Die Quinns: Eli, der Held

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Für eine TV-Show muss Lucy allein in der Wildnis wohnen, so lautet die Regel. Alles geht gut - bis sexy Outdoor-Typ Eli Montgomery die Hütte betritt. Die Nächte sind so kalt und einsam - und keine Regel ohne Ausnahme …


  • Erscheinungstag 24.12.2018
  • Bandnummer 26
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759919
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Eli – sechs Jahre alt – ließ sich von seiner Mutter Annalise Montgomery die zerzausten Haare glatt streichen. „Können wir nach Hause gehen, Mama? Ich mag es hier nicht.“

„Wie kann es nur sein, dass du dich so schnell dreckig gemacht hast?“, bemerkte Annalise und sah sich im Park um, bis sie die Spielgeräte entdeckte.

„Ist ja nur Dreck“, sagte Eli. „Ist nicht so schlimm.“

Sie lachte leise. „Aber dieses Treffen ist für Mommy eine wichtige Sache, und du sollst dich von deiner besten Seite zeigen. Also renn nicht rum, als wärst du ein wildes Tier. Das muss alles glatt ablaufen, weißt du?“

„Ja, Mama.“

Er hob den Kopf und sah zu, wie Annalise ihren Rock glatt strich. Er konnte sich nicht erinnern, seine Mom schon mal in einem Kleid gesehen zu haben. Schon gar nicht in einem so strahlenden Kleid, in dem sie wie eine Prinzessin aussah. Eli war richtig stolz, dass er neben ihr stehen und ihre Hand halten durfte.

Ihre Hand hatte er auch schon während des Flugs gehalten, der so viele Stunden gedauert hatte, dass er nicht mehr hatte mitzählen können. Es war ein Film gezeigt worden, und es hatte dreimal Essen gegeben. Er hatte nicht im Gang hin und her rennen dürfen, und sechsmal hatte der Mann in der Reihe vor ihnen mit ihm geschimpft, weil Eli gegen seinen Sitz getreten hatte.

Er hatte gedacht, es würde aufregend und cool sein, in einem Flugzeug zu fliegen, aber es war nur langweilig gewesen. Und jetzt stand ihm das Ganze schon wieder bevor, weil sie zurück nach Colorado fliegen mussten. Aber er wollte nach Hause. Da war Sommer, und wenn er nicht bei seiner Mom war, konnte er bei seiner Grandma in der Hütte oben in den Bergen schlafen.

So verbrachte er den Sommer am liebsten. Auch wenn ihm das Fliegen nicht gefiel, war er davon überzeugt, dass Nanna Trudie ihn vermisste. Sobald sie wieder zu Hause waren, würde er seine Sachen packen und hinauf in die Berge wandern.

„So“, sagte Annalise. „Ich möchte, dass du dir diesen Mann anschaust. Siehst du ihn?“

Er sah in die Richtung, in die sie zeigte, und entdeckte einen braun gebrannten Mann mit dunklen Haaren und ganz weißen Zähnen. Der Mann lächelte und sah nett aus. Und er konnte Kinder gut leiden, weil er mit zwei Jungs unterwegs war, mit denen er zu den Schaukeln ging.

„Wer ist das?“, fragte Eli, während der Mann die Jungs auf die Schaukeln setzte.

„Er ist ein sehr berühmter Bergsteiger. Sein Name ist Maxwell Quinn, und er hat viele sehr hohe und sehr gefährliche Berge bestiegen. Ich möchte, dass du dir den Mann einprägst.“

„Geht er mit dir Bergsteigen?“, wollte Eli wissen.

„Manchmal“, antwortete sie lächelnd. „Komm, ich stelle ihn dir vor.“

Sie nahm ihn an der Hand und ging zu den Schaukeln. Als sie näher kamen, drehte sich Maxwell um und bemerkte sie. Aus einem Grund, der für Eli keinen Sinn ergab, schickte der Mann die beiden Kinder daraufhin rüber zur Rutsche.

Eli sah zu den Jungs. Was seine Mutter mit Maxwell zu besprechen hatte, interessierte ihn nicht, also hörte er nicht hin. Es kam ihm aber so vor, als wären die beiden aufeinander wütend. Eli wollte eigentlich fragen, ob er zu den Jungs gehen durfte, aber er wollte Mom und den Mann nicht stören, also ging er einfach wortlos in Richtung Rutsche.

Die beiden Jungs beobachteten Eli skeptisch, als er zu ihnen kam, aber er war es gewöhnt, dass er auf andere zugehen musste, wenn er Freundschaften schließen wollte. „Hi“, sagte er.

„Hi“, gaben die Jungs gleichzeitig zurück.

„Ich bin Eli.“

„Ich bin Rogan“, sagte der eine. „Und das ist mein Zwillingsbruder Ryan.“

Sie redeten in einem seltsamen Akzent, der dem von Maxwell ähnlich war. Das machte es ziemlich schwierig, aber nicht unmöglich, sie zu verstehen. Sie hatten ihn gerade erst gefragt, ob er mit ihnen aufs Karussell wollte, da hörte er seine Mutter nach ihm rufen. Er drehte sich um und sah, dass sie ihn zu sich winkte. Eli sah die beiden Jungs betrübt an und zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, ich muss los. Bis dann.“

Bei seiner Mutter angekommen, nahm sie ihn an die Hand und zog ihn eilig hinter sich her in Richtung des Mietwagens, mit dem sie vom Flughafen hergekommen waren. „Warum gehen wir denn schon wieder?“, fragte er.

„Weil wir hier nicht hingehören“, murmelte sie. „Wir müssen zurück nach Hause.“

Er drehte sich um und winkte den Jungs zu. Es war bestimmt schön, Brüder zu haben, überlegte er.

Aber er hatte keine Brüder. Er war ein Einzelkind, und das würde er auch immer bleiben.

1. KAPITEL

In der Gegenwart im Monat Mai

Eli Montgomery ließ seinen Rucksack gleich neben der Ladentür auf den Boden plumpsen, dann streckte er die Arme in die Höhe, um etwas gegen die Verspannungen im Hals- und Schulterbereich zu tun. Seit fast drei Tagen war er jetzt auf Reisen gewesen, und er fühlte sich körperlich wie geistig völlig erschöpft. Jetzt, da er zu Hause war, wollte er nur noch heiß duschen und sich dann in sein bequemes Bett legen.

Von Kindheit an war es immer wieder ein anderer Ort gewesen, den er als sein Zuhause bezeichnet hatte. Momentan galt diese Bezeichnung für das kleine Apartment über diesem Geschäft in Stone Creek, Colorado, in dem seine Mutter Outdoor-Ausrüstung verkaufte.

Annalise Montgomery besaß einen Bungalow in der Stadt, aber den hatte sie erst vor ein paar Jahren gekauft, also lange nach der Zeit, als er noch mit seiner Mutter unter einem Dach hatte leben müssen. Sein Apartment kostete ihn keinen Cent Miete, es war groß genug, um seine eigene Outdoor-Ausrüstung unterbringen zu können, und es stellte eine feste Adresse dar, an die seine Gehaltsschecks geschickt werden konnten. Mehr brauchte ein Mann schließlich nicht.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Eine hübsche junge Verkäuferin kam auf ihn zu und strahlte ihn mit aufgesetztem Lächeln an. Sie war neu hier.

„Ja, das können Sie“, entgegnete er, „indem Sie mir verraten, ob Annalise heute arbeitet.“

„Leider ist sie momentan nicht hier. Vielleicht kann ich ja etwas für Sie tun.“

„Nein. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?“

„Ich glaube, das geht Sie nichts an“, sagte die junge Frau.

Er schaute auf ihr Namensschild. „Vanessa?“ Er hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Eli, der Sohn von Annalise.“

Sie schnappte erschrocken nach Luft, ihre Wangen liefen tiefrot an. „Oje, das tut mir so leid. Ich … Ich hätte Sie eigentlich erkennen müssen. Auf ihrem Schreibtisch steht ein Foto von Ihnen. Sie sehen sehr … gut aus. Sogar mit Bart.“

Eli fuhr sich durch sein schulterlanges Haar und lächelte verlegen. Seit zwei Monaten hatte er sich nicht mehr rasiert, und es war noch viel länger her, dass er sich die Haare hatte schneiden lassen.

„Ich rufe sie schnell an“, erklärte Vanessa, „und lasse sie wissen, dass Sie hier sind. Sie ist drüben beim The Gorge.“

„The Gorge?“

„Dem neuen Ski-Resort, das Mr. Baskill baut.“

„Was macht sie denn da? Protestiert sie immer noch?“

Vanessa biss sich auf die Unterlippe. „Nicht mehr. Genau genommen sind sie und Mr. Baskill …“

„Ich höre …“

„Na ja, man könnte wohl sagen, dass die beiden ein Paar sind.“

Eli stutzte. Normalerweise gelang es seiner Mutter nicht, ihn noch mit irgendetwas in Erstaunen zu versetzen, aber damit hatte sie es geschafft. Bei ihrem letzten Telefonat hatte sie noch davon erzählt, wie sie in jeder freien Minute gegen Baskill und dessen neues Ski-Resort kämpfte, das der nahe Stone Creek bauen wollte.

Er räusperte sich. „Meine Mutter und Richard Baskill sind ein Paar?“ Sie hatte den Kerl als eine bedrohliche Mischung aus Darth Vader und Donald Trump bezeichnet – und ein paar Wochen später schlief sie mit ihm?

„Ich werde sie anrufen“, sagte Vanessa. „Bestimmt wird sie herkommen wollen.“ Sie eilte davon, kehrte aber gleich darauf zu ihm zurück. „Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Wir haben einen sehr leckeren organischen Holunderbeerentee. Sie können auch gern von dem neuen Sportdrink E-66 probieren, für den Ihre Mutter wirbt. Obwohl … mir fällt gerade ein, dass der Drink Frauen nach der Menopause mit Östrogen versorgen soll. Das ist dann doch eher nichts für Sie.“

„Danke, ich brauche nichts. Ich suche mir nur was zum Anziehen aus, dann gehe ich nach oben, um zu duschen und um mich zu rasieren.“ Sie sah ihn verständnislos an. „Ich wohne im Apartment da oben.“

„Ach, das sind Sie?“ Sie verzog den Mund. „Wir haben da oben ein paar Sachen gelagert. Entschuldigen Sie das Durcheinander, ich werde dafür sorgen, dass bis morgen alles weggeräumt wird.“ Wieder lächelte sie ihn nervös an. „Legen Sie einfach die Preisschilder von dem, was Sie sich hier aussuchen, drüben auf den Tresen.“

Er und seine Mutter hatten noch nie eine besonders traditionelle Mutter-Sohn-Beziehung gehabt. Sie hatte ihn allein großgezogen, und erst als er fünfzehn war, hatte er erfahren, wer sein Vater war. Aber da war es längst zu spät gewesen, mit dem Mann zu reden, denn der angesehene Bergsteiger und Bergführer Maxwell Quinn war auf dem Everest ums Leben gekommen, als Eli gerade mal acht gewesen war. Aber letztlich war das auch egal, denn für Eli war der Mann nichts weiter als ein Name auf der Rückseite eines verschossenen Fotos.

Nach Elis Geburt war Annalise ein paar Jahre lang zu Hause geblieben und hatte versucht, für den Jungen in eine traditionelle Mutterrolle zu schlüpfen. Aber kaum hatte sie ihm beigebracht, aufs Töpfchen zu gehen, da war ihre Abenteuerlust wieder übermächtig geworden. Seine Großmutter Trudie Montgomery und sein Großvater Buck Garrison hatten sich von da an um Eli gekümmert.

Seine Großeltern führten ein genauso unkonventionelles Leben wie seine Mutter. Buck hatte Trudie nie geheiratet, im Gegenteil: Nach der kurzen Affäre, aus der Elis Mutter hervorgegangen war, hatten beide sich wieder ihren Liebschaften gewidmet. Dennoch waren beide bemüht, ihm ein normales Leben zu ermöglichen – Highschool, Sport, herzhafte Mahlzeiten und viel Zeit unter freiem Himmel.

Eli hatte schon früh gewusst, dass seine Familie anders war. Trudie hatte sich über gesellschaftliche Normen hinweggesetzt und ihre Tochter allein großgezogen. Finanziert hatte sie ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs, die genug einbrachten, um über die Runden zu kommen. Mit sechzehn war Annalise von zu Hause weggegangen, hatte die Schule hingeschmissen und sich einen Bergsteiger geangelt, den sie in einer Kneipe kennengelernt hatte. Ein paar Jahre später war Trudie in die unberührte Wildnis der Rockies ausgewandert, hatte eine Blockhütte errichtet und war nie wieder in die Zivilisation zurückgekehrt.

Von da an verbrachte sie ihr Leben damit, Bücher über die Macht der Feministinnen und über die Verbindung zwischen Frauen und der Natur zu schreiben. Ihr kleines Zuhause in den Bergen war so zu einem Symbol für die Unabhängigkeit der Frauen in aller Welt geworden.

Die meisten Leute in der Stadt hielten Trudie und Annalise für ein bisschen verrückt. Manchmal musste Eli diesen Leuten zustimmen, auch wenn er sie beide nicht als verrückt, sondern als unkonventionell bezeichnete. Immerhin waren sie seine ganze Familie, und er hatte gelernt, sie als das zu akzeptieren, was sie waren: zwei sehr selbstbewusste, starke Frauen, die keinen Mann brauchten, um ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.

Vor sieben Jahren starb schließlich Trudie nach einem tapferen Kampf gegen den Brustkrebs. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt war sie zum Sterben in ihre Hütte zurückgekehrt, Annalise und Eli beerdigten sie wenig später auf der kleinen Aue, auf der die Hütte stand. Den Sarg hatte Trudie selbst gezimmert. Nach ihrem Tod wurde die Hütte von Wanderern als Zwischenstopp genutzt, die im Arapaho National Forest unterwegs waren. Daneben entwickelte sie sich zur Pilgerstätte für Frauen, die Trudies Beharrlichkeit und Begabung als Autorin bewunderten.

Wenn Eli daheim war, verbrachte er oft Zeit in der Hütte. Dabei vergewisserte er sich regelmäßig, ob das Dach noch in Ordnung war und ob für die Wanderer genügend Lebensmittel vorrätig waren. Außerdem überprüfte er die Notfallausrüstung auf Vollständigkeit, damit Verletzte schnell behandelt werden konnten. Während viele derartige Berghütten Besetzern oder Vandalen zum Opfer gefallen waren, hatten die Besucher Trudies Hütte genauso verschont wie das Andenken an sie.

„Annalise ist auf dem Weg hierher“, rief ihm Vanessa vom anderen Ende des Ladens zu.

„Danke“, erwiderte Eli.

Er nahm sich eine Cargohose und ein T-Shirt vom Wühltisch. Das Geschäft seiner Mutter war bei Touristen sehr beliebt, dennoch unternahm sie immer noch Klettertouren überall auf der Welt und führte Wandergruppen an, die sich aus ehemaligen Brustkrebspatientinnen zusammensetzten, um den Kampf ihrer Mutter für Gleichberechtigung und gegen den Krebs zu ehren.

Außerdem hatte sie eine der landesweit erfolgreichsten gemeinnützigen Einrichtungen zum Thema Brustkrebs gegründet und diente noch immer als Gesicht der Organisation, auch wenn sie sich nie um die täglichen Abläufe gekümmert hatte.

Eli ging in den hinteren Teil des Ladens, vorbei am Büro seiner Mutter, bis er die schmale Treppe erreicht hatte. Im ersten Stock angekommen bahnte er sich seinen Weg zwischen den Kisten hindurch, mit denen der Flur vollgestellt war. Dabei entledigte er sich Stück für Stück seiner vom Reisen strapazierten Kleidung.

In der Küche stieß er auf eine Schere, die er ins Badezimmer mitnahm. Dort betrachtete er sich eine Weile im Spiegel und dachte darüber nach, dass er jetzt zum ersten Mal nach Hause gekommen war, ohne bereits den nächsten Abschied auf Zeit geplant zu haben. Normalerweise kannte er schon bei seiner Rückkehr das Datum, an dem er zu seinem neuen Abenteuer aufbrechen würde. In den letzten Jahren war er durch die Anden gezogen, hatte auf einem Fischerboot in Alaska gearbeitet und sich an Bord eines Frachters auf den Weg nach Taiwan gemacht. Für Outward Bound hatte er einige Workshops geleitet, und er war an einer Dokumentation über Surfer auf Hawaii beteiligt gewesen.

Vielleicht war ja jetzt der Moment gekommen, um sein Leben neu zu bewerten. Er hatte zwar nie eine traditionelle Karriere angestrebt, aber es kam ihm so vor, als müsste er etwas Bedeutenderes leisten als bisher. Seine Großmutter und seine Mutter hatten beide etwas geschaffen, das man getrost als Vermächtnis bezeichnen konnte. Welches Vermächtnis würde er eines Tages hinterlassen?

Manchen Männern ging es bei ihrer Karriere nur darum, möglichst viel Geld zu scheffeln. Politikern ging es darum, ihre Macht auszubauen. Andere heirateten und gründeten eine Familie, bei der die Kinder zum Vermächtnis wurden. Und dann waren da noch die, die sich von allen anderen abhoben, weil sie fähig waren, das Unmögliche zu leisten, indem sie den höchsten Berg der Welt bezwangen oder ein Heilmittel für eine tödliche Krankheit entdeckten.

Wann würde er wissen, wo sein Platz in dieser Welt war? Und würde er mit seinem Leben restlos zufrieden sein? Diese Fragen machten ihm jedes Mal am Ende eines Abenteuers zu schaffen, wenn ihm nur noch die Erinnerungen an die Erlebnisse der letzten Wochen blieben. Normalerweise konnte er sie in seinen Hinterkopf verbannen, indem er sich ganz auf ein neues Abenteuer konzentrierte, aber diesmal gab es kein neues Ziel, auf das er sich freuen konnte, um seine trübsinnigen Überlegungen zu ignorieren.

Sorgfältig schnitt er den Bart kurz, die Haare ließ er aber so lang, wie sie waren. Morgen würde er zum Friseur gehen. Er rieb sich übers Gesicht, dann drehte er in der Dusche den Hahn auf und wartete, bis das Wasser warm genug war, damit er sich unter den Strahl stellen konnte.

Seit fast zwei Monaten hatte er weder richtig duschen noch baden können, da war der Luxus von heißem Wasser so überwältigend, dass Eli genüsslich stöhnte, als der Wasserstrahl seinen Rücken traf.

Als er komplett eingeseift war und er Shampoo in seine Haare gerieben hatte, fühlte er sich schon fast wieder menschlich. Der Schaum sammelte sich zu seinen Füßen, als er ihn wieder abspülte und den Wasserhahn zudrehte. Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, zog den Vorhang zur Seite und griff nach dem Handtuch, das er sich um die Taille wickelte. Dann ging er ins Schlafzimmer, wo er Hose und T-Shirt aufs Bett gelegt hatte.

„Sieh dich nur an!“

Seine Mutter saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Bettkante, ihr welliges, grau meliertes Haar rahmte ihr Gesicht ein.

„Himmel, Annalise!“ Sofort fasste er nach dem Handtuch, um zu überprüfen, ob es auch wirklich gut zugeknotet war.

„Ach, komm schon. Ich habe dich mehr als einmal nackt gesehen!“

„Raus hier“, sagte er und deutete auf die Tür.

Sie sprang vom Bett auf und schlang die Arme um seinen Hals. „Du bist zu Hause!“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und rieb dann über die Stelle, wie sie es auch früher schon gemacht hatte, als er noch ein Kind gewesen war. „Dann hält er länger“, murmelte sie – auch ganz so wie früher.

Er wartete, bis sie die Schlafzimmertür von außen hinter sich zugemacht hatte, und murmelte einen leisen Fluch. War es da ein Wunder, dass er bis heute Frauen nicht verstehen konnte? Hätte er eine normale Mutter und Großmutter gehabt, wäre er inzwischen vielleicht verheiratet und Vater von zwei oder drei Kindern. Stattdessen reihte sich eine kurzlebige Affäre an die andere, wobei die Frauen anfangs völlig normal wirkten, sich dann aber immer als unpassend oder sogar als labil entpuppten.

Als Eli schließlich fertig angezogen aus dem Schlafzimmer kam, wartete Annalise mit einer Tasse heißem Tee im Flur auf ihn. Sie zog Eli hinter sich her zum Küchentisch, schob einen Stapel Schuhkartons von einem der Stühle, die auf dem Boden landeten, und forderte ihn auf: „Setz dich, setz dich. Als Vanessa anrief, war ich völlig überrascht. Mit dir hatte ich noch nicht gerechnet, weil du normalerweise vorher anrufst.“

„Dazu hatte ich diesmal keine Gelegenheit“, sagte er und hob ein Paar Kletterschuhe auf, das aus einem Karton gefallen war. „Gibt es die auch in meiner Größe?“

Sie lächelte ihn an. Obwohl sie letztes Jahr das halbe Jahrhundert vollgemacht hatte, strahlte Annalise Montgomery immer noch ein überschäumendes mädchenhaftes Temperament aus, das über ihr wahres Alter hinwegtäuschte. Ihr schlanker Körper, der durch Yoga und vegane Ernährung gesund gehalten wurde, beeindruckte durch anmutige, athletische Beweglichkeit, die man einfach nicht übersehen konnte.

„Richard Baskill?“, fragte er geradeheraus.

„Hör damit auf. Du musst mir nicht erzählen, mit wem ich rumvögeln darf und mit wem nicht.“ Sie nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber im Schneidersitz Platz. „Das ist nur so ein Ding. Eine sexuelle Anziehung, die sich nicht leugnen lässt. Ich mache gerade die Menopause durch, und es heißt, dass Frauen dann manchmal ausflippen und es mit jedem Mann treiben wollen, der ihnen über den Weg läuft.“ Sie zuckte mit den Schultern und lächelte ihn fast ein wenig verlegen an. „Genau das habe ich gemacht. Und du sollst wissen, dass er ein guter Lover ist. Außerdem konnte ich gegen das Resort sowieso nichts mehr bewirken. Es ist ihm gelungen, jeden Politiker zu kaufen, der das Ganze noch hätte verhindern können. Ich dachte mir, dann kann ich mich damit auch abfinden.“

„Und das hast du gemacht, indem du mit ihm ins Bett gegangen bist?“

Sie kicherte. „Im Bett haben wir es bislang noch gar nicht getrieben. Es gefällt ihm, wenn ich … kreativ bin. Bei seinem Resort habe ich ihn nicht schlagen können, aber beim Sex habe nur ich das Sagen.“

Eli hielt sich die Ohren zu und rief: „Das will ich wirklich nicht wissen!“

„Schon gut, mein Junge“, sagte sie und griff nach seiner Hand. „Kein Wort mehr über mein Liebesleben. Reden wir über deins.“

„Da gibt es nichts zu reden“, erwiderte er.

Sie sah ihn betrübt an und seufzte. „Wenn es um irgendeine Art von sexueller Störung geht, die dich …“

„Hör auf!“, fiel er ihr ins Wort. „Ich werde nicht mit dir über mein Sexleben reden.“

Schweigen machte sich breit, Annalise begann ein paar Strähnen zum Zopf zu flechten. Sosehr er auch die lebhafte Persönlichkeit seiner Mutter liebte, machte sie doch oft eine normale Unterhaltung so gut wie unmöglich. Fast immer plauderte sie einfach das aus, was ihr gerade durch den Kopf ging, ohne sich über die Wirkung ihrer Worte Gedanken zu machen. Allerdings war er inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es ihr auch durchaus Spaß machte, andere Leute zu schockieren.

„Gibt es noch irgendein anderes Thema, über das wir reden können?“, wollte Eli wissen.

„Tja, ich vermute, deine Unfähigkeit, sesshaft zu werden und dich für ein Ziel in deinem Leben zu entscheiden, ist ebenfalls tabu, oder?“

„Der Montgomery-Familie fehlt das Bindungsgen, wie du weißt“, gab er zurück. „Ich komme ganz nach dir und Trudie. Ich verdiene genug, um mein Leben so zu leben, wie es mir gefällt, und mehr brauche ich momentan nicht.“

„Nun, was das Geldverdienen angeht, hätte ich einen Job für dich, der wirklich gut bezahlt wird. Eigentlich haben sie mich dafür angeheuert, aber da du jetzt zurück bist, denke ich, du bist genau der Richtige für diesen Job.“

„Was für ein Job ist das?“

„Ich bin von einer Produktionsfirma aus Los Angeles angerufen worden, die eine Reality-Serie dreht. Es geht um eine Frau, die in der Wildnis ausgesetzt wird und sich da ein Jahr lang durchschlagen muss. Sie wollten Trudies Hütte mieten, weil ihr Leben in den Bergen die Grundlage für die Serie sein soll.“

„Du hast die Hütte meiner Großmutter vermietet?“

„Du glaubst nicht, was die dafür gezahlt haben“, sagte Annalise. „Das ist alles richtig professionell. Diese Frau, die sich da aussetzen lässt … eine Lucy Parker … sie hat alle Bücher deiner Großmutter gelesen. Sie ist ein riesiger Fan von ihr.“

„Wie alt ist sie?“

„Was macht das schon aus? Ich war vierundzwanzig, als ich das erste Mal den Everest bestiegen habe. Deine Großmutter war fünfzig, als sie ihr erstes Buch schrieb. Alter ist bloß ein Maßstab, den Männer anlegen, um Frauen zu sagen, dass sie für das eine zu jung und für das andere zu alt sind.“

Eli fluchte leise. „Also gut, vergessen wir das Alter. Wie lange wird sie da allein leben? Zwei, drei Monate?“

„Ein Jahr. Und sie ist nicht allein, weil sie ihren Hund dabeihat.“

„Ein Jahr? Wie soll sich eine Fernsehfrau aus Los Angeles ganz allein ernähren? Geht sie auf die Jagd? Und wer hackt das Brennholz? Es muss doch ein Produktionsteam bei ihr sein. Die würden sie niemals ganz allein da oben leben lassen.“ Er sah Annalise abwartend an. „Also? Hast du sie danach gefragt?“

„Ich … ähm … nein. Ich bin mir sicher, dass diese Leute wissen, was sie tun.“

„Hat sie ein Funkgerät dabei oder ein Satellitentelefon, falls sie Hilfe braucht?“

„Ich habe keine Ahnung“, musste sie zugeben. „Du kannst es ja herausfinden, wenn du dich übermorgen auf den Weg zur Hütte machst. Das ist nämlich dein Job. Du sollst einmal im Monat nach ihr sehen und ihr ein paar Vorräte bringen.“ Sie stand auf. „Und wir beide sollten jetzt ausgehen und uns mit Pizza und Bier vollstopfen.“

„Du isst keine Pizza, weil Käse auf der Pizza ist, und Käse isst du nicht, weil du Veganerin bist.“

„Mir ist bewusst geworden, dass Käse vermutlich das grandioseste Lebensmittel auf der ganzen Welt ist. Außerdem esse ich nur organischen Käse von frei laufenden Kühen, die unter tiergerechten Bedingungen gemolken worden sind.“

„Als Nächstes wirst du mir bestimmt noch erzählen, dass du Fleisch isst.“

„Speck“, antwortete sie. „Ich meine, das ist ja eigentlich kein Fleisch, sondern bloß Fett. Und es riecht so, wie sich Sex anfühlt. Ich finde, in meinem Alter sollte ich mir nicht mehr das verweigern, wonach mein Körper verlangt. Das Leben ist zu kurz, deshalb müssen wir jeden einzelnen Moment genießen. Das sagt Richard auch.“

Eli rieb sich über die Stirn und wunderte sich, dass sich alles so angespannt anfühlte. Vielleiht war ein Bier jetzt genau das Richtige, vielleicht auch gleich fünf Bier. Offenbar hatte sich einiges verändert, seit er das letzte Mal zu Hause gewesen war.

Ließ er seine Mutter einfach gewähren, dann landeten sie prompt in einer von diesen Reality-Serien. Aber das Leben in Trudies Hütte war hart und entbehrungsreich. Das war kein Ort für eine Möchtegern-Abenteurerin aus Los Angeles. Er würde Lucy Parker schon deutlich machen, worauf sie sich da einließ. Und wenn sie erst einmal zu spüren bekam, was Winter in den Rockies bedeutete, würde sie bestimmt am liebsten fluchtartig alles hinter sich lassen.

Lucy Parker drehte sich auf ihrem Feldbett zur Seite und zuckte, als ein Stich durch ihre Schulter ging. Am Vortag hatte sie von dem Baum, den sie letzte Woche gefällt hatte, die Rinde entfernt. Es war brutale Arbeit, aber es gehörte alles zu den Aufgaben, die sie erledigen musste, wenn sie eine Hütte bauen wollte, die dem harschen Winter widerstehen konnte.

Sie setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Das war das Leben, zu dem sie sich vertraglich verpflichtet hatte. Ein Jahr in der Wildnis, ein Jahr lang so leben wie Trudie Montgomery. Die erste Aufgabe bestand darin, eine kleine Blockhütte zu bauen. Seit genau einem Monat hielt sie sich jetzt auf dem Berg auf, und sie hatte gerade mal genug Holz für eine einzige Wand der drei mal drei Meter großen Hütte zusammen.

Ihre Pläne hatte sie schon anpassen müssen, nachdem ihr klar geworden war, wie schwer ein dreieinhalb Meter langer Baumstamm sein konnte. Damit kamen nur noch Bäume mit kleinem Durchmesser infrage, die gerade mal so viel wogen, dass sie sie allein durch den Wald schleifen konnte.

Obwohl sie jetzt schon hinter dem Zeitplan herhinkte, war sie überzeugt davon, das Arbeitstempo erhöhen zu können, wenn sich ihr Körper erst mal auf die notwendigen Bewegungsabläufe eingestellt hatte.

Ihr einziger Begleiter, ihr Hund Riley, lag hinter ihr auf dem alten Feldbett und hob den Kopf, als sie sich rührte. „Ich würde sicher viel besser schlafen, wenn du auf deiner Seite bleiben könntest“, murmelte sie. Er bellte nur leise, machte einen Satz über sie hinweg und lief zur Tür.

Sie quälte sich aus dem Bett, wickelte sich in die alte Decke, um die Kälte abzuwehren, und öffnete die Tür der Hütte. Es verschlug ihr den Atem, als sie die fantastische Landschaft ringsum betrachtete. Im Westen ragten die Berge mit ihren schroffen verschneiten Gipfeln in die Höhe, nach Osten überzog dichter Wald die Ausläufer der Gebirgskette. Die nächstgelegene Stadt war Stone Creek, gerade mal zwanzig Meilen Luftlinie entfernt, doch benötigte man für die Strecke zu Fuß oder mit einem Gefährt etliche Stunden. Sie war per Helikopter hergebracht worden, der sie in einem weitläufigen grünen Tal ein Stück weiter südlich abgesetzt hatte. Die Wiese dort war jetzt in die Farben der ersten Wildblumen getaucht.

Riley kratzte an der Fliegengittertür, Lucy machte sie für ihn auf. Während der Hund nach draußen stürmte, folgte sie ihm in gemächlicherem Tempo. Ihre Armbanduhr hatte sie in eine alte Blechdose gesteckt, damit nur ihr Körper ihr die Tageszeit vorgab. Wenn sie Hunger hatte, aß sie. Wenn sie müde war, legte sie sich schlafen. Und wenn es Zeit war zu arbeiten, dann konzentrierte sie ihre ganze Energie darauf, mehr zu leisten, als sie jemals zuvor geleistet hatte. Sie liebte diese Art zu leben.

Sie atmete die frische Morgenluft tief ein. Das Jahr in der Wildnis versprach, eine persönliche und berufliche Herausforderung zu werden, und sie freute sich über diese Gelegenheit, sich beweisen zu können. Jahrelang war sie im Bereich Fernsehproduktion von einem Job zum anderen gesprungen, wobei sie sich immer das ausgesucht hatte, was am meisten Geld einbrachte, damit sie nebenher das College finanzieren konnte. Als Teenager hatte sie Trudies Bücher gelesen und davon geträumt, völlig auf sich gestellt zu leben und sich dabei ganz und gar auf ihre eigenen Kräfte und ihren Verstand zu verlassen.

Durch eine beiläufige Unterhaltung mit einem Produzenten war sie auf die Idee gekommen, diese neue Reality-Serie vorzuschlagen. Sie würde ein Jahr in der Wildnis verbringen und dabei auf den Spuren der berühmten Feministin Trudie Montgomery wandeln. Zu ihrem großen Erstaunen war die Idee angenommen worden, und nachdem das Budget gesichert war, hatte man sie am 1. April zusammen mit Riley und zwanzig Kisten voll mit Vorräten hier abgesetzt, die sie die nächsten zwölf Monate überleben lassen sollten.

Sie musste nur mindestens fünfzehn Stunden Videomaterial pro Woche liefern, in dem sie ihre Anstrengungen dokumentierte, um in der Wildnis zu überleben. Außerdem sollte sie über Trudie, ihre feministischen Ideale und die Herausforderungen reden, mit denen sie sich konfrontiert sah. In der Zwischenzeit waren die Produzentinnen damit befasst, die Serie an einen Sender zu verkaufen.

Lucy hatte für Notfälle ein batteriebetriebenes Funkgerät mitbekommen, außerdem einen Laptop mit Satellitenverbindung, um wöchentlich ihr Videomaterial hochzuladen. Ein Generator diente dazu, die Videokamera und den Laptop mit Strom zu versorgen.

Da beides inzwischen wieder voll aufgeladen sein sollte, ging sie zurück in die Hütte, holte die Kamera, setzte sich auf die oberste Stufe der Treppe zur Veranda und richtete das Objektiv auf sich. Sie drückte auf die Aufnahmetaste und lächelte in die Kamera. „Hurra, hurra, der dritte Mai ist da. Ich bin jetzt seit einem Monat hier oben auf dem Berg, und heute werde ich Besuch bekommen. Trudies Tochter Annalise Montgomery hat sich bereit erklärt, einmal im Monat herzukommen, nach dem Rechten zu sehen und mir ein paar Vorräte mitzubringen. Und natürlich um mit uns zu reden. Diejenigen von Ihnen, die Trudies Bücher kennen, wissen natürlich, dass Trudies Freund und Geliebter Buck Garrison einmal im Monat zu ihr kam, um ihr dies und jenes zu bringen, aber ich werde hier keinen Herrenbesuch empfangen.“

Ihre beiden Produzentinnen Rachel McFarlane und Anna Conners hatten beschlossen, bei dem gesamten Projekt ausschließlich Frauen mitarbeiten zu lassen. Die beiden hatten bereits ein preisgekröntes PBS-Special über ein reines Frauenteam beim America’s Cup produziert und waren sich sicher, auf diese Weise ein positives Signal an das Publikum zu senden und die Serie besser vermarkten zu können.

„Tja, was kann ich gebrauchen?“, redete Lucy weiter. „Ein paar zusätzliche Laternen für die sehr dunklen Nächte hier in den Bergen. Noch eine lange Unterhose. Dickere Socken. Ein neues Waschbrett. Und Schokolade könnte ich auch gebrauchen, aber die steht nicht auf der Liste, weil ich beschlossen habe, auf Entzug zu gehen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Und ich hätte gern ein Truthahnsandwich. Dosenfleisch hat seinen Reiz mittlerweile verloren.“

Rileys Bellen ließ sie aufhorchen, und sie drehte die Kamera so, dass sie die Aue erfasste. Sie hoffte, Annalise ins Bild zu bekommen, wenn die sich der Hütte näherte. In der Ferne konnte sie eine einsame Gestalt ausmachen, die auf dem Weg zu ihr war. Als sie versuchte, das Bild so weit zu vergrößern, dass man Annalises Gesicht zu sehen bekam, stockte ihr der Atem.

Das war nicht die schlanke Annalise, sondern ein großer, etwas schlaksiger Mann, der über der Schulter ein Gewehr trug und einen riesigen Rucksack bergauf schleppte. Dabei bewegte er sich aber mit einer Leichtigkeit, als würde der Rucksack nichts wiegen.

Lucy hielt sich jetzt seit einem Monat hier auf und hatte bis zum heutigen Tag keine Menschenseele zu Gesicht bekommen. Zwar verspürte sie eine gewisse Freude, aber das da war nicht die Person, die sie erwartet hatte. Sie rief Riley zu sich, der sich neben ihr hinsetzte, und ließ den Fremden nicht aus den Augen.

Er war groß und breitschultrig, er trug Wandershorts und Stiefel, ein ausgebleichtes T-Shirt, Sonnenbrille und Schirmmütze, unter der volles dunkles Haar hervorquoll. Außerdem schien er einen Dreitagebart zu haben.

Ein leichtes Zittern durchfuhr sie. Es gab einen guten Grund, wieso Annalise Montgomery diese monatlichen Besuche absolvieren sollte, und der hatte nichts mit den Vorgaben rund um die Serie zu tun. Nach einem Monat Einsamkeit löste offenbar jeder x-beliebige Mann einen ganzen Schwall von beunruhigenden Gefühlen in ihr aus, selbst wenn sie einen Axtmörder vor sich gehabt hätte.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie schutzlos sie eigentlich war. Sie legte die Kamera auf den Boden und griff nach dem Gewehr, das in der Hütte gleich neben der Tür stand. Sie legte an und zielte auf den Fremden. „Bleiben Sie stehen!“, rief sie ihm zu, als er noch gut sieben oder acht Meter von ihr entfernt war. Riley knurrte leise.

Erschrocken hielt der Mann an, hob bedächtig die Hände und musterte sie argwöhnisch. „Wollen Sie damit wirklich auf mich schießen?“

„Wenn es sein muss, werde ich das machen.“

„Dann sollten Sie den Lauf aber etwas höher halten, es sei denn, Sie wollen zwei Meter von mir entfernt ein Loch in den Boden schießen.“ Er schüttelte den Kopf. „Sagen Sie bloß, die haben Ihnen nicht mal vernünftig Schießen beigebracht?“

„Was machen Sie hier?“

„Die Frage sollte wohl eher lauten: Was machen Sie hier?“, murmelte er und ging weiter. Er legte die Hände an die Tragegurte des Rucksacks und schob die Daumen unter die Gurte.

Misstrauisch sah sie ihn an. „Wer sind Sie?“

„Annalise schickt mich“, erklärte er. „Ich bringe Vorräte. Und ich soll mich wohl auch vergewissern, dass Sie keine Dummheiten begehen, indem Sie sich von einem Bären fressen lassen. Na ja, Sie sehen ganz gesund aus, und Bisswunden kann ich auch nicht entdecken. Also dürfte es Ihnen gut gehen.“

Lucy verkniff sich ein Lächeln, während sie das Gewehr zur Seite stellte. Sie verließ die Veranda, weil dieser Mann sie neugierig machte, der aus heiterem Himmel hier aufgetaucht war. Er ließ den Rucksack zu Boden gleiten, dann hob er die Arme und zog in einer fließenden Bewegung sein T-Shirt aus, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen.

Fast hätte Lucy leise gestöhnt, als sie die muskulöse Brust und den unglaublich deutlich konturierten, flachen Bauch sah. Es zuckte ihr in den Fingern, da sie sich ausmalte, seine gebräunte Haut zu küssen und zu streicheln.

Das war verrückt. Sie hatte auch früher schon mal einen Monat und länger keinen Mann gehabt. Warum reagierte sie jetzt auf ihn so extrem? Zugegeben, er war atemberaubend. Und sie hatte seit einem Monat keinen Menschen mehr um sich gehabt. Dennoch sollte sie in der Lage sein, ihre Reaktionen besser zu beherrschen.

Er räusperte sich, und ihr fiel auf, dass sie ihn angestarrt hatte. „Sie sollten gar nicht hier sein“, sagte sie. „Annalise hatte sich einverstanden erklärt herzukommen.“

„Sie fand, dass es mir Spaß machen würde, an der frischen Luft unterwegs zu sein.“

„Wir hatten eine Vereinbarung“, beharrte Lucy.

„Tja, wenn Sie Annalise besser kennen würden, wüssten Sie, dass sie ziemlich flexibel sein kann, wenn es um Zusagen und Vereinbarungen geht.“

„Das ist so im Vertrag festgelegt. Bei diesem ganzen Projekt sollen nur Frauen beteiligt sein. Produzentinnen, Redakteurinnen, einfach alles nur Frauen. Wir wollen damit etwas aussagen, also ganz genau etwas von der Art, was Trudie gewollt hätte.“

„Woher wollen Sie wissen, was Trudie gewollt hätte? Sie sind ihr ja nicht mal begegnet.“

„Ach, und Sie sind ihr begegnet?“, konterte sie und warf ihm einen kühlen Blick zu.

„Ich habe jeden Sommer hier bei ihr verbracht“, erwiderte er. „Ich habe hier beim Anbau der Hütte geholfen, und das Plumpsklo habe ich ganz allein gebaut.“

Sie musste erst mal schlucken. Annalise hatte davon gesprochen, sie habe einen Sohn, aber der sei nur selten zu Hause und sie bekomme ihn nicht oft zu sehen. Lautlos fluchend atmete sie tief durch und ging auf den Mann zu, um ihm die Hand hinzuhalten. „Dann sind Sie …“

„Eli“, sagte er, nachdem er sie einen Moment zu lange betrachtet hatte. „Eli Montgomery. Der Sohn von Annalise.“

„Ich bin Lucy Parker“, sagte sie und warf ihm einen betretenen Blick zu. Natürlich musste der Sohn einer so schönen Frau wie Annalise ebenfalls gut aussehen. Und er musste das Leben unter freiem Himmel lieben.

Er nahm ihre Hand und schüttelte sie.

„Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen“, erklärte sie.

Er nahm die Sonnenbrille ab, die an einem Bändchen um den Hals befestigt war, und dann schaute Lucy in ein Augenpaar, das so blau war, dass es dem Himmel über ihnen Konkurrenz machen konnte. Lauernd sahen sie sich an, so wie Tiere, die unschlüssig waren, ob sie aufeinander losgehen oder den Rückzug antreten sollten.

„Sie müssen früh aufgebrochen sein, um noch vor Mittag hier einzutreffen“, wunderte sie sich.

„Ich bin schnell“, meinte er.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie seine Hand losließ.

„Die meisten Leute brauchen für diese Strecke vier Stunden“, erklärte er. „Aber ich schaffe das auch in drei. Und weil ich vor Sonnenuntergang wieder unten sein will, musste ich bis Mittag hier angekommen sein.“

„Sie wollen gleich wieder gehen?“

Eli stutzte. „Ja. Ich dachte nicht, dass ich Ihnen noch Gesellschaft leisten soll. Warum? Brauchen Sie irgendwas? Wollen Sie, dass ich bleibe?“

„Nein, nein, Sie haben recht. Sie sollten wirklich wieder gehen. Der Sinn dieses Projekts ist, dass ich so lebe, wie Trudie es getan hat.“

„Trudie hatte viele Besucher“, machte er ihr klar.

„Wenn das so ist, würden Sie dann zum Mittagessen bleiben?“ Dabei lächelte sie ihn zögerlich an. „Ehrlich gesagt, wäre es schön, etwas Gesellschaft zu haben, selbst wenn es nur für eine Stunde ist. Und solange Sie nicht kochen, verstößt das wohl auch nicht gegen die Regeln.“

„Es gibt Regeln?“

„Eigentlich sind es mehr Richtlinien. Ein ganzes Buch voll davon. Von der monatlichen Visite abgesehen, darf ich keine Hilfe von außen annehmen.“

„Also gut“, sagte er. „Ich bleibe. Aber unter einer Bedingung.“

„Und zwar?“

„Sie lassen sich von mir zeigen, wie man mit diesem Gewehr umgeht.“

Autor

Kate Hoffmann
Seit Kate Hoffmann im Jahr 1979 ihre erste historische Romance von Kathleen Woodiwiss las – und zwar in einer langen Nacht von der ersten bis zur letzten Seite – ist sie diesem Genre verfallen. Am nächsten Morgen ging sie zu ihrer Buchhandlung, kaufte ein Dutzend Liebesromane von verschiedenen Autorinnen und...
Mehr erfahren