Julia Weekend Band 121

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DREI ROMANE VON SANDRA MARTON

KÜSS MICH, PLAYBOY!

Raffaele Orsini hat alles, was ein Playboy braucht: Er sieht gut aus, ist megareich, erfolgreich und ein geradezu begnadeter Liebhaber. Nur Chiara, die stolze Sizilianerin aus einfachem Hause, will nichts von ihm wissen. Doch er wäre kein Orsini, wenn er so einfach aufgeben würde …

PLAYBOY MIT HERZ?

Nie hat Millionär Dante Orsini daran gedacht, sein Herz für mehr als eine Nacht zu verschenken. Bis er seine Ex-Affäre Gabriella wiedersieht – und sie immer noch so sehr begehrt! Aber was ihn noch mehr schockiert: Seit wann hat Gabriella eigentlich einen kleinen Sohn?


GELIEBTER BODYGUARD

Einen Job als Bodyguard? Das hat Falco Orsini schon lange nicht mehr nötig. Doch als er die Verletzlichkeit in Elles Augen sieht, ist ihm klar: Die junge Schauspielerin braucht ihn! Kurzerhand entführt er sie in sein Strandhaus auf Hawaii. Doch Elle will gar nicht beschützt werden …


  • Erscheinungstag 20.07.2024
  • Bandnummer 121
  • ISBN / Artikelnummer 9783751527729
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sandra Marton

JULIA WEEKEND BAND 121

1. KAPITEL

Raffaele Orsini hielt sich für einen Mann, der immer die Kontrolle behielt, und er war stolz darauf. Zweifelsohne war seine Fähigkeit, Gefühl und Verstand grundsätzlich getrennt zu halten, der Grund, warum er im Leben so weit gekommen war.

Rafe konnte die Bilanzen einer relativ kleinen Bank oder eines uninteressanten Betriebs studieren, und was er sah, waren nicht nur blanke Zahlen, sondern das Potenzial für die Zukunft – unter seiner fähigen Ägide und der seiner Brüder. Vor knapp fünf Jahren hatten sie „Orsini Investments“ gegründet und sich inzwischen einen Platz in den höchsten Ebenen der internationalen Finanzwelt gesichert.

In der Damenwelt waren sie schon immer erfolgreich gewesen.

Alle Brüder hatten das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt, vom Vater den messerscharfen Intellekt. Die Eltern waren vor über vierzig Jahren von Sizilien in die Vereinigten Staaten gekommen. Anders als ihr Vater hatten die Brüder ihre Energien ausschließlich auf hundertprozentig legale Unternehmungen gerichtet. Dennoch war allen vieren eine manchmal geradezu gefährliche Risikobereitschaft zu eigen, die sowohl im Schlaf- als auch im Vorstandszimmer von Vorteil war.

Was sich heute wieder einmal bewiesen hatte, als Raffaele den Saudi-Prinzen beim Kauf der altehrwürdigen französischen Bank, die die Orsini-Brüder schon lange im Auge gehabt hatten, ausbooten konnte. Er, Dante, Falco und Nicolo hatten vor zwei Stunden auf den erfolgreichen Abschluss des Deals mit einem Drink angestoßen.

Ein perfekter Tag, mit den besten Aussichten auf einen perfekten Abend …

Hatte er geglaubt.

Rafe trat aus dem Apartmenthaus seiner Freundin – seiner Exfreundin! – auf die Straße und atmete tief die frische Herbstluft ein. Das Angebot des Portiers, ihm ein Taxi zu rufen, schlug er aus. Er musste sich unbedingt beruhigen. Vom Sutton Place bis zu seiner Wohnung auf der Fifth Avenue zu laufen, würde ihm nur guttun.

Was war das mit den Frauen? Wieso behaupteten sie am Anfang einer Affäre immer Dinge, die sie keineswegs so meinten?

„Mich interessiert nur meine Karriere“, hatte Ingrid mit diesem sexy deutschen Akzent geschnurrt, als sie zum ersten Mal zusammen im Bett gelegen hatten. „Solltest du also daran denken, dich fest zu binden, Rafe, hast du dir die falsche Frau ausgesucht.“

Die falsche Frau? Im Gegenteil! Er hatte keineswegs vor, sich zu binden. Ingrid war perfekt. Umwerfend, sexy, unabhängig …

Ja, klar.

Sein Handy klingelte. Rafe zog es hervor und schaute auf das Display. Dante. Er wollte jetzt wirklich nicht mit seinem Bruder reden. Die Szene dort oben in dem Apartment war noch zu frisch.

Ingrid, wie sie die Wohnungstür in einer Schürze öffnete, nicht in einem sexy-eleganten Kleid für die Dinnerverabredung. Eines von diesen Rüschendingern, die selbst seine Mutter nicht anfassen würde. Ingrid, die nicht nach Chanel roch, sondern nach Brathähnchen.

„Überraschung!“, hatte sie geträllert. „Ich koche heute Abend Dinner für uns.“

Hatte sie nicht behauptet, sie besäße keine hausfraulichen Qualitäten? Hatte sie sich nicht sogar lustig darüber gemacht?

Heute allerdings war sie mit den Fingerspitzen über seine Brust gewandert und hatte ihm zugeflötet: „Ich wette, du hast nicht gewusst, dass ich kochen kann, oder, Liebling?“

Bis auf das „Liebling“ hatte er diesen Satz schon öfter gehört. Und jedes Mal war ihm das Blut in den Adern zu Eis gefroren.

Was folgte, war vorauszusehen gewesen, vor allem ihre schrille Forderung, dass es Zeit wurde, ihre Beziehung auf die nächste Ebene zu führen. Und ihm war dann herausgerutscht: „Welche Beziehung?“

Noch immer hörte er das Klirren dessen, was auch immer sie ihm nachgeworfen hatte, als er ihre Wohnungstür hinter sich zuzog.

Wieder klingelte sein Mobiltelefon, unablässig, aufdringlich … bis er es schließlich fluchend aus der Jackentasche zog und in die Muschel bellte: „Was ist?“

„Dir auch einen wunderschönen Abend, Bruderherz.“

Er runzelte so böse die Stirn, dass die Frau, die ihm entgegenkam, erschrocken einen großen Bogen um ihn machte. „Mir steht im Moment nicht der Sinn nach dummen Spielchen, Dante.“

„Ist schon klar“, klang es belustigt vom anderen Ende. Dann räusperte Dante sich. „Probleme mit der Walküre?“

„Nein, wieso?“

„Umso besser. Ich würde nur ungern den Nachrichtenüberbringer spielen, wenn du und sie gerade …“

„Welche Nachricht?“

Dante seufzte schwer ins Telefon. „Befehl von oben. Morgen früh, acht Uhr. Unser alter Herr will uns sehen.“

„Du hast ihm hoffentlich gesagt, was er mit seinem Befehl machen kann.“

„Hey, ich bin nur der Bote. Außerdem hat mamma angerufen, nicht er.“

„Tut er wieder so, als läge er auf dem Sterbebett? Hast du mamma gesagt, dass er nicht sterben kann? Dafür ist er zu niederträchtig. Außerdem ist der Mann erst fünfundsechzig, nicht fünfundneunzig. Er hat noch Jahre vor sich.“

„Nein“, antwortete Dante nüchtern auf die Frage. „Würdest du ihr das sagen?“

Jetzt seufzte Raffaele. Die vier Brüder beteten ihre Mutter an, ihre Schwestern auch. Selbst wenn die dem alten Herrn scheinbar alles verziehen. Die Söhne hatten Cesare Orsini jedoch nichts vergeben. Ihnen war schon lange klar, was der Vater war. „Na schön, um acht. Ich treffe euch dann dort.“

„Nur du und ich, Rafe. Nick ist nach London unterwegs, hast du das vergessen? Und Falco fliegt morgen nach Athen.“

„Na großartig.“

Am anderen Ende blieb es eine Weile still. Dann: „Also ist es aus zwischen dir und der Walküre?“

Rafe dachte über mögliche Antworten nach. Die Spanne reichte von „Nein“ bis „Wie kommst du darauf?“. Schließlich zuckte er nur mit einer Schulter. „Sie meint, es wäre an der Zeit, unsere Beziehung neu zu definieren.“

Sein Bruder gab einen Kommentar ab, der Rafes finstere Laune verpuffen ließ. „Ich habe das perfekte Heilmittel für Neudefinitionen von Beziehungen.“

„So?“

„Ja, in einer halben Stunde treffe ich mich mit dem Rotschopf. Soll ich sie anrufen und fragen, ob sie vielleicht eine Freundin hat?“

„Von Frauen habe ich vorerst die Nase voll. Obwohl … heißt es nicht, man soll sofort wieder aufsitzen, wenn man aus dem Sattel gefallen ist?“

Dante lachte. „Ich rufe dich in zehn Minuten zurück.“

Der Rückruf erfolgte in nur fünf Minuten. Ja, der Rotschopf hatte eine Freundin. Die sich schon darauf freute, Rafe Orsini kennenzulernen.

Natürlich, dachte Rafe überheblich und winkte sich ein Taxi heran. Welche Frau würde ihn nicht gern kennenlernen?

Rafe verschlief am nächsten Morgen, duschte in aller Hektik, stieg in ausgewaschene Jeans, zog Pullover und Turnschuhe an und kam noch vor Dante beim Haus der Eltern an.

Cesare und Sofia lebten in einer riesigen Stadtvilla in Greenwich Village. Als Cesare das Haus vor vierzig Jahren kaufte, hatte die Gegend noch zu Little Italy gehört. Doch die Zeiten änderten sich. Jetzt erstrahlten die engen Straßen im Schick einer gehobenen Wohngegend.

Auch Cesare hatte sich verändert. Vom Handlanger in der Mafia war er zuerst zum capo aufgestiegen, dann zum don. Offiziell gehörten Cesare ein gut gehender Sanitärbetrieb und noch ein halbes Dutzend weiterer legitimer Gewerbe, sein wahres Arbeitsfeld jedoch würde er niemals offen zugeben, schon gar nicht vor seiner Frau, seinen Töchtern, seinen Söhnen.

Auf Rafes Klingeln hin zog Sofia die Haustür auf. Sie begrüßte den Sohn mit einer festen Umarmung und Küssen auf beide Wangen, so als hätte sie ihn seit Monaten nicht gesehen und nicht gerade noch vor vierzehn Tagen. Dann trat sie zurück und musterte ihn kritisch. „Du hast dich nicht rasiert.“

Er wurde doch tatsächlich rot. „Tut mir leid, madre. Ich wollte nicht zu spät kommen.“

„Setz dich“, ordnete sie an, sobald sie in der geräumigen Küche waren. „Frühstücke erst.“

Auf dem großen Eichentisch standen Schüsseln und Platten. Seiner Mutter zu sagen, dass er bereits sein übliches Frühstück gehabt hatte, nämlich eine Pampelmuse und schwarzen Kaffee, hätte nur eine Lektion über gesunde Ernährung zur Folge gehabt – auf typische Orsini-Art. Also setzte er sich gehorsam und nahm hiervon und davon ein wenig auf seinen Teller und aß.

Dante, der keine zwei Minuten später in die Küche schlenderte, wurde ebenfalls mit Küssen begrüßt und der Ermahnung, dass er dringend einen Haarschnitt brauche.

„Mangia“, ordnete Sofia an, und Dante, der von niemandem Befehle annahm, fügte sich lammfromm.

Die Brüder tranken ihren zweiten Espresso, als Felipe, der Mann, der Cesare seit Jahren treu ergeben war, in die Küche kam.

„Euer Vater will euch jetzt sehen.“

Beide Brüder standen auf, doch Felipe schüttelte den Kopf. „Einzeln, einer nach dem anderen. Raffaele zuerst.“

Rafe und Dante sahen einander an. „So ist das eben bei einem Imperator“, flüsterte Rafe mit einem schmalen Lächeln, sodass Sofia es nicht hören konnte.

Dante grinste. „Viel Spaß.“

Cesare saß in seinem Arbeitszimmer hinter dem mächtigen Schreibtisch. Das Zimmer war ein dunkler Raum mit schweren Möbeln, Madonnen- und Heiligenstatuetten standen aufgereiht auf einer Anrichte, die Wände zierten unzählige gerahmte Fotografien von unbekannten Familienmitgliedern aus der alten Heimat. Dunkelrote bodenlange Samtvorhänge waren halb vor die Türen zur Terrasse gezogen.

Cesare deutete auf den Stuhl vor dem Tisch, nachdem Felipe lautlos den Raum verlassen hatte. „Raffaele.“

„Vater.“

„Geht es dir gut?“

„Ja“, antwortete Rafe kühl. „Und dir?“

Cesare schwenkte die Hand vor sich. „Cosí cosa. Es ist zu ertragen.“

Rafe hob die Augenbrauen. „Nun, das ist eine Überraschung. Da der Tod also nicht direkt hinter dir wartet …“

„Setz dich.“

Rafes dunkelblaue Augen wurden fast schwarz. „Ich bin nicht Felipe. Ich bin nicht deine Frau. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die Befehle von dir annehmen, Vater. Schon seit Jahren nicht mehr.“

„Nein. Nicht mehr, seit du die High School beendet und ein Stipendium für diese Eliteuniversität erhalten hast. Meinst du, ich hätte vergessen, mit welchen Worten du mir damals sagtest, was ich mit dem zur Seite gelegten Geld für deine Ausbildung machen könne?“

„Du irrst dich im Ablauf“, erwiderte Rafe noch kälter. „Ich nehme keine Befehle mehr von dir an, seit ich entdeckt habe, auf welche Art du dein Geld verdienst.“

„So selbstgerecht“, spottete Cesare. „Du glaubst, du weißt alles, mein Sohn. Aber lass mich dir sagen, es kann jedem Mann passieren, dass er von der Leidenschaft auf die dunkle Seite gezogen wird.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, und ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Auf Wiedersehen, Vater. Ich schicke Dante herein.“

„Setz dich, Raffaele. Es wird nicht lange dauern.“

Ein Muskel zuckte in Rafes Wange. Ach, zum Teufel, warum nicht? Vielleicht war es ja amüsant, was der Alte ihm mitteilen wollte. Also setzte er sich, streckte die langen Beine aus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nun?“

Cesare zögerte. Ein bemerkenswerter Anblick. Rafe hatte seinen Vater noch nie zögern gesehen.

„Es stimmt, ich sterbe nicht“, sagte sein alter Herr schließlich.

Rafe schnaubte nur.

„Ich meine, natürlich werde ich eines Tages sterben.“ Noch ein Moment des Zögerns. „Niemand kennt den genauen Zeitpunkt, aber bei einem Mann in … nun, in meiner Position ist es möglich, dass das Ende unerwartet kommt.“

Noch eine Premiere. Cesare hatte niemals zuvor auch nur eine Andeutung auf seine Verbindungen gemacht.

„Ist das deine diskrete Art, durchblicken zu lassen, dass etwas ansteht? Dass Mutter, Anna und Isabella in Gefahr sind?“

Cesare lachte. „Du hast zu viele Filme gesehen, Raffaele. Nein, nichts ‚steht an‘, wie du es ausdrückst. Und selbst wenn es so wäre: Der Kodex unserer Leute verbietet es, Familienmitglieder zu verletzen.“

„Es sind deine Leute, nicht unsere“, korrigierte Rafe scharf. „Und der Ehrencodex von Schakalen hat mich nie beeindruckt.“

„Wenn meine Zeit kommt, werden deine Mutter, deine Schwestern und deine Brüder gut versorgt sein. Ich bin ein reicher Mann.“

„Ich will dein Geld nicht. Meine Brüder auch nicht. Und wir sind durchaus in der Lage, für mamma und unsere Schwestern zu sorgen.“

„Fein. Dann gib es weg. Du wirst damit machen können, was du willst.“

Rafe nickte. „Gut.“ Er wollte sich erheben. „Ich nehme an, das Gespräch ist damit …“

„Setz dich“, sagte Cesare wieder und fügte ein Wort hinzu, das Rafe noch nie von seinem Vater gehört hatte. „Bitte.“

Der alte Mann beugte sich fast unmerklich vor. „Ich schäme mich nicht für mein Leben“, sagte Cesare leise. „Aber es gibt ein paar Dinge, die ich vielleicht nicht hätte tun sollen. Glaubst du an Gott, Raffaele? Du brauchst nicht zu antworten. Was mich angeht, so weiß ich es nicht. Aber nur ein Narr würde die Möglichkeiten ignorieren, dass das, was er in seinem Leben getan hat, nicht eines Tages seine Seele in Mitleidenschaft ziehen könnte.“

Rafes Lippen verzogen sich zu einem abfälligen Lächeln. „Für solche Überlegungen ist es jetzt wohl zu spät.“

„In meiner Jugend habe ich ein paar Dinge getan …“ Cesare räusperte sich. „Falsche Dinge. Nicht für la famiglia, sondern aus reinem Egoismus. Diese Dinge haben mich beschmutzt.“

„Und was hat das mit mir zu tun?“

„Ich habe dem Mann, der mir als Einziger geholfen hat, als niemand anders mir helfen wollte, etwas von großem Wert gestohlen“, gab Cesare unwillig zu. „Ich will Wiedergutmachung leisten.“

„Schick ihm einen Scheck“, sagte Rafe kalt.

„Das reicht nicht.“

„Einen hohen Scheck. Mach ihm ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann. Das ist es doch, was du normalerweise tust, nicht wahr? Du bist der Mann, der sich alles kaufen kann.“

„Raffaele. Als Mann und als dein Vater bitte ich dich um deine Hilfe.“

Eine verblüffende Bitte. Rafe verabscheute seinen Vater für das, was er war … doch jetzt stürzten unwillkommene Erinnerungen auf ihn ein. Cesare, wie er ihn auf der Schaukel im Garten anstieß. Cesare, der ihn tröstete, weil der Clown auf seinem vierten Kindergeburtstag ihn halb zu Tode geängstigt hatte.

Reue brannte in den Augen des Vaters. Wie viel Aufwand konnte es schon sein, einen Scheck zusammen mit einer Entschuldigung persönlich zu überbringen? Ob es Rafe gefiel oder nicht, der Mann, der ihn jetzt so flehentlich ansah, hatte ihm das Leben geschenkt, ihm und seinen Geschwistern. Er hatte seine Familie geliebt und auf seine Art immer für sie gesorgt. In gewisser Hinsicht hatte er sie alle sogar zu dem gemacht, was sie heute waren. Wenn er auf seine alten Tage plötzlich ein Gewissen entwickelte, das war doch nichts Schlechtes, oder?

Rafe atmete tief durch. „Na schön.“ Er sprach hastig, weil er wusste, wie leicht es wäre, doch noch seine Meinung zu ändern. „Was soll ich tun?“

„Habe ich dein Wort, dass du es tun wirst?“

„Ja.“

Cesare nickte. „Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir.“

Zehn Minuten später sprang Raffaele wütend auf. „Bist du verrückt geworden? Und das soll ein einfacher Gefallen sein? So kann man es natürlich auch beschreiben! Du erwartest ernsthaft von mir, dass ich in ein Kaff auf Sizilien fahre und irgendein namenloses, plumpes Bauernmädchen heirate?“

„Ihr Name ist Chiara. Chiara Cordiano. Und sie ist kein plumpes Bauernmädchen. Ihrem Vater, Freddo Cordiano, gehören ein Weingut und mehrere Olivenplantagen. Er ist ein wichtiger Mann in San Giuseppe.“

Rafe stützte beide Hände auf die schimmernde Mahagoniplatte des Schreibtischs und lehnte sich vor. „Ich werde dieses Mädchen nicht heiraten. Ich werde niemanden heiraten! Ist das klar?“

Cesare erwiderte den funkelnden Blick des Sohnes. „Klar ist hier, welche Bedeutung das Wort meines Erstgeborenen hat.“

Rafe musste an sich halten, sonst wäre er dem Vater an die Gurgel gegangen. „Ich halte mich immer an mein Wort, Vater. Aber du hast es mir mit einer Lüge entlockt. Du hast gesagt, du brauchst meine Hilfe.“ Still zählte er bis zehn. „Nun gut, ich fliege nach Sizilien und spreche mit diesem Freddo Cordiano. Ich werde ihm persönlich deine Entschuldigung überbringen. Aber seine Tochter heirate ich nicht. Auf gar keinen Fall!“

Über viertausend Meilen weit entfernt, auf einer Burg, die ihr Vater Zuhause und sie Gefängnis nannte, schoss Chiara Cordiano von ihrem Stuhl hoch.

„Du hast was?“, stieß sie ungläubig aus, in bestem florentinischem Italienisch.

Freddo Cordiano verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du mit mir redest, dann in der Sprache unseres Volkes.“

„Antworte auf meine Frage, papà“, beharrte Chiara, allerdings in dem Dialekt, den ihr Vater bevorzugte.

„Ich habe einen Ehemann für dich gefunden.“

„Das ist verrückt! Du kannst mich nicht einfach an einen Mann verheiraten, den ich noch nie gesehen habe!“

„Du vergisst dich“, knurrte ihr Vater. „Das kommt von den albernen Ideen, die diese Gouvernante, die deine Mutter ausgesucht hat, dir eingetrichtert hat. Ich kann dich verheiraten, mit wem ich will.“

Chiara stemmte die Hände in die Hüften. „Etwa mit dem Sohn von einem deiner ‚Geschäftspartner‘? Mit einem amerikanischen Gangster? Niemals! Dazu wirst du mich nicht zwingen können!“

Freddo lächelte dünn. „Wäre es dir lieber, wenn ich dich in deinem Zimmer einschließe, bis du so alt und hässlich bist, dass kein Mann dich mehr haben will?“

Eine leere Drohung. In ihrem Zimmer konnte er sie nicht einschließen, aber er würde sie hier auf dieser Insel festhalten, in dieser schrecklichen kleinen Stadt mit den engen Gassen, aus der sie herauskommen wollte, seit sie denken konnte. Sie hatte es versucht, immer wieder. Die Schergen ihres Vaters hatten sie zurückgebracht, höflich, aber unerbittlich. Und sie würden es wieder tun. Chiara würde sich nie aus dem Leben befreien können, das sie so sehr hasste.

Sie unterdrückte den Schauder. Für ihren Vater war sie nicht mehr als Mittel zum Zweck. Er würde sie benutzen, um sein Imperium zu vergrößern. Sie wusste, wie Männer wie ihr Vater ihre Ehefrauen behandelten. Herzlos, kalt, grob. Dieser Amerikaner wäre nicht anders. Er würde nach Knoblauch stinken, nach Zigarren und Schweiß. Für ihn wäre sie eine Haushälterin, mehr nicht. Und nachts im Bett würde er Dinge von ihr verlangen …

Wuttränen glitzerten in ihren violetten Augen. „Warum tust du mir das an?“

„Weil ich weiß, was das Beste für dich ist. Und du als pflichtbewusste Tochter wirst tun, was man dir sagt.“

Sie war verzweifelt, aber nicht dumm. „Eher sterbe ich.“ Sie wollte sich umdrehen und davonrennen, stattdessen verließ sie mit hocherhobenem Kopf und geradem Rücken den Raum. Kaum in ihrem Zimmer, bei verschlossener Tür, stieß sie einen gellenden Wutschrei aus und schleuderte eine Vase gegen die Wand.

Zwanzig Minuten später, wieder ruhiger geworden, wusch sie sich das Gesicht und machte sich auf die Suche nach dem einen Mann, den sie liebte. Der sie liebte. Der Mann, auf den sie sich verlassen konnte.

„Bella mia“, begrüßte Enzo sie, als sie ihn fand. „Was ist mit dir?“

Chiara berichtete ihm alles, und seine dunklen Augen wurden noch dunkler, fast schwarz.

„Ich werde dich beschützen, cara.“

Und Chiara schlang die Arme um seinen Hals und betete, dass er genau das tun würde.

2. KAPITEL

Rafe bewahrte Stillschweigen über seinen Auftrag.

Seine Brüder hätten nur gelacht oder gestöhnt, und unter seinen Freunden gab es niemanden, dem er die Machtpolitik eines sizilianischen don und dessen Interpretation von Ehre hätte begreiflich machen können.

Ganovenehre, dachte Rafe grimmig, als das Flugzeug auf dem Palermo International Airport landete. Er hatte einen Charterflug nehmen müssen, weil Falco mit dem Firmenjet nach Athen unterwegs war. Das fachte seine üble Laune nur noch mehr an. Das Einzige, was seine Beherrschung aufrechterhielt, war das Wissen, dass mit dem Ende des Tages diese lächerliche Geschichte vorbei wäre.

Vielleicht – aber auch nur vielleicht! – erzähle ich den anderen in ein paar Wochen davon, dachte er, als er in die Hitze des sizilianischen Frühherbstes trat. Ratet mal, wo ich letzten Monat war … Und dann könnten sie sich zusammen vor Lachen darüber ausschütten.

Vielleicht würde es ja auch gar nicht so schlimm werden. Es war ein schöner Tag. Auf der Fahrt nach San Giuseppe würde er irgendwo in einer kleinen Trattoria haltmachen und etwas essen. Er würde Freddo Cordiano anrufen und ihm Bescheid geben, dass er auf dem Weg war. Dann würde er dem alten Mann die rheumatische Hand schütteln, die Entschuldigung vorbringen und Vater und Tochter höflich erklären, dass er gar nicht an eine Heirat dachte. Vor allem bei der Tochter würde er behutsam vorgehen, schließlich konnte das arme Ding nichts dazu. Und schon am Abend wäre er wieder zurück in Palermo. Die Angestellte im Reisebüro hatte alles arrangiert, auf ihn wartete ein Hotelzimmer in einem ehemaligen Palast – sehr gediegen, hatte sie gesagt. Er würde sich einen Drink auf dem Balkon genehmigen, oder vielleicht würde er auch in einen Nachtklub gehen. Italienische Frauen waren schließlich auf der ganzen Welt bekannt für ihre Schönheit. Die, der er nachher begegnen würde, sicherlich nicht, aber die war heute Abend ja schon Geschichte.

Eine schwere Last hob sich von seinen Schultern. Bis Rafe beim Mietwagenschalter ankam, lächelte er sogar vor sich hin.

Aber nicht lange.

Er hatte einen Geländewagen bestellt. Eigentlich zog er schnittige Sportwagen vor, wie die Corvette, die zu Hause für ihn bereitstand, aber ein Blick auf die Landkarte hatte ihm gezeigt, dass San Giuseppe hoch in den Bergen lag. Da war die Wahl eines Vierradantriebs wohl besser.

Doch was auf ihn wartete, war kein Geländewagen, sondern eines von diesen Autos, die er verabscheute. Ein bulliges schwarzes, amerikanisches Vehikel, eines von der Sorte, die sein Vater und dessen Kumpane bevorzugten.

Ein Mafiosi Spezial.

Der Angestellte hinter dem Schalter zuckte gleichgültig die Achseln. Scusi, das beruhe wohl auf einem Missverständnis, aber etwas anderes hätten sie im Moment auch nicht frei.

Na großartig, dachte Rafe, als er hinters Steuer stieg. Der Sohn eines Gangsters auf dem Weg, einen dubiosen Auftrag auszuführen, in einem Gangsterauto. Jetzt fehlte ihm nur noch die dicke Zigarre zwischen den Zähnen.

Seine gute Laune war dahin.

Und sank stetig. Die Folge aneinandergereihter Schlaglöcher verdiente die Bezeichnung „Straße“ nicht, „Katastrophe“ wäre ein passenderes Wort. Zehn Meilen. Zwanzig. Dreißig. Und noch immer war ihm kein anderes Auto entgegengekommen. Zum Glück, musste er wohl sagen. Die Straße war gar nicht breit genug für zwei Autos.

Ein schwarzer Schatten brach zwischen den Bäumen hervor und sprang auf die Straße. Rafe stieg in die Bremsen. Die Reifen blockierten, der Wagen begann zu schlingern. Rafe steuerte mit aller Macht gegen. Es kostete ihn seine ganze Kraft, um den Wagen zum Halten zu bringen. Als das Ungetüm dann endlich stand, hing die Motorhaube ein gutes Stück über dem gähnenden Abgrund.

Rafe regte sich nicht. Seine Finger umklammerten krampfhaft das Lenkrad. Sein Herzschlag hämmerte laut in seinen Ohren. Der Motor war ausgegangen und kühlte tickend ab.

Das Ticken des abgewürgten Motors wurde leiser, Rafes rasender Puls langsamer. Er atmete tief durch, um wieder Luft in seine Lungen zu befördern. Also gut. Jetzt ganz langsam und vorsichtig zurücksetzen …

Etwas schlug gegen die Fahrertür. Rafe drehte den Kopf zum halb heruntergelassenen Seitenfenster. Da draußen stand ein Mann, offensichtlich schon für ein frühes Halloween verkleidet – schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Stiefel.

Und ein uralter Colt mit einem langen Lauf – der direkt auf Rafes Kopf zielte.

Er hatte die Geschichten über sizilianische Wegelagerer gehört und sie immer spöttisch verlacht. Nur ein Narr würde jetzt noch lachen.

Der Mann da draußen winkte abrupt mit der Pistole. Was hieß das? Raus aus dem Wagen? Kam ja gar nicht infrage! Wieder dieser Ruck mit der Waffe. Oder war das … ein Zittern? Tatsächlich, der Mann zitterte. Nein, das war nicht gut. Ganz und gar nicht gut.

Ein nervöser Wegelagerer mit dünnem weißen Haar, trüben Augen und Altersflecken auf dem Handrücken.

Na bravo. Er wurde von einem Großvater auf einer Straße mitten im Nirgendwo ausgeraubt!

Er räusperte sich. „Immer schön langsam, Grandpa.“ Dabei verstand der Alte wahrscheinlich kein Wort Englisch. Also hob Rafe die Hände in die Höhe, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war, dann öffnete er die Tür. Der Straßenräuber trat beiseite, und Rafe kletterte aus dem Wagen, sehr vorsichtig, um nicht doch noch in den Abgrund zu stürzen. „Sprechen Sie Englisch?“ Keine Reaktion. Rafe kramte in seiner Erinnerung. „Voi … äh … voi parlate inglese?“ Noch immer nichts. „Na schön, hören Sie. Ich fasse jetzt in meine Tasche und hole meine Brieftasche hervor. Die können Sie haben. Dann steige ich wieder in meinen Wagen und …“

„Nein!“

Die Stimme des Alten zitterte. Zitternde Stimme. Zitternde Hände. Das wurde immer besser. Die Story würde wie eine Bombe bei seinen Brüdern einschlagen – falls er noch die Gelegenheit erhielt, sie zu erzählen.

„Ferschwinnefonhirr!“

Ferschwinnefonhirr? Was hieß das? Es hörte sich nicht italienisch an, auch nicht sizilianisch.

Der Alte stieß ihm den Lauf der Pistole in den Bauch. Rafe kniff die Augen zusammen. Sein Gegenüber stieß noch mal zu. Rafe packte den langen Lauf, riss dem Mann die Waffe aus der Hand und schleuderte sie in den Abgrund hinunter.

„Also, das reicht jetzt.“ Er wollte nach dem Alten greifen. „Uff!“

Etwas Hartes traf ihn im Rücken. Ein zweiter Dieb! Der ihn ansprang und nun von hinten die Arme um seinen Hals schlang. Rafe packte nach den Armen und zog den Komplizen bei den Handgelenken herum.

Dieser Komplize war ein Fliegengewicht, und den schmalen Handgelenken nach zu urteilen musste er noch ein Junge sein. Aber auch er war ganz in Schwarz gekleidet, zudem trug er noch einen schwarzen Filzhut.

Ein Fliegengewicht, aber ein Kämpfer! Der Junge trat, kratzte – und verflucht! –, er biss sogar! Rafe packte das Kerlchen beim Kragen und hob ihn in die Luft.

„Hör auf damit!“, donnerte er.

Der Junge knurrte etwas Unverständliches und zielte auf Rafes empfindlichste Stelle.

Rafe wich geschickt aus. „Bist du taub, Bursche? Ich sagte, stopp!“

Das Wort „Stopp“ hatte im Italienischen wohl keine Bedeutung. Nicht nur hörte der Junge nicht auf, jetzt gesellte sich auch noch der Alte hinzu und schlug mit einem Ast auf Rafe ein.

„Also wirklich“, kam es entrüstet von Rafe. So sollte das nicht ablaufen. Er war hier der durchtrainierte Kerl. Durchtrainierte Kerle wurden nicht von alten Männern und mageren Jüngelchen zusammengeschlagen. Natürlich wusste er, wie er die Attacke aufhalten könnte, ein paar gezielte Schwinger, und der Spuk hätte ein Ende. Nur hatte er Skrupel, Methusalem und den halbwüchsigen Milchbart gezielt niederzustrecken.

„Hören Sie, Grandpa, ich bin sicher, wir können uns einigen. Legen Sie endlich den Ast weg. Und du, Junge … ich lasse dich jetzt los, damit …“

Fehler. Dieses Mal zielte der Bursche und traf. Rafe stieß ein gequältes Grunzen aus, holte aus und verpasste dem Jungen einen rechten Haken. Er musste getroffen haben, denn das Kerlchen sackte zusammen.

Noch immer nach Luft ringend, drehte Rafe sich zu dem Alten um. „Jetzt hören Sie mal zu …“, brachte er noch hervor, bevor der Weißhaarige ihm den Ast über den Schädel zog.

Rafe ging neben dem Jungen zu Boden.

Langsam kam Rafe wieder zu Bewusstsein. Gott, sein Kopf brummte! Methusalem hatte ihm eins übergebraten, und das Jüngelchen hatte ihm in den Schritt getreten. Es war die Erniedrigung par excellence.

Konnte der Tag überhaupt noch schlimmer werden?

Der Alte saß mitten auf der Straße, wiegte den Jungen in den Armen und redete mit verzweifelter Stimme auf ihn ein. Er schaute nicht einmal auf, als Rafe sich stöhnend aufrappelte.

„Also gut, alter Mann“, knurrte er. „Stehen Sie auf. Haben Sie gehört, was ich sage? Lassen Sie den Jungen los und stehen Sie auf.“ Als der Alte noch immer nicht reagierte, packte Rafe ihn bei dem mageren Arm. „Stehen Sie schon auf!“

„Ferschwinnefonhirr! Ferschwinnefonhirr!“, schrie der Alte, und plötzlich ergab das Wort Sinn.

Es sollte „Verschwinde von hier!“ heißen. Nun, liebend gern, aber erst musste Rafe sich davon überzeugen, dass mit dem Jungen alles in Ordnung war. Dieses seltsame Duo davon abzuhalten, ihn auszurauben, war eine Sache. Einen von ihnen umzubringen eine ganz andere.

Er schob den Alten unsanft beiseite und hob den Jungen auf. Der stöhnte, der Hut fiel zu Boden und …

Der Junge war gar kein Junge! Er … sie war ein Mädchen. Nein, kein Mädchen, eine Frau. Mit einem ovalen hellhäutigen Gesicht und langem schwarzen Haar. Er hatte eine Frau k. o. geschlagen! So viel also zu der Frage, ob der Tag noch schlimmer werden konnte.

Ohne den Alten, der hektisch an seinem Ärmel zerrte, zu beachten, trug er die Frau zu dem grasbewachsenen Hang an der Straßenseite und legte sie vorsichtig ab. Sie war noch immer bewusstlos.

Und faszinierend schön.

Nur ein Mistkerl würde in diesem Moment an so etwas denken. Aber nur einem Narren würde es nicht auffallen. Ihr Haar war nicht einfach nur dunkel, es hatte die Farbe einer wolkenlosen Nacht. Geschwungene Brauen standen wie ausgebreitete Flügel über den geschlossenen Lidern, lange Wimpern warfen dunkle Schatten auf ihre Wangenknochen, und die Nase wachte schmal und gerade über einem rosigen vollen Mund.

In seinen Lenden begann es zu ziehen. Na, das war doch toll! Seine Libido spielte verrückt wegen einer Frau, die ihn hatte entmannen wollen, die die Komplizin eines alten Mannes mit einer Pistole war, die …

… die bewusst- und hilflos vor ihm lag.

Verdammt! Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. „Kommen Sie, wachen Sie auf!“

Ihre Lider flatterten, hoben sich langsam. Und er sah, dass ihre Augen veilchenblau waren. Sie öffnete leicht die Lippen und fuhr sich mit der Zungenspitze darüber.

Dieses Mal war die aufflammende Lust so heftig, dass Rafe auf die Fersen zurückfiel. Es reichte also aus, auf sizilianische Erde zu kommen, damit er auf die barbarischen Instinkte seiner Vorfahren reduziert wurde?

Ihr Blick klärte sich. Sie befühlte die gerötete Stelle an ihrer Wange, zuckte zusammen und sah hasserfüllt zu Rafe auf. „Stronzo!“

Jedes Kind, das mit der italienischen Sprache aufgewachsen war, kannte die Bedeutung dieses Wortes. Rafe musste unwillkürlich lachen. Der nächste Fehler. Sie setzte sich abrupt auf und holte aus. Der ersten Ohrfeige wich er mühelos aus, beim zweiten Versuch fing er ihre Hand ab.

„Das würde ich dir nicht empfehlen, Süße.“

Sie zischelte etwas und blickte Hilfe suchend zu dem alten Mann. Rafe schüttelte nur den Kopf.

„Das auch nicht. Wenn du ihn rufst, wird er nur verletzt werden.“ Die pure Verachtung blitzte ihm aus ihren Augen entgegen. „Ja, ich weiß. Du glaubst, er hat mich schon einmal erwischt. Aber siehst du, bei mir ist das so: Ein zweites Mal lasse ich mich nie übertölpeln.“

Eine wüste Schimpftirade folgte, von der Rafe nur das eine oder andere Wort verstand. Nun, der Tonfall war eindeutig, und ihre Augen sagten ihm alles, was er wissen musste.

„Klar, du bist mir auch nicht unbedingt sympathisch. Begrüßt ihr hier auf die Art eure Gäste? Indem ihr sie ausraubt? Ihnen die Autos stehlt? Und sie dann vielleicht auch noch den Abhang hinunterwerft?“

Sie verzog abfällig den Mund, fast so, als hätte sie ihn verstanden. Aber das war wenig wahrscheinlich. Die Frage war nur, was machte er jetzt mit dem Pärchen? Am besten fuhr er die beiden nach Hause zurück. Vielleicht war ihnen das Erlebte ja eine Lehre.

Er räusperte sich. „Wo wohnen der Alte und du?“

Stumm und stur hob sie das Kinn.

„Äh … dove è … eure casa?“

Sie entriss ihm ihre Hand und funkelte ihn an. Er starrte böse zurück.

„Ich bin bereit, dich und Grandpa nach Hause zu fahren, verstehst du? Keine Cops, keine Anzeige. Ich an deiner Stelle würde mein Glück nicht herausfordern.“

Sie lachte. Rafe kniff die Augen zusammen. Wer glaubte sie denn, wer sie war? Sie hatte ihn angegriffen, und sie hatte den Kürzeren gezogen. Sie saß hier auf einer menschenleeren Bergstraße vor einem Mann, der zweimal so groß und schwer war wie sie – vor einem extrem wütenden Mann.

Es würde nur eine Sekunde dauern, um ihr zu zeigen, wer das Ruder in der Hand hielt. Er würde ihr Gesicht mit beiden Händen umfassen und einen Kuss auf diese verlockenden Lippen setzen, und die kalte Verachtung würde sofort aus ihren Augen schwinden. Sie würde die Arme um seinen Hals schlingen und ihm süße Nichtigkeiten ins Ohr flüstern. Und er würde alles verstehen, denn ein Mann und eine Frau brauchten nicht dieselbe Sprache zu sprechen, um Verlangen zu erkennen, um Wut und Rage in etwas viel Heißeres zu verwandeln …

Abrupt richtete er sich auf. „Steh auf“, knurrte er.

Sie rührte sich nicht.

„Steh auf, sagte ich. Und Sie, alter Mann, steigen Sie in den Wagen.“

Der Alte rührte sich ebenfalls nicht.

Rafe drehte sich wieder zu der Frau. „Er ist alt, und ich habe wirklich keine Lust, ihm wehzutun. Warum also sagst du ihm nicht, dass er besser freiwillig einsteigt?“

Sie hatte ihn verstanden, er sah es in ihren Augen. Ein Schwall in Sizilianisch folgte, und der Alte kletterte auf den Rücksitz.

„Jetzt du.“ Rafe zeigte mit dem Daumen zum Wagen. „Auf den Beifahrersitz.“

Mit einem letzten vernichtenden Blick tat sie wie geheißen. Rafe knallte die Tür hinter ihr zu und stieg hinters Steuer.

„Wie weit oben auf dem Berg wohnt ihr?“, fragte er.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg.

Rafe mahlte mit den Zähnen und startete den Motor. Vorsichtig setzte er den Wagen zurück auf die Straße und fuhr bergan. Der Geländewagen fraß Meile und Meile, und gerade, als Rafe dachte, nie wieder ein Zeichen menschlicher Zivilisation zu sehen, kam eine Stadt in Sicht. Auf einem hölzernen Schild, das aussah, als stände es schon seit Ewigkeiten an der Stelle, stand der Name.

San Giuseppe.

Rafe hielt den Wagen an und nahm den ersten Blick auf das Sizilien seines Vaters in sich auf.

Häuser lehnten sich schief in die enge Kopfsteinpflasterstraße hinein, die sich steil weiter bergauf wand. Von Balkon zu Balkon waren Wäscheleinen zwischen den Häusern gespannt. Die Spitze des Kirchturms bohrte sich in den strahlend blauen Himmel. Ein kleiner Junge trieb einen Esel vor sich her.

Rafe hatte alte Fotos gesehen, vor mehr als vier Dekaden aufgenommen. Nichts hatte sich hier verändert, einschließlich der Burg, die über der Stadt thronte.

Castello Cordiano.

„Wollt ihr hier aussteigen?“, fragte er seine Beifahrerin. Statt einer Antwort wandte sie schweigend das Gesicht ab. Der Bluterguss auf ihrer Wange wurde deutlich, und das schlechte Gewissen meldete sich in Rafe. „Das mit deinem Kinn …“ Er holte tief Luft. „Du solltest Eis darauf legen, damit die Schwellung zurückgeht. Und nimm am besten ein Aspirin. Du weißt doch, was Aspirin ist, oder? As-pi-rin.“ Er musste sich wie ein Volltrottel anhören, aber wie sollte er es ihr sonst begreiflich machen?

Sie zischelte dem Alten etwas zu. Er schien zu protestieren, sie wiederholte ihre Worte, und mit einem Seufzer stieg ihr Gefährte aus. Als sie es dem alten Mann nachtun wollte, erwischte Rafe sie gerade noch am Ellbogen.

„Hast du verstanden, was ich gesagt habe? Eis und Aspirin. Und du solltest …“

„Ich verstehe jedes Wort, signor“, sagte sie klirrend. „Lassen Sie uns sehen, ob Sie verstehen. Gehen Sie weg. Hören Sie? Verschwinden Sie einfach, wie Enzo bereits zu Ihnen gesagt hat.“

Rafe starrte sie überrascht an. „Sie sprechen Englisch?“

„Ja. Und Italienisch und den sizilianischen Dialekt. Sie offensichtlich nicht.“ Die faszinierenden violetten Augen wurden zu einem schmalen Strich zusammengekniffen. „Sie sind nicht willkommen. Sollten Sie nicht freiwillig gehen, wird Enzo dafür sorgen, dass Sie es tun.“

„Enzo? Sie meinen Grandpa?“ Rafe lachte. „Das ist wirklich eine einschüchternde Drohung.“

„Er ist mehr Mann, als Sie es je sein werden.“

„So, ist er das, ja?“ Seine Stimme war tiefer und rau geworden, und anstatt nachzudenken, packte er sie bei den Schultern und zog sie auf seinen Schoß. Sie wehrte sich, doch dieses Mal war er vorbereitet. Mit einer Hand hielt er ihre beiden Handgelenke, die andere schob er in ihr Haar, bog ihren Kopf zurück und küsste sie.

Küsste sie so, wie er es sich da unten am Berg ausgemalt hatte. Sie wehrte sich, doch es war zwecklos. Die Hitze von Wut und Erniedrigung brannte in ihm.

Und sein Körper reagierte sofort auf eindeutige Weise. Sie merkte es, er hörte ihr schockiertes Luftschnappen, spürte ihr Wispern an seinem Mund, als ihre Lippen sich teilten und weich und nachgiebig wurden. Das Wissen, dass er sie besitzen könnte, hier und jetzt, machte den Beweis seiner Erregung hart wie Stein. Er gab ihre Hände frei, ließ seine Finger unter ihren Pullover gleiten, umfasste sanft die zarte Rundung ihrer Brust …

Sie grub die Zähne in seine Unterlippe und biss zu.

Rafe zuckte zurück und fasste sich an die Lippen. Als er die Finger zurücknahm, waren die Spitzen rot.

„Mistkerl“, stieß sie bebend aus. „Dreckiger Mistkerl!“

Er starrte sie an, sah den schockierten Ausdruck in ihren Augen. „Hören Sie, ich wollte nicht …“

In seinem Kopf hallten die Worte seines Vaters nach: Es kann jedem Mann passieren, dass er von der Leidenschaft auf die dunkle Seite gezogen wird.

Sie stieß die Wagentür auf und stürzte aus dem Wagen, nicht ohne ihn mit einer endlosen Folge von sizilianischen Flüchen zu belegen.

Rafe zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich das Blut von der Lippe.

Die Verwünschungen hatte er wohl verdient.

3. KAPITEL

Blindlings rannte Chiara die enge Gasse entlang, die zu einem längst vergessenen Eingang des Castello Cordiano führte.

Niemand kannte diesen Weg. Sie hatte ihn als kleines Mädchen entdeckt, als sie sich mit ihrer Puppe auf der Burg versteckt hatte, um der Hartherzigkeit des Vaters und der Gottesfürchtigkeit der Mutter zu entfliehen. Seither diente ihr dieser Pfad als Fluchtweg in die Freiheit. Und ein ganz besonderer Bonus … sie narrte die Schergen ihres Vaters und verschwand direkt unter deren Nase.

Der Pfad endete auf einer verwilderten Wiese voller Gestrüpp und Felsbrocken. Dichter Efeu verbarg die jahrhundertealte Eichentür, die ins Burginnere führte. Atemlos, eine Hand auf ihr Herz gepresst, lehnte Chiara sich an die Tür und lugte durch das Dickicht. Grazie, Dio! Der Amerikaner war ihr also nicht gefolgt.

Dieser widerliche Grobian! Aber sie hatte ja immer gewusst, dass Männer sich für Götter hielten. Die Frauen waren nichts anderes für sie als Dienerinnen. Der Amerikaner hatte ihr diese grundlegende Wahrheit nur noch einmal bestätigt.

Erst als Chiara sicher in ihrem Zimmer angekommen war, beruhigte sich ihr Herzschlag wieder.

Was für ein katastrophaler Tag! Ihr Plan, den Amerikaner zu verschrecken und zu verjagen, war gründlich fehlgeschlagen. Sie hatte ihn nicht verschreckt, sie hatte ihn verärgert.

Einen solchen Mann zu verärgern war keine gute Idee.

Unwillkürlich befühlte sie ihre Lippen. Hatte sie etwa sein Blut an ihrem Mund? Nein, das nicht, aber noch immer konnte sie den Druck seiner Lippen auf ihren spüren. So warm, so fest. Und dann seine Zunge, dieses Gefühl, erobert zu werden …

Am schlimmsten war das Feuer gewesen, das tief in ihrem Innern entfacht worden war.

Sie blinzelte. Unsinnig, sich darüber Gedanken zu machen. Wichtig war jetzt nur, wie es weitergehen würde. Sie hatte den Amerikaner eindeutig unterschätzt.

Sie hatte sich einen kleinen, dicken, Zigarren rauchenden Widerling vorgestellt. Nicht dass er kein Widerling war, das sicherlich. Aber wenn sie in einen Raum gekommen wäre und ihn gesehen hätte, dann hätte sie ihn niemals für einen von den Kerlen gehalten, die für Leute wie ihren Vater arbeiteten.

Er war zu groß. Zu schlank. Zu … zu kultiviert.

Vielleicht war es diese Weltgewandtheit, die er ausstrahlte. Oder seine Selbstsicherheit.

Eine überlegene Selbstsicherheit, sogar als Enzo ihm die Pistole vor die Brust gehalten oder sie sich auf ihn gestürzt hatte. Selbst während ihres Angriffs, als sie versuchte, diesen überlegenen Kuss zu beenden.

Diesen heißen, besitzergreifenden Kuss …

Chiara riss sich zusammen. Sie musste sich beeilen. Dio, wenn ihr Vater sie so sah!

Fast hätte sie losgelacht, als sie sich den alten schwarzen Anzug und das kragenlose weiße Hemd auszog. Sachen, die Enzo für sie gefunden hatte. Enzo. Bei dem Gedanken an ihn verging ihr das Lachen. Er war heute erniedrigt worden. Und wenn ihr Vater erfuhr, was er getan hatte, würde er einen hohen Preis zahlen müssen. Alles nur ihretwegen. Sie hätte ihn nicht um Hilfe bitten dürfen. Aber an wen sonst hätte sie sich wenden können?

Enzo hatte sie angehört, dann hatte er ihre Hand genommen. „Ich verscheuche ihn“, hatte er gesagt. „Er ist keiner von uns, er ist Amerikaner. Die sind schwach. Du wirst sehen, Kind. Wir werden ihn überrumpeln. Ich halte ihm meine Pistole vor, und dann nimmt er die Beine in die Hand.“

Als sie protestierte, dass es zu gefährlich sei, da hatte sein Gesicht plötzlich einen wilden Ausdruck angenommen, und er hatte gesagt, dass er früher so etwas oft getan habe.

Was schwer vorstellbar war. Der alte Mann war ihr bester Freund. Ihr einziger Freund. Er war der Fahrer ihres Vaters gewesen und zu ihr immer herzlich und liebevoll, sogar liebevoller als ihre Mutter. An ihre Mutter hatte Chiara nur vage Erinnerungen – eine hagere Gestalt in Schwarz, die in der kleinen Kapelle kniete oder auf dem harten Stuhl im Salon saß, die Bibel in den Händen.

Chiara rutschte tiefer in das warme Wasser der Badewanne. Enzo und sie hatten also versagt, der Amerikaner würde das Treffen mit ihrem Vater einhalten. Ob er sie wiedererkannte, wenn er sie sah? Enzo konnte ihm aus dem Weg gehen, sie nicht. Schließlich war sie der Grund für seinen Besuch.

Sie wurde angeboten. Zum Verkauf. Wie eine Ziege.

Sie konnte nur hoffen, dass er sie nicht erkannte. Die Möglichkeit bestand. Sie würde ein Kleid tragen, das Haar zu dem üblichen strengen Knoten geschlungen. Sie würde leise sprechen und demütig den Kopf gesenkt halten. Sie würde sich so unsichtbar wie nur möglich machen.

Und selbst wenn er sie erkannte … Wahrscheinlich wollte er sie gar nicht, auch wenn es eine Ehre war, die Tochter von Don Freddo Cordiano zur Frau zu bekommen. Ein Mann wie er konnte jede haben. Obwohl eine so überwältigende Männlichkeit sie abstieß, wusste sie doch, dass es viele Frauen gab, die von den leuchtend blauen Augen in dem markanten Gesicht und dem harten, muskulösen Körper hingerissen wären.

Dio, wie hart!

Hitze schoss in ihre Wangen, als sie sich an den Moment erinnerte, als er sie auf seinen Schoß gezogen hatte. Ein Flattern meldete sich in ihrem Leib. Sie wusste, dass ein Mann eine solche Wirkung auf eine Frau haben konnte, schließlich war sie nicht völlig naiv. Aber dieser Teil von ihm war ihr riesig vorgekommen. Es war doch sicher unmöglich, dass der Körper einer Frau so etwas überhaupt in sich …

Es klopfte an der Badezimmertür. Chiara schoss senkrecht im Wasser auf. Sì?“

Signorina, per favore. Ihr Vater erwartet Sie in der Bibliothek.“

Chiara regte sich nicht. War der Amerikaner angekommen? „Maria, ist mein Vater allein?“

No, signorina. Ein Mann ist bei ihm, ein Amerikaner. Und natürlich der capo.“

Großer Gott. Chiara schloss die Augen. Also nicht nur der Amerikaner, sondern auch der widerliche Giglio, die rechte Hand ihres Vaters, der sie mit seinen anzüglichen Blicken verschlang.

Schlimmer konnte dieser Tag nicht mehr werden.

Nein, schlimmer ging es kaum noch. Ein Muskel zuckte in Rafes Wange. Erst diese Nummer mit Robin Hood und Lady Marian, und jetzt das hier.

Seit zwanzig Minuten saß er auf einem unbequemen Stuhl in einem Arbeitszimmer, das noch stickiger und düsterer war als das seines Vaters, mit einem Glas Grappa in der Hand, das er nicht hatte haben wollen, und einer Zigarre, die ihm aufgedrängt worden war, auf dem Tischchen abgelegt neben sich. Als Krone des Ganzen saß ihm ein hässliches, feistes Muskelpaket gegenüber, das auf den Namen Giglio hörte und dessen Massen über den Stuhlrand quollen.

Cordiano hatte den Mann als „Geschäftspartner“ vorgestellt. Capo war wohl die wahrheitsgemäße Bezeichnung. Der obligatorische Gorilla als Begleitperson eines jeden Gauners, der etwas auf sich hielt.

Dieser capo ließ die Augen nicht von Rafe. Kleine, eng zusammenstehende Augen, in denen die pure Ruchlosigkeit glitzerte. Rafe hatte sich vorgenommen, es zu ignorieren, doch langsam merkte er, dass dieser Blick ihm zusetzte. Aus irgendeinem Grund mochte der fette Typ ihn nicht. Nun, das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Hinzu kam, dass Cordiano fest entschlossen schien, sämtliche alten Geschichten von früher zu erzählen, als Männer noch Männer waren, und in den Erinnerungen an jene glorreichen Tage zu schwelgen.

Rafe wollte nur noch hier raus, zurück nach Palermo und wieder in die Staaten, zurück in die Welt, die Sinn ergab. Doch alle seine Ansätze, das Ganze zu beschleunigen, waren ergebnislos verpufft. Und solange sie nicht zum Wesentlichen kamen, saß er hier fest.

Nach dem Handschlag und den üblichen Floskeln – Wie war Ihre Reise? – Bestens. Rafe würde diesem alten Fuchs ganz sicherlich nichts davon sagen, dass er unterwegs von einem tattrigen Straßenräuber und einer Frau überfallen worden war – und nach dem Aufdrängen von Begrüßungsgrappa und – zigarre hatte Raffaele Cordiano den versiegelten Brief seines Vaters überreicht.

„Grazie“, hatte der don nur gesagt und den Umschlag ungeöffnet auf den Schreibtisch geworfen. Und jedes Mal, wenn Cordiano eine Atempause machte, setzte Raffaele an, um die Entschuldigung seines Vaters auch mündlich vorzubringen. Ohne Erfolg. Cordiano ließ ihm keine Chance.

Zumindest war bisher kein Wort über die Heirat gefallen. Vielleicht hatte Cesare ja bereits erklärt, dass Rafe das großzügige Angebot, die unansehnliche Tochter des alten Feindes zu ehelichen, leider ablehnen müsse.

Etwas musste an seiner Miene zu erkennen gewesen sein, denn der Gorilla kniff plötzlich die Augen zusammen, hatte er bisher doch nicht einmal geblinzelt. Rafe kniff seine ebenfalls zusammen und starrte zurück. Natürlich war es kindisch, aber womit sonst sollte er sich beschäftigt halten?

„… für Sie, Signor Orsini.“

Rafe blinzelte und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf Cordiano. „Verzeihung?“

„Ich sagte, es muss ein langer Tag für Sie gewesen sein, und ich sitze hier und langweile Sie mit meinen Geschichten.“

„Keineswegs.“ Rafe zwang sich zu einem Lächeln.

„Schmeckt Ihnen der Grappa nicht?“

„Ich fürchte, ich bin kein Mann für Grappa, Don Cordiano.“

„Für Zigarren offensichtlich auch nicht.“ Cordiano bleckte die Zähne.

„Um ehrlich zu sein …“ Rafe stellte den Grappa zu der Zigarre auf das Tischchen und stand auf. Der Gorilla erhob sich ebenfalls. Es reicht, dachte Rafe. „Ich bin auch kein Mann, der sich gerne belauern lässt, so als könnte er jederzeit das Familiensilber stehlen. Also sagen Sie Ihrem Wachhund, er soll sich endlich entspannen.“

„Natürlich.“ Der don lachte trocken auf. „Es ist nur so, dass Giglio in Ihnen einen Konkurrenten sieht.“

„Glauben Sie mir, Cordiano, ich habe nicht das geringste Interesse daran, seine Position zu übernehmen.“

„Nein, sicherlich nicht. Ich meinte nur, dass ich schon lange nach einer passenden Art suche, um mich für die Jahre seiner Treue und Ergebenheit zu bedanken, und …“

„Ich bin sicher, Sie werden die richtige Belohnung für ihn finden. Doch ich bin hier im Auftrag meines Vaters. Daher würde ich es sehr schätzen, wenn Sie nun seinen Brief lesen könnten.“

Freddo Cordiano lächelte. „Ich weiß, was darin steht. Cesare bittet mich um Verzeihung für das, was er vor fast einem halben Jahrhundert getan hat. Und Sie, Raffaele – ich darf Sie doch so nennen? –, sind hier, um mir zu versichern, dass er jedes Wort ernst meint.“

„Ja, so ungefähr.“ Noch immer kein Wort von der Tochter und der Heirat, dem Himmel sei Dank. „Heißt das, ich kann nun nach Hause zurückkehren und meinem Vater überbringen, dass seine Entschuldigung angenommen wurde? Es wird nämlich spät, und ich möchte noch …“

„Hat er Ihnen gesagt, was er getan hat?“

„Nein. Aber das ist auch nicht nötig.“

„Ich war sein … nun, nennen wir es Gönner.“

„Wie schön …“

„Er hat mir meine Großzügigkeit vergolten, indem er mir meine Verlobte gestohlen hat. Zwei Tage vor der Hochzeit ist er mitten in der Nacht mit ihr verschwunden.“

„Ich verstehe nicht. Mein Vater hat eine Frau. Sie …“ Rafe brach überrascht ab. „Wollen Sie damit sagen, meine Mutter war mit Ihnen verlobt?“

„In der Tat, das war sie. Bis Ihr Vater sie mir gestohlen hat.“

Jetzt ergab das bizarre Gerede von der Leidenschaft und der dunklen Seite Sinn!

„Hatten Sie gedacht, es handle sich um eine Lappalie?“ Die Stimme des don war ebenso eisig wie sein schmales Lächeln. „Deshalb hat er Sie hergeschickt, Junge. Um eine Entschuldigung anzubieten, die ich akzeptieren kann. Auge um Auge, so halten wir es.“

Rafe warf einen schnellen Blick zu dem capo und überlegte. Er hatte Dienst bei den Marines getan. Er würde dem Fettklumpen sicherlich einen guten Kampf bieten, aber letztendlich …

„Auge um Auge“, wiederholte Don Cordiano und verschränkte die Arme vor der Brust. „Oder jetzt, nach so vielen Jahren, Wiedergutmachung für eine Untat. Ihr Vater hat meine Braut gestohlen. Indem ich Ihnen die Hand meiner Tochter gewähre, zeige ich ihm, dass ich ihm vergebe. Verstehen Sie?“

Fast hätte Rafe laut aufgelacht. Nicht einmal ein Genie könnte in diesem Konstrukt irgendeine Logik ausmachen. „Ich verstehe nur, dass Sie eine Tochter haben, die Sie unbedingt loswerden wollen.“

Der Gorilla knurrte.

„Und Sie und mein alter Herr haben da diesen haarsträubenden Plan ausgeknobelt. Nun, vergessen Sie’s, der Plan wird nicht umgesetzt.“

„Meine Tochter braucht einen Ehemann.“

„Oh, da bin ich sicher. Kaufen Sie ihr einen.“

Das Muskelpaket machte einen Schritt vor. Adrenalin pumpte durch Rafes Adern, als er zu dem capo blickte. Er würde dem Gorilla mehr als einen guten Kampf bieten. So wütend, wie er war, würde er wahrscheinlich sogar als Sieger daraus hervorgehen.

„Ich habe das Wort Ihres Vaters, Orsini.“

„Dann haben Sie gar nichts. Denn es ist mein Wort, das Sie in dieser Sache brauchen. Und ich versichere Ihnen, ich …“

„Da bist du endlich.“ Cordiano sah an Rafe vorbei. „Du hast dir Zeit gelassen, um meine Anweisung zu befolgen, Mädchen.“

Rafe wandte sich zur Tür um. Eine schmale Gestalt in Schwarz hatte das Zimmer betreten – Chiara Cordiano.

„Bist du plötzlich zu Stein erstarrt? Tritt näher. Hier ist jemand, der dich kennenlernen möchte.“

Von wegen! Rafe ermahnte sich, dass das Mädchen keine Schuld traf. Die Kleine konnte einem leidtun. Unscheinbar und ergeben. Ihre Körperhaltung bestätigte es. Den Kopf hielt sie gebeugt, die Hände vor sich gefaltet. Das Haar war in einem strengen Knoten zusammengesteckt, und das formlose schwarze Kleid hing wie ein Sack an ihr.

Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, aber das brauchte er auch nicht. Es musste ebenso nichtssagend sein wie der Rest von ihr.

Kein Wunder, dass ihr Vater sie loswerden wollte. Welcher Mann würde sich schon freiwillig bereit erklären, eine solch erbarmungswürdige Frau in sein Bett zu holen?

„Begrüße unseren Gast, Signor Raffaele Orsini.“

Sie nickte in seine Richtung – eine nahezu unmögliche Aufgabe, wenn ihr Kinn doch praktisch schon auf der Brust lag. „Buon giorno“, flüsterte sie.

„Auf Englisch, Mädchen!“

Sie wrang die Hände, und Rafe fühlte wieder das Mitleid an sich zerren. Das arme Ding war völlig verschüchtert.

„Ist schon in Ordnung“, mischte er sich ein. „Viel Italienisch spreche ich nicht, aber ein Hallo bekomme ich noch zusammen. Buon giorno, signorina. Come sta?

„Antworte“, donnerte Cordiano.

„Danke, gut, signor.“

Rafe stutzte. Die Stimme kam ihm bekannt vor.

„Was hast du da an?“, verlangte Cordiano von seiner Tochter zu wissen. „Du gehst nicht ins Kloster, sondern du heiratest.“

„Don Cordiano“, sagte Rafe hastig. „Ich sagte Ihnen doch bereits …“

„Und seit wann stehst du da mit hängenden Schultern und gebeugtem Kopf?“ Cordiano packte seine Tochter hart beim Arm, sodass ihr ein Wimmern entfuhr.

„Lassen Sie das.“ Rafe trat einen Schritt vor.

Der capo wollte eingreifen, doch Cordiano hob die Hand. „Nein, Giglio. Signor Orsini hat recht. Ihm allein steht es von nun an zu, seine Verlobte zu disziplinieren.“

„Sie ist nicht meine …“ Rafe warf einen schnellen Blick auf die junge Frau und senkte die Stimme. „Ich sagte doch schon, dass ich nicht an einer Heirat mit Ihrer Tochter interessiert bin.“

Cordianos Blick wurde hart. „Ist das Ihr letztes Wort, Orsini?“

„Was für ein Mann sind Sie nur, dass Sie Ihrer Tochter so etwas zumuten?“, wollte Rafe ärgerlich wissen.

„Ich habe Sie etwas gefragt. Ist das Ihr letztes Wort?“

Es war Rafe zutiefst zuwider, was dieser Mann dem Mädchen antat. Warum wehrte sie sich nicht? War sie so schwach? Oder war sie einfach nur dumm?

Das soll mich nicht kümmern, dachte er und sah Freddo Cordiano fest in die Augen. „Das ist mein letztes Wort.“

Der Gorilla lachte. Der don zuckte mit den Schultern. Dann fasste er das schmale Handgelenk des Mädchens.

„In diesem Falle“, verkündete er, „überlasse ich die Hand meiner Tochter meinem getreuen Vize, Antonio Giglio.“

Der Kopf der jungen Frau schoss mit einem Ruck hoch. „Nein“, flüsterte sie. Dann noch einmal: „Nein.“ Und der Schrei wurde lauter, mit jedem Mal, da sie ihn ausstieß. „Nein! Nein!“

Rafe starrte sie an. Kein Wunder, dass ihm ihre Stimme bekannt vorgekommen war! Diese großen violetten Augen. Die feinen Wangenknochen. Der rosige volle Mund … „Einen Augenblick!“

Chiara schwang zu ihm herum. Der Amerikaner hatte sie erkannt. Das war jetzt nicht mehr wichtig. Sie saß in der Falle.

Verzweifelt drehte sie ihr Handgelenk aus dem Griff ihres Vaters frei. „Ich muss dir die Wahrheit sagen, papà. Du kannst mich nicht an Giglio geben, weil … weil der Amerikaner und ich … wir sind uns schon begegnet.“

„Allerdings“, stieß Rafe wütend aus. „Auf der Straße ins Dorf. Ihre Tochter ist aus dem Wald gestürzt und …“

„Ich wollte ihn nur begrüßen, als …“, sie schluckte, „… als Zeichen des guten Willens. Aber er … er hat es ausgenutzt.“

Wütend machte Rafe einen Schritt auf sie zu. „Sagen Sie Ihrem alten Herrn, was wirklich passiert ist!“

„Was passiert ist, papà …“, hauchte sie bebend. „Er hat … in seinem Auto … Signor Orsini hat versucht, mich in seinem Auto zu verführen.“

Giglio fluchte. Don Cordiano brüllte los. Rafe hätte liebend gern alle zusammen des Wahnsinns bezichtigt, doch in genau diesem Augenblick flatterte Chiara Cordiano mit den Lidern und sank ohnmächtig direkt in seine Arme.

4. KAPITEL

Das Ganze konnte nur ein Albtraum sein.

In der einen Minute betrat Rafe das Haus, um die Entschuldigung seines Vaters zu überbringen, und in der nächsten lag Chiara Cordiano in seinen Armen.

War die Ohnmacht nur gespielt? Die Frau war schließlich eine hervorragende Schauspielerin. Erst angriffslustiger Bandit, dann demütige Siciliana. Dabei war sie alles andere als demütig. Die Frau hatte ihn mit der Wildheit einer Löwin angegriffen. Und dann war da noch dieses heiße, sexuelle Bewusstsein. Oh ja, die Lady konnte schauspielern. Diese letzte Szene war überhaupt ihre beste. Zu behaupten, er hätte versucht, sie zu verführen! Er hatte sie geküsst. Ein Kuss, mehr nicht. Das hatte nichts mit Verführung zu tun.

Don Cordiano hielt seinen Handlanger zurück. Der Fettwanst wollte Rafe zerquetschen, das war überdeutlich. Gut, sollte er nur kommen. Rafe konnte ein Ventil gebrauchen. Aber erst musste die Frau in seinen Armen wieder die Augen aufmachen und die Wahrheit sagen.

Er sah sich um, entdeckte ein Sofa in einer Zimmerecke und steuerte darauf zu. Unsanft ließ er Chiara auf die Couch fallen. „Chiara“, sagte er scharf. Keine Reaktion. „Chiara.“ Er schüttelte sie an den Schultern.

Der Fettwanst stieß eine obszöne Verwünschung aus. Rafe schaute auf.

„Schicken Sie den Mann raus, Cordiano, oder ich vergesse mich.“

Der don schnarrte einen Befehl, und wie ein gut trainierter Kampfhund trottete der capo ab, nicht ohne vorher ein drohendes „Wir sind noch nicht fertig, Amerikaner“ in Rafes Richtung zu schicken.

Rafe bleckte die Zähne. „Jederzeit.“

Die Tür schlug zu. Cordiano ging zum Barschrank und goss Brandy in einen Kristallschwenker, reichte ihn an Rafe weiter. Flöße ihn ihr selbst ein, dachte der, sagte es aber nicht, legte stattdessen den Arm um Chiaras Schulter, zog sie hoch und hielt das Glas an ihre Lippen.

Sie sah unglaublich grazil und zerbrechlich aus.

Das ist sie aber nicht, rief er sich in Erinnerung. Sie war zäh und verschlagen wie ein Wiesel.

„Kommen Sie, machen Sie schon die Augen auf.“

Ihre Lider hoben sich flatternd. Sie starrte ihn an, die Augen dunkel wie die Nacht, die Pupillen von einem hellen Violettreifen umringt. „Was ist passiert?“

Netter Versuch. Aber so durchschaubar. „Sie sind ohnmächtig geworden. Genau im richtigen Moment.“

Blitzte da etwa Trotz in ihren Augen auf? Er wusste...

Autor

Sandra Marton
Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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