seiner Umgebung. Ihr ältester Bruder, Conor, war als der Zuverlässige bekannt und Dylan als der Starke. Brendan war immer schon der Träumer und Abenteurer gewesen. Seans Zwillingsbruder, Brian, liebte das Rampenlicht und war selbstbewusst und gesellig.

Und dann war da noch Liam. Sein Platz in der Familie hatte sich früh herausgebildet, denn er war als Charmeur bekannt. Er war der hübsche Junge, der das Leben spielend meisterte und mehr Freunde und Bewunderer besaß, als er zählen konnte. Schon von klein auf hatte er gelernt, Menschen einzuschätzen und zu durchschauen. Wenn er etwas von ihnen wollte, bekam er es, und meistens war dazu nicht mehr als ein Lächeln oder ein Kompliment nötig.

Vielleicht war es das, was ihn zu einem guten Fotografen machte. Er konnte durch ein Objektiv sehen und eine Geschichte in den Menschen erkennen, die er fotografierte. Leider hielten die Fotoredakteure beim „Boston Globe“ seine Arbeit für zu „künstlerisch“ für eine Tageszeitung.

„Wie viel werde ich denn bei diesem Auftrag verdienen?“ wollte Liam wissen.

„Wir arbeiten für eine Bank“, erklärte Sean. „Das Management hat herausgefunden, dass eine Viertelmillion fehlt. Sie glauben, dass ein Angestelltenpärchen das Geld unterschlagen hat. Nachdem sie einen der beiden in Boston aufgespürt hatten, wandten sie sich an mich. Wenn wir das Geld finden, bekommen wir zehn Prozent.“

Liam stutzte verblüfft. Geteilt durch zwei waren das über zwölftausend Dollar! So viel verdiente er mit seinen Fotos im ganzen Jahr nicht. Mit zwölftausend Dollar konnte man sich eine Menge Filme und Laborzeit kaufen. „Wieso schalten sie nicht einfach die Polizei ein?“

„Weil es schlechte Publicity für die Bank wäre. In sämtlichen ihrer TV-Spots prahlen sie mit ihrer Sicherheit. Es würde schlecht aussehen, wenn sie zugeben, dass das Geld verschwunden ist.“

„Na schön, ich bin dabei. Wonach soll ich Ausschau halten?“

Sean trat zu ihm ans Fenster und zog den mottenzerfressenen Vorhang zur Seite. „Sie wohnt dort drüben“, sagte er und zeigte auf ein Fenster auf der anderen Straßenseite. Sean reichte Liam ein Foto, das eine durchschnittlich aussehende Frau mit Brille zeigte. Sie hatte die Haare zurückgebunden und trug eine gestärkte Bluse mit einem kunstvoll um den Hals geknoteten Tuch.

„Sie sieht aus wie meine Lehrerin aus der dritten Klasse, Miss Pruitt. Wir nannten sie Miss Prunes, weil sie uns an Dörrpflaumen erinnerte“, bemerkte Liam.

„Eleanor Thorpe, Alter sechsundzwanzig, Abschluss mit Auszeichnung an der Harvard Business School. Nahm gleich nach dem Studium einen Job als Bilanzbuchhalterin bei der Intertel Bank in Manhattan an. Sie galt als hervorragende Mitarbeiterin. Vor sechs Wochen kündigte sie ohne erkennbaren Grund und tauchte hier in Boston auf. Sie bewarb sich für einen Job bei einer Bank und wandte sich wegen einer Empfehlung an Intertel.“

„Ist das nicht ein wenig merkwürdig für eine Betrügerin, um eine Empfehlung zu bitten?“ gab Liam zu bedenken.

„Es lenkt von dem Verdacht ab. Sie wohnt dort drüben im dritten Stock. Alle Fenster gehören zu ihrer Wohnung. Rechts liegt das Schlafzimmer, das Wohnzimmer liegt links. Beobachte, wer sie besucht, was sie macht. Halte jede ihrer Bewegungen fest.“ Sean gab Liam ein weiteres Foto, diesmal das eines konservativ aussehenden Mannes. „Das ist ihr Partner, Ronald Pettibone, einunddreißig, ihr Kollege bei der Bank. Ich will wissen, ob er auftaucht. Ich brauche Fotos, die die beiden zusammen zeigen.“

„Das ist alles? Ich warte bloß auf ihn?“

„Genau. Wenn sie in die Sache verwickelt sind, müssen sie Kontakt zueinander aufnehmen, um die Beute zu teilen. Wenn ich aus Atlantic City zurück bin …“

„Was zieht dich nach Atlantic City?“

„Ein ehebrecherischer Gatte“, sagte Sean. „Es geht um viel Geld und eine Klausel über Ehebruch. Die Frau braucht Beweise.“

„Wieso lässt du mich nicht den Job erledigen und bleibst stattdessen auf diesem kalten Dachboden, um die Erbsenzähler zu beobachten?“

„Ich will wissen, mit wem sie sich trifft, wohin sie geht“, fuhr Sean fort.

„Wieso hörst du nicht einfach ihre Wohnung ab?“

„Dafür kann man ins Gefängnis kommen.“

„Für Überwachung nicht?“

„Nein.“

„Wie lange wirst du weg sein? Wenn ich nach Atlantic City fliegen würde, würde ich mich mit hübschen Mädchen und beim Spiel amüsieren. Ich kenne diese Lady da unten, die …“

„Es ist rein geschäftlich“, unterbrach Sean ihn.

Liam lachte. „Es fällt mir schwer, zu glauben, dass du ein echter Quinn bist. Dazu bist du viel zu brav.“

„Ich verbringe nur nicht jeden freien Moment mit der Jagd nach Frauen“, konterte Sean. „Ich kann mit meiner Zeit etwas Besseres anfangen.“

„He, ich mache keine Jagd nach Frauen. Sie laufen mir nur zufällig hinterher. Und was sie von dir wollen, werde ich sowieso nie verstehen. Vielleicht mögen sie deine distanzierte Art. Oder ihnen gefällt die Herausforderung. Ich kann es kaum erwarten, bis der Fluch der Quinns dich ereilt.“

„Wenn ich mich von den Frauen fern halte, wird das nicht passieren“, entgegnete Sean. „Du bist derjenige, der sich Sorgen machen sollte.“

Liam runzelte die Stirn. „Ich liebe nun mal Frauen. Und wenn ich einfach immer von der einen zur nächsten weiterziehe, kann mich auch keine festhalten.“

Trotzdem war Liams Bemerkung über den Fluch der Quinns nur bis zu einem gewissen Grad ein Scherz. In ihrer Kindheit hatte ihr Vater sie vor den Gefahren der Liebe gewarnt und sein eigenes Misstrauen gegenüber Frauen hinter Märchen über die Quinns verborgen. Doch jetzt, nachdem drei von Seamus‘ Söhnen in festen Händen, hatte Seamus verkündet, die drei seien Opfer eines lange zurückliegenden Fluches.

Er hatte dieses neue Märchen eines Abends erzählt, als seine Söhne alle um den Tresen im Pub versammelt waren. Während die drei älteren Söhne gespottet hatten, waren die drei jüngeren nicht so skeptisch gewesen. Liam hatte nicht vor, in die gleiche Falle zu tappen wie Conor, Dylan und Brendan. Er kannte nämlich den Grund, weshalb es Olivia, Meggie und Amy gelungen war, sich einen Quinn zu angeln.

„Rette niemals eine Frau, die in Not ist“, murmelte Liam. Aus irgendeinem Grund schien ein Quinn zur Ehe verdammt zu sein, sobald er eine Frau rettete.

„Ich habe dir Bier und Sandwiches mitgebracht“, sagte Sean. „Du findest alles in der Kühltasche. Gleich um die Ecke gibt es ein Chinarestaurant mit Essen zum Mitnehmen. Falls du mal weg musst, schalte die Videokamera ein. Ich bin Sonntagabend wieder da, spätestens Montagabend.“

„Was soll ich machen, wenn dieser Kerl auftaucht? Soll ich ihn oder sie verfolgen?“

„Ruf mich an. Versuch so viel wie möglich über ihn in Erfahrung zu bringen, welchen Wagen er fährt, welches Kennzeichen er hat, alles, womit wir ihn aufspüren können. Wenn es sein muss, brich in seinen Wagen ein.“

„Kann ich dafür nicht ins Gefängnis kommen?“ fragte Liam grinsend.

„Nur wenn du dich erwischen lässt“, sagt Sean auf dem Weg zur Tür.

Nachdem sein Bruder die Tür des Dachbodens hinter sich zugemacht hatte, wandte Liam sich wieder seinem Job zu und richtete das Teleobjektiv auf die Wohnung im dritten Stock. In allen Zimmern brannte Licht, und seine Zielperson saß im Wohnzimmer. Sie hatte ihm zwar den Rücken zugedreht, doch konnte er erkennen, dass sie ein Buch las.

Plötzlich stand sie auf, in der einen Hand das Buch, während sie mit der anderen wild gestikulierte. Liam fragte sich, mit wem sie da redete, bis er merkte, dass sie Selbstgespräche führte. „Bodenkontrolle, wir haben hier eine Verrückte“, sagte er leise.

Er betrachtete ihren Körper durch das Teleobjektiv von oben bis unten. Sie war groß und schlank, ihr dunkles Haar reichte ihr bis auf den Rücken. Sie trug enge verwaschene Jeans, und ihr figurbetontes T-Shirt hob ihre zierlichen Schultern und ihre schmale Taille hervor.

„Komm schon, Eleanor“, flüsterte er. „Dreh dich um, und lass dich ansehen. Ich bin es nicht gewohnt, einen Freitagabend ohne weibliche Gesellschaft zu verbringen.“

Doch sie drehte sich nicht um. Stattdessen legte sie ihr Buch hin und ging so schnell ins Schlafzimmer, dass Liam es nicht mehr schaffte, das Objektiv auf ihr Gesicht zu richten. Als er sie wieder fand, stand sie vor einem Kleiderschrank. Und dann, mit einer langsamen, geschmeidigen Bewegung, zog sie sich das T-Shirt über den Kopf.

Liam hielt den Atem an. „Wow!“

Obwohl er sich ein wenig wie ein Spanner vorkam, konnte er sich nicht von seinem Teleobjektiv losreißen. Er schoss ein Foto und wünschte, sie würde sich endlich umdrehen.

Doch sie tat es nicht, als wollte sie ihn ärgern. Ihre Jeans kam als Nächstes dran. Sie streifte sie sich ab und kickte sie fort. Nur noch mit BH und Slip bekleidet, bückte sie sich, um die Jeans vom Fußboden aufzuheben, so dass Liam einen verlockenden Blick auf ihren Po bekam. „Hm, schwarze Unterwäsche. Erstaunlich sexy für eine biedere Buchhalterin.“ Er schoss ein weiteres Foto.

Die feuchte Kälte auf dem Dachboden machte ihm auf einmal nichts mehr aus. Sein Puls beschleunigte sich. Er beugte sich vor und hielt die Kamera noch dichter vor das dreckige Fenster. „Und jetzt den BH“, sagte er leise. „Oder den Slip. Das ist mir egal. Du entscheidest.“ Und dann drehte sie sich um und schien ihn direkt anzusehen. Ihre dunklen Haare fielen ihr dabei ins Gesicht.

Erschrocken sprang Liam vom Fenster zurück. Sie war schön und sah überhaupt nicht aus wie auf dem Foto, das er bekommen hatte. „Verdammt!“ Er fuhr sich durch die Haare. Wahrscheinlich hatte er das falsche Fenster beobachtet. Er hob die Kamera von neuem, richtete sie auf das gegenüberliegende Gebäude und zählte die Stockwerke durch.

Nein, er hatte die richtige Wohnung beobachtet, und als er die Frau wieder fand, hatte sie sich erneut umgedreht und griff gerade nach ihrem BH-Verschluss. Liam schluckte. Er war in Nachtclubs gewesen und hatte gesehen, wie Frauen sich gekonnt auszogen. Aber dies hier war nicht nur ein sexy Körper, es war beinah … intim. Als sie in einen Bademantel schlüpfte, atmete er erleichtert auf.

Wer war diese Frau? Ganz sicher war sie nicht die Frau auf dem Foto, die so konservativ und tüchtig ausgesehen hatte. Aber möglicherweise gehörte das zum Plan. Sean hatte gesagt, Eleanor Thorpe werde verdächtigt, eine Viertelmillion Dollar unterschlagen zu haben. Wie ließ sich ein solches Verbrechen besser durchführen als in der Rolle der zuverlässigen, unscheinbaren Angestellten?

Sie ging zum Fenster. „Nein“, sagte er. „Nicht die Vorhänge. Lass sie offen.“ Doch sein Flehen blieb ungehört.

Er zog einen alten Sessel ans Fenster und legte die Füße auf die Fensterbank. Liam beobachtete das Apartment weiter, während sich seine Gedanken um die Frau darin drehten. Als einige Stunden später die Lichter in der Wohnung ausgingen, trank er einen großen Schluck von seinem Bier.

Er legte den Kopf zurück, schloss die Augen und stellte sich auf eine lange Nacht ein. In seiner Fantasie sah er die dunkelhaarige Frau vor sich, wie sie sich umdrehte und den Bademantel zu Boden gleiten ließ. Er stellte sich ihren Körper vor: feste volle Brüste, eine schmale Taille, lange, geschmeidige Beine. Und dann würde sie einen provozierenden Tanz aufführen, den seine Kamera einfing …

Liam war nicht sicher, wie lange er geschlafen oder was ihn aufgeweckt hatte – ein Geräusch von der Straße oder das Gefühl, dass etwas passierte. Er rieb sich die Augen und schaute auf seine Uhr. Es war fast Mitternacht, und auf dem Dachboden war es durch den feuchten Frühlingswind eisig.

Er setzte sich auf, rieb sich die Arme und fuhr sich durch die Haare. Die Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite war nach wie vor dunkel. Trotzdem nahm er seine Kamera und spähte durch das Teleobjektiv. Irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene, und in der Nähe bellte ein Hund. Plötzlich erschien ein seltsames Licht hinter einem der Fenster von Eleanor Thorpes Apartment.

Langsam stand Liam auf und stellte das Teleobjektiv scharf. Das Licht bewegte sich und verursachte eigenartige Schatten hinter den Wohnzimmerfenstern. „Was zur Hölle …“ Er versuchte etwas in dem dunklen Raum zu erkennen. Das Licht bewegte sich näher zum Fenster, und Liam begriff, dass sich jemand in der Wohnung aufhielt – jemand, der eine Taschenlampe dabeihatte und ganz in Schwarz gekleidet war.

„Was zum Teufel ist da los?“

War das der Mann, auf den er wartete – Eleanor Thorpes Komplize? Oder wurde Eleanor Thorpe gerade das Opfer eines Einbruchs? Liam würde nicht untätig abwarten, bis er es herausgefunden hatte. Während er die Treppen hinunterrannte, wählte er mit seinem Handy den Notruf. „Ich will einen Einbruch melden“, erklärte er und lief auf die Straße. „Summer Street 617. Schicken Sie sofort einen Streifenwagen.“

Liam fand die Haustür des dreistöckigen Gebäudes auf der anderen Seite angelehnt. Zwei Stufen auf einmal nehmend und so leise wie möglich lief er nach oben. Die Polizei würde erst in einigen Minuten da sein, deshalb hoffte er, keinem Verrückten mit einer Waffe zu begegnen.

Als er den dritten Stock erreichte, schob er vorsichtig die Wohnungstür auf und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah er eine Gestalt von durchschnittlicher Größe und Gewicht, die sich im Wohnzimmer bewegte, und deren Gesicht hinter einer Skimaske verborgen war. Liam holte tief Luft. Er würde das Überraschungsmoment brauchen, um den Kerl zu überwältigen. Wenn es ihm gelang, ihn zu Boden zu werfen, würde er schon durch sein Gewicht und seine Größe überlegen sein.

Er nahm all seinen Mut zusammen und hoffte, dass der Kerl keine Waffe hatte. Dann stürzte er sich im Hechtsprung auf den Einbrecher, der prompt zu Boden ging.

Eleanor schlug die Augen auf und wusste einen Moment lang nicht, wo sie sich befand oder was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Aber dann hörte sie einen dumpfen Aufprall aus dem Wohnzimmer. Abrupt setzte sie sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

Sie hielt den Atem an, wartete und fragte sich, ob das Geräusch nicht doch von der Straße gekommen war. Sie hatte die Wohnungstür abgeschlossen, bevor sie zu Bett gegangen war. Außerdem wohnte sie im dritten Stock, zu hoch also für jemanden, der durch ein Fenster einsteigen wollte. Über den Balkon auf der Rückseite gelangte man allerdings leicht in die Wohnung. Da sie vorher in Manhattan gewohnt hatte, waren ihr die Gefahren des Lebens in der Stadt durchaus bewusst. Und jetzt bestand kein Zweifel mehr, dass sich jemand in ihrer Wohnung aufhielt!

Ihre Gedanken rasten, während sie ihre Möglichkeiten durchging. Sollte sie zuerst die Polizei anrufen und dann versuchen, ihre Schlafzimmertür abschließen? Oder sollte sie sich zuerst um ihre Sicherheit kümmern? Sie streckte die Hand zu ihrem Nachtschrank aus, bis ihr einfiel, dass sie hier, im Gegensatz zu ihrem Apartment in New York, gar kein Telefon im Schlafzimmer hatte.

Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür – die zu ihrem Entsetzen kein Schloss besaß! Was jetzt? Ellie atmete tief durch. Sie hatte zwei Möglichkeiten – sie musste entweder an ein Telefon gelangen oder sich mit demjenigen auseinander setzen, der in ihrem Wohnzimmer herumpolterte. Eigentlich hatte sie sogar drei Möglichkeiten – sie könnte sich unter dem Bett verstecken. Oder schreien, bis ihr jemand zu Hilfe kam. Das waren schon vier Optionen.

Sie riss sich zusammen und ging den Flur hinunter. Als sie das Wohnzimmer betrat, nahm sie eine Lampe. Plötzlich tauchte eine Gestalt aus der Dunkelheit auf. Ellie kreischte, so laut sie konnte, und schlug mit der Lampe zu. Der Keramiksockel zerbarst, und der Mann sank fluchend auf die Knie.

„Gütiger Himmel, was tun Sie da?“ Er rieb sich den Kopf. „Das tut weh!“

Ellie umklammerte die Lampe fester, entschlossen, den Kerl völlig außer Gefecht zu setzen. Sie holte aus. „Legen Sie sich auf den Fußboden und nehmen Sie die Hände hinter den Kopf.“

„Was?“ Er fluchte erneut. „Ich kam her, um …“

„Tun Sie, was ich sage“, warnte sie ihn. „Oder ich schlage Sie k. o.“

„Ich bin der Falsche“, erklärte er und zeigte benommen zur anderen Seite des Wohnzimmers. „Der war es.“

Ellie sah in die Richtung, in die er zeigte, und bemerkte eine dunkle Gestalt, die über den Fußboden zur Wohnungstür kroch. Ihr erster Impuls war, eine zweite Lampe zu finden und dem Kerl damit eins über den Schädel zu geben. Aber einen der Einbrecher hatte sie schon außer Gefecht gesetzt. Durch ihn würde die Polizei auch den anderen fassen können.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr, gerade noch rechtzeitig, denn der Mann zu ihren Füßen war dabei, sich auf sie zu stürzen. Mit einem erschrockenen Aufschrei knallte sie ihm das, was von der Lampe übrig geblieben war, auf den Kopf. Es gab einen dumpfen Aufprall, als er auf dem Boden aufschlug, während der zweite Einbrecher die Treppe hinunterstolperte.

Ellie rannte zum Lichtschalter und knipste das Licht an.

Der Mann, der auf ihrem Orientteppich lag, sah nicht annähernd so Furcht einflößend aus wie im Dunkeln. Sie stieß ihn mit dem Zeh an, um sicherzugehen, dass er wirklich bewusstlos war. Dann rannte sie durch ihr Apartment, um etwas zu finden, womit sie seine Hände und Füße fesseln konnte. Plastikfolie und eine Strumpfhose mussten genügen.

Rasch schnürte sie ihn zusammen wie einen Thanksgiving-Truthahn und setzte sich auf seinen Rücken, während sie seine Füße mit seinen Händen zusammenband. Anschließend durchsuchte sie seine Taschen nach irgendeiner Art Ausweis. Wenn es ihm gelang zu entkommen, hätte sie wenigstens seinen Namen.

Er stöhnte leise, und Ellie sprang auf und wich zurück. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte den Notruf. „Ich rufe die Polizei!“ schrie sie. „Versuchen Sie nicht zu fliehen!“

„Keine Sorge“, entgegnete er. „Ich habe die Polizei bereits auf meinen Weg hierher verständigt.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich war hier, um zu helfen. Ich sah, wie dieser Kerl in Ihre Wohnung einbrach, also folgte ich ihm.“

Ellie runzelte die Stirn. „Ich glaube Ihnen nicht.“

„Wie Sie wollen. Dann sollen die Cops das klären.“

Die Notrufzentrale meldete sich, und Ellie nannte schnell ihre Adresse, nur um zu erfahren, dass die Polizei unterwegs war. Ellie informierte sie, dass sie den Einbrecher gefesselt hatte und er auf die Ankunft der Polizei warten würde. Dann legte sie auf und beobachtete ihren Gefangenen. Da sie der Ansicht war, eine weitere Waffe zu brauchen, lief sie in die Küche und holte das größte Messer, das sie finden konnte. Sie setzte sich auf die Sofalehne und behielt den Unbekannten im Auge.

Er zuckte zusammen, als er sich bewegte, um eine bequemere Position zu finden. „Diese Knoten sind ein bisschen fest.“

„Halten Sie den Mund“, befahl sie.

Ein langes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Ellie versuchte sich zu beruhigen.

„Was glauben Sie, auf was er es abgesehen hatte?“ fragte ihr Gefangener.

„Wer?“

„Der Kerl, den Sie entwischen ließen. Fehlt etwas? Als ich reinkam, durchsuchte er gerade Ihren Schreibtisch. Bewahren Sie darin Geld auf?“

„Ich werde Ihnen nicht erzählen, wo ich mein Geld aufbewahre“, stellte Ellie klar. Für einen Kriminellen war er sehr besorgt um ihr Wohlergehen. Ein so gut aussehender Mann sollte sein Geld nicht mit Einbrüchen verdienen müssen. Sie klappte seine Brieftasche auf und sah sie durch. „Also, Liam Quinn, wie kam es dazu, dass Sie ein Verbrecher wurden?“

„Was macht Sie so sicher, dass ich ein Krimineller bin?“

„Wenn Sie kein Krimineller sind, was sind Sie dann?“

„Fotograf. Ich arbeite freiberuflich für den ‚Globe‘ und eine Nachrichtenagentur. In meiner Brieftasche befindet sich ein Zeitungsausschnitt. Es war das erste Foto, das ich veröffentlicht habe.“

Sie nahm das gefaltete Zeitungsblatt heraus und strich es auf ihrem Knie glatt. Es war das Foto eines kleinen Mädchens in der viel zu großen Jacke eines Feuerwehrmannes, das einen zerschlissenen Teddy an sich drückte. „Foto: Liam Quinn“ stand unter der Aufnahme.

„Ich habe es vor drei Jahren gemacht. Ihr Haus brannte ab. Ihre Familie verlor alles.“

„Sie sieht so traurig aus“, meinte Ellie.

„Ja, das war sie. Aber das Foto erregte viel Aufmerksamkeit. Die Leute spendeten Geld, und am Ende der Woche wurde ein Hilfsfonds für ihre Familie eingerichtet. Das gab mir das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben.“ Er bewegte sich und seufzte ungeduldig. „Können Sie nicht wenigstens meine Füße losbinden? Ich habe einen Krampf im Oberschenkel, der mich umbringt. Ich verspreche auch, dass ich nicht zu fliehen versuche.“

Ellie zögerte und betrachtete erneut das Foto. Dann durchsuchte sie den Rest seiner Brieftasche. Sie fand einen Presseausweis des „Boston Globe“ und drei Kreditkarten und die Karte eines Lokals namens „Cuppa Joe‘s“. Außerdem fand sie ein kleines Foto von einer Familie bei einer Hochzeit. Es zeigte ein älteres Paar neben einer wunderschönen Braut und einem gut aussehenden Bräutigam. Sie waren flankiert von sechs großen dunkelhaarigen und gut aussehenden Männern. Einer von ihnen war Liam Quinn.

Das passte alles nicht zusammen. Er sah so nett aus. Vielleicht hatte er tatsächlich nur versucht zu helfen. „Ich habe ein Messer“, erinnerte sie ihn. „Und ich will, dass Sie auf dem Boden lieben bleiben.“

„Abgemacht“, sagte er.

Ellie ging zu ihm und band seine Füße los. Anschließend wich sie zurück. Er rollte auf den Rücken, rutschte zum Sofa und lehnte sich dagegen. Zum ersten Mal konnte sie sein Gesicht richtig erkennen und stellte fest, dass das Foto in seiner Brieftasche ihm überhaupt nicht gerecht wurde. Er war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Und er hatte eine Wunde an der Stirn, aus der Blut tropfte.

„Sie sind verletzt“, stellte sie fest.

„Das überrascht mich nicht“, erwiderte er leise lachend. „Sie haben kräftig zugeschlagen.“

Ellie wusste, dass sie ihm nicht trauen sollte, aber es schien ihm nichts auszumachen, auf die Polizei zu warten. Sie stand vom Sofa auf und ging in die Küche. „Rühren Sie sich nicht vom Fleck.“ Hastig nahm sie eine Verbandpackung aus der Schublade neben der Spüle und riss sich ein Stück von der Küchenrolle ab. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, saß ihr Gefangener brav an seinem Platz.

„Ich werde die Wunde an ihrer Stirn verbinden. Wenn Sie auch nur zucken, steche ich Sie mit diesem Messer. Verstanden?“

„Verstanden.“

Sie kniete sich neben ihn und legte das Messer neben sich auf den Fußboden. Dann tupfte sie die Wunde mit dem zusammengeknüllten Papiertuch ab. „Allzu schlimm sieht es nicht aus. Ich glaube nicht, dass es genäht werden muss.“

Er zuckte zusammen, als sie auf die Wunde drückte, um die Blutung zu stoppen. „Ich habe nicht gezuckt“, sagte er. „Das war nur eine Reaktion auf den Schmerz.“

Ellie sah in seine Augen, deren Farbe eine seltsame Mischung aus Grün und Gold war. Ihr Herz schlug schneller. Sie sah nichts Bösartiges in seinem Blick, sondern Freundlichkeit und Amüsiertheit.

Autor

Kate Hoffmann
Seit Kate Hoffmann im Jahr 1979 ihre erste historische Romance von Kathleen Woodiwiss las – und zwar in einer langen Nacht von der ersten bis zur letzten Seite – ist sie diesem Genre verfallen. Am nächsten Morgen ging sie zu ihrer Buchhandlung, kaufte ein Dutzend Liebesromane von verschiedenen Autorinnen und...
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