Die Quinns: Dex

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"Ich will Sie." Für die junge Produzentin Marlie kommt nur ein Kameramann in Frage: Dex Kennedy. Doch der aufregende Ire lehnt seit einem tödlichen Dreh jedes Angebot ab. Auch ihres. Nun, wenn ihr Film ihn nicht reizt, vielleicht können ihn ihre Küsse überzeugen?


  • Erscheinungstag 26.11.2018
  • Bandnummer 22
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758615
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Es sieht wunderschön aus, Sally. Einfach wunderschön.“

Aileen Quinn stand im Foyer ihres irischen Landhauses und ließ den Blick über die stimmungsvolle Dekoration schweifen. Eigentlich war es Anfang November ein wenig verfrüht, alles weihnachtlich herzurichten, aber das war ihr egal.

Die meisten Menschen warteten Mariä Empfängnis am achten Dezember ab, bevor sie mit dem Schmücken begannen, doch Aileen war schon jetzt voller Vorfreude. Dieses Jahr – zum ersten Mal, seit sie denken konnte – würde sie die Feiertage mit fast ihrer ganzen Familie verleben, und die Vorfreude darauf wollte sie ausgiebig genießen.

Sally, die Haushälterin, nickte lächelnd. „Ich hatte schon vergessen, wie viel Freude das Dekorieren macht. Dies wird bestimmt unser schönstes Weihnachten überhaupt.“

„Vielleicht sollten wir oben auch noch einen Baum aufstellen“, meinte Aileen. „Ich habe noch meine Sammlung von deutschen Glasornamenten. Die würde für einen kleinen Baum reichen.“

Früher hatte sie versucht, das Fehlen einer Familie auszugleichen, indem sie das Haus mit Weihnachtsschmuck überfrachtete. Aber echte Stimmung war dabei nie aufgekommen. Wie schön auch alles geschmückt war, es hatte nichts daran geändert, dass sie allein war. Daher hatte sie es in den letzten zwanzig Jahren dann einfach gelassen und die Feiertage so weit wie möglich ignoriert. Sie wäre sonst nur schwermütig geworden.

Es klingelte, und Sally ging zur Tür. „Das ist bestimmt Mr Stephens.“ Sie lugte durch die Scheibe und drehte sich wieder zu Aileen um. „Er hat einen Gast mitgebracht. Eine junge Lady.“

Aileen zog eine Augenbraue hoch und lächelte leicht. „Na, das ist eine Überraschung. Als ich das letzte Mal mit Ian sprach, unterhielten wir uns über sein ziemlich tristes Privatleben. Ich kann nicht glauben, dass sich das so schnell geändert hat.“

Sally zog die Tür auf. Aileen näherte sich auf ihren Stock gestützt, um die Gäste zu begrüßen. Ihr Blick fiel auf eine hübsche junge Frau mit hellgrünen Augen und dunklem Haar, das ihr in weichen Locken auf die Schultern fiel. „Hallo“, sagte Aileen und streckte die Hand aus. „Ich bin Aileen Quinn.“

Die junge Frau lächelte errötend. „Miss Quinn, es ist mir eine große Freude, Sie kennenzulernen. Vielen Dank, dass Sie mich in Ihrem Haus willkommen heißen.“ Sie schaute sich im Foyer um. „Es ist schön hier.“

Dem Akzent nach war sie Amerikanerin. Aileen sah Ian an. „Würden Sie uns bitte vorstellen, Mr Stephens?“

„Oh ja, ja. Entschuldigung. Miss Quinn, das ist Marlena Jenner von Back Bay Productions in Boston. Sie ist die Produzentin, von der ich Ihnen erzählt habe. Die Dame, die eine Dokumentation über Ihr Leben drehen möchte.“

Aileen lachte leise. „Verstehe. Nun, Mr Stephens, ich bewundere Ihre Hartnäckigkeit. Doch wie ich schon sagte, bin ich mir nicht sicher, ob mein Leben interessant genug für einen Film ist.“

„Oh, aber bestimmt“, meinte Marlena. „Sie haben es von einem armen Mädchen zur Millionärin gebracht. Ihre Bücher sind auf der ganzen Weltbeliebt, und ich bin davon überzeugt, dass Ihre Leser gern mehr über Sie erfahren würden. Sie haben in all den Jahren nur wenige Interviews gegeben, Miss Quinn.“ Sie holte kurz Luft, ehe sie fortfuhr: „Außerdem hat Ian mir von Ihrer Suche nach Ihren Brüdern erzählt. Vielleicht könnte ein Dokumentarfilm helfen, auch Conals Spur zu finden.“ Sie wandte sich zu Ian um. „Er heißt doch Conal, nicht wahr?“

Ian nickte, und Marlena setzte schon an, um weiterzusprechen. Doch Aileen kam ihr zuvor. „Miss Jenner, ich …“

„Bitte nennen Sie mich Marlie. Schließlich werden wir die nächsten Monate eng zusammenarbeiten. Zumindest hoffe ich das. Ich bin Ihr größter Fan und habe all Ihre Bücher gelesen. Manche davon sogar drei- oder viermal. Sie haben mir durch eine sehr schwierige Phase meines Lebens geholfen.“

Aileen schaute zwischen Ian und Marlie hin und her. „Nun, da Sie so entschlossen sind, sollten wir uns setzen und uns unterhalten. Sally, würden Sie uns bitte Tee bringen? Wir trinken ihn in der Bibliothek.“

Vielleicht hatte die hübsche junge Frau ja recht. Vielleicht war dies die einzige Möglichkeit, ihren Bruder und seine Nachkommen zu finden. Ein Film über ihr Leben könnte sie bei der Suche nach Conal viel weiter bringen als ihre fast fertiggestellte Autobiografie in Buchform.

Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Mit siebenundneunzig war sie dankbar für jeden neuen Morgen, den sie erlebte. Über Weihnachten plante sie eine große Familienzusammenkunft, für die sie extra ein Schloss gemietet hatte. Doch solange sie nicht wusste, was aus Conal geworden war, fehlte etwas.

Sie hakte sich bei Marlena unter. „Also, erzählen Sie, Miss Jenner. Wie soll das alles ablaufen? Wann fangen wir an?“

„Nächste Woche. Wir beginnen damit, Interviews mit Ihnen zu führen. Zum Abschluss würden wir auch gern Ihre Familie bei der Weihnachtsfeier filmen, falls Sie damit einverstanden sind.“

Die junge Dame schien recht engagiert zu sein. Außerdem war sie ein Fan von ihr, also konnte Aileen damit rechnen, dass das Filmporträt schmeichelhaft ausfallen würde. Sie hatte nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Conal. Er war der Einzige, den sie noch nicht gefunden hatte.

„Wunderbar“, meinte Aileen. „Und wie schnell kann die Dokumentation fertig sein?“

1. KAPITEL

Schweißgebadet wachte er auf. Die Dunkelheit schien ihn wie ein gigantischer schwarzer Strudel zu verschlucken. Dex Kennedy rang nach Luft, setzte sich auf und warf die Bettdecke beiseite.

Wo war er? Wie spät war es? Er holte tief Luft und versuchte, irgendeinen Geruch wahrzunehmen, der ihm einen Hinweis liefern könnte. Er war weder in der Wüste noch im Dschungel. Die Laken dufteten nach Lavendel, und da erinnerte er sich, dass er in Irland war, in der Wohnung seiner Schwester in Killarney. Ihm drohte keine Gefahr. Er befand sich in Sicherheit.

Dex schaltete die Nachttischlampe ein und rieb sich die Augen. Wann hören diese Albträume endlich auf? fragte er sich. Beinahe ein Jahr war inzwischen vergangen. Obwohl er sich körperlich von den beiden Schusswunden erholt hatte, war er gedanklich immer noch auf der Landepiste mitten im Dschungel Kolumbiens.

Er und sein Partner Matt Crenshaw waren dorthin geflogen, um Filmmaterial für eine Dokumentation über die Drogenkriege im Land zu sammeln. Mithilfe einiger Einheimischer hatten sie es geschafft, belastendes Material über eins der mächtigsten Kartelle zu filmen. Sie waren schon fast am Flugzeug und in Sicherheit gewesen, als Handlanger der Drogenbosse aus dem Hinterhalt auf sie geschossen hatten.

Matt war ins Bein getroffen worden, bevor sie in die wartende Maschine einsteigen und fliehen konnten. Seine Oberschenkelarterie war verletzt worden. Er war vor Dex’ Augen verblutet, auf ihrem Flug hoch über dem Dschungel.

Dex atmete rasselnd ein und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Eine kleine Glasflasche mit Schlaftabletten stand ungeöffnet auf dem Nachttisch. Vielleicht sollte er doch ein paar davon nehmen. Die Aussicht, eine Nacht durchzuschlafen, war beinahe unwiderstehlich. Er sehnte sich danach, das Gedankenkarussell endlich stoppen zu können.

Dex schüttete die Pillen in seine hohle Hand und starrte sie an. Er konnte verstehen, dass manch einer einfach alle auf einmal schluckte. Schlafmangel stellte seltsame Dinge mit dem Verstand an und konnte einen zu verzweifelten Mitteln greifen lassen, nur um für ein paar Momente Frieden zu finden.

Leise fluchend warf er die Tabletten an die Wand.

„Dex?“ Gedämpft drang die Stimme seiner Schwester durch die Tür. „Bist du noch wach?“

„Ja!“, rief er.

„Bist du … Bist du okay?“

„Alles ist gut.“ Er schwang die Beine über die Bettkante, stand auf und stieg in seine Hose. Die Blutflecken auf ihr waren immer noch sichtbar, aber während der vergangenen Monate verblasst.

Er hätte die Hose wegwerfen sollen. Sie war eine ständige Erinnerung an das, was geschehen war. Doch Dex wollte erinnert werden. Matt war sein bester Freund gewesen und der Einzige, mit dem er je als Partner hatte zusammenarbeiten wollen. Schmerzhaft verkrampfte sich seine Brust. Er würde niemals vergessen.

Als er aus dem Zimmer kam, stand seine Zwillingsschwester Claire vor der Tür und musterte ihn besorgt. Ihr kurzes dunkles Haar stand ihr wirr vom Kopf ab, und ihr sonst sorgfältig geschminktes Gesicht war frisch gewaschen.

„Du siehst furchtbar aus“, stellte sie fest. „Wirklich, Dex. Wie lange willst du noch so weitermachen, bevor du dir endlich Hilfe suchst?“

„Ich bin in der Apotheke gewesen und habe mir Schlaftabletten gekauft“, entgegnete er auf dem Weg in die Küche.

„Haben sie nicht gewirkt?“

„Ich habe sie nicht genommen.“

Sie warf die Hände in die Luft. „Nun, wahrscheinlich haben sie deshalb nicht gewirkt. Es wird Zeit, dass du wieder ein geregeltes Leben führst und ein paar Nächte schläfst.“

Dex holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer, wo er die Fernbedienung des Fernsehers nahm und einen Sportkanal einschaltete.

Claire sank neben ihm aufs Sofa und faltete die Hände im Schoß. Schweigend starrte sie ihn an. Als er sie ansah, bemerkte er Tränen in ihren Augen. „Nicht“, murmelte er. „Ich werde wieder okay. Es wird nur eine Weile dauern.“

„Vielleicht solltest du dir eine Aufgabe suchen“, schlug sie vor. „Untätig hier herumzuhängen tut dir nicht gut.“

„Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Ich bin Filmemacher. Das ist alles, was ich je sein wollte, seit ich vierzehn war. Ich weiß nicht, ob ich dazu geeignet bin, Autos zu verkaufen oder in einem Pub zu kellnern.“

„Das meinte ich auch nicht. Ich habe auf dein Handy geguckt. Dein Agent simst dich wegen aller möglichen Projekte an. Außerdem habe ich diverse Anrufe für dich entgegengenommen. Warum redest du nicht einfach mal mit diesen Leuten? Hörst dir an, was sie für dich haben? Es kann nicht schaden.“

Dex trank einen Schluck Bier. Dass Claire sein Handy überprüft hatte, überraschte ihn nicht. Zwischen ihnen hatte es noch nie Geheimnisse gegeben. „Es wäre nicht dasselbe. Ich bin zwar ein guter Kameramann, aber Matt war derjenige, der die Geschichten erzählt hat. Ich kann eine Geschichte nur mit Bildern erzählen, nicht mit Worten.“

Claire nahm einen Zettel vom Tisch und reichte ihn ihm. „Ian Stephens. Er hat dreimal angerufen. Ein netter Mann, mit einem britischen Akzent, der sehr sexy klingt. Hier hast du seine Nummer und die von der Frau, mit der er zusammenarbeitet, Marlena Jenner. Sie ist die Produzentin des Projekts.“

Er starrte auf die beiden Nummern. „Was ist das für ein Projekt? Hast du gefragt?“

„Ein Film über Aileen Quinn.“

„Die Schriftstellerin?“

Sie nickte. „Meine Lieblingsautorin. Irlands Lieblingsautorin.“

„Das ist nicht die Art Arbeit, die ich normalerweise mache.“

„Das ist vielleicht gerade das Gute daran. Niemand würde auf dich schießen.“

„Ich bin noch nicht so weit, wieder zu arbeiten“, erwiderte er.

„Aber du hast es gerade gesagt, Dex. Du bist Filmemacher, wolltest nie etwas anderes sein.“

„Verdammt, ich bin mir nicht mehr sicher, was ich bin“, flüsterte er gequält. „Ich … Ich weiß einfach nicht, was ich will.“ Er schüttelte den Kopf. „Doch, ich weiß genau, was ich will – eine Nacht durchschlafen. Das ist mein größter Wunsch.“

Claire legte den Arm um seine Schultern und blieb neben ihm sitzen. So war es immer zwischen ihnen gewesen. Sie hatten schwere Zeiten durchgemacht, aber sie hatten sich stets gegenseitig gestützt.

Ihre Eltern waren Schauspieler, die in Irlands kleiner Filmbranche ziemlich erfolgreich gewesen waren. Die Familie hatte in London, New York City, Toronto und dann wieder in Dublin gelebt. Doch als ihr Vater eine Rolle in einer amerikanischen Fernsehserie bekam, waren sie nach Kalifornien gezogen. Eine irische Familie unter Filmstars, Palmen und ewigem Sonnenschein.

Für Dex und Claire, die damals schon in die Schule gingen, war die Umstellung schwierig gewesen. Sie fanden nicht leicht Anschluss und verbrachten viel Zeit miteinander. Als die vierte Staffel der Serie gedreht wurde und die Zwillinge auf die Highschool wechseln konnten, beschlossen sie, nach County Kerry zurückzukehren. Dort lebten sie bei der Mutter ihres Vaters, die sie liebevoll Nana Dee nannten.

Dierdre O’Meara Kennedy hatte sie durch ihre Teenagerjahre begleitet, bis sie mit dem Studium begonnen hatten – Dex am Filminstitut der UCLA und Claire am Historischen Seminar des Trinity College in Dublin. Aber das kleine Cottage auf der Halbinsel Iveragh war immer das einzige richtige Zuhause der Geschwister geblieben. Vor drei Jahren war Nana Dee gestorben und hatte ihnen das Häuschen, voll mit Erinnerungen an ihr Leben, hinterlassen.

„Es gibt etwas, das du für mich tun könntest“, sagte Claire.

„Ich werde dir nicht helfen, Klassenarbeiten zu korrigieren“, erwiderte Dex. „Oder das Chaos auf deinem Laptop entwirren. Oder deine Klapperkiste von Auto reparieren.“

„Wir müssen Nanas Haus ausräumen“, erklärte sie. „Ich habe mir überlegt, dass wir es vermieten könnten. Dazu müssten wir allerdings vorher alles durchsehen und entscheiden, was wir behalten möchten und was wir für den Gemeindeflohmarkt spenden könnten.“

„Sie hat über fünfzig Jahre in dem Haus gelebt“, entgegnete er.

„Ich weiß. Aber du hast Zeit, und es wird dich ablenken. Außerdem könnten wir die zusätzlichen Mieteinnahmen wirklich gebrauchen. Mit meinem Hungerlohn als Geschichtslehrerin kann ich deinen Bier- und Whiskeykonsum nicht mehr lange finanzieren.“ Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand und trank einen Schluck. „Versteh mich nicht falsch, ich bin froh, dass du hier bist. Doch du wirst immer blasser und kriegst einen Bauch. Du musst raus. Geh an die Sonne und trainiere.“

Dex lachte leise. „Na schön. Ich mach es. Was wollen wir behalten?“

„Wir lassen die Möbel stehen, damit wir das Haus möbliert vermieten können. Die Kleidung sehe ich durch. Sortier du die Erinnerungsstücke vor, die alten Fotos und Andenken, und lass sie uns später gemeinsam durchgehen.“

Die Idee gefiel ihm. Er musste sich auf etwas anderes konzentrieren als auf seine ungewisse Zukunft. Und wenn er bis zum Umfallen in Nanas Haus arbeitete, würde er vielleicht endlich Schlaf finden – auch das war eine Perspektive.

„In Wahrheit habe ich schon jemanden, der sich das Haus morgen anschauen möchte“, fuhr Claire fort. „Es ist eine Austauschlehrerin, die für ein Halbjahr an unsere Schule kommt. Zeig ihr alles, und sag ihr, dass bis zu ihrem Einzug im Januar alles fertig sein wird.“

„Okay.“

Claire umarmte ihn und drückte ihn fest. „Es wird besser, kleiner Bruder. Das verspreche ich.“

Er lächelte. Obwohl er nur sechs Minuten nach ihr geboren worden war, hatte sie ihn immer ihren kleinen Bruder genannt. „Ja. Ich weiß.“

Doch noch während er die Worte aussprach, zweifelte er an ihnen. Sein Leben, so wie er es einmal gekannt hatte, war vorbei. Jetzt trieb er in einem dunklen Meer von Unentschlossenheit. Die Dinge würden nie mehr dieselben sein. Wie könnten sie es auch?

Marlena Jenner starrte auf die Landkarte und dann auf den Wegweiser vor ihr. Vielleicht sollte sie einfach aufgeben und nach der Richtung fragen. Es dämmerte bereits. Wenn sie im Dunkeln die Karte nicht mehr lesen konnte, würde sie den Weg nie finden. Es kam ihr jetzt schon so vor, als wäre sie seit Stunden im Kreis herumgefahren.

Kopfschüttend warf sie die Karte beiseite. „Lass es einfach“, sagte sie laut. „Irland ist eine Insel. Und ich befinde mich gerade auf einer Halbinsel. Früher oder später werde ich entweder das Haus finden oder am Wasser landen.“

Sie las, was auf dem Wegweiser stand. „Knockaunnaglashy. Wie kommen sie nur auf diese Namen?“ Sie fuhr mit ihrem Fiat die schmale Straße hinunter. Nachdem sie zahlreiche Nachrichten bei Dex Kennedys Agenten hinterlassen hatte und ihr ebenso oft versichert worden war, dass er sich bei ihr melden würde, hätte sie beinahe aufgegeben. Doch nach zwei Wochen hatte sie überraschend einen Anruf von Kennedys Schwester Claire erhalten, die ihr gesagt hatte, wo sie Dex finden würde.

Unter den irischen Dokumentarfilmern war Dex Kennedy der beste. Es hieß, dass er zurzeit keinen Auftrag hatte, weil er noch unter dem Verlust seines Freundes und Partners Matt Crenshaw litt und auf ein geeignetes Projekt wartete. Und Marlie hatte das perfekte Projekt für ihn.

Gut, es war keine riskante, actionreiche Story, wie er sie sonst drehte, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht wichtig war. Außerdem hatte Marlie für die Geschichte einen großartigen Aufhänger, der ihn hoffentlich reizen würde.

Dank ihrer Großmutter verfügte sie endlich über die finanziellen Mittel, um eine Dokumentation über ihre Lieblingsautorin Aileen Quinn zu drehen. Aileen hatte eingewilligt, persönlich darin mitzuwirken. In fünf Tagen sollten die Aufnahmen beginnen. Ein Kameramann von Dex Kennedys Kaliber würde das Projekt in der Branche erheblich aufwerten.

Doch zuerst musste sie Dex Kennedy finden. Die Straße schlängelte sich einen langen Hügel hinunter, und plötzlich ergab die Wegbeschreibung einen Sinn. „Biegen Sie an der blauen Hütte mit dem Reetdach rechts ab“, wiederholte Marlie, „und fahren Sie weiter, bis die Büsche über dem Weg zusammenwachsen.“ Eine gefühlte Ewigkeit rumpelte der Wagen über Schlaglöcher, und gerade als Marlie aufgeben und umkehren wollte, sah sie eine Reihe von Sträuchern, die sich über die schmale Straße bogen. „Noch einmal rechts an der Steinmauer neben der alten Abtei.“ Prompt tauchten die Mauer und eine Klosterruine vor ihr auf.

Marlie lächelte. Claire Kennedys Anweisungen stimmten auf den Punkt genau.

Der Ausblick über die sanften Hügel, kreuz und quer durchzogen von Steinmauern und dahinter die See, war atemberaubend. Wie überall in Irland leuchtete das Grün der Wiesen so intensiv, dass es fast in den Augen schmerzte. Vielleicht lag es an der Sonne, die tiefer am Himmel zu stehen schien als anderswo und immer hinter bauschigen weißen Wolken hervorlugte. Marlie fragte sich, ob die Landschaft im Film wohl ebenso beeindruckend wirken würde wie in Natur.

Sie sah das Ortsschild, noch ehe sie die kleine Ansammlung von Häusern und Nebengebäuden entdeckte. Obwohl sie nur eine halbe Autostunde von Killarney entfernt war, kam ihr der Ort wie aus einer anderen Zeit vor.

Es gab keine Hausnummern, aber dank Claires Beschreibung fand sie das Cottage trotzdem. Marlie hielt vor einer wuchernden Ligusterhecke und stieg aus.

Sie atmete tief durch, während sie durch den verwilderten Vorgarten auf das Haus zuging und im Stillen ihre Argumente rekapitulierte. Sie hatte vor, an Dex Kennedys Nationalstolz zu appellieren. Wer wäre besser geeignet, eine Dokumentation über eine große irische Schriftstellerin zu drehen als ein großer irischer Filmemacher? Niemand könnte die Geschichte besser erzählen als er. Für ihn wäre es noch dazu eine angenehme Abwechslung, die ihm ermöglichte, in seinem eigenen Bett zu schlafen.

Sie unterdrückte ein Stöhnen. Spielte das für einen Mann wie ihn überhaupt eine Rolle? Er war in Sierra Leone und Tschetschenien gewesen, in Libyen und Afghanistan. Hatte unter primitivsten Bedingungen gelebt, um an die besten Storys zu kommen. Wohnkomfort war vermutlich das Letzte, das ihn interessierte.

Energisch klopfte sie an die Haustür, die nur ein paar Sekunden später aufschwang. Marlie stockte der Atem. Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann, der sie neugierig musterte. Sein offenes Hemd entblößte eine glatte, muskulöse Brust. Sein dickes rabenschwarzes Haar war zerzaust, als wäre er gerade aus dem Bett gekrochen.

„Hi“, brachte sie mit krächzender Stimme hervor. Mehr fiel ihr nicht ein.

„Hallo.“ Er schaute ihr in die Augen und zog leicht die Brauen zusammen. Marlie nahm sich vor, ihr Anliegen so schnell wie möglich vorzutragen – ehe er sie hinauswerfen konnte. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie unglaublich attraktiv Dex Kennedy in Wirklichkeit war.

Sie hatte zwar Fotos von ihm gesehen, aber sie wurden ihm nicht gerecht, da er auf ihnen meist eine Sonnenbrille trug und eine Baseballmütze, die er sich tief in die Stirn zog. Jetzt hingegen, ohne Mütze und Brille, kamen seine ebenmäßigen Gesichtszüge voll zur Geltung. Er hatte hohe Wangenknochen und eine gerade Nase, ein starkes Kinn und Lippen, die … sehr zum Küssen reizten. Marlie schluckte schwer. Er war eindeutig der Typ Mann, bei dem eine Frau weiche Knie bekam.

Sie suchte nach einem Makel in seinem Gesicht und hätte fast schon aufgegeben, als sie die dunklen Schatten unter seinen Augen bemerkte. Er sah aus, als ob er in der vergangenen Nacht lange unterwegs gewesen wäre. Sie fragte sich, ob Schlafmangel ihn reizbar gemacht haben könnte, und beschloss, vorsichtig vorzugehen.

„Meine Schwester meinte, dass Sie vorher anrufen würden“, sagte er und trat zur Seite. „Kommen Sie herein. Ich bin Dex. Dex Kennedy.“

Oh, dieser Akzent! Wenn sein Aussehen sie nicht schon nervös gemacht hätte, dann hätte allein seine tiefe, volle Stimme es geschafft.

„Und Sie sind?“, fragte er. „Es tut mir leid, ich fürchte, ich habe es vergessen, falls meine Schwester mir Ihren Namen genannt hat.“

„Marlie. Marlie Jenner.“

Nun, dachte sie, das fängt doch eigentlich ganz gut an. Immerhin hatte er ihr nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen. Vielleicht hatte Claire ihr den Weg bereits geebnet.

„Kommen Sie“, forderte er sie erneut auf.

Ihr wurde bewusst, dass sie wie festgenagelt an der Tür stehen geblieben war, und sie trat ein. „Danke.“

„Es ist ein wenig kalt hier drin“, meinte er. „Wir haben die Heizung aus Kostengründen runtergeschaltet. Ich zeige Ihnen zuerst die Küche. Möchten Sie vielleicht einen Tee?“

Marlie folgte ihm. Sie war sich nicht sicher, was es in der Küche so Wichtiges zu sehen gab. Aber wenn es half, ihn für ihr Projekt zu begeistern, würde sie ihm sogar Tee kochen. Zumindest würde ihr das Zeit geben, sich zu sammeln.

„Ich könnte den Tee machen“, bot sie an.

„Nur wenn Sie auch einen wollen.“

„Eigentlich trinke ich lieber Kaffee.“

„Möchten Sie welchen?“

„Nein“, antwortete sie.

Peinliches Schweigen entstand. Marlie musste sich eingestehen, dass er sie ein wenig einschüchterte. Schließlich war Dex Kennedy ein preisgekrönter Dokumentarfilmer. Und noch dazu heiß.

„Was halten Sie davon?“, fragte er schließlich.

„Wovon?“

„Ich weiß, die Ausstattung ist nicht gerade luxuriös. Die Sachen sind alt, doch alles ist voll funktionstüchtig. So etwas wie eine Mikrowelle oder technischen Schnickschnack haben Sie hier nicht. Manche Menschen finden das charmant.“

„Ja. Das ist es auch.“

„Vermutlich möchten Sie jetzt das Schlafzimmer sehen?“ Wieder schaute er ihr in die Augen, aber diesmal ein wenig länger als nötig. Spürte er die gleiche seltsame Anziehungskraft wie sie? Oder bildete sie sich das nur ein?

„Hier entlang“, sagte er und ging vor. Marlie nutzte die Gelegenheit, um seine muskulösen Schultern unter dem ausgeblichenen Baumwollhemd zu bewundern. Ihr Blick wanderte tiefer und blieb an seinem Hintern hängen, ausgerechnet in dem Moment, als Dex plötzlich stehen blieb und sich umdrehte.

Er zog eine Augenbraue hoch, und es zuckte leicht um seine Mundwinkel. „Gehen Sie ruhig hinein. Möchten Sie vielleicht die Matratze ausprobieren?“

Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Trieb er ein Spiel mit ihr, um ihr Selbstbewusstsein zu erschüttern? Oder wollte er testen, wie weit sie gehen würde, um ihr Ziel zu erreichen? Obwohl sie dafür ganz sicher nicht mit ihm ins Bett steigen würde.

„Mr Kennedy, ich glaube nicht …“

„Das Bett ist nicht groß“, meinte er. „Aber ich denke, es ist genug Platz für … was auch immer.“ Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer. „Bitte sehr.“

Zögernd trat sie über die Schwelle. Was zum Teufel ging hier vor? „Mr Kennedy, ich weiß nicht, ob …“

„Sie müssen mich nicht Mr Kennedy nennen“, unterbrach er sie mit sanfter Stimme. „Dex genügt völlig.“

Marlie presste eine Hand an ihre Brust. Ihr Herz klopfte wild. Die ganze Sache war verrückt! Sie kannte diesen Mann nicht einmal, und doch – das wusste sie – würde sie aufs Bett fallen und sich ihm willig hingeben, wenn er ihr nur einen kleinen Schubs geben würde.

„Ah …“

„Dex“, sagte er, als ob sie eine Erinnerung brauchte.

In Wahrheit hatte sie seinen Namen tatsächlich für einen Moment vergessen – wie auch den Grund, aus dem sie hergekommen war. „Dex“, wiederholte sie. Langsam drehte sie sich zu ihm um, entschlossen, sich der Versuchung zu stellen.

„Oh, um es nicht zu vergessen, Claire meinte, dass die Miete sehr moderat ist. Für ein Haus wie dieses.“

„Miete?“

„Sie haben nicht damit gerechnet, Miete zu zahlen?“

„Hat Ihre Schwester Ihnen gesagt, dass ich komme?“

„Ja. Sie hat mir erzählt, dass Sie eine Bleibe brauchen, wenn Sie nächstes Halbjahr an ihrer Schule unterrichten.“

Ah, offensichtlich hielt er sie für jemand anders. Doch vielleicht könnte sie das zu ihrem Vorteil nutzen. Wenn er sie erst etwas besser kannte, wäre er vielleicht eher geneigt, ihren Vorschlag anzunehmen.

„Wie hoch ist die Miete?“

Autor

Kate Hoffmann
Seit Kate Hoffmann im Jahr 1979 ihre erste historische Romance von Kathleen Woodiwiss las – und zwar in einer langen Nacht von der ersten bis zur letzten Seite – ist sie diesem Genre verfallen. Am nächsten Morgen ging sie zu ihrer Buchhandlung, kaufte ein Dutzend Liebesromane von verschiedenen Autorinnen und...
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