Die Quinns (Band 17-24)

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Lassen Sie sich in die Welt der Quinn-Brüder entführen! Dieses eBundle enthält Band 17-24 der 31-teiligen Serie.

DIE QUINNS: RONAN
Auf der malerischen Kleinstadt Sibleyville, in die Ronan von seinem Großvater geschickt wird, lastet ein Fluch: Niemand soll jemals innerhalb der Stadtgrenzen Liebe finden! Können Ronan und die schöne Austernfischerin Charlotte mit ihrer heißen Affäre den Bann brechen?

BERÜHRT, GESPÜRT – VERFÜHRT!
Ein One-Night-Stand mit diesem breitschultrigen Cowboy war nicht genug, findet Sunny. Als Logan Quinn die Ranch ihres Vaters wieder verlässt, versteckt sie sich in seinem Wohnwagen. Ein Trip quer durch Australien verspricht eine Menge Nächte in Logans starken Armen …

DU WECKST DIE LEIDENSCHAFT IN MIR
Ein Blick reicht aus, und Mia interessiert nur noch eins: Jack Quinn so schnell wie möglich zu verführen. Der Mann ist verboten sexy! Dabei will sie doch eigentlich verhindern, dass ihr Vater sich in eine Erbschleicherin verliebt. Die zufällig Jacks Mutter ist …

DIE QUINNS: ROURKE
Annie stürzt – und wird gerade noch gerettet: Auf starken Armen trägt Rourke Quinn sie vorsichtig zu ihrem kleinen Cottage am Meer, dort, wo die Brandung tost. Und plötzlich teilt die schöne Einzelgängerin mit diesem Traummann Tisch … und Bett!

DAS VERFÜHRERISCHSTE GESCHENK BIST DU
Claire liebt großartigen Sex ohne jegliche Verpflichtungen. Auch dem sexy Wissenschaftler Ian macht sie gleich klar, was ihn mit ihr erwartet: eine Affäre bis zu den Weihnachtsferien – dann ist Schluss! Sonst riskiert Claire nachher noch, ihr Herz zu verlieren …

DIE QUINNS: DEX
"Ich will Sie." Für die junge Produzentin Marlie kommt nur ein Kameramann in Frage: Dex Kennedy. Doch der aufregende Ire lehnt seit einem tödlichen Dreh jedes Angebot ab. Auch ihres. Nun, wenn ihr Film ihn nicht reizt, vielleicht können ihn ihre Küsse überzeugen?

DIE QUINNS: MALCOLM
Wasser, Proviant, Schlafsack: Gut ausgerüstet tritt die Reporterin Amy einen Abenteuertrip durch Neuseeland an. Der größte Nervenkitzel dabei: Tourenführer Malcolm Quinn. Der will ihr zwar partout kein Interview geben, hat aber mehr Sex-Appeal im Gepäck, als erlaubt …

DIE QUINNS: ROGAN
Was für eine Idee, Angst-Patienten in den Regenwald zu bringen! Bevor alles im Chaos versinkt, macht sich Bergführer Rogan daran, die Gruppe zu beruhigen. Und der Psychologin Claudia zu zeigen, was ein Mann wie er unter einer Expedition an unbekannte Orte versteht …


  • Erscheinungstag 02.11.2023
  • Bandnummer 17 - 24
  • ISBN / Artikelnummer 9783751528139
  • Seitenanzahl 822
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Die Quinns: Ronan erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de
Geschäftsführung: Ralf Markmeier
Redaktionsleitung: Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)
Produktion: Jennifer Galka
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2012 by Peggy A. Hoffmann
Originaltitel: „The Mighty Quinns: Ronan“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY SEXY
Band 89 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Andrea Cieslak

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733758561

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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PROLOG

Im Wandschrank war es dunkel und still. Ronan Quinn umklammerte die Taschenlampe, die mit ihren alten Batterien nur für einen schwachen Lichtstrahl sorgte. Er schloss die Augen und versuchte, die furchterregenden Bilder zu vergessen.

Die Träume hatten erst vor ein paar Monaten angefangen, gleich nach der Party zu seinem achten Geburtstag – der ersten Familienfeier seit dem Verschwinden seiner Eltern im Jahr zuvor.

Natürlich war es nicht dasselbe gewesen. Niemand konnte so tolle Geburtstagspartys veranstalten wie seine Mutter. Sie konnte einen gewöhnlichen Tag in das wunderbarste Ereignis im Leben eines Menschen verwandeln. Zu seinem siebten Geburtstag war sie mit ihm und seiner Pfadfindergruppe ins Aquarium gegangen. Sie hatten die seltsamsten Dinge bestaunt, Spiele gespielt und Cupcakes gegessen, die mit ihren langen Tentakeln aus Lakritz wie Tintenfische aussahen. Es hatte sogar eine Piñata, eine Figur aus Pappmaschee, in Form eines Fischs gegeben, gefüllt mit Weingummi und Wunderkugeln und all seinen Lieblingssüßigkeiten.

Nach der Party, als er ganz erschöpft von der ganzen Aufregung gewesen war, hatte er sein Geschenk bekommen: ein schönes Aquarium, das auf einem Gestell direkt neben seinem Bett stand. Er erinnerte sich, dass er die ganze Nacht wach geblieben war, nur um zu beobachten, wie die Fische im bläulichen Licht hin und her schwammen.

Das Aquarium war jetzt leer, alle Fische waren tot, das Wasser abgelassen. Es gehörte zu den Dingen, die in Vergessenheit geraten waren, nachdem seine Welt aus den Fugen geraten war. Nie war Zeit gewesen, neue Fische zu kaufen. Niemand wollte sich die Mühe machen, das Aquarium sauber zu halten.

Dieses Jahr hatten sein Großvater und seine älteren Brüder eine Party auf dem Segelboot der Familie geplant und zehn von Ronans Klassenkameraden eingeladen. Doch Ronan hatte sich geweigert, das Boot zu betreten.

Furcht war in ihm aufgestiegen, als er auf das dunkle Wasser starrte, das gegen den Rumpf schlug. Ihm hatte sich der Magen umgedreht, und seine Hände waren eiskalt geworden. Er war davon überzeugt gewesen, dass die See ihn verschlingen und nicht wieder hergeben würde.

Dermot war mit ihm an Land geblieben, während der Rest der Geburtstagsgesellschaft ablegte. Und auch wenn sein älterer Bruder sich bemüht hatte, ihn zu beruhigen, dass es in Ordnung wäre – Ronan hatte die Blicke seiner Freunde gesehen. Er war ohnehin schon als anders gebrandmarkt, seit seine Eltern verschollen waren. Von nun an würde er völlig allein sein, Gegenstand von Getuschel und Mitleid.

Ronan schaute auf das Buch, das er an seine Brust gepresst hatte. Das große Bilderbuch mit Meeresfischen war ein Geschenk seiner Mutter. Eines Morgens hatte es neben seinem Frühstück gelegen. Es war nicht sein Geburtstag oder Weihnachten oder irgendein Feiertag gewesen. Sie hatte einfach beschlossen, dass er dieses Buch haben sollte.

Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf die bunten Abbildungen. Aber als er die Seite umblätterte und das Kapitel mit den Haien anfing, schlug er das Buch zu, zog die Beine an und umklammerte seine Knie.

Haie tauchten immer in seinen Albträumen auf. Haie, die im dunklen Wasser kreisten. Er versuchte nicht daran zu denken, was seinen Eltern passiert sein könnte, doch in seinen Albträumen kam es immer wieder hoch.

Er hatte Fragen gestellt, die sein Großvater und seine Brüder sich weigerten zu beantworten. Wie lange können sie im Wasser überleben? Wie weit können sie schwimmen? Wenn sie im Rettungsboot sitzen, werden sie dann nicht an Land getrieben? Aber es gab nie Erklärungen. Ihm wurde nur gesagt, dass er die Tatsache akzeptieren sollte, dass seine Mutter und sein Vater nicht mehr da waren.

Doch er wollte es nicht akzeptieren. Es gab immer noch die Chance, dass sie gefunden wurden. Vielleicht auf einer Insel. Oder vielleicht trieb ihr Boot auf dem Meer, die Segel zerrissen oder verloren. Warum wollte niemand diese Möglichkeiten sehen?

„Ronan?“

Er hielt den Atem an und starrte auf die Schatten. Ein paar Sekunden später schwang die Tür auf. Sein ältester Bruder Cameron stand vor ihm.

„Was machst du da?“

„Nichts“, antwortete Ronan.

„Du hast ein Buch. Hast du gelesen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Na komm“, sagte Cameron. „Du musst wieder ins Bett.“

„Ich kann nicht. Ich werde wieder schlecht träumen.“

Cameron hockte sich hin und tätschelte Ronans Knie. „Du hast Albträume?“

Ronan nickte. „Ganz schlimme. Mit Haien. Und Mom und Dad schwimmen und versuchen wegzukommen. Aber das Wasser ist dunkel, und sie können nichts sehen.“ Cameron streckte die Arme aus, und Ronan schmiegte sich an ihn. „Ich will nicht schlafen gehen.“

„Was hältst du davon, wenn du heute mit in meinem Bett schläfst?“, schlug Cameron vor.

„Okay.“ Eine Welle der Erleichterung durchflutete ihn. Cameron würde ihn vor den bösen Träumen beschützen können. Sein großer Bruder konnte alles.

„Möchtest du dein Buch mitnehmen?“, fragte Cameron. „Du magst es sehr, nicht wahr?“

„Mom hat es mir geschenkt.“

„Du magst Fische? Vielleicht können wir mal zusammen angeln gehen.“

Ronan runzelte die Stirn. Er wollte niemals wieder in die Nähe des Meers. „So mag ich Fische nicht“, sagte er. „Ich will nicht ans schwarze Wasser. Es könnte mich verschlucken und runterziehen.“

„Davor brauchst du keine Angst zu haben“, meinte Cameron.

In dem Punkt war Ronan anderer Meinung. Er würde niemals wieder ans Meer gehen. „Ich mag meine Zierfische“, äußerte er vorsichtig.

„Du hast keine mehr“, entgegnete Cameron.

„Ich weiß. Aber ich mochte sie. Sie haben mir beim Einschlafen geholfen.“

„Nun, wir könnten Grandpa fragen, ob wir dir neue Fische besorgen dürfen. Würdest du dich dann besser fühlen?“

Ronan würde sich dann besser fühlen, wenn seine Mutter da wäre, um ihn zuzudecken, und sein Vater, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben.

Vielleicht kamen seine älteren Brüder ohne das aus. Cameron war zwölf, und die Zwillinge, Kieran und Dermot, waren neun, fast zehn. Vielleicht waren Umarmungen und Küsse nicht mehr wichtig, wenn man älter wurde. Aber es war doch kein Babykram, sich Umarmungen und Küsse zu wünschen, oder?

Ronan griff nach der Hand seines Bruders und hielt sie fest, während sie über den Flur gingen. Er musste in Zukunft tapferer sein. Das erwartete man von großen Jungs. Es war Zeit, erwachsen zu werden.

1. KAPITEL

Die Sonne ging auf, als der Bus die Grenze von New Hampshire nach Maine passierte. Nach vier Tagen auf der Straße, quer durchs Land reisend und in Gesellschaft völlig fremder Leute, war Ronan kurz vor seinem Ziel.

Der Sonnenaufgang war ein wichtiges Ereignis für ihn geworden, etwas, auf das er sich freute, da es sonst kaum etwas gab, woran man das Verstreichen der Zeit festmachen konnte. Doch hier, an der Atlantikküste, sah er einen ganz anderen Sonnenaufgang als unterwegs: ein glühendes Farbenspiel über dem blauen Meer.

Wie in Seattle dominierte das Meer die Landschaft, und Ronan spürte eine gewisse Vertrautheit in dieser fremden, neuen Gegend. Die Orte entlang der Strecke waren geprägt von weißen Schindelhäusern und roten Backsteinkirchen, hohen Laubbäumen und sauberen Marktplätzen sowie Häfen mit schaukelnden Segelbooten.“

„Danke, Grandpa“, murmelte er vor sich hin. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Brüder an ihren Zielen – New Mexico, Kentucky und Wisconsin – auch nur annähernd so schöne Natur vorfanden, wie er hier.

Die Busfahrt selbst war gar nicht mal so unangenehm gewesen. Als Kind hatte er sich viel allein beschäftigt, unterwegs mit dem Fahrrad oder Skateboard. Später war er wandern und klettern gegangen, hatte sich Skifahren und Snowboarden beigebracht, aber immer allein. Trost findend, in der Stille auf dem Gipfel eines Berges oder inmitten eines üppigen Waldes.

Seine Vorliebe für die Einsamkeit hatte ihn ein wenig zum schwarzen Schaf unter seinen Brüdern gemacht, die sich unglaublich nahestanden. Ronan hatte nie den richtigen Platz für sich gefunden. Sein ältester Bruder, Cameron, war der Verantwortungsvolle, betraut mit der Aufgabe, den Rest ihrer Familie zusammenzuhalten. Dermot war der Charmeur und Kieran der Ruhige. Ronan war der Außenseiter.

Es war nicht gerade von Vorteil, dass Ronan der einzige der vier Jungs war, der eine unüberwindbare Angst vor Wasser hatte. Schwierig in einer Familie, in der sich alles um Boote und ums Segeln drehte. Cameron, Dermot und Kieran verbrachten ihre Freizeit auf dem Meer, während Ronan sich zwangsläufig allein an Land hatte beschäftigen müssen.

Ronan wusste, dass seine Angst vor Wasser mit dem zu tun hatte, was seinen Eltern zugestoßen war. Er konnte sich kaum an Einzelheiten aus der düsteren Zeit entsinnen. Doch bis zu diesem Tag erinnerte er sich an die Albträume von endlos tiefem, kaltem Wasser und hohen Wellen, unaufhörlich tobenden Stürmen und übermächtigem Verlustgefühl.

Die Mutter, die ihn getröstet hatte, der Vater, den er bewundert hatte – sie waren auf einmal fort, und niemand hatte ihm jemals richtig erklärt, wie das hatte passieren können. Er war derjenige gewesen, der sich am längsten an die Hoffnung geklammert hatte, dass seine Eltern eines Tages wieder zur Tür hereinkamen und das Leben wieder normal wurde.

Ronan störte es nicht, dass er als der sonderliche kleine Bruder galt. Es war sein Platz in der Geschwisterhierarchie, auf dem er sich ausruhen konnte, während seine Brüder sich durch gegenseitige Konkurrenz anspornten. Es machte ihm nichts aus, dass er nur schwer Kontakte knüpfte. Oder dass er mit sechsundzwanzig weder eine feste Freundin hatte, noch im familieneigenen Jachtbaubetrieb einen Job gefunden hatte, der ihn dauerhaft ausfüllte.

Er wollte nicht planen oder langfristige Bindungen eingehen. Niemand konnte wissen, was die Zukunft brachte, deshalb dachte er nicht darüber nach. Er lebte einfach in den Tag hinein.

Aber letzte Woche hatte sein Großvater sie alle aufgefordert, ein anderes Leben auszuprobieren, die Verpflichtungen, die sie als Kinder übernommen hatten, zu vergessen und ihre Träume zu leben. Zu Ronans Überraschung verblasste die Vergangenheit immer mehr, je weiter er sich von Seattle entfernte.

Der einzige Traum, den er je gehabt hatte, war eher eine Fantasie, in der seine Eltern auf magische Weise wieder in seinem Leben auftauchten. Vielleicht wurde es tatsächlich Zeit, einen Plan für die eigene Zukunft zu machen, sich auf ein Ziel zu konzentrieren und auf dessen Verwirklichung hinzuarbeiten. Ohne seine Familie im Hintergrund war er nicht mehr das schwarze Schaf. Er war nur Ronan Quinn, ein unbeschriebenes Blatt, bereit für einen Neuanfang.

Als der Busfahrer „Sibleyville“ rief, sprang Ronan auf. Sechs Wochen lang würde er nun nach dem Willen seines Großvaters ein anderes Leben führen, genau wie seine Brüder. Das bedeutete, dass er sich von diesem Moment an um einen Job und eine Unterkunft kümmern musste.

Der Bus hielt vor einem Drugstore. Ronan schwang sich seinen Seesack über die Schulter und ging nach vorn. „Danke“, sagte er zum Fahrer und stieg aus.

Wenn man die Definition von „idyllisch“ im Wörterbuch bebildern müsste, dann hiermit, dachte Ronan. Ein Neonschild mit der Aufschrift „Rexall Drug“ baumelte über dem Laden, und in blitzblank geputzten Schaufenstern links und rechts vom Eingang war ein bunt zusammengewürfeltes Warensortiment ausgestellt. Der Bus fuhr weiter. Ronan drehte sich um und schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war.

Er atmete tief ein. Salzige Seeluft. Es riecht anders als zu Hause, fand er. Vertraut, und doch anders. Das Kleinstadtleben würde eine große Umstellung für ihn sein. Er genoss all die Annehmlichkeiten, die eine Großstadt zu bieten hatte. Aber es hieß, dass Menschen an Orten wie diesem freundlicher als anderswo waren. In seiner Situation wäre das nur von Vorteil für ihn.

Er betrat das Geschäft und entdeckte einen Lunchtresen. Da er immer noch etwas Bargeld hatte, beschloss er, sich eine Erfrischung zu gönnen, während er sich in der neuen Umgebung orientierte.

Ein älterer Mann trat hinter die Theke. „Was darf’s sein?“

„Eine Eisschokolade“, antwortete Ronan.

„Mit Vanille- oder Schokoeis?“

Der Mann sprach mit einem so starken Neuengländer Akzent, dass Ronan ihn kaum verstand. „Vanille.“

Er nahm die Speisekarte und studierte die Preise. Es gab Eisbecher und Sandwiches zum Lunch, doch zum Frühstücken und Abendessen würde er sich ein richtiges Lokal suchen müssen. „Ich brauche eine Unterkunft“, sagte er. „Etwas Preiswertes. Können Sie mir etwas empfehlen?“

„Nun, wir haben zwar immer noch Hochsaison, aber es gibt zwei Pensionen in der Stadt, bei denen Sie es probieren können. Mrs Morey hat ein Haus in der Second Street, und Miss Harrington vermietet einige Räume in ihrem Haus in der Whitney Street. Sie sind allerdings ziemlich wählerisch, was ihre Gäste betrifft.“

„Wissen Sie, wie viel sie fürs Zimmer verlangen?“

Der Mann dachte lange über die Frage nach, während er die Bestellung zubereitete. „Kann ich nicht sagen.“

„Ich suche außerdem einen Job“, fuhr Ronan fort.

„In der Touristeninformation hängt eine Tafel mit Stellenangeboten“, erwiderte der Mann. „Irgendjemand braucht immer jemanden. Dort hilft man Ihnen auch, ein Zimmer zu finden. Fragen Sie Maxine. Sie sitzt hinter dem Tresen.“

Er servierte Ronan die Eisschokolade, garniert mit Sahnehäubchen und einer Kirsche. „Das macht drei Dollar fünfundneunzig.“

Ronan nahm einen Fünfer aus seiner Brieftasche und legte ihn auf die Theke. „Behalten Sie das Wechselgeld.“

Er ließ sich Zeit mit dem Eisbecher und beobachtete währenddessen die Kunden, die kamen und gingen. Alle wirkten tatsächlich sehr freundlich. Vielleicht lag es daran, dass hier jeder jeden kannte. Jedenfalls grüßten sich die meisten nicht nur, sondern blieben kurz stehen, um ein paar Worte miteinander zu wechseln.

Als Ronan ausgetrunken hatte, schulterte er seinen Seesack und machte sich auf den Weg zur Touristeninformation, die sich in einem umgebauten Bahnhof befand. Er trat an die Tafel mit den Stellenangeboten und überflog die Anzeigen. Es gab Jobs in Restaurants und Motels, einen Job in der Bücherei und einen im Jachthafen.

Das Angebot einer Austernfarm interessierte ihn am meisten. Er schaute sich kurz um, dann zog er die Karte aus der Tafel und steckte sie ein. Er liebte Austern, und Farmarbeit bedeutete, dass er seine Zeit im Freien verbringen würde. Eine bessere Kombination konnte er sich nicht vorstellen.

Er trat an den Tresen und lächelte die ältere Frau dahinter an. „Sind Sie Maxine?“

Sie nickte. „Ja, das bin ich. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich suche ein Zimmer. Ich werde sechs Wochen in der Stadt bleiben. Aber es muss billig sein. Ich habe nicht viel Geld.“

„Es gibt zwei Pensionen in der Stadt“, erwiderte sie. „Und Josiah Crawford vermietet einige seiner Motelzimmer auf monatlicher Basis. Lassen Sie es mich zuerst bei Mrs Morey probieren.“

Sie wählte eine Nummer auf dem Telefon. „Hallo, Elvira. Hier ist Maxine. Ich habe hier einen jungen Mann, der ein Zimmer sucht. Haben Sie etwas frei?“ Sie hielt inne. „Großartig. Wie viel?“ Sie kritzelte etwas auf ihren Block und schaute zu Ronan hoch. „Wie ist Ihr Name?“

„Ronan Quinn.“

Ihre Augen wurden für einen Moment groß, dann räusperte sich. „Ja, Elvira, Sie haben richtig gehört. Nun, ich bin sicher, das wird er verstehen. Wenn Sie es vergessen haben, dann haben Sie es vergessen.“

Maxine legte auf und lächelte entschuldigend. „Mrs Morey hat leider doch kein Zimmer frei. Eine Gruppe hat bei ihr reserviert.“

„Können Sie es bei der anderen Pension versuchen?“, fragte er.

„Ich … ich glaube nicht, dass Tillie etwas frei hat. Ich habe sie heute Morgen in der Kirche gesehen, und sie … sie hätte es erwähnt. Vielleicht probieren Sie es in Newcastle auf der anderen Seite des Flusses?“

Ronan hatte den Eindruck, dass man ihm hier was vorspielte. Warum wollten diese Menschen ihm plötzlich kein Zimmer vermieten? „Vielleicht könnten Sie es noch im Motel probieren?“

Etwas unwillig wählte sie erneut. „Hallo, Josiah. Hier ist Maxine. Ich habe hier einen jungen Mann namens Ronan Quinn, und er sucht … Ja, genau. Er sucht ein Zimmer. Oh, das ist schade. Na gut. Ihnen auch, Josiah.“

Sie legte auf und zuckte mit den Schultern. „Er hat auch nichts mehr frei. Newcastle ist wirklich die beste Möglichkeit. Es liegt gleich hinter der Brücke.“

„Ich muss hier in Sibleyville bleiben.“ Ronan hob seinen Seesack auf. „Egal, ich finde schon einen Platz.“

Maxine lächelte gezwungen. „Darf ich Ihnen einen Rat geben? Sagen Sie nicht, wie Sie heißen. Geben Sie einen falschen Namen an. Aber verraten Sie ja niemandem, dass Sie den Tipp von mir haben. Jetzt gehen Sie schon.“

Leise fluchend ging Ronan nach draußen. Was zum Teufel war hier los? Hatte man in dieser Stadt etwas gegen Iren? Oder wirkte er als allein reisender Mann etwa verdächtig? Nach allem, was er gesehen hatte, lebte die Stadt recht gut vom Tourismus, deshalb erschien es ihm merkwürdig, dass man ihn überall abwies. Wenn er anfangs geglaubt hatte, Sibleyville wäre ein gastfreundlicher Ort, so hatte er sich leider getäuscht.

Er schaute auf die Karte in seiner Hand.

Mistry Bay Austernfarm. Kontakt: Charlie Sibley.

Würde ein potentieller Arbeitgeber auch so abweisend reagieren? Vor allem, wenn es jemand war, der nach eben dieser Stadt benannt war? Bis Ronan Gewissheit hatte, würde er seinen Namen für sich behalten.

„Ein anderes Leben zu führen wird vielleicht schwieriger, als ich dachte“, murmelte er.

„Du musst den Spachtel stärker aufdrücken“, meinte Charlotte Sibley, während sie über den rauen Rumpf der leichten Segeljolle strich. „Die alte Farbe muss komplett ab. Wenn du sie einfach nur übermalst, hält der neue Anstrich nicht.“

Garrett, ihr vierzehnjähriger Bruder, schaute von der Aufgabe hoch, die sie ihm zugeteilt hatte, und verdrehte die Augen. „Ich weiß, was ich tue.“

„Sicher. Du machst es bloß nicht besonders gut. Du hast Dad damit genervt, dass du die Boote allein bearbeiten willst, aber du bist nicht bereit, dich dafür anzustrengen.“ Sie strich ihm über den Kopf und zerzauste sein Haar. „Komm, Prinzessin, mehr Einsatz. Wir brauchen die Jolle noch in dieser Saison.“

„Du bist nicht mein Boss, Charlie. Dad ist es.“

„Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, Einstein, Dad ist wegen seines Rückens außer Gefecht gesetzt. Der Arzt hat gesagt, dass er sich mindestens einen oder zwei Monate schonen muss. Deshalb hat Dad mich zum Boss ernannt.“

Garrett murrte leise vor sich hin und arbeitete weiter. Charlie lächelte. Ihr Aufstieg von der Hilfskraft zur Chefin der Mistry Bay Austernfarm war ziemlich plötzlich gekommen. Sie kannte das Geschäft in- und auswendig, da sie jahrelang im Familienbetrieb tätig gewesen war. In den sechs Jahren ihrer Abwesenheit hatte sie die Abläufe nicht vergessen. Doch die Verantwortung zu tragen bedeutete auch, die Mitglieder des Sibley-Clans an die Kandare zu nehmen, die lieber herumspielten, anstatt hart zu arbeiten.

Es klopfte an der Tür des Bootshauses, und Charlie ging zum Eingang. Sie erwartete den Besuch eines aufstrebenden Kochs aus Boston. Joel Bellingham hatte sich mit einem gut besuchten Restaurant bereits einen Namen gemacht und wollte demnächst ein zweites eröffnen – ein Fischrestaurant, in dem vielleicht auch Austern aus der Mistry Bay angeboten würden.

Sie öffnete die Tür, aber ihre Begrüßung blieb ihr im Halse stecken. Vor ihr stand ein ungemein attraktiver Mann, nicht viel älter als sie selbst. Er musterte sie mit hellblauen Augen, während sie nach Atem rang. Sie schluckte schwer und räusperte sich. „Hallo! Kommen Sie herein. Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten, uns zu finden.“ Sie hatte vormittags mit Bellingham telefoniert und ihn älter geschätzt. Der Mann vor ihr konnte höchstens dreißig sein.

„Über der Tür ist ein Schild“, erwiderte er.

Sie standen einen unbehaglichen Moment einfach nur da, ehe Charlie aus ihrer Starre erwachte. „Wie war Ihre Reise?“, fragte sie. „Der Verkehr auf dem Highway kann am Wochenende höllisch sein.“

„Es war okay.“

Offensichtlich war er kein Mann vieler Worte. Charlie verspürte einen Anflug von Enttäuschung. Er schien nicht daran interessiert, mit ihr zu plaudern. Dabei lag ihr der Umgang mit Kunden. Aber dieser Mann, so gut er auch aussah, schien nicht viel Charme zu besitzen. „Kommen Sie. Ich führe Sie herum.“

Das Gebäude direkt am Wasser diente vielfältigen Zwecken. Charlie zeigte die Halle, in der sie Ausrüstung und Boote reparierten. In der anderen Hälfte des Erdgeschosses befand sich die Versandabteilung, in der die Austern gereinigt, sortiert und verpackt wurden, um sie anschließend an die gesamte Ostküste und darüber hinaus zu verschicken. Während Charlie ihren üblichen Text aufsagte, wurde ihr bewusst, dass sie sich selbst nicht einmal zuhörte. Ihr Gast stand neben ihr und nickte höflich.

Im ersten Stock lagen die Büroräume und ein kleines Apartment, in das sie sich manchmal zurückzog, wenn sie Abstand von dem verrückten Chaos in ihrem Elternhaus brauchte. Außerdem gab es einen gut ausgestatteten Verkostungsraum, in dem sie oft Besucher empfingen, die Interesse hatten, Austern der Mistry Bay in ihr Sortiment aufzunehmen. Vom Fenster aus hatte man Blick aufs Wasser – die perfekte Kulisse für das Anpreisen ihrer Austern.

„Unser Familienunternehmen besteht seit fast zwanzig Jahren“, erklärte sie, während sie die Treppe hochgingen. „Unsere Austern sind die besten der ganzen Ostkünste. Aber ich bin natürlich ein wenig voreingenommen.“ Sie holte tief Luft. „Lassen Sie uns doch einfach ein paar probieren.“

Als er neben ihr in den Verkostungsraum trat, registrierte sie heimlich, wie groß und gut gebaut er war. Er trug Cargoshorts und ein T-Shirt, das über seiner muskulösen Brust spannte. Seit einigen Tagen schien er sich nicht mehr rasiert zu haben, was seinem Gesicht einen leicht gefährlichen Ausdruck verlieh. Er war der Typ Mann, dessen Sexappeal mit einer gewissen Lässigkeit gepaart war, so als ob ihm seine Wirkung auf Frauen gleichgültig wäre.

Seit sie sich vor über einem Jahr in New York von Danny getrennt hatte, hatte Charlie sich zu keinem Mann mehr hingezogen gefühlt. In Wahrheit hatte sie Männer derzeit völlig abgeschrieben. Aber sie war nicht abgeneigt, hin und wieder ein wenig zu träumen, und dafür lieferte Joel Bellingham jede Menge Stoff.

Sie deutete auf einen Hocker am Granittresen und holte eine Schüssel frisch geernteter Austern aus dem Kühlschrank. Dabei fühlte sie, wie ihr Gast sie beobachtete. Sie scheute sich fast aufzublicken, aus Angst, er könnte ihre Gedanken lesen.

Mit einem Tuch in der Hand fasste sie eine Auster an, stach mit einem Austernmesser hinein und klappte die Schale auf. Nachdem sie das Fleisch sorgfältig herausgelöst hatte, legte sie es auf einen Teller. Die Flüssigkeit ließ sie in der Schale. „Zitrone?“, fragte sie.

„Nein“, sagte er. „Ich mag sie pur.“

„Darf ich Ihnen ein passendes Getränk anbieten? Wir haben Champagner, Muscadet und eisgekühlten Wodka. Alle drei heben den Geschmack der Austern hervor. Natürlich nicht alle auf einmal. Jedes für sich.“

„Es ist elf Uhr morgens.“

„Richtig.“

Er musterte sie abwägend. „Champagner wäre gut. Wenn Sie mittrinken.“

Charlie fand im Kühlschrank eine Piccoloflasche und schenkte den Champagner in zwei Gläser ein. Tief einatmend setzte sie ihr Verkaufsgespräch fort. „Wir versenden von September bis Ende Juni per Overnight-Kurier. Das heißt, dass Sie von dienstags bis samstags frische Austern erhalten können. Wir ernten morgens und verschicken nachmittags.“

Sie öffnete eine Auster nach der anderen und beschrieb dabei deren Eigenschaften mit sinnlichen Begriffen. Fleischig und saftig, salzig und süß. Normalerweise gaben sich die Kunden mit einem halben Dutzend zufrieden, aber Joel Bellingham schien hungrig zu sein.

Wenn sie nicht redete, nippte sie nervös am Champagner. Nach einem Dutzend hielt ihr Gast schließlich abwehrend die Hand hoch und seufzte. „Die waren wirklich gut. Danke.“

Wirklich gut? In der Regel erhielten ihre Austern mehr als ein „gut“. Exquisit, delikat, alle Erwartungen übertreffend, besser als Sex. Wirklich gut war überhaupt nicht gut. „Haben Sie vielleicht noch Fragen?“

„Nur eine. Habe ich nun den Job?“

Verwirrt musterte sie ihn. „Job? Ich … ich verstehe nicht.“

Er holte eine Karteikarte aus seiner Hosentasche und reichte sie ihr. „Ich habe die hier aus der Touristeninformation mitgenommen. Da steht, dass Sie eine Hilfskraft suchen.“

Charlie schnappte nach Luft. „Sekunde. Sie sind nicht der Koch Joel Bellingham aus Boston?“

„Nein. Ich bin Ronan. Ronan Smith aus Seattle. Schwere Arbeit macht mir nichts aus. Ich werde früh kommen und spät gehen. Sie sagen mir, was zu tun ist, und ich erledige es.“ Abwartend sah er sie an.

Unter seinem Blick überlief sie ein Schauer. Sie räusperte sich. „Sie haben ein Dutzend Austern gegessen. Glaubten Sie etwa, das war Teil des Vorstellungsgesprächs?“

„Ich dachte, Sie stellen mir das Produkt vor. Außerdem war ich hungrig.“

Charlie konnte ihm nicht die Schuld an der Verwechslung geben. Vom ersten Moment ihrer Begegnung an war sie zerstreut gewesen. Vor lauter Kribbeln im Bauch hatte sie nicht klar denken können. Wenn sie ihre Sinne beisammen gehabt hätte, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass etwas nicht stimmte.

„Also, habe ich den Job?“, fragte er wieder.

„Kommen Sie mit“, antwortete sie. Sie hatte das Stellenangebot erst einen Tag zuvor ausgehängt und nicht so rasch mit Resonanz gerechnet. Aber hier war ein Mann, der ihr Herz schneller schlagen ließ, und sie hatte einen perfekten Vorwand, ihn eine Weile in ihrer Nähe zu behalten.

„Der Job ist hart, die Arbeitszeiten sind lang. Der Lohn ist nicht besonders hoch, doch bei der Menge an Stunden sollte es reichen, um anständig damit auszukommen.“ Sie führte ihn nach unten in die Halle mit der umgedrehten Jolle. „Das ist mein Bruder Garrett. Garrett, das ist Ronan Smith. Er bewirbt sich um den Job. Gib ihm den Spachtel.“

„Kein Problem“, meinte Garrett und überließ Ronan den Spachtel. „Ich gehe nach Hause, Charlie.“

Diesmal widersprach sie nicht. Sie musste ihren kleinen Bruder nicht dabeihaben, wenn sie sich um den attraktiven neuen Mitarbeiter bemühte. „Mäh den Rasen, wenn du zu Hause bist. Du weißt, dass Dad es nicht kann, und Mom hat zu viel zu tun.“

„Ja, ja“, sagte er.

„Teenager“, murmelte sie, während sie ihm nachsah. Als sie sich zu Ronan umdrehte, erwischte sie ihn dabei, wie er sie anstarrte.

„Sie sind Charlie?“, fragte er. „Sie sind der Boss?“

„Ja. Charlotte. Charlie. Sibley.“

„Ich hatte einen Mann erwartet.“

„Und ich einen Koch“, konterte sie.

„Wie soll ich Sie nennen?“

Sie fing einen Blick von ihm auf, in dem ein Hauch von Belustigung zu liegen schien. Spielte er nur mit ihr? Oder hatte sie völlig die Kontrolle über dieses Bewerbungsgespräch verloren? „Noch haben Sie den Job nicht.“ Sie reichte ihm eine Schutzbrille. „Zeigen Sie mir zuerst, wie Sie mit dem Spachtel umgehen können.“

Er nickte. Und zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, lächelte er. Es war so, als ob sich plötzlich die Wolken am Himmel teilten und die Sonne hervorblitzte. Das Lächeln machte ihn noch attraktiver, falls das überhaupt möglich war.

Männer, die so aussahen wie Ronan Smith, lernten normalerweise früh, ihre Wirkung auf das andere Geschlecht zu ihrem Vorteil einzusetzen. Ronan hingegen schien daran kein Interesse zu haben. Er begann den Rumpf der Jolle mit dem Spachtel zu bearbeiten. Bei jedem Schwung regnete es Farbsplitter. Charlie beobachtete ihn eine Weile und blieb mit ihrem Blick an seinen schlanken und dennoch muskulösen Armen hängen. Ein Schauer rieselte ihr über den Rücken. Hastig drehte sie sich um und eilte nach oben, um den Verkostungsraum aufzuräumen.

Sie brauchte etwas Abstand, um einmal tief durchzuatmen und sich abzulenken – und dachte doch wieder nur an Ronan Smith. Ronan. Ein seltsamer Name. Sie trank den Rest Champagner aus und öffnete noch eine Piccoloflasche. Er hatte erwähnt, dass er aus Seattle kam. Sie sollte ihn nach Zeugnissen fragen. Oder einem Lebenslauf. Er könnte ja auch ein Krimineller oder ein Schwindler sein – oder ein Mitbewerber, der ihren Betrieb ausspionieren wollte.

Charlie glitt auf einen Hocker, öffnete eine Auster und schlürfte sie aus. Ronan war ihr ein völliges Rätsel. Allerdings war sie, was Männer betraf, eher unerfahren. Sie hatte erst eine Beziehung gehabt, und die hatte sechs Jahre gedauert. Danny und sie waren seit der Highschool zusammen, nachdem sie beide in einem Schulmusical mitgespielt hatten. Nach ihrem Abschluss waren sie beide entschlossen gewesen, am Broadway Karriere zu machen. Aber in New York hatte es ein böses Erwachen gegeben. Danny hatte schnell entmutigt einen Vollzeitjob als Handyverkäufer angenommen. Bei Charlie hingegen war es nach kleinen Auftritten in einer Krimiserie, einer Reihe von Werbespots für Waschmittel und einem Off-Off-Broadway-Stück langsam bergauf gegangen. Doch je mehr Jobs sie erhielt, desto eifersüchtiger wurde Danny. Ihr Glück bekam Risse, und Charlie hatte sich in New York nicht mehr wohlgefühlt. Deshalb war sie ausgezogen und nach Sibleyville zurückgekehrt, älter und ein wenig klüger als zuvor.

Sie schaute in den Spiegel über dem Granittresen und stöhnte. Ihr kastanienbraunes Haar war völlig zerzaust. Sie zog einen Kamm aus der Hosentasche und entwirrte die schulterlangen Strähnen, dann kniff sie sich in die Wangen, damit sie Farbe annahmen. Bei der Arbeit trug sie selten Make-up oder figurbetonte Kleidung. Jetzt bedauerte sie, dass nicht die New Yorker Schauspielerin Charlotte Sibley die Tür für Ronan Smith geöffnet hatte, sondern die Austernfarmerin Charlie Sibley.

Sie sah noch einmal in den Spiegel. Obwohl sie in unzählige unterschiedliche Rollen schlüpfen konnte, musste die Frau, die sie wirklich war, genügen. Kopfschüttelnd ging sie zur Tür hinaus, wobei sie merkte, dass ihr ein wenig schwindelig vom Champagner war. Wenn sie Ronan einstellen wollte, dann musste sie ihre Gefühle für sich und ihren Verstand beisammen behalten. Ein Mann wie Ronan war es wahrscheinlich gewohnt, dass Frauen ihn anschmachteten. Und Charlie hatte nie eine von vielen sein wollen.

Ronan strich mit der Hand über die sechs Meter lange Jolle. Das Boot war alt, nach der Bauweise zu urteilen vielleicht sechzig oder siebzig Jahre. Heutzutage wurden Fiberglasboote bevorzugt, weil sie leicht zu warten und langlebig waren.

„Wie geht es voran?“

Er schaute hoch und sah, dass Charlie ihn beobachtete. Verdammt, sie war schön. Ihr welliges dunkles Haar umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht, das ohne jeden Makel war. Er könnte sie ewig betrachten, so wie man ein kunstvolles Gemälde oder eine berühmte Skulptur bewunderte.

„Gut. Es ist ein schönes Boot“, sagte er. „Ich liebe die Formen.“

„Es ist alt“, entgegnete sie.

„Heute stellt man so etwas nicht mehr her. Dabei finde ich, die besten Boote sind aus Holz.“

„Mein Dad würde Ihnen vollkommen zustimmen.“ Charlie kam näher, um seine Arbeit zu begutachten. „Sie sind sehr gründlich.“

Das Kompliment freute ihn, vor allem, weil es von ihr kam. „Der Spachtel ist etwas stumpf. Wenn Sie eine Möglichkeit haben, ihn zu schärfen, dann mache ich das. Außerdem sollten Sie nächstes Mal vielleicht eine bessere Farbe auswählen“, schlug er vor. „Wenn Sie sie gründlich auftragen und den Anstrich pflegen, dann müssen Sie nicht so oft neu streichen.“ Er verstummte. Gerade hatte er sich so angehört, als wäre er der Boss.

„Sie verstehen etwas von Booten?“ Sie zog eine Augenbraue hoch.

„Ja“, antwortete Ronan. „Ein wenig.“

„Sie erwähnten, dass Sie aus Seattle kommen. Was machen Sie in Maine?“

„Herumreisen“, erwiderte er. „Mir Amerika ansehen.“

„Nun, wenn Sie willens sind, hart zu arbeiten, zahle ich Ihnen einen fairen Lohn“, sagte Charlie. „Wir haben hier in der Stadt das Büro und den Laden. Die Zuchtstätte befindet sich draußen am Kepley Pond. Aufgezogen werden die Austern dann in der Mistry Bay.“

Kepley Pond. Mistry Bay. Das klang nach einer Menge Wasser. Seit seinem achten Lebensjahr hatte er darauf geachtet, dem Wasser fernzubleiben, zumindest dem Meer. Aber er wollte diesen Job, und so würde er seine Ängste verdrängen müssen. Vielleicht war es an der Zeit, sich der Vergangenheit zu stellen. Außerdem ging niemand in einem See oder in einer Bucht verloren, so wie auf dem offenen Ozean.

„Sie haben gute Arbeit geleistet“, lobte sie ihn. „Der Job gehört Ihnen, wenn Sie wollen.“

„Da ist noch eine Sache“, entgegnete er. „Ich brauche eine Unterkunft. Ich hoffe, dass Sie mir dabei helfen können.“

„Wir haben oben neben dem Büro ein kleines Apartment. Das könnte ich Ihnen vermieten“, meinte sie. „Solange Sie ruhig und sauber sind, sehe ich keine Probleme.“

„Toll.“ Ronan wusste, dass er ihr seinen richtigen Namen nennen sollte. Sie schien kein Mensch zu sein, der Vorurteile hatte. Wobei er sich immer noch nicht erklären konnte, was der Rest der Stadt gegen ihn hatte. „Ich habe versucht, in der Stadt ein Zimmer zu bekommen, aber niemand wollte an mich vermieten.“

„Warum nicht?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Sobald ich meinen Namen nannte, war plötzlich nichts mehr frei.“

„Ronan?“, fragte sie. „Oder Smith?“

„Quinn“, sagte er. „Mein Name ist Ronan Quinn, nicht Smith.“ Er schwieg einen Moment und beobachtete, wie ein Ausdruck von Überraschung über ihr hübsches Gesicht glitt. „Verstehe. Das ist genau der Blick. Also liegt es am Namen.“

Charlie lachte, bis sie plötzlich einen Schluckauf bekam. Sie hielt sich die Finger an die Lippen und lächelte entschuldigend. „Ja. Die Leute hier in der Gegend hegen ziemlich großen Groll gegen jeden mit Namen Quinn.“

„Wieso denn? Sie kennen mich nicht einmal.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nun, ich glaube nicht an den albernen Kram. Bann und Flüche und Hexen. Ich bin bereit, Ihnen einen Job zu geben, Ronan Quinn. Und eine Unterkunft, wenn Sie möchten.“

„Was hat dieser Quinn gemacht, dass jeder gegen ihn ist?“

„Es ist eine komplizierte Geschichte“, erwiderte sie abwinkend.

„Meinen Sie nicht, dass ich sie kennen sollte, damit ich weiß, womit ich es zu tun habe?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich Ihnen die Geschichte erzähle, werden Sie uns alle für so verrückt halten, dass Sie sofort die Stadt verlassen werden. Und ich brauche einen Helfer.“ Sie deutete auf seinen Seesack. „Nehmen Sie Ihre Tasche. Ich zeige Ihnen das Apartment.“

Erleichtert atmete Ronan auf. „Ich wollte Sie nicht belügen. Ich wollte nur herausfinden, was los ist.“

„Keine Ursache.“ Sie ging wieder mit ihm nach oben. Gegenüber vom Verkostungsraum lag ein großes Büro. „Nachmittags herrscht hier normalerweise ziemlich viel Betrieb, wenn wir die Lieferscheine und Etiketten für unsere Pakete vorbereiten, aber das geht erst kommende Woche los.“ Sie führte ihn in ein komfortables Ein-Zimmer-Apartment mit Kochnische und einem breiten Bett. Von einem Erkerfenster aus hatte man Blick aufs Wasser, und Ronan konnte das metallische Klicken der Bootstakelage durch die Scheiben hören.

„Das ist hübsch“, meinte er.

„Falls Sie einen Vorschuss möchten, um Lebensmittel einzukaufen, ist das kein Problem.“

„Den könnte ich tatsächlich gebrauchen“, gestand er. „Die Jolle kann ich heute noch fertig machen. Ich arbeite die ganze Nacht daran, wenn es sein muss.“

„Großartig“, murmelte sie. Ihr Blick huschte nervös durchs Zimmer. Obwohl Ronan sich zu seiner neuen Chefin hingezogen fühlte, hatte er nicht geglaubt, dass es ihr umgekehrt genauso gehen könnte. Während sie von einem Fuß auf den anderen trat, die Finger ineinander verschränkt, beschloss er, seine Theorie zu überprüfen. Er lehnte sich ein wenig näher, nur ein paar Zentimeter, und wartete auf Charlies Reaktion. Würde sie sich vorbeugen und in Erwartung eines Kusses die Augen schließen?

„Badezimmer“, sagte sie kurz und wandte sich ab.

Er folgte ihr nach nebenan. Das Bad war so klein, dass er vermutete, dass es einmal ein Wandschrank gewesen war. Sie konnten sich zu zweit kaum darin bewegen. Als sie endlich drin standen, waren sie sich so nah, dass Ronan die Hitze, die von ihrem Körper ausging, spürte.

„Sie … Sie müssen am Hebel vom Spülkasten rütteln, damit das Wasser aufhört zu laufen. Und die … die Badewanne füllt sich sehr langsam.“ Sie schaute ihn über die Schulter an. „Deshalb ist es wahrscheinlich besser, stattdessen die Dusche zu benutzen. Es sei denn, dass Sie eher der Schaumbad-Typ sind.“ Sie machte eine Pause. „Die meisten Männer sind es ja nicht.“

Er lehnte sich ein wenig vor, und als sie sich wieder zu ihm umdrehte, atmete sie sichtlich erschrocken scharf ein. Sie trat einen Schritt zurück, prallte gegen den Rand der Badewanne und verlor das Gleichgewicht. Ronan musste blitzschnell reagieren, um ihr den Schmerz und die Erniedrigung, vor ihm in die Wanne zu fallen, zu ersparen. Er packte sie und zog sie an sich. Aber das hatte überhaupt nicht den gewünschten Effekt. Charlie versuchte ihm auszuweichen und stieß mit dem Gesicht an die Türkante.

„Au!“, schrie sie und hielt sich die Hand vor ein Auge.

„Sind Sie in Ordnung?“, fragte Ronan.

Sie nahm die Hand herunter und schüttelte den Kopf. „Ich blute.“ Sie langte nach dem Medizinschrank über dem Waschbecken, doch Ronan schob sie sanft zur Tür hinaus.

„Raus. Ich hole alles.“ Er fand eine Schachtel Pflaster und tränkte einen Waschlappen mit kaltem Wasser. Charlie lehnte wartend am Küchentresen und presste die Finger auf die Wunde, ohne den Blutfluss dadurch stoppen zu können.

„Lassen Sie mich mal sehen“, forderte Ronan sie auf.

Sie ließ die Hand sinken und zuckte zusammen. „Muss es genäht werden?“

Er tupfte die kleine Verletzung ab. „Nein. Die Stelle ist winzig. Sie blutet nur stark. Hier, halten Sie das.“

Sie drückte den kalten Waschlappen an die Stirn, während er die Pflasterverpackung aufriss. „Tut mir leid“, murmelte sie.

„Wofür entschuldigen Sie sich? Sie können nichts dafür.“ Er wollte ihre Wange berühren, um zu testen, ob sie so weich war, wie sie aussah. Sein Blick fiel auf ihren Mund. Wenn sie Zeit miteinander verbrachten, würde er nur schwer der Versuchung widerstehen können, Charlie zu küssen. Obwohl er sich nicht sonderlich um Beziehungen bemühte, genoss er regelmäßig die Gesellschaft schöner Frauen. Allerdings liebte er einsame Freizeitbeschäftigungen, die ihm wenig Zeit für ernsthafte Beziehungen ließen. Doch auf diese Frau war er neugierig. Was hatte Charlie Sibley an sich, das ihn so faszinierte?

„Hallo! Jemand zu Hause?“

Sie lächelte verkrampft. „Das könnte der echte Joel Bellingham sein.“

Ronan nahm den Waschlappen fort und bedeckte die Wunde mit einem kleinen Heftpflaster. „Da. Viel besser.“

„Danke“, sagte sie.

„Kein Problem.“

Sie starrte ihn lange an, und er schaute wieder auf ihre vollen Lippen, die leicht geöffnet waren. Er wollte nur einmal kurz kosten, aber sie schien zu spüren, was in ihm vorging, und wich rasch zurück.

Er sah ihr nach, als sie aus dem Apartment eilte. Ihre Schritte verhallten auf der Treppe. Wir haben eine Menge Zeit, dachte er. In sechs Wochen konnte viel passieren.

2. KAPITEL

Charlie brachte Joel Bellingham zur Tür und schüttelte ihm die Hand. „Wir freuen uns auf Ihre erste Bestellung. Bitte zögern Sie nicht, mich anzurufen, falls Sie noch irgendwelche Fragen haben.“

Er klopfte auf die Mappe, die sie ihm gegeben hatte. „Ich habe alles, was ich brauche, hier drin“, erwiderte er. „Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Charlotte. Sie werden bald von mir hören.“

Sie schloss die Tür hinter ihm und lächelte. Eines der besten Restaurants Bostons als Abnehmer ihrer Austern zu gewinnen, wäre großartig für die Farm.

Die Wirkung des Champagners verflüchtigte sich, und Charlie war froh, dass sie es geschafft hatte, ihr Verkaufsgespräch ohne peinlichen Vorfall zu Ende zu bringen. Was hatte sie sich nur gedacht? Ronan Quinn hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

Im Grunde war ihr ganzes Leben aus dem Gleichgewicht, seit sie aus New York zurück war. Sie wartete insgeheim auf ein Zeichen, wie es weitergehen könnte. Bisher hatte sie sich immer mit der Genauigkeit eines Lasers auf ein Ziel fokussiert. Zuerst der Umzug nach New York, dann Schauspielunterricht und die Suche nach einem geeigneten Agenten. Danach kamen die Rollen, jede etwas bedeutender und besser als die vorherige. Doch hier in Sibleyville gab es kein Ziel mehr, außer morgens aufzustehen und abends schlafen zu gehen. Sie trudelte orientierungslos durchs Leben und schien nichts daran ändern zu können. Es wurde wirklich Zeit, sich darüber klar zu werden, was sie wirklich wollte.

Leise fluchend ging Charlie die Treppe hoch und räumte den Verkostungsraum auf. Durch die Tür zum Apartment hatte sie vorhin das Rauschen der Dusche gehört, aber jetzt war es still. Sie ging hinüber und klopfte an.

Ronan machte die Tür auf. Mit nacktem Oberkörper. Die Cargoshorts saßen tief auf seiner Hüfte. Sein Haar war nass, Wassertropfen perlten von seiner breiten Brust. Charlie atmete tief ein und nahm den Duft von Seife und Shampoo wahr. Ihre Finger zuckten. Sie unterdrückte den Drang, ihm das Wasser mit der Hand von der Haut zu wischen. „Ich dachte, es wäre gut, wenn ich Ihnen die Farm zeige“, sagte sie.

„Gern. Lassen Sie mich nur schnell ein Shirt überziehen.“

Sie schluckte schwer. „Ich warte draußen am Auto.“

Das Bild von Ronan, halb nackt, war nun in ihr Gedächtnis eingebrannt. Es war ein Eindruck, den sie auch gar nicht vergessen wollte. Sein Körper war schön – schlank und dennoch muskulös, perfekt proportioniert. Es hatte sie ihre ganze Willenskraft gekostet fortzugehen. Sie hätte ihn berühren können, aber was dann? Ob er sie geküsst hätte? Sie glaubte, Verlangen in seinem Blick zu sehen, doch da sie bislang nur mit einem Mann zusammen gewesen war, hatte sie kaum Vergleichsmöglichkeiten. Ihr blieb nur abzuwarten, bis er den ersten Schritt machte. So ersparte sie sich wenigstens die Demütigung, von ihm abgewiesen zu werden, falls sie seine Signale falsch deutete.

Charlie lief die Treppe hinunter, stolperte auf der letzten Stufe und hielt sich am Geländer fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Bei Ronan die Haltung zu bewahren würde weitaus schwieriger werden. Jedes Mal wenn sie ihn anschaute, wurden ihr die Knie weich, und ihr Verstand setzte aus.

Sie nahm eine Broschüre aus dem Regal neben dem Eingang und ging hinaus zu ihrem Geländewagen. Als sie den Wagen startete, erklang ein Liebeslied aus dem Radio. Fluchend stellte sie es aus. Jetzt auch noch von einer Beziehung zu träumen war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Außerdem war es, sollte sich der Fluch als wahr herausstellen, unmöglich, sich innerhalb der Grenzen von Sibleyville zu verlieben.

Ein paar Minuten später kam Ronan heraus. Charlie hupte, und als er eingestiegen war, reichte sie ihm die Broschüre. „Darin finden Sie eine Karte. Sie werden lernen müssen, wie Sie an den Teich und zur Bucht kommen, auf der Straße wie auf dem Wasser. Morgen zeige ich Ihnen den Weg übers Wasser, heute fahren wir über Land.“

„Ich habe kein Auto“, sagte er.

„Wie sind Sie denn hergekommen?“, fragte sie, während sie vom Parkplatz auf die Straße bog.

„Mit dem Bus.“

Charlie runzelte die Stirn. Warum sollte ein Mann wie Ronan per Bus reisen? Er hätte ihr ebenso gut erzählen können, dass er auf einem Kamel hergeritten war. „Mit dem Bus?“

„Ja. Das gehörte zum Deal.“

„Was für ein Deal?“ Plötzlich wurde sie hellhörig. „Sie sind nicht gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, oder?“

Ronan lachte. Es war ein tiefes, klangvolles Lachen, das ihr Herz schneller schlagen ließ. Sie schaute zu ihm hinüber und sah ihn lächeln. Verdammt, das machte ihn noch attraktiver, falls das überhaupt möglich war. „Und?“

„Nein“, erwiderte er. „Mein Großvater hat mich auf diese Reise geschickt. Er suchte das Ziel aus, kaufte mir dir Busfahrkarte und schickte mich los.“

„Warum?“

Er machte eine lange Pause, als ob er überlegte, wie viel er ihr anvertrauen konnte. „Als meine drei Brüder und ich Kinder waren, starben unsere Eltern bei einem Unfall.“

„Das tut mir leid“, murmelte Charlie.

„Danach haben wir alle zusammen im Familienunternehmen mitgearbeitet“, fuhr er fort. „Wir bauen Segeljachten nach Maß. Quinn Yachtworks in Seattle.“

„Das ist also der Grund, weshalb Sie so viel über die Jolle wussten.“ Sie riskierte einen weiteren Blick zu ihm hinüber und ertappte ihn dabei, wie er sie musterte. „Warum hat Ihr Großvater Sie fortgeschickt?“

„Er wollte, dass wir eine Weile ein anderes Leben führen. Um herauszufinden, ob wir uns weiterhin im Familienbetrieb engagieren oder lieber eigene Wege gehen wollen.“

„Da haben Sie sich entschieden, es mit der Austernzucht zu versuchen“, sagte sie. „Ich bin mir nicht sicher, ob das eine vernünftige Wahl ist. Es ist nicht annähernd so prestigeträchtig wie Jachten zu bauen, sondern eine schmutzige, schweißtreibende Arbeit. Und an manchen Tagen werden die Mücken zur echten Plage.“

„Schwere Arbeit macht mir nichts aus“, entgegnete Ronan. „Außerdem bin ich gern an der frischen Luft.“

„Na schön“, meinte Charlie. „Jetzt passen Sie auf. Die nächste Abbiegung kann man leicht verpassen.“ Sie deutete auf das Hinweisschild für die Zuchtstätte, bevor sie die enge gewundene Straße zum Kepley Pond hinunterfuhr. „Der Bruder meines Dads, Onkel Jake, leitet die Aufzucht.“

Sie hielt vor dem Gebäude, sprang aus dem Wagen und wartete, bis Ronan ihr folgte. „Hier fangen wir an“, erklärte sie. „Am Kepley Pond. Es ist in Wirklichkeit kein Teich, sondern eine Flussmündung. Wenn die Austern aus der Zuchtstätte so weit sind, verlegen wir sie in ein Auftriebssystem unter diesen sechs Docks.“

Sie führte ihn zu den langen Holzstegen, die ins brackige Wasser ragten. „Während der Wachstumsphase befinden sie sich in Behältern auf dem Meeresboden, wobei wir darauf achten, dass sie genügend Platz haben, um sich gleichmäßig zu entwickeln. Sobald sie groß genug sind, verpflanzen wir sie in die Bucht.“

„Wie machen Sie das?“

„Wir werfen sie mit einer Schaufel über Bord. In dem eher kalten Wasser wie hier in Maine brauchen Austern drei bis vier Jahre, bevor wir sie ernten können. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, meistens mit Schleppnetzen. In manchen Bereichen kultivieren wir die Austern in Laternennetzen. Bei Niedrigwasser können wir sie von Hand ernten.“ Sie lächelte. „So, das ist Austernzucht kurz gefasst.“

Sie gingen ans Ende eines Docks, wo Charlie ihm das Auftriebssystem erklärte. Als sie die Abdeckung wieder zugeklappt hatte, setzte Ronan sich auf den Steg und schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Sie setzte sich neben ihn und musterte ihn. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

Er schüttelte den Kopf, den Blick auf einen Punkt auf dem Fluss fixiert. „Ich muss also mit dem Boot rausfahren?“

„Ja. So pflanzen und ernten wir. Können Sie nicht schwimmen?“

„Doch, ich kann schwimmen. Ich bin nur kein großer Fan von Booten. Und der tiefen, dunklen See.“

„Das ist allerdings ein Problem“, meinte sie. Warum hatte er sich um einen Job auf einer Austernfarm beworben, wenn er nicht aufs Wasser hinaus mochte? Austern wuchsen schließlich nicht auf dem Acker.

„Nein, ist es nicht“, erwiderte er mit gereizter Stimme. „Ich brauche den Job. Ich werde es einfach ignorieren.“

„Wir tragen Schwimmwesten bei der Arbeit. Wenn Sie über Bord gehen, ziehen wir Sie heraus. Meine Brüder und Schwestern fallen dauernd ins Wasser.“ Charlie schwieg einen Moment. „Warum haben Sie Angst vor Wasser?“

„Es hat mit meiner Kindheit zu tun. Es ergibt wirklich nicht viel Sinn.“

„Sie können es mir erzählen“, ermunterte sie ihn.

„Meine Eltern – sie gingen auf See verschollen.“ Ronan wandte sich zu ihr um. „Sie waren mit einer Segeljacht im Pazifik unterwegs und verschwanden einfach. Wahrscheinlich ging das Boot in einem Sturm unter. Vielleicht wurde es auch von einem Containerschiff gerammt. Niemand weiß es.“

„Oh mein Gott“, murmelte sie. „Das muss schrecklich gewesen sein.“

„Danach konnte ich mich nicht überwinden, ein Boot zu betreten. Immer wenn ich es versuchte, geriet ich in Panik.“

Charlie legte ihre Hand auf seine. „Ich glaube, daran können wir arbeiten.“

„Sie brauchen mich nicht zu bezahlen, bevor ich voll einsatzfähig bin“, bot er an. „Es ist mein Problem. Ich kriege das hin.“

„Natürlich. Was halten Sie davon, wenn wir heute Abend eine kleine Bootsfahrt unternehmen? Als Test gewissermaßen. So ein Meeresarm ist ganz anders als die offene See.“

Er schaute auf ihre Hände, dann verschränkte er seine Finger mit ihren. Als er wieder aufsah, trafen sich ihre Blicke für einen langen Moment. Ronan lehnte sich näher, und einen Herzschlag später berührte er sanft ihre Lippen mit seinen. Er zog sich kurz zurück, dann umfasste er ihr Gesicht und küsste sie richtig.

Es kam unerwartet, aber keineswegs unerwünscht. Charlie wagte kaum zu atmen aus Angst, den Zauber zu zerstören. Es war so lange her, dass ein Mann sie auf diese Weise berührt hatte, doch all die vertrauten Gefühle kehrten schlagartig zurück.

Seufzend wich er zurück. Er hielt ihr Gesicht immer noch umfangen und lehnte seine Stirn an ihre. „War das in Ordnung?“, fragte er leise.

Sie war sich nicht sicher, ob er um Erlaubnis oder um eine Bewertung bat. „Es war sehr in Ordnung. Ich … ich meine, es war gut. Sehr gut. Und auch okay.“

Ronan lächelte. „Also darf ich es wieder tun?“

„Gern“, sagte sie. „Jetzt gleich?“

„Später.“ Er stand auf und half ihr hoch. Als sie neben ihm stand, zog er ihre Hand an seine Lippen und küsste ihr Handgelenk. „Was kommt als Nächstes, Boss?“

Am liebsten hätte Charlie mit dem weitergemacht, was sie gerade getan hatten. Aber später wäre vielleicht besser.

„Ich glaube, ich nehme dich mit nach Hause und stelle dich meinen Eltern vor.“

Er schnappte nach Luft. „Was?“

„Du hast mich geküsst. Du weißt, was das bedeutet. Meine Mama und mein Daddy werden dich unter die Lupe nehmen wollen.“

„Das ist ein Scherz, oder?“

Sie lachte. „Ja. Aber mein Dad wird dich wirklich kennenlernen wollen. Wie jeden anderen, den wir einstellen. Er ist sozusagen der Oberboss.“

„In Ordnung.“

„Ich werde ihm nicht von deiner Angst vorm Wasser erzählen“, versprach sie. „Das behalte ich vorerst für mich.“

„Garrett Sibley, mach die Tür zu! Du lässt die Fliegen rein.“

Charlies Bruder lief die Treppe zur Veranda herunter, drehte sich kurz um und grinste Ronan an. „Heute Abend gibt’s was Indisches“, sagte er. „Ich an Ihrer Stelle würde auf der Stelle umkehren, bevor man Sie zwingt, es zu essen.“

Ronan wandte sich zu Charlie um, die ihn beruhigend anlächelte. „Meine Mutter liebt es, neue Rezepte auszuprobieren. Keine Angst. Wenn es wirklich so schlecht ist, holen wir später etwas zu essen. Sag ihr einfach, dass es schmeckt, und iss langsam.“

„Ich mag indische Küche“, erwiderte er.

„Ich auch. Aber dies wird anders sein, als jedes indische Gericht, das du je gegessen hast. Letzten Monat hat sie sich in der Deutschen Küche probiert, und es hat alles nach Essig geschmeckt.“

Die Familie Sibley wohnte in einem riesigen weißen Haus im viktorianischen Stil in einer schönen Allee im Herzen von Sibleyville. Es war bei Weitem das größte Haus im Ort – ein Zeugnis für die Stellung der Familie in einer Stadt, die ihren Namen trug.

Sie betraten die breite Veranda, auf der alte Korbmöbel standen und die mit bunten Blumenampeln geschmückt war. Ronan hörte jemanden im Haus rufen, und gleich darauf kam ein junges Mädchen durch die Tür gerannt. „Garrett, komm zurück. Du musst mir helfen, die Wäsche zusammenzulegen.“ Sie erstarrte, als sie Charlie und Ronan sah, und musterte ihn misstrauisch.

„Das ist meine Schwester Libby“, sagte Charlie. „Sie ist dreizehn. Libby, das ist Ronan. Er wird für uns arbeiten.“

Libby verdrehte die Augen, rief wieder nach ihrem Bruder und lief die Treppe hinunter.

„Wird deine ganze Familie heute Abend hier sein?“

Charlie nickte. „Isaac und Abby besuchen das College, doch sie wohnen zu Hause. Jane ist achtzehn und Ethan sechzehn, und sie sind beide auf der Highschool. Versuch gar nicht erst, dir alle zu merken.“

„Ich weiß nicht, ob ich es könnte“, meinte er.

„Wenn sie alle hier sind, kann es etwas verrückt zugehen, aber wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat, erscheinen sie einem fast normal. Was immer du tust, sieh dem Hund nicht direkt in die Augen, und wenn mein Bruder Ethan dich auffordert, an seinem Finger zu ziehen, tu es nicht.“

„Falls es heute unpassend ist, kann ich mir immer noch etwas zu essen kaufen“, sagte Ronan.

„Nein, nein, mein Dad wird dich kennenlernen wollen, bevor du bei uns zu arbeiten anfängst. Er muss meiner Wahl zustimmen.“

„Dein Dad hat sich den Rücken verletzt?“

„Ja, letzte Saison. Er hievte eine Kiste Austern vom Boot aufs Dock. Dabei hat er sich unglücklich gedreht und einen Bandscheibenvorfall erlitten.“ Sie fasste an die Tür. „Bereit?“

„Ich denke schon.“

Wie schlimm kann es schon sein? fragte er sich. Charlie war sehr nett. Ach, sie war viel mehr als nett. Sie war lustig und sexy und klug. Doch sie hatte noch etwas anderes an sich, das attraktiv auf ihn wirkte. Eine Wärme, die er selten bei den Frauen fand, mit denen er sich sonst traf.

Die alte Villa war in einem Stil eingerichtet, den Ronan als Chaos des frühen 21. Jahrhunderts bezeichnen würde, kombiniert mit schönen Antiquitäten. Die Möbel waren gebraucht, aber bequem. Jeder verfügbare Platz war ausgefüllt mit bizarrem Krimskra...

Autor

Kate Hoffmann
Seit Kate Hoffmann im Jahr 1979 ihre erste historische Romance von Kathleen Woodiwiss las – und zwar in einer langen Nacht von der ersten bis zur letzten Seite – ist sie diesem Genre verfallen. Am nächsten Morgen ging sie zu ihrer Buchhandlung, kaufte ein Dutzend Liebesromane von verschiedenen Autorinnen und...
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