Julia Extra Band 499

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WO DAS FAMILIENGLÜCK ZU HAUSE IST von CARA COLTER

Mitleidig sieht Allie, wie erschöpft der kleine Cody ist. Weshalb sie dem verwaisten Jungen und seinem Onkel, dem attraktiven, aber arroganten Sam Walker, liebevoll anbietet, eine Nacht in ihrem Strandhaus zu verbringen. Doch manchmal wird aus einer Nacht ein ganzes Leben …

LIEBE MICH - JETZT UND FÜR IMMER von CAITLIN CREWS

Für Eleanor ist Hugo einfach nur der Boss, seit sie als Gouvernante für sein Mündel auf seinem Schloss wohnt. Bis er sie eines Nachts zärtlich an sich zieht und heiß küsst! Glaubt der Adlige, der als zynischer Playboy verschrien ist, etwa doch an romantische Gefühle?

PLÖTZLICH MUMMY? von THERESE BEHARRIE

Ein One-Night-Stand mit einer Fremden schenkt Hunter einen kleinen Sohn: Aber die Mutter will nichts von dem Kind wissen! Und nun? Ratlos wendet sich der Single-Dad an seine Ex, die schöne Autumn. Damals zerbrach ihre Liebe, weil er keine Familie wollte. Doch nun ist alles anders …

MIT DIR WERDEN WUNDER WAHR von KATRINA CUDMORE

Schlaflose Nächte kennt er bei seiner kleinen Tochter zu genüge! Verzweifelt bittet der verwitwete Max die Therapeutin Carly Knight um Hilfe. Doch auf seinem Anwesen am Comer See weckt Carly in ihm ein Gefühl, das der italienische Milliardär längst verloren glaubte …


  • Erscheinungstag 30.03.2021
  • Bandnummer 499
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500593
  • Seitenanzahl 450
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cara Colter, Caitlin Crews, Therese Beharrie, Katrina Cudmore

JULIA EXTRA BAND 499

CARA COLTER

Wo das Familienglück zu Hause ist

Sam ist Allie so dankbar. Seit er mit seinem verwaisten Neffen in ihrem Strandhaus untergekommen ist, lacht Cody wieder. Doch schnell gerät ihr Glück in Gefahr: Der Kleine soll ihnen genommen werden!

CAITLIN CREWS

Liebe mich - jetzt und für immer

Die hübsche Eleanor ist die perfekte Gouvernante für sein Mündel. Davon ist Hugo, Duke of Grovesmoor, überzeugt. Das Kind braucht Liebe! Aber dann wird ihm klar, was er selbst braucht – Eleanor …

THERESE BEHARRIE

Plötzlich Mummy

Der Traum von einer Familie hat sich für Autumn nicht erfüllt. Doch dann steht plötzlich ihr Ex vor der Tür, auf dem Arm ein süßes Baby. Und fragt allen Ernstes, ob sie Elis neue Mummy sein will!

KATRINA CUDMORE

Mit dir werden Wunder wahr

„Meine Tochter braucht Ihre Hilfe, Ms. Knight.“ Der flehende Unterton in Max Lovatos Stimme gibt den Ausschlag. Ja, Carly wird helfen. Auch wenn der Preis gefährlich hoch sein könnte: ihr Herz …

1. KAPITEL

Dies war ein perfekter Moment. Allerdings gab es etwas, dem zu misstrauen Alicia Cook jedes Recht hatte, und das waren perfekte Momente.

Dennoch versuchte Allie, den Augenblick zu genießen. Sie lehnte sich in ihrem Liegestuhl zurück und nippte an ihrer eiskalten Limonade. Die Strahlen der untergehenden Sonne brachten den Schaum auf den Wellen des Ozeans zum Glitzern und ließen den Strand funkeln wie pures Gold. Im Schatten ihrer Veranda sah sie zu, wie die Tagesgäste nach und nach den Strand verließen. Eine Familie war gerade dabei, ihren Strandausflug zu beenden. Der Vater ließ die Luft aus einem bunten Kinderschlauchboot ab, während die Mutter eine Picknickdecke ausschüttelte und die Kinder vom Wassersaum zurückrief.

Eine kleine, schmerzhafte Sehnsucht zog wie eine dunkle Wolke über Allies perfekten Moment. Rasch wandte sie den Blick ab.

Weiter unten am Strand spazierte ein Pärchen Hand in Hand am Wasser entlang. Das Ziehen in Allies Innerem wurde stärker.

Sehnsüchtig sah sie zu, wie die beiden stehen blieben und sich umarmten. Er schien ihr etwas ins Ohr zu flüstern, und der Wind trieb das Lachen des Mädchens den Strand hinauf. Glaub ihm kein Wort, murmelte sie vor sich hin.

Perfekte Momente. Dazu gehörte, nicht allein zu sein. Das Leben mit jemandem zu teilen. Innig miteinander verbunden zu sein …

Schon war es geschehen. Allies Stimmung war dahin, ihr perfekter Moment verflogen.

Sie löste den Blick von dem jungen Paar und ignorierte die glückliche Familie. Stattdessen nahm sie einen großen Schluck aus ihrem Glas und griff nach ihrer Gitarre. Was soll’s, dachte sie. Perfekte Momente sind keine Währung, mit der man Rechnungen bezahlen kann. Ihren finanziellen Engpass würde sie nur überwinden, wenn sie endlich ihren Auftrag für eine Komposition erledigte.

Zögernd ließ sie den Daumen über die sechs Saiten gleiten … E A D G H E … Aber die Gitarre ließ sich nicht verführen. Das Instrument verhielt sich wie ein gekränkter Freund, der sich zu sprechen weigerte.

Es war fast eine Erleichterung, als Allie durch die offene Verandatür ein Geräusch hörte. Was war das? War jemand an der Eingangstür? Sie lauschte angestrengt. Oder hatte sie es sich vielleicht nur eingebildet? Doch jetzt war das Geräusch wieder zu hören, und es klang sehr real.

Jemand machte sich an der Klinke zu schaffen.

Erst kürzlich hatte sie im Postamt einen Hinweis hängen sehen, dass in Mimi Roberts Villa, ein Stück weiter den Strand hinunter, eingebrochen worden war. Ein frecher Dieb war zur Eingangstür hereingekommen, während sich die beliebte Prominente auf ihrer Terrasse in der Sonne aalte. Im lokalen Fernsehen hatte ein Sprecher der Polizei von Sugar Cone Beach darauf hingewiesen, dass es in letzter Zeit mehrere solcher Fälle gegeben hatte, und die Bevölkerung aufgefordert, ihre Türen zu verschließen, selbst wenn sie zu Hause waren.

Seitdem hatte Allie nicht mehr ruhig schlafen können. Bei jedem Geräusch war sie aufgeschreckt, und da sie Fenster und Türen geschlossen hielt, war es unerträglich heiß im Haus. Kein Wunder, dass sie nicht einmal die einfachste Melodie zustande bekam.

Allerdings würde nur ein wenig ambitionierter Dieb ausgerechnet ihre kleine Hütte für einen Einbruch auswählen. Während der letzten zwanzig Jahre waren links und rechts extravagante Strandhäuser entlang des feinsandigen Strandes aus dem Boden geschossen. Nur das Cottage ihrer Großmutter hatte seinen in die Jahre gekommenen Charme behalten.

Die Erinnerung an ihre Großmutter schnürte ihr für einen Moment die Kehle zu. Ihre Gram hatte immer an sie geglaubt und immer zu ihr gehalten. Jetzt lebte sie nicht mehr. Und das kleine Strandhaus, das sie beide so sehr geliebt hatten, war ihr Abschiedsgeschenk für Allie gewesen.

Wenn sie es nur behalten konnte! Allein die Steuern waren schon atemberaubend. Fast täglich riefen Immobilienmakler an und boten ihr unanständige Summen für den einzigen Ort auf der Welt, an dem sie sich sicher fühlte und vor neugierigen Blicken geschützt. Und wo die Liebe ihrer Großmutter sie immer noch umhüllte wie eine wärmende Decke.

Ein plötzliches Hämmern ließ sie aufschrecken. Das kam definitiv von der Haustür. Wollte jemand mit Gewalt eindringen? Sei nicht albern, schimpfte sie mit sich selbst. Ein Dieb würde sich nicht so lautstark ankündigen. Doch wer auch immer es war: Er sollte lieber klingeln, statt die Tür einzutreten.

Oh. Jetzt erinnerte Allie sich: Die Klingel funktionierte bereits seit Wochen nicht mehr.

Sie legte ihre Gitarre aus der Hand. Ein wenig war sie erleichtert über die Störung, weil sie spürte, dass sie gerade ohnehin rein gar nichts zustande bringen würde. Sie stand auf und ging ins Haus, nicht sicher, wie sie sich verhalten sollte.

Sollte sie viel Lärm machen und alle Lichter einschalten, sodass der Ruhestörer wusste, dass jemand zu Hause war? Oder sollte sie auf Zehenspitzen zur Tür schleichen und vorsichtig hinausspähen, um zu sehen, wer davorstand?

Aus dem hellen Licht ins Haus zu treten, kam ihr vor, als fahre sie in einen dunklen Tunnel. Ursprünglich war das Cottage eine Fischerhütte gewesen wie viele andere an diesem Strandabschnitt auch, jetzt war es das letzte seiner Art. Als das Häuschen in den 1920-Jahren gebaut worden war, hatte niemand Gedanken darauf verschwendet, wie die Fenster den bestmöglichen Blick erlauben würden. Fenster waren damals Luxus gewesen.

Deshalb war die Küche eng und dunkel. Außerdem tropfte der Wasserhahn, und die Schranktüren hingen schief in den Angeln. Dennoch liebte Allie dieses Haus – oder vielleicht gerade deswegen.

Vor einigen Jahren hatte sie gemeinsam mit ihrer Großmutter alle Küchenschränke leuchtend gelb angestrichen, und weil ihnen die Farbe so gut gefiel, auch gleich den Küchentisch. An die Rückwand der Spüle hatten sie Fliesen mit Meeresmotiven geklebt und selbst genähte Vorhänge in die Fenster gehängt.

Vor der Küche befand sich ein schmaler, türkisfarben getünchter Flur, dessen Wände mit Allies künstlerischen Versuchen aus ihrer Kindheit geschmückt waren. Vom Flur aus führten drei Türen in winzige Schlafzimmer, die jedes für nicht mehr als ein Bett, einen Stuhl und einen Kleiderständer Platz boten. Auf allen Betten lagen selbst gemachte Überdecken. Gram hatte Handarbeiten aller Art geliebt. Auf Allies eigenem Bett lag ihr Lieblingsstück. Verschlungene Eheringe zierten als goldgelbes Muster die Decke.

Immer noch auf Zehenspitzen, schlich sie den Flur entlang zur Eingangstür. Von dort konnte sie durch den offenen Türbogen in den Wohnraum mit den Möbeln sehen, die allesamt alt und verblichen waren, doch sehr bequem.

Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere – Allie erschauerte bei dem Gedanken, dass sie mit dreiundzwanzig Jahren den Höhepunkt ihrer Karriere bereits hinter sich hatte – war sie in vielen Häusern entlang des Strandes zu Besuch gewesen. Dort gab es riesige Fenster mit offenem Meerblick, Kücheneinrichtungen, die jedem Restaurant zur Ehre gereicht hätten, und elegante Möbel aus den neuesten Kollektionen.

In keinem dieser Häuser hatte sie sich so gefühlt wie hier.

Zu Hause.

Das war vielleicht die wichtigste Lektion ihrer kurzen Karriere, die wie eine Rakete gestartet war und dann ebenso schnell wieder abgestürzt: Niemals konnten Geld oder jubelnde Zuschauer ein Zuhause ersetzen. Mit diesen Gedanken schlich sie sich ins Wohnzimmer, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

Doch bevor sie so weit kam, krachte es erneut. Jemand hatte wirklich gegen die Tür getreten! Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Zu ihrem Entsetzen öffnete sich die Tür gleich darauf quietschend einen Spalt. Ihr erster Impuls war also richtig gewesen. Ein Einbrecher!

Sie war sicher, dass sie die Haustür verschlossen hatte, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Jemand versuchte, in ihr Haus einzudringen.

Sie griff nach dem nächstbesten Ding, das sie packen konnte, einer schweren bronzenen Statue. Mit der Waffe in der Hand warf sie ihr ganzes Gewicht gegen die sich langsam öffnende Tür und versuchte, sie wieder zuzudrücken.

Sam Walker war erschöpft und mit den Nerven am Ende. Er war später aufgebrochen als geplant, und der Verkehr war wegen des bevorstehenden Feiertages die Hölle gewesen.

Als er schließlich vor dieser Hütte am Strand von Südkalifornien stand, schien der Schlüssel nicht zu passen. Schließlich gelang es ihm, ihn im Schloss zu drehen, doch die verdammte Tür ließ sich noch immer nicht öffnen, obwohl er mit kräftigen Fußtritten nachzuhelfen versuchte.

Endlich gab das Ding ein paar Zentimeter nach, nur um sogleich neuen Widerstand zu leisten. Sam hatte genug! Kraftvoll warf er seine Schulter gegen die Tür. Zwei Jahren College Football waren offenbar doch für etwas gut gewesen.

Die Tür sprang auf, und Sam stolperte in tiefe Dunkelheit. Nach dem grellen Sonnenlicht draußen kam er sich plötzlich wie blind vor.

Vor ihm erklang ein leises Stöhnen, das seinen Atem stocken ließ. Hieß es nicht, dass in letzter Zeit häufig in die Strandhäuser eingebrochen wurde?

Ganz offensichtlich war ein Eindringling im Haus. Der Schwung der aufspringenden Tür schien ihn zu Boden geworfen zu haben. Auf den ersten Blick wirkte er nicht besonders bedrohlich: eine kleine Gestalt nur, vielleicht noch ein Teenager.

Sam warf einen raschen Blick zurück auf seine schlecht gelaunten Reisebegleiter, die glücklicherweise vor dem Haus geblieben waren. Dann stürzte er sich vorwärts. Der Fremde wollte sich offenbar gerade aufrichten und schien etwas in der Hand zu halten, das wie eine Waffe aussah.

„Was zum Teufel hast du hier zu suchen?“, fragte Sam mit eindrucksvoll drohender Stimme. Dann stürzte er sich auf den Eindringling, entriss ihm mühelos das waffenähnliche Objekt und hielt den Burschen am Boden fest, damit er nicht entkommen konnte.

Ein scharfer Schmerzensschrei erklang, und der wirkte so wenig männlich wie der zarte Duft, der Sam in die Nase stieg.

Seine Augen hatten sich inzwischen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, und er musste feststellen, dass er keinen jungen Bengel vor sich hatte. Große kornblumenblaue Augen funkelten ihn wütend an. Sofort ließ er die junge Frau los.

So etwas hatte ihm am Ende eines schrecklichen Tages gerade noch gefehlt.

2. KAPITEL

Mühsam richtete Allie sich zum Sitzen auf. Mit einer Mischung aus ohnmächtiger Wut und aufsteigender Panik blickte sie zu ihrem Angreifer auf. Ein Fremder in ihrem Haus, der fragte, was sie hier zu suchen hatte!

Die Arme vor der breiten Brust verschränkt, bot er einen beeindruckenden Anblick. Eigenartigerweise schwand ihre Panik so plötzlich, wie sie gekommen war. Sie kam sich vor wie in einer Zeitblase, in der sie ihn in Zeitlupe studieren konnte.

Sah er wirklich wie ein Einbrecher aus? Er bewegte sich mit der gelassenen Selbstsicherheit eines austrainierten Athleten. Hatte dieser Mann es nötig, in fremde Häuser einzubrechen?

Jedenfalls war er gut gekleidet. Die Shorts ließen seine sonnengebräunten Beine endlos lang erscheinen, und unter dem leichten Hemd spannten sich unübersehbar kräftige Muskeln.

Wenn schon ein Einbrecher, dann so einer.

Entsetzt schob sie diesen abwegigen Gedanken beiseite. Natürlich war er gut gekleidet! Genauso würde ein Dieb sich verhalten, wenn er in dieser wohlhabenden Nachbarschaft nicht auffallen wollte, während er sich an fremden Türen zu schaffen machte.

Den Blick unablässig auf sie gerichtet, trat der Eindringling einen Schritt zurück und griff nach der Türklinke. Er fühlt sich ertappt und sucht jetzt das Weite, dachte Allie erleichtert. Doch dann wandte er den Blick für einen Moment von ihr und sah hinaus. Wartete dort noch ein Komplize?

Allie dachte nach. Der Fremde war im Moment abgelenkt. Wenn sie jetzt aufspringen und durchs Haus über die Terrasse an den Strand rennen könnte, würde sie ihm entkommen.

Aber nein! Dies war ihr Haus, ihre sichere Zuflucht. Sie wollte nicht feige davonlaufen, sondern sich zur Wehr setzten.

„Verschwinden Sie, solange Sie noch können!“, rief sie ihm zu und richtete sich mühsam auf. Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht so unsicher klang, wie ihre Beine sich anfühlten. Sie schob eine Hand in die Tasche ihrer Shorts. „Ich habe eine Waffe!“

Ob er darauf hereinfallen würde? Aber nein. Der Mann drehte sich langsam herum und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. Da sie ihn jetzt nicht mehr von unten ansah, musste sie feststellen, dass ihr Einbrecher verdammt gut aussah.

„Das mit der Waffe hatten wir doch schon erledigt“, entgegnete er scheinbar gelangweilt.

„Ich habe noch eine!“, beharrte sie. Sie streckte den Finger in ihrer Hosentasche aus. Mit etwas Glück würde er das für einen Pistolenlauf halten.

Seine Augen waren dunkelbraun wie frisch gebrühter Kaffee, und die Schatten der Bartstoppeln ließen ihn auf verwegene Weise sexy aussehen. So hatte sie sich einen Einbrecher nicht vorgestellt.

Allie hatte gehofft, dass er nach ihrer Warnung davonlaufen würde, doch das Gegenteil war der Fall. Schneller als sie einen Atemzug machen konnte, war er bei ihr, ergriff ihre Arme und zog ihr die Hände aus den Taschen. Als sie sich ihm entwinden wollte, wurde sein Griff noch fester. Sie sah ein, dass sie keine Chance gegen seine Kraft hatte, und hielt still.

Erleichterte stellte sie fest, dass sich sofort auch sein Griff entspannte. Offenbar wollte er ihr nicht wehtun. Die Berührung seiner Hände erzeugte ein Kribbeln auf ihrer Haut, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Es war völlig unpassend, gerade jetzt festzustellen, wie gut er roch.

„Wer sind Sie?“, fragte er. Seine Stimme klang irgendwie zwischen bedrohlich und verführerisch. „Und was haben Sie mit Mavis gemacht?“

Ein Schock durchfuhr Allie. Er kannte ihre Großmutter? Ach ja, vermutlich hatte er ihren Namen am Briefkasten gelesen.

Nein, unmöglich. Die Schrift war schon lange verblichen. Also kannte er ihre Großmutter wirklich. Na und? Gab ihm das das Recht, so in ihr Haus zu stürzen?

„Was soll ich mit Mavis gemacht haben?“, stieß sie hervor. Sie versuchte erneut, sich seinem Griff zu entziehen, doch er hielt sie fest.

„Wo ist sie?“, wiederholte er fordernd, als sei Allie in sein Haus eingedrungen und nicht andersherum.

„Sie glauben, dass ich der Eindringling bin?“

„Jedenfalls sind Sie diejenige mit der Pistole in der Tasche.“

Sie schaffte es, ihre Hand so weit zu bewegen, dass sie ihre Tasche von innen nach außen kehren konnte. Der Fremde wirkte keineswegs überrascht. Allie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Offenbar war sie nicht ernsthaft in Gefahr. Wahrscheinlich war alles nur ein Missverständnis. Sie begann zu lachen.

„Ich verstehe nicht, was daran lustig ist“, fuhr er sie an. „In den Nachrichten hieß es, dass es in dieser Gegend in letzter Zeit Einbrüche gegeben hat. Mavis würde sich nicht schützen können.“

Sie lachte noch lauter. „Nicht ich bin der Eindringling. Sie sind es!“

Nun ließ er sie los und blickte verständnislos auf sie nieder. „Wer sind Sie?“

„Wer ich bin?“, stieß sie prustend vor Lachen hervor. „Ich lebe hier. Die Frage ist eher, wer Sie sind. Und wie Sie es wagen können, so in mein Haus einzudringen.“

„Ihr Haus?“ Sein Gesichtsausdruck verriet seine Verwirrung.

„Ich habe dieses Cottage von Mavis gemietet“, begann er zu erklären. „Und zwar seit zehn Jahren immer um diese Jahreszeit. Deshalb habe ich meinen eigenen Schlüssel.“

Nun war es an Allie, verwirrt zu sein. Da die Gefahr offenbar gebannt war, begann sie, andere Details wahrzunehmen. Die Stimme ihres Gegenübers hatte ein erregendes, rauchiges Timbre. Die Stellen an ihrem Arm, an denen er sie festgehalten hatte, kribbelten noch immer angenehm. Sie wünschte, ihr Haar wäre nicht so zerzaust, und sie stünde nicht barfuß in einem viel zu großen T-Shirt vor ihm. Auch bedauerte sie, kein Make-up zu tragen, was allerdings ein Verstoß gegen die Hausregeln wäre.

Ihr Lachen erstarb, denn plötzlich fand sie die Situation überhaupt nicht mehr komisch. Der Fremde wusste es offenbar noch nicht, und es war schrecklich, dass sie ihm die Nachricht überbringen musste.

„Mavis ist meine Großmutter.“ War … das brachte sie nicht über die Lippen. Es klang zu endgültig. „Sie ist nicht hier.“

„Ihre Großmutter?“ Er sah sie zweifelnd an.

„Ja, meine Großmutter.“ Konnte er nicht die Ähnlichkeit sehen? Die Leute sagten immer, sie habe die Augen ihrer Großmutter und auch die zierliche Gestalt.

Seine Schultern entspannten sich plötzlich. „Mavis besucht jedes Jahr im Sommer ihre Schwester. Ich war nur erschrocken, als ich plötzlich Sie vor mir sah. Ich hatte Sorge, Mavis sei etwas zugestoßen.“

„Sehe ich so aus, als könnte ich einer alten Dame etwas antun?“

Er musterte sie, als zöge er diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht. „Immerhin haben Sie behauptet, eine Waffe in der Tasche zu tragen.“

„Aber nur, weil ich glaubte, mich verteidigen zu müssen.“

„Und vorher sind Sie mit einer Lampe oder so etwas auf mich zugestürmt.“

„Es ist eine Statue, und ich bin nicht gerade gestürmt.“

„Wären Sie aber, wenn ich Sie nicht vorher umgestoßen hätte.“

Das konnte sie nicht bestreiten.

„Es war ein Unfall“, fügte er besänftigend hinzu. „Die Tür klemmte, und als ich mich dagegengestemmt habe, sprang sie plötzlich auf. Habe ich Sie etwa verletzt?“

Wenn er sich für ihr Wohlergehen interessierte, hielt er sie offenbar nicht mehr für jemanden, der alte Damen überfiel.

„Ich werde es überleben.“

Er sah sie noch einen Moment prüfend an. Dann stieß er erleichtert die Luft aus und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich entschuldige mich in aller Form für die Heftigkeit meines Auftritts. Ich war nur so überrascht, jemanden im Haus anzutreffen. Sie müssen die Enkelin sein, mit deren Bildern der Flur tapeziert ist. Ich habe mir Mavis’ Enkelin viel jünger vorgestellt … besser zu den Bildern passend.“

Dass er ihre Kinderbilder kannte, hatte etwas Beunruhigendes. Es war besser, solche Vertraulichkeiten im Keim zu ersticken.

„Es tut mir leid, aber ich habe eine schlimme Nachricht. Mavis ist nicht bei ihrer Schwester. Sie …“ Bevor sie noch die nächsten Worte aussprechen konnte, begannen ihre Lippen zu zittern, und ihre Augen wurden feucht.

Was für eine Achterbahn der Gefühle. Erst Panik, dann Erleichterung, nun tiefe Trauer.

Allies Miene ließ Sam die Wahrheit erahnen. „Mavis ist gestorben?“

„Ja.“

„Das tut mir leid.“ Er schien ehrlich erschüttert.

Allie wischte sich die Tränen von den Wangen. Ehe sie weitersprechen konnte, musste sie ein paar Mal schlucken. „Ich habe das Cottage geerbt und nichts von einem Mietvertrag gewusst.“

„Das erklärt, warum ich …“, er blickte über ihre Schulter hinweg auf die Statue, „… mit einem Totschläger empfangen worden bin.“

„Meine Großmutter nannte ihn Harold. Den Totschläger, meine ich.“

„Macht ihn der Umstand, dass er einen Namen trägt, weniger gefährlich?“, fragte er. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen, spöttischen Lächeln. Vergeblich wehrte sich Allie dagegen, es sehr attraktiv zu finden.

„Wie Sie selbst sagten, hat es hier einige Einbrüche gegeben. Es schien mir eine gute Idee, mich von Harold verteidigen zu lassen.“

„Keineswegs! Sie sind ungefähr so groß wie ein Gartenzwerg …“

Ein Gartenzwerg?

„Einen Eindringling direkt anzugreifen, ist keine gute Idee. Mit oder ohne Harold. Und die angebliche Pistole in Ihrer Tasche war ausgesprochen dumm.“

Autsch. Auch noch ein dummer Gartenzwerg.

Allie hatte genug. „Ich muss mich nicht von Fremden belehren lassen!“, fuhr sie ihn betont unfreundlich an.

Er hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. „Ich habe Ihre Großmutter sehr gern gemocht“, sagte er. „Sie hätte Sie bestimmt davor gewarnt, Eindringlinge anzugreifen, die größer sind als Sie.“

Allie musste zugeben, dass er recht hatte. Ihre Großmutter wäre mit ihrem Vorgehen nicht einverstanden gewesen. „Vielen Dank für die weisen Ratschläge.“

Sam war ihr sarkastischer Unterton nicht entgangen. Stirnrunzelnd blickte er auf sie nieder.

Doch Allie ließ sich nicht einschüchtern. „Also, unabhängig von unser beider Wertschätzung für meine verstorbene Großmutter sind unsere gemeinsamen Interessen hiermit beendet. Darf ich Sie zur Tür begleiten, Mr. …“

„Walker. Sam Walker.“

„Also Mr. Walker. Ich entschuldige mich für das Missverständnis. Ich verstehe, dass Sie jetzt ein kleines Problem haben, aber …“

„Ich fürchte, das Problem haben Sie. Ich habe nämlich einen Vertrag.“

3. KAPITEL

Die Arroganz dieses Sam Walker machte Allie fassungslos. Er schien zu glauben, dass die bloße Existenz eines Vertrages alle Fragen beantwortete. Leider verriet seine Haltung, dass er es gewöhnt war, Probleme aggressiv aus dem Weg räumen zu können.

„Ich verstehe nicht ganz, was das bedeutet“, wehrte sich Allie. „Wieso sollte es mein Problem sein?“

„Das bedeutet rein rechtlich gesehen, dass ich in den nächsten zwei Wochen Besitzer dieses Hauses bin.“

„Sie sind also Anwalt?“, fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nein, aber ich kenne einige ziemlich gute.“

„Wollen Sie mir drohen?“

„Eigentlich nicht.“

Aber allein seine Anwesenheit wirkte bedrohlich.

„Und was erwarten Sie jetzt von mir?“

Er zuckte nur achtlos mit den Schultern, während er gleichzeitig nach draußen zu blicken schien. „Dass Sie das Feld räumen, natürlich.“

Allie konnte es nicht glauben. Von einem Moment zum anderen hatte sich das Blatt gewendet. Nachdem erst sie ihn aus dem Haus hatte werfen wollen, wollte er nun sie davonjagen!

„Sie erwarten, dass ich mein eigenes Haus verlasse?“, fragte sie entrüstet.

Er wandte sich wieder zur ihr herum. Ihre Empörung schien nicht den geringsten Eindruck auf ihn zu machen.

„Aber ich weiß nicht, wohin ich könnte“, brach es aus ihr hervor. Wie schrecklich das klang und wie jämmerlich! Er musste jetzt glauben, dass sie bereits aufgegeben hatte. Wie recht sie vorhin gehabt hatte, dem perfekten Moment zu misstrauen.

Er zuckte erneut mit den Schultern. „Ich auch nicht. Es war ein langer Tag, und ich habe keine Lust, jetzt nach einer anderen Unterkunft zu suchen.“

Auf einmal entdeckte Allie hinter seiner gut aussehenden Maske ein anderes Gesicht. Er wirkte müde und erschöpft … und ein wenig einsam.

Allie, schimpfte sie mit sich selbst. Du befindest dich mitten in einer Krise. Dies ist nicht der richtige Moment, die Sorgen dieses Fremden zu ergründen, der dir dein Haus streitig machen will!

Offenbar wollte er sie auch nicht an seinen Sorgen teilhaben lassen, denn der kurze Moment, in dem seine wahren Gefühle seine Maske durchdrungen hatten, war bereits verstrichen.

„Außerdem würde ich in so kurzer Zeit ohnehin nichts anderes finden.“ Seine Stimme klang noch ein wenig schärfer als zuvor.

Das mochte stimmen. Anfang Juli war Sugar Cone Beach einer der meistbesuchten Ferienorte in Kalifornien. Die Unterkünfte waren oft Jahre im Voraus ausgebucht. Wer als wiederkehrender Stammgast ein Dauerarrangement besaß, hielt daran fest. Sie hatte sogar schon von Abmachungen gehört, die über Generationen hinweg vererbt wurden. Vielleicht war das auch bei ihm der Fall.

Aber aus demselben Grund konnte sie ihm unmöglich ihr Haus überlassen. Sie würde selbst nichts anderes für sich finden. Allerdings machte ihr sein Vertrag Kopfzerbrechen. Einen Rechtsstreit konnte sie jetzt am allerwenigsten gebrauchen.

Allie warf ihm einen Seitenblick zu. Er sah aus, als könnte er sich gute Anwälte leisten. Aber so schnell wollte sie nicht klein beigeben.

„Sie hätten doch wenigstens anrufen können, bevor Sie sich auf den Weg gemacht haben!“, rief sie vorwurfsvoll aus. „Sie wussten doch, wie alt meine Großmutter war. Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass sich die Dinge ändern könnten?“

Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und seine Stimme klang kalt. „Zufällig weiß ich das sehr genau. Mir ist allzu bewusst, wie sich ein ganzes Leben innerhalb einer Sekunde aus der Bahn werfen lässt.“

Allie spürte, dass es auf einmal nicht mehr um ein schiefgegangenes Mietverhältnis ging.

Er schien selbst erstaunt, dass er so viel von sich preisgegeben hatte. Sofort wurde seine Miene wieder zur Maske. „Wir müssen zu einer Einigung kommen!“, forderte er ungeduldig. Praktisch aus jeder Pore verströmte er die arrogante Zuversicht eines Mannes, der erwartete, dass alles nach seinem Willen geschah.

Aber diesmal sollte er sich getäuscht haben. Er war es, der gehen musste! Dieses Cottage gehörte ihr, und sie würde es nicht verlassen.

„Ich bezweifle, dass es eine Einigung gibt, die uns beide zufriedenstellen kann“, entgegnete sie trotzig.

„Genau dafür sind Verträge erfunden worden.“

Sie konnte diesen Menschen mit seinem Vertrag wirklich nicht leiden. Umso leichter würde es ihr fallen, ihn hinauszuwerfen. Sie öffnete schon den Mund, um ihren Entschluss zu verkünden, als er sich unvermittelt umdrehte und nach draußen verschwand.

Sein Schlüssel steckte noch im Schloss. Sollte sie ihn abziehen und die Tür von innen verschließen? Mit einer gewissen Genugtuung stellte sie sich sein verblüfftes Gesicht vor. Sei nicht kindisch, schalt sie sich selbst, aber angesichts seiner Arroganz konnte sie sich bei dem Gedanken ein schelmisches Lächeln nicht ganz verkneifen.

Neugierig folgte sie ihm, um zu sehen, was so plötzlich seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Als sie entdeckte, was ihn so eilig aus dem Haus getrieben hatte, blieb ihr der Mund offen stehen, und sie hielt einen Moment den Atem an.

Der Eindringling war nicht allein gekommen. Er hockte jetzt neben einem kleinen Jungen, der gerade versuchte, sein rotes Bobbycar aus dem Blumenbeet zu zerren.

Der Kleine sah entzückend aus. Er mochte etwa drei sein. Sein von der Anstrengung gerötetes Gesicht war von blonden Locken umrahmt, und aus seinen blauen Shorts ragten stämmige Beinchen. Über einem roten T-Shirt trug er ein Superman Cape.

Am Bobbycar hing eine Karre mit einem kleinen Koffer und einem undefinierbaren Kuscheltier. Der Kleine schien entschlossen, das Gespann selbst aus dem Dreck zu ziehen. Wütend winkte er Sam beiseite, um dann selbst mit aller Kraft an der Deichsel zu ziehen.

Sam trat einen Schritt zurück und hob ergeben die Hände. Mit heimlicher Freude verfolgte Allie, wie der selbstbewusste Mr. Walker sich dem Willen eines Kindes beugte.

Der Kleine zerrte ächzend und stöhnend an der Deichsel, doch die Karre ließ sich nicht bewegen. Das Kuscheltier allerdings bewegte sich. Es hob den Kopf, warf einen Blick zwischen Bewunderung und Mitleid auf den Kleinen, seufzte dann leise und ließ den Kopf wieder sinken. Es war also gar kein Kuscheltier, sondern anscheinend eine Kreuzung aus Cockerspaniel und Staubwedel.

Allie schossen hundert Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Im Juli eine Unterkunft in Sugar Cone Beach zu finden war schwierig genug. Für einen Mann mit Hund und Kind würde es unmöglich sein.

Was hieß das für sie?

Vor Sam Walker konnte sie ihr Herz verschließen. Er war zwar genau der Typ, der mühelos jedes Frauenherz erobern konnte, doch gerade gegen solche Männer fühlte sie sich ausreichend gewappnet.

Aber der Kleine? Und dieser niedliche Hund? Was sollte sie ihnen sagen? Schlaft doch in eurem Auto? Geht dahin zurück, wo ihr herkommt? Was gehen mich eure Ferienpläne an?

Aber konnte sie wirklich so hartherzig sein?

Vernünftig wäre es, versuchte sie sich selbst zu überzeugen. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, als wollte sie sich selbst daran erinnern, wo ihr Verstand saß.

Aber weiter unten, im Herzen, spürte sie, dass kalter Zynismus nicht zu ihr passte. Auch ihre Großmutter wäre damit nicht einverstanden gewesen.

Die hatte den Fremden sogar gekannt. Vielleicht sogar schon als kleinen Jungen. Sie hatte zwar nie eine Vermietung erwähnt, aber Allie war auch nie während dieser Sommerzeit zu Besuch hier gewesen.

Plötzlich fiel Allie ein, dass zu Mann und Kind vielleicht auch noch eine Frau gehörte, doch im Auto vor der Tür war keine weitere Person zu sehen. Der Wagen selbst allerdings war sehr vielsagend. Er sah aus wie der eines Mannes, der sich auch teure Anwälte leisten konnte.

Doch dann musste sie an den Moment denken, in dem der Fremde seine Maske fallen gelassen hatte. Da hatte sie in seinen Zügen etwas gelesen, für das sie selbst Expertin war: schmerzhafter Verlust. Das würde auch seine Bemerkung erklären, dass er selbst am besten wisse, wie ein Leben von einer Sekunde zur anderen auf den Kopf gestellt werden konnte.

Aber vielleicht war alles auch nur ein ganz alltägliches Drama: die Ehe gescheitert, der Vater zwei Wochen mit dem Kind in den Ferien. Was gibt es da Besseres als Urlaub am Strand?

Allie seufzte und spürte ihren Widerstand schwinden. Eine Nacht! Platz war genug im Haus, und es war unwahrscheinlich, dass ein langjähriger Mieter ihrer Großmutter plötzlich zum Unhold wurde. Noch dazu mit einem Kind und einem Hund im Schlepptau.

4. KAPITEL

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Allie.

Sam warf ihr einen irritierten Seitenblick zu, doch dann bemerkte er, dass ihre Aufmerksamkeit nicht ihm galt, sondern dem Hund. Der lag saft- und kraftlos in dem kleinen Wagen und ließ seine Pfote über den Rand hängen.

Der Junge hatte das Gefährt inzwischen bis vor die Haustür gezerrt. Nun türmten sich die Eingangsstufen wie ein Berg vor ihm auf. Mühsam ächzend, hob er seinen Hund auf und stellte ihn auf die zittrigen Beine.

„Es ist nichts Ernsthaftes“, erklärte Sam und hoffte, dass er damit recht behielt. Cody und der Hund waren untrennbar. Einen weiteren Verlust würde ihre Onkel-Neffe-Hund-Gemeinschaft nur schwer ertragen. Was der Tierarzt über den Hund gesagt hatte, traute er sich allerdings nicht laut auszusprechen.

Der Hund leidet unter Depressionen.

Wer hatte je davon gehört, dass Hunde Depressionen haben? Oder dass kleine Kinder das Sprechen einstellen, wenn ihnen das Unaussprechliche zustößt?

„Kann es sein, dass ich gerade einen … besonderen Duft gerochen habe?“, fuhr Allie vorsichtig fort.

„Der Hund verträgt das Autofahren nicht.“

„Oh nein!“

Ihr Mitgefühl schien so echt, dass er sich entschloss, ihr die ganze Geschichte zu erzählen.

„Oh doch! Als ich endlich einen Parkplatz fand, musste ich Cody umziehen.“ Er seufzte tief bei der Erinnerung an das Drama. „Und raten Sie, wie lange Codys neue Kleidung durchhielt, ehe Popsy wieder undicht wurde? Ich werde den Gestank wahrscheinlich nie wieder aus meinem Wagen bekommen. Wahrscheinlich nicht einmal aus Popsy.“

Verlegen hielt er inne. Jetzt klang er schon fast wie die Mütter in der Spielgruppe, die man ihm für Cody empfohlen hatte.

Niemand hat mich gewarnt, dass es so schwierig sein würde.

Cody seinerseits, so wenig er auch kommunizieren konnte, hatte zu Sams heimlicher Erleichterung unmissverständlich klargemacht, dass er die Spielgruppe hasste.

„Cody ist Ihr Sohn, und der Hund heißt Popsy?“

„Cody ist mein Neffe und ja, das ist die komplette Mannschaft.“

Sam verabscheute Mitleid, aber der sanfte Blick, mit dem Allie Codys Bemühungen verfolgte, tat ihm erstaunlicherweise gut.

„Sie müssen alle sehr erschöpft sein. Ich zeige Ihnen, welche Zimmer Sie nehmen können, und lege ein paar Handtücher heraus. Es tut mir leid, wie unfreundlich ich Sie anfangs empfangen habe.“

„Es war ja nicht allein Ihre Schuld“, lenkte er widerstrebend ein.

„Dann lassen Sie uns noch mal ganz von vorn beginnen. Ich bin Alicia Cook. Willkommen in Soul’s Retreat.“ Damit streckte sie ihm ihre Hand entgegen. „So heißt diese bescheidene Hütte, und mich dürfen Sie Allie nennen.“

Anfangs hatte er sie für eine Heranwachsende gehalten, doch langsam begann er, sie mit anderen Augen zu sehen.

Die zierliche Gestalt hatte alle Kurven an den richtigen Stellen, und die Farbe ihrer Augen zwischen blau und violett war schwer zu beschreiben. Das Haar war kurz geschnitten, blond mit seltsamen schwarzen Spitzen. Ihre Haut verströmte einen zarten Duft, ein wenig nach Meer, ein wenig exotisch, ein wenig erregend.

Ihre Begrüßung klang, als sehe sie sich als Gastgeberin. Glaubte sie etwa, sie würden dieses Haus miteinander teilen? Dieses Missverständnis musste er sofort aus dem Weg räumen.

„Ich hoffe, es wird nicht zu schwer für Sie, eine Unterkunft zu finden“, sagte er betont kühl. Mit diesem Tonfall hatte er schon hartgesottene Wirtschaftsbosse in die Schranken gewiesen, doch diese erstaunliche junge Frau zeigte keine Regung.

„Ich habe nicht vor, mir etwas anderes zu suchen“, erwiderte sie ungerührt. „Ich war auf Ihr Erscheinen nicht vorbereitet, aber ich werde Sie so gut es geht heute Nacht hier unterbringen. Morgen sehen wir dann weiter. Vielleicht finden wir ja eine friedliche Koexistenz miteinander.“

„Sie wollen hier zusammen mit uns wohnen?“, fragte Sam ungläubig. „Mit jemandem, den Sie überhaupt nicht kennen?“

„Von ‚wollen‘ kann keine Rede sein, aber Sie sehen alle nicht besonders gefährlich aus. Der Hund scheint nicht einmal genug Energie zum Bellen zu haben, geschweige denn zum Beißen.“

Sam konnte es nicht fassen.

Man lädt nicht fremde Menschen zu sich ins Haus ein, schon gar nicht über Nacht! Doch er hielt den Gedanken lieber für sich. Er spürte überdeutlich, wie müde und erschöpft er war. Es war ein schrecklicher Tag gewesen. Ein Blick in Allies Miene verriet, dass eine Auseinandersetzung mit ihr mehr Energie erfordern würde, als er im Moment hatte.

Außerdem musste Cody dringend ins Bett. Für ein Kind, das nicht sprach, hatte er heute schon mehrmals erstaunlich deutlich zu erkennen gegeben, was ihm nicht gefiel. So wenig Lust er hatte, sich mit Allie zu streiten, so wenig wollte er sich einem weiteren von Codys Trotzanfällen aussetzen.

Sie hatte recht. Morgen konnten sie weitersehen. Morgen konnten seine Anwälte ihr klarmachen, dass er einen wasserdichten Vertrag besaß und dass sie sich besser fügen und sich eine andere Unterkunft suchen sollte.

Er wusste nur zu gut, dass es in Sugar Cone Beach keine freie Unterkunft mehr gab, weder für ihn mit Cody und dem Hund noch für Mavis’ Enkelin. Es war schon schwierig genug gewesen, etwas abseits noch ein Haus für Codys australische Familie zu finden, die später in der Woche ankommen sollte.

Wenn er jetzt an das bevorstehende Zusammentreffen dachte, sank ihm das Herz. Natürlich wusste er, dass er gänzlich ungeeignet war, einen Dreijährigen großzuziehen, aber Cody war auch das Einzige, was ihm von seiner Schwester Sue geblieben war. Mit ihr hatte er glückliche Kindertage an diesem Strand verbracht. Und jeder Winkel in diesem Haus erinnerte ihn an ihr Lachen.

Als sie beide Teenager wurden und es uncool fanden, mit den Eltern in Urlaub zu fahren, hatten diese das Cottage nicht länger gemietet. Nach ihrem Tod hatte er Mavis angerufen und gefragt, ob er das Mietverhältnis erneuern könne. Die alte Dame hatte so begeistert reagiert, als hätte sie auf seine Rückkehr gewartet. Seitdem hatte ihm dieses bescheidene Häuschen jeden Sommer das gegeben, was das verblichene, kaum noch lesbare Schild an der Eingangstür versprach: Soul’s Retreat. Rückzug für die Seele.

Seelenfrieden brauchte Sam Walker dringender als alles andere. Beten gehörte eigentlich nicht zu seinem Repertoire, aber bei der schweren Entscheidung, die ihm bevorstand, wäre es vielleicht angebracht, um ein wenig Weisheit zu beten. Was er in seiner gegenwärtigen Situation überhaupt nicht gebrauchen konnte, waren weitere Komplikationen. Diese Allie mit den schwarzen Haarspitzen und dem allzu langen T-Shirt schien die Komplikation in Person.

Sie wirkte wie eine Künstlerin – wie jemand, der sich am Montmartre in Paris wohlfühlen würde. Sam dachte nach.

Das war’s. Problem gelöst: Er würde ihr eine All-Inclusive-Reise nach Paris anbieten, sodass er und Cody das Cottage für sich allein haben würden.

Wenn doch nur alle Probleme im Leben so leicht zu lösen wären! Wie zum Beispiel, dass er sich jetzt um einen stinkenden Hund und ein ziemlich übel riechendes Kind kümmern musste, die beide Badewannen verabscheuten.

„Haben Sie überhaupt schon gegessen?“, fragte Alicia, während sie gebannt zusah, wie sich ihr Leben vor ihren Augen veränderte.

Sam Walker stand im Schlafzimmer, das sie für Cody vorgesehen hatte. Schon unter normalen Umständen war es ein kleiner Raum, doch mit Sam darin wirkte er winzig. Der war gerade damit beschäftigt, Sachen für Cody aus dem kleinen Koffer herauszusuchen, den der Junge auf seiner Karre hinter sich her gezogen hatte.

Cody und der Hund lagen beide unter dem Bett und sahen mit großen Augen zu ihr auf. Es kam ihr vor, als versuchten sie, sie mit ihren Blicken in ihren Bann zu ziehen.

„Ja, wir haben in der Pizzeria Palooza Station gemacht“, erwiderte Sam missmutig. „Wunderbar! Lauter Happy Meals! Haben sie mich glücklich gemacht? Ganz im Gegenteil! Ich bin ziemlich sicher, dass dem Hund davon schlecht geworden ist. Ich überlege noch, ob ich den Laden verklagen soll.“

Für einen Moment spürte Allie Mitgefühl in sich aufsteigen, doch sie rief sich sofort wieder zur Ordnung. Seine Bemerkung erinnerte sie daran, dass er offenbar auch bei Kleinigkeiten bereit schien, seine Anwälte zu bemühen.

„Ich glaube nicht, dass Pizza für Hunde gedacht ist.“

„Hast du das gehört, Cody? Also nicht mehr Popsy mit Happy Meals füttern! So, wie wäre es jetzt mit einem Bad?“

Sam hatte einen kleinen Schlafanzug mit darauf gedruckten Feuerwehrautos aus dem Koffer gezogen. Er sah aus, als würde er einem Teddybären passen. Bei aller Vorsicht erlaubte sich Allie, ein wenig gerührt zu sein.

Der Hund und der kleine Junge zogen sich etwas weiter unter das Bett zurück. Der Mann warf ihr einen verlegenen Seitenblick zu. Dann ging er auf die Knie. Das Hinterteil erhoben, blickte er unter das Bett. Ein sehr gut geformtes Hinterteil, musste Allie widerwillig zugeben.

„Nun kommt schon“, lockte er.

Der Junge verschwand vollends, und der Hund machte ein Geräusch, das kein richtiges Knurren war, aber sein Missfallen deutlich kundtat.

Dezent zog Allie sich zurück und überließ Sam seiner schwierigen Aufgabe. Widerstrebend schloss sie die Verandatür. Seit ein Mann im Haus war, brauchte sie wohl keinen Einbrecher mehr zu fürchten. Das war ein angenehmes Gefühl, aber zugleich ärgerte es sie, dass es dazu eines Mannes bedurfte.

Sie zog sich in ihr eigenes Schlafzimmer zurück und nahm ihr Tablet und ihre Gitarre mit, doch der winzige Raum taugte nicht recht zum Rückzugsort. Es war schrecklich heiß, und durch das kleine Fenster drang nicht viel frische Luft herein. Normalerweise ließ sie die Schlafzimmertür offen, aber mit Gästen im Haus war das nicht möglich. Zumal sie sich als Schutz vor der Hitze ihrer Kleidung bis auf den Bikini entledigt hatte. So konnte sie wenigstens möglichst viel von ihrer Haut der schwachen Brise vom Fenster aussetzen.

Sie griff nach ihrer Gitarre und begann hoffnungsvoll, mit dem Daumen über die Saiten zu streichen, doch das Instrument verweigerte ihr die erhoffte Entspannung. So blieb ihr nichts übrig, als den Geräuschen zu lauschen, die durch die dünnen Wände aus dem Nebenzimmer zu ihr drangen. Sie hörte den kleinen Jungen in der Wanne plantschen, während sein Onkel die Geräusche eines Motorbootes imitierte.

Dass dieser gut aussehende, arrogant selbstbewusste Mann sich auf so ein Kinderspiel einließ, machte ihn fast menschlich. Es war nicht zu übersehen, dass der Umgang mit Kindern für ihn unbekanntes Terrain war, und doch bemühte er sich tapfer, das Richtige zu tun.

Während sie den Geräuschen lauschte, wurde ihr bewusst, dass sie fast gar nichts über ihre Hausgäste wusste. Vielleicht hätte sie mehr Fragen stellen sollen, ehe sie zustimmte, ihr Heim mit diesen beiden und ihrem Hund zu teilen.

Wieso machte ein Onkel mit seinem Neffen allein Ferien? Warum sprach der Kleine kein Wort? Wo waren seine Eltern? War Sam Walker wirklich der Onkel? War er etwa der Vater und hatte das Kind aus der Obhut der Mutter entführt?

Andererseits schien Sam nicht freiwillig in die Rolle des Erziehungsberechtigten geraten zu sein, und den Eindruck eines Kindesentführers machte er so wenig wie den eines Einbrechers. Tatsächlich war etwas in seinem Blick und in seinem Auftreten, das ihn vertrauenswürdig erscheinen ließ … auch wenn sie ihn nicht besonders leiden mochte.

Sogar ihre Großmutter hatte ihm genug vertraut, um ihm viele Sommer lang ihr Cottage zu vermieten. Dennoch beschloss Allie, auf der Hut zu bleiben. Sie hatte keine Ahnung, wie Kindesentführer wirklich aussahen, aber dafür reichlich Erfahrung darin, ihr Vertrauen in Leute zu setzen, die es nicht verdienten. Es gab Beweise dafür, dass sie manchmal zu leichtgläubig war.

Entschlossen setzte sie ihre Kopfhörer auf, um die von nebenan hereindringenden Geräusche zu dämpfen, und tippte Sam Walkers Namen in die Suchmaschine auf ihrem Tablet. Keineswegs überraschend, gab es Tausende Sam Walkers. Sie änderte ihre Strategie und suchte nach Berichten über kürzlich stattgefundene Kindesentführungen. Leider gab es auch davon viel zu viele, aber nirgendwo tauchte ein Bild auf, das dem kleinen Cody glich. Auch mit ihrem Hund gemeinsam entführte Kinder gab es nicht.

Allie gab es auf und suchte stattdessen nach juristischen Informationen über Mietverträge. Zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass Anwälte mit kostenlosen Ratschlägen im Internet sehr zurückhaltend waren.

Anschließend suchte sie in den Papieren ihrer Großmutter, die sie in einem Karton unter ihrem Bett verstaut hatte, nach einem Mietvertrag, doch auch dort blieb ihre Suche erfolglos.

Trotz der Kopfhörer konnte sie hören, dass sich die Badeparty nebenan seinem Ende näherte. Sie nahm sie ab und lauschte. Das Bett im Nebenzimmer quietschte. Erst ein kleines Quietschen, dann ein größeres. Sie konnte sich die Szene lebhaft vorstellen.

„Runter mit dir, Popsy, du stinkst! Außerdem bist du als Nächster in der Wanne. Versuch gar nicht erst, dich zu verstecken. Okay, wo ist dein Buch? Ah, hier ist es.“

Die Gute-Nacht-Geschichte wurde dreimal von dieser betörend wohlklingenden Stimme vorgelesen. „Und dann sagte die Hexe: Hokuspokus Fidibus! Und verwandelte die Kröte in einen Esel.“

Beschämt musste Allie feststellen, wie kindisch es war, an der Wand zu lauschen. Außerdem verursachte die kleine Szene, die sie gerade belauscht hatte, dieselbe unangenehme Sehnsucht wie zuvor der Anblick der Familie am Strand.

Energisch setzte sie sich wieder die Kopfhörer auf und drehte die Musik laut. Dann deutete sie drohend mit dem Finger auf ihre stumme Gitarre. Du bist nicht meine einzige Musikquelle!

5. KAPITEL

Erst als Cody eingeschlafen war, klappte Sam das Buch zu. Zärtlich blickte er auf den kleinen blonden Wuschelkopf nieder und wurde gleich darauf von einer Welle von Traurigkeit erfasst.

Manchmal überkamen ihn die Erinnerungen ohne Vorwarnung. Er sah, wie sein Schwager Adam laut lachend hinter seinem vergnügt kreischenden Sohn herrannte, um ihm das Superman Cape abzunehmen. Der Hund hatte sich begeistert der wilden Jagd angeschlossen, die um das Haus herum durch den Garten und zurück ins Haus führte. Sue hatte Missbilligung vorgetäuscht, aber doch heimlich gelacht, als Adam Cody schließlich eingefangen und ihm das „Pooperman Cape“ abgenommen hatte.

Damals hatte er keine Ahnung gehabt, wie kostbar solche Augenblicke waren. Jetzt konnte er sich nicht vorstellen, dass er solch glückliche Momente jemals wieder erleben würde.

Der Tag war lang gewesen, und er fühlte sich erschöpft. Aber jetzt stand ihm noch der Hund bevor, dessen Gestank das ganze Haus verpesten würde, wenn er sich nicht darum kümmerte.

Er beugte sich hinab, um unter das Bett zu schauen. Popsy sah ihn mit großen unschuldigen Augen an, als wollte er sagen: ‚Welcher Gestank?‘ Sam versuchte, nach ihm zu greifen, doch Popsy war schneller. Schließlich blieb ihm nichts, als vollends unter das Bett zu kriechen.

Als Sam ihn schließlich gepackt hatte und auf den Arm nahm, zitterte der Hund und stieß ein jämmerliches Jaulen aus. „Pst!“, flüsterte Sam und schob vorsichtig die Schlafzimmertür mit dem Fuß auf. „Du wirst noch Cody aufwecken.“

Im Haus war es still und dunkel. Die Schlafzimmertür seiner Gastgeberin war geschlossen, und unter dem Türspalt war kein Licht zu sehen.

Auf Zehenspitzen schlich er ins Bad. Codys Badewasser war noch in der Wanne, und vorsichtig senkte Sam den strampelnden Hund hinein.

„Dies ist nicht mein erstes Rodeo“, warnte er Popsy, der vergeblich versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, und ihn dabei zur Vergeltung von oben bis unten nass spritzte.

Irgendwie schaffte es Sam, den Hund mit einer Hand festzuhalten und mit der anderen eine gute Portion von Codys Babyshampoo in das nasse Fell zu massieren. Schließlich gab Popsy den Widerstand auf, und bald begann der Duft von Babyshampoo die schlimmeren Gerüche zu überdecken. Doch als Sam den Schaum abspülen wollte, war er einen winzigen Moment unaufmerksam, und wie der Blitz sprang der Hund aus der Wanne und aus dem Bad.

Leider schlossen die Türen in dem alten Haus nicht dicht, sodass Allies Schlafzimmertür aufsprang, als der Hund dagegen sprang. Im Dämmerlicht sah Sam Popsy aufs Bett springen und auf Allies sehr ansehnlichem Körper landen. Selbst bei der schlechten Beleuchtung konnte er erkennen, dass sie bis auf Kopfhörer und einen winzigen roten Bikini nichts anhatte.

Allie fuhr entsetzt auf. „Geh runter von mir!“, schrie sie und schlug mit den Armen in die Luft. Popsy zog sich verängstigt in die Bettecke hinter ihr zurück. Sam hatte keine Vorstellung, was sie wohl tun würde, wenn sie einen zweiten Harold zur Hand hätte.

Langsam betrat er den Raum und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Es tut mir leid“, sagte er besänftigend. „Ich wollte den Hund baden, und er ist mir entwischt. Ich habe keine Ahnung, wie er es in Ihr Zimmer geschafft hat. War die Tür vielleicht nicht richtig verschlossen?“

Ihr Schrei war abrupt abgebrochen. „Sam?“, fragte sie nach einem tiefen Atemzug mit zittriger Stimme.

„Ja, ich bin es nur.“

„Oh Gott, ich dachte, Sie wären jetzt wirklich ein Einbrecher.“ Schock und Erleichterung mischten sich, und sie warf sich ihm schluchzend in die Arme. Ihre Tränen rannen über seine bereits nasse, nackte Brust.

Sam verhielt sich ganz still. Dies war keineswegs eine der klassischen Situationen, in der gewöhnlich ein Mann und eine Frau weitgehend unbekleidet zusammen waren, und es hätte sich keinesfalls so gut anfühlen dürfen. Nur mühsam widerstand er dem Verlangen, mehr von ihrer warmen, weichen Haut zu erspüren.

Glücklicherweise wurde der romantische Augenblick von dem triefend nassen Hund zerstört, der sich zwischen sie drängte. Allie lachte auf, das Lachen genauso zittrig wie ihre Stimme zuvor.

Wider besseres Wissen ignorierte Sam den tropfnassen Hund und strich Allie über das kurz geschnittene Haar. Es fühlte sich erstaunlich seidig an. Allie entspannte sich zunehmend, und der Duft ihres Haars mischte sich mit dem des Babyshampoos im Hundefell. Das Ergebnis war alles andere als unangenehm.

Sam wurde klar, dass die Situation außer Kontrolle geriet. „Wie möchten Sie nach Paris reisen?“, fragte er abrupt, um die Kontrolle wiederzugewinnen.

Allie sah verständnislos zu ihm auf. „Bis eben war ich mir nicht sicher, ob ich nur träume. Jetzt weiß ich es gewiss.“

„Nein, es ist mein Ernst. Zwei Wochen Paris, all-inclusive.“ Es kostete ihn viel Überwindung, sich von ihr zu lösen. Das war verrückt. Er kannte diese Frau doch kaum!

„Paris also?“, wiederholte sie ungläubig.

Er erhob sich vom Bett und blickte auf sie nieder. „Sie könnten schon morgen früh abreisen.“

„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen“, entgegnete sie. Sie klang bei Weitem nicht so erfreut, wie er es sich erhofft hatte. Wieso war sie nicht glücklich, wenn er ihr eine Reise an einen solch phänomenalen Ort anbot?

„So kann es jedenfalls nicht weitergehen“, stellte Sam geduldig fest.

Allie schlang die Arme um den nassen Hund, dankbar, dass er sie wenigstens teilweise bedeckte. Dann warf sie Sam einen dieser Blicke zu, bei dem starke Männer schwach werden. „Was kann nicht weitergehen?“

„Sie und ich zusammen unter einem Dach. Ich meine …“ Er deutete auf sie hinab. „Sie können hier nicht in Ihrer Unterwäsche herumlaufen.“

„Das ist nicht meine Unterwäsche!“, protestierte sie. „Es ist ein Badeanzug.“

„Gütiger Himmel!“, murmelte er und bemühte sich, nicht allzu direkt hinzusehen, was den Unterschied zwischen Unterwäsche und Badeanzug machte.

„Und ich bin auch nicht herumgelaufen! Sie sind in mein Schlafzimmer gestürmt.“

„Popsy war das“, korrigierte er. „Und das Türschloss hat nicht funktioniert.“

Als hätte sie seine Einwände nicht gehört, fuhr sie fort: „Wir leben hier am Strand, und deshalb hätte ich auch jedes Recht, in meinem eigenen Haus im Badeanzug herumzulaufen.“ Dem konnte er nicht widersprechen, aber für einen normalen Mann mit warmem Blut in den Adern war das ein Problem.

Der Gedanke ließ ihn innerlich zusammenzucken. Als normalen Mann hatte er sich schon lange nicht mehr gesehen. Seit dem Unfall, der ihm seine Schwester und seinen Schwager genommen hatte, hatte er sich wie in einer fremden Welt bewegt.

War das der normale Gang der Dinge? Nach einer Phase tiefer Trauer und totaler Verunsicherung hatte er für einen Moment die gesunde Reaktion eines Mannes auf den Anblick einer wenig bekleideten, attraktiven Frau verspürt.

War er dafür schon bereit? Wahrscheinlich nicht. Diese Frau würde jedem Mann, der so unvorsichtig war, sich mit ihr einzulassen, viele Überraschungen bieten. Selbst in nur zwei Wochen unter einem Dach.

Außerdem würde bald Adams Familie ankommen. Was würden sie von ihm denken, wenn er bei einer jungen Frau wohnte, die winzige rote Bikinis trug? Nein, er musste sie überzeugen, dass eine Reise nach Paris das Beste für sie war.

Allie sah Sam fassungslos an. Paris? Ausgerechnet Paris? Ryan, ihr Ex, hatte ihr einmal ins Ohr geflüstert: „Wir werden zusammen die Welt erobern! Ich werde dich in Paris unter dem Eiffelturm küssen …“

Sie vertrieb die Erinnerung und konzentrierte sich auf die Gegenwart. „Komm, Popsy!“, sagte sie und griff den Hund beim Halsband. „Die Seife muss aus deinem Fell.“

Es war ihr ein wenig peinlich, dass sie ausgerechnet in ihrem kleinsten Bikini vor dem immer noch ziemlich Fremden lag. Andererseits freute sie sich klammheimlich über die Wirkung, die sie anscheinend auf ihn gehabt hatte. Sie könnte sich jetzt einen Bademantel überziehen, aber sie wollte einen eingeschäumten Hund abspülen. Es machte keinen Sinn, sich für eine solche Aktion anzuziehen. Verlegen drängte sie sich an Sam vorbei.

„Sie haben mir noch keine Antwort zu Paris gegeben.“

Als Allie an diesem Morgen aufgestanden war, hatte sie keine Ahnung gehabt, welch verrückte Geschehnisse dieser Tag für sie bereithalten würde. Schon gar nicht, dass sie sich in den Armen eines traumhaften Mannes finden würde … der sie offenbar lieber in Paris wissen wollte.

Sie hatte sich in dieses Sommerhaus zurückgezogen, um Ruhe und Stabilität in ihr Leben zu bringen. Im Moment schien es, als hätte sie das genaue Gegenteil erreicht.

Der Gedanke, ein wenig mit dem Feuer zu spielen, mochte verlockend sein, aber sie hatte zu ihrem eigenen Leidwesen erfahren müssen, wohin das führen konnte. „Ich werde natürlich nicht nach Paris fliegen“, erklärte sie entschieden. „Der Vorschlag ist lächerlich!“

Er blickte düster auf sie nieder. Er war es offenbar nicht gewöhnt, dass ihn jemand lächerlich nannte.

Unbeirrt packte Allie den Hund und ging mit ihm durch die Hintertür hinaus in den kleinen Garten. Der Gartenschlauch hing an der Wand, doch ehe der zum Einsatz kommen konnte, wäre ihr der sich heftig windende Hund fast wieder entwischt.

„Ich dachte, Cockerspaniels mögen Wasser?“, schimpfte sie mit ihm.

„Warten Sie! Ich halte ihn fest, dann können Sie ihn abduschen.“ Sam war ihr gefolgt. Erleichtert stellte Allie fest, dass er sich ein Hemd übergezogen hatte. Eine Gefahr weniger!

Er hielt den Hund mit beiden Händen fest, während sie diesen abduschte. Die ersten Spritzer, die Sam dabei abbekam, waren ein Versehen. Die nächsten nicht mehr wirklich. Wer zieht auch ein Hemd an, wenn er einen Hund waschen will? Beim dritten Mal war es pure Bosheit.

Das Spiel machte ihr so lange Spaß, bis ihr Sam den Schlauch entriss und den Spieß umdrehte. Da die Abendluft immer noch heiß war, hatte das kalte Wasser nicht den erwarteten Effekt. Im Gegenteil, es fühlte sich köstlich an. Sie breitete die Arme aus, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Der Wasserstrahl verebbte. Als sie die Augen öffnete, sah sie zunächst nur glitzernde Sterne am schwarzen Himmel. Dann musste sie feststellen, dass Sam den Schlauch fallen gelassen, Popsy am Halsband gepackt und sich zurückgezogen hatte. Einen Moment noch stand er vor der Tür und blickte auf sie nieder.

Dann war Allie allein im Garten, tropfend nass, aber mit einem Gefühl, das sie sich seit Langem nicht mehr gestattet hatte. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte sie keine Angst mehr. Als sie ins Haus ging, ließ sie die Tür weit geöffnet, sodass die kühle Brise vom Meer das überhitzte Haus fluten konnte.

Irgendwann in dieser Nacht hörte sie ihre Schlafzimmertür quietschen, und als sie die Augen aufschlug, sah sie nicht etwa einen Einbrecher, den die offene Terrassentür hätte einladen können, sondern Popsy. Der Hund schnupperte an ihrer Hand und winselte leise.

„Was willst du denn hier?“, flüsterte Allie.

Popsy verstand das als Einladung. Er kam aufs Bett gesprungen und legte sich an ihre Seite. Er leckte ihr einmal über das Gesicht, kuschelte sich unter ihren Arm und schlief ein.

Einen Moment lag Allie still und lauschte auf den gleichmäßigen Atem des Hundes. Seine unkomplizierte Zuneigung wirkte ungemein beruhigend. Vielleicht sollte sie sich einen Hund anschaffen.

Als Allie am nächsten Morgen erwachte, war Popsy verschwunden. Sie fühlte sich ein wenig verkatert, als hätte sie in der Nacht zuvor zu viel gefeiert. Das befreite Gefühl vom Abend wurde nun von Verlegenheit überlagert. Ächzend schwang sie sich aus dem Bett und entschloss sich widerstrebend zu ihrem gewohnten Morgenlauf am Strand.

Beim Gedanken an den kleinen Jungen – und vorsichtshalber nicht an das andere braune Augenpaar – lief sie bis zu Ms. Jacobs Strandbäckerei. Dort erstand sie zu einem atemberaubenden Preis ein halbes Dutzend Muffins, die laut Ms. Jacobs weltberühmt waren.

Eine halbe Stunde später stellte sie beim Anblick des kleinen Jungen fest, dass sich die Ausgabe gelohnt hatte. In seinem Schlafanzug und mit dem ungekämmten Haar sah er so süß aus. Begeistert aß er seinen Muffin und wischte die Krümel für den Hund vom Tisch. Popsy nahm das Angebot dankend an und zeigte an diesem Morgen sogar Zeichen von Lebenslust.

„Reden wir über Paris!“, ließ sich Sam plötzlich vernehmen. Bis dahin hatte er nicht einmal „Guten Morgen“ gesagt oder sich für das unerwartete Frühstück bedankt.

6. KAPITEL

„Paris?“ Allie warf Sam einen ungläubigen Blick zu. „Ich dachte, ich hätte schon gestern Abend klar gemacht, was ich davon halte.“

„Aber jetzt haben Sie eine Nacht darüber geschlafen.“ Er lächelte sie herausfordernd an.

Dieses Lächeln schien den von draußen hereindringenden Sonnenschein noch heller zu machen. Sam Walker sah an diesem Morgen wirklich bemerkenswert aus. Er hatte offenbar geduscht, sich aber noch nicht rasiert. Seine dunklen Haarstoppel ließen ihn verwegen und kriminell sexy wirken, und offenbar war er sich seines Aussehens durchaus bewusst.

Doch der Charme, den er vor sich hertrug, erreichte nicht seine Augen, und es dämmerte Allie, dass er ihn nur als Mittel einsetzte, um sein Ziel zu erreichen.

„Ich werde ganz bestimmt nicht nach Paris verschwinden!“, wiederholte sie noch einmal trotzig. Sie hatte ihrerseits darauf geachtet, sich mit einer ausgebeulten Trainingshose und einem weiten, formlosen T-Shirt besser zu verhüllen als am Abend zuvor.

„Das ist doch lächerlich! Jeder Mensch will irgendwann nach Paris. Ich könnte ein kleines Café empfehlen, das …“

Sie war nicht überrascht. Er war offenbar ein viel gereister Weltbürger, der in jeder Metropole ein kleines Café empfehlen konnte, während sie, das Kleinstadtmädchen, auf jede Verführung hereinfiel.

„Mr. Walker …“

„Solche Formalitäten haben wir doch längst hinter uns“, wehrte er charmant ab. Wider Willen errötete sie, als sie daran dachte, wie sie sich ihm gestern Abend in die Arme geworfen hatte. Energisch vertrieb sie diese Erinnerung. Sie musste jetzt stark sein.

„Ich gehe nirgendwo hin!“, beharrte sie mit aller Entschiedenheit, die sie aufbringen konnte.

„Aber …“

„Nein!“, ließ sie ihn nicht zu Wort kommen. „Sie scheinen genügend Geld zu haben. Ich habe heute Morgen ein Haus gesehen, das zum Verkauf steht. Gehen Sie hin, kaufen Sie es!“

Ungläubig sah er sie an. Sein Lächeln wurde schwächer. „Ich habe den Mietvertrag!“, beharrte er.

„Das ist mir egal. Ich habe gestern noch im Internet nachgesehen. Ob Ihr Vertrag mit einer verstorbenen Person überhaupt gültig ist, ist sehr umstritten.“ Der Gedanke, von ihrer geliebten Großmutter als einer verstorbenen Person zu sprechen, versetzte ihr einen kleinen Stich.

Glücklicherweise bemerkte Sam ihren kleinen Schwächeanfall nicht. „Haben Sie schon mal davon gehört, dass Nein auch wirklich Nein bedeutet?“, fragte sie ihn deshalb schnell.

„Davon gehört habe ich“, entgegnete er ungerührt. „Hat das schon einmal jemand zu mir gesagt? Nein.“

Natürlich nicht.

„Sie denken im falschen Kontext“, erklärte er. „Ich habe Ihnen keinen Antrag gemacht, im Gegenteil.“

„Oh!“

„Es kommt mir unangemessen vor, längere Zeit mit Ihnen unter einem Dach zu leben, wenn wir uns kaum kennen. Ganz abgesehen von der roten Unterwäsche.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es keine Unterwäsche ist“, protestierte sie und ärgerte sich sofort darüber, dass sie unwillkürlich errötete.

„Ich weiß nicht, ob Sie einen Freund haben“, fuhr er eindringlich fort, „oder eine Mutter, aber ich bin sicher, keiner von beiden würde das gutheißen.“

„Ich habe keinen Freund … nicht mehr“, fuhr sie auf.

Er neigte den Kopf und sah sie fragend an. „Nicht mehr?“

Sie bereute ihre Worte sofort. Die Geschichte ihres gescheiterten Liebeslebens ging ihn nichts an. Das Fehlen eines Partners sollte sie als unabhängige Frau erscheinen lassen, nicht als Loser.

Sie versuchte, das Thema zu wechseln. „Natürlich habe ich eine Mutter, und ich bin sehr an ihre Missbilligung gewöhnt.“

Sam sah sie erstaunt an, als könne er sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter nicht mit ihr zufrieden sein könnte.

„Jedenfalls werde ich nirgendwo hingehen!“, begehrte sie noch einmal auf.

Plötzlich wurde ihr bewusst, wie still es am Tisch war. Sogar Cody hatte das Interesse an seinem Muffin verloren. Der Blick aus seinen großen Augen ging unsicher zwischen den Erwachsenen hin und her.

Auch Sam hatte Codys ängstlichen Blick bemerkt. Er sah Allie vorwurfsvoll an, als sei alles ihre Schuld. Dann lächelte er seinem Neffen beruhigend zu. „Schmeckt dein Muffin, Großer?“

Cody wirkte nicht im Geringsten beruhigt. Auch schien er Allie nicht für die schuldige Partei zu halten. Stattdessen sah er seinen Onkel böse an. Wenigstens er schien völlig immun zu sein gegen Sam Walkers Charme.

„Gehen wir einen Moment hinaus“, schlug Sam vor.

Auf der Veranda fragte er mit gedämpfter Stimme: „Warum können Sie nicht abreisen?“

„Ich habe einen Termin.“

„Wofür?“

Das geht Sie nichts an, wäre die angemessene Antwort gewesen, doch ein erneuter Blick auf Cody veranlasste sie, ruhig zu bleiben. Der Junge wirkte so zerbrechlich. Außerdem würde sie Sam vielleicht verleiten können, mehr von sich preiszugeben, wenn sie ihn selbst mit ein paar kleinen Informationen fütterte.

„Ich schreibe. Songs.“

Genau genommen ging es nicht um einen Song, jedenfalls nicht um einen richtigen. Vor noch nicht langer Zeit hätte sie ihren Vertrag beschämend gefunden. Aber immerhin hatte sie wenigstens einen Vertrag. Das Jingle für Paul’s Steak House war nächste Woche fällig und würde vielleicht zu weiteren Aufträgen führen. Sie musste nur beweisen, dass sie kreativ genug war und diszipliniert genug, um unmögliche Fristen einzuhalten.

„Ich wusste es“, rief er aus. „Künstlerin! Paris wäre perfekt zum Songschreiben.“

„Nein, wäre es nicht“, entgegnete sie entschieden. „Alles, was ich bisher an Brauchbarem geschrieben habe, ist hier entstanden.“

Er sah sie an, als könne er wenigstens das ein wenig verstehen. „Also, was schlagen Sie vor?“

„Können Sie nicht nach Paris ausweichen?“

„Nein. Dort gibt es nichts für einen Dreijährigen.“

Das war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. „In welcher Beziehung stehen Sie eigentlich zu Cody?“, fragte sie.

„Das habe ich doch schon gesagt. Er ist mein Neffe, und ich bin sein Vormund.“ Seine Stimme wurde plötzlich ganz leise. „Meine Schwester war seine Mutter.“

„War?“

Es entstand eine lange Pause. Für einen kurzen Moment entdeckte sie tiefen Schmerz in seinem Blick.

„Sie ist gestorben“, sagte er leise. „Sie und ihr Mann. Bei einem Autounfall.“

Diese Eröffnung traf sie wie ein Schlag. Tiefes Mitgefühl schnürte ihr fast die Kehle zu. „Deshalb spricht Cody nicht“, flüsterte sie.

Sam ließ die Schultern sinken, als sei die Last plötzlich zu schwer für ihn.

„Sein Kinderarzt sagt, dass der Junge Zeit braucht.“

„Wie lange ist der Unfall denn her?“

„Acht Monate.“ Er wandte sich abrupt ab und blickte aufs Meer hinaus. „Ich weiß nicht, ob die Zeit wirklich alle Wunden heilt. Auch meine Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, als ich gerade achtzehn war.“

Allie kam ihre eigene Trauer auf einmal völlig unbedeutend vor. Sie vermisste ihre Großmutter jeden Tag, doch Mavis hatte gewusst, dass sie krank war und sterben würde. Sie hatte ihre Krankheit akzeptiert – und Allie damit sehr geholfen.

„Ich bin schon alt“, hatte sie gesagt und Allies Hand dabei zärtlich getätschelt. „So ist der Lauf des Lebens. Die Alten gehen, und Neue kommen dazu.“

Doch Sams Verlust war etwas ganz anderes. Er war völlig unerwartet über ihn gekommen. Allie wusste nicht, was sie sagen sollte, und ihr Schweigen lockte weitere Worte aus ihm heraus.

„Eines Tages“, fuhr er mit gepresster Stimme fort, „als Sue und Adam nicht daran dachten, dass ihnen jemals etwas Schlimmes passieren könnte, haben sie mich in ihrem Testament als Codys Vormund bestimmt. Vielleicht hielten sie es sogar für witzig. Sue hat mir immer vorgeworfen, dass nicht einmal die Grünpflanzen in meiner Wohnung überleben.“

Allie trat neben ihn. Instinktiv legte sie ihre Hand auf seine. Wenn ihr schon die Worte fehlten, wollte sie ihm wenigstens mit dieser Berührung Trost spenden.

Er wandte den Blick vom Meer und sah stirnrunzelnd auf ihre Hand hinab. Hastig zuckte sie zurück. Wieder einmal wurde sie daran erinnert, wie oft sie mit ihren Instinkten falsch lag.

„Wir sind hier mit anderen Familienmitgliedern verabredet“, fuhr Sam fort. „Sie kommen von weit her und haben ein Haus weiter unten am Strand gemietet. Deshalb muss ich unbedingt hierbleiben.“

Die förmliche Art, in der er von den anderen Familienmitgliedern sprach, und der Gesichtsausdruck, der seine Worte begleitete, ließ Allie die Antwort auf ihre nächste Frage bereits erahnen.

„Und in deren Haus können Sie nicht mit einziehen?“

Er schüttelte energisch den Kopf.

„Also gut, dann müssen wir teilen.“

„Teilen?“

Teilen. Das Konzept, das Fünfjährige bereits im Kindergarten lernen. Doch sein Tonfall verriet, dass er nichts davon hielt.

„Ich werde Ihnen nicht in die Quere kommen“, versprach sie. „Und Sie mir auch nicht.“

Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Dieses Haus ist winzig. Wie soll man sich da nicht in die Quere kommen?“

„Sie könnten den Strand als Erweiterung des Hauses betrachten.“

„Außerdem will ich auch nicht, dass die Familie einen falschen Eindruck bekommt“, widersprach er grummelnd.

„Einen falschen Eindruck?“

„Als würden Sie und ich hier zusammenwohnen. Sie würden bestimmt glauben, dass das nicht gut für Cody ist.“

Da Allie ihn nicht für einen Mann hielt, der viel darauf gab, was andere von ihm dachten, musste mehr dahinterstecken.

„Was für Familienangehörige sind denn die Besucher?“

„Es ist die Familie meines Schwager Adams, aus Australien.“

Allie begann zu verstehen. „Und sie wollen die Vormundschaft für Cody?“

7. KAPITEL

Sam wich Allies Blick geflissentlich aus. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, wie leicht sie ihn durchschaut hatte. Die Angst, die sie ihm unterstellte, hatte er noch nicht einmal sich selbst eingestanden. Strebte Adams Familie wirklich nach der Vormundschaft für Cody? So direkt hatte er sich die Frage noch nie gestellt.

Er blickte hinaus zum Strand, wo ein Strandläufer mit einem Metalldetektor nach verlorenen Schätzen suchte. Hinter dem Mann schwappten die Wellen in gleichförmigem Rhythmus ans Ufer.

„Ausgesprochen haben sie diese Absicht noch nie“, gestand er.

Keine der beiden Parteien hatte sich klar dazu geäußert, doch alle würden das Beste für Cody wollen. Das war die Millionen-Dollar-Frage: Was war das Beste für Cody? Ein einzelner Onkel? Oder eine intakte Familie?

Er spürte ihren nachdenklichen Blick auf sich, als versuchte sie, Dinge zu verstehen, die er nicht aussprach.

„Wir werden dafür sorgen, dass Ihre Verwandten keinen falschen Eindruck von unserem Zusammenleben bekommen“, versprach sie. „Ich werde mich so unsichtbar wie möglich machen. Wenn ich ihnen zufällig begegne, müssen wir eben das Problem mit dem Vertrag erklären. Sie sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass wir etwas miteinander hätten. Außerdem müsste es offensichtlich sein, dass sich jemand wie Sie nicht mit jemandem wie mir einlassen würde.“

Nun besaß sie seine volle Aufmerksamkeit. „Wie kommen Sie denn auf so etwas?“, fragte er stirnrunzelnd.

„Na, Sie wissen schon“, erklärte sie. „Der steinreiche Manager und die barfüßige, nicht sehr erfolgreiche Musikerin am Strand.“

„Steinreicher Manager?“, fuhr er auf. „Was bringt Sie denn auf die Idee? An meiner Kleidung kann es nicht liegen. Sie haben mich nur in Shorts und Sandalen gesehen … und in meinem Pyjama.“

„Ha! Selbst die sehen aus wie aus einem Herrenmagazin. Ich wette, Sie haben ein Eckbüro in einem gläsernen Gebäudekomplex. Wahrscheinlich besitzen Sie ein ganzes Firmenimperium. Sicher etwas mit Computern.“

„Haben Sie im Internet über mich nachgeforscht?“, fragte Sam verärgert.

„Aha! Also habe ich recht. Vielleicht hätte ich wirklich recherchieren sollen, nur um sicherzugehen, dass Sie wirklich Codys Onkel sind und kein Entführer. Wissen Sie, wie viele Sam Walkers es gibt?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Tausende. Aber nein, es ist der auffällige Wagen vor der Tür, und es sind die Anwälte, mit denen Sie sofort drohen. Alles an Ihnen verströmt den Eindruck von Reichtum und Macht. Wenn ich Sie ansehe, fällt mir unwillkürlich Mitch Jones ein, der diese App…“

„Ich weiß, wer er ist“, unterbrach er sie trocken.

„Oder der Typ mit seiner gigantischen Suchmaschine …“

„Henrich Pfitzer“, unterbrach er sie erneut.

„Sehen Sie? Ich wusste es! Den kennen Sie auch. Computermilliardäre. Die gehören zu Ihrem Stamm.“

„Den kenne ich erstens gar nicht, und zweitens gehört er auch nicht zu meinem Stamm. Ich habe nicht einmal einen Stamm.“

„Oh ja, haben Sie doch!“

Er war versucht, ihr zu gestehen, dass sein „Stamm“ in den letzten acht Monaten sehr geschrumpft war. Popsy und Cody. Er hielt sich kaum noch im Büro auf, sondern steuerte seine Mitarbeiter aus der Ferne. Aber das brauchte sie nicht zu wissen.

„Jedenfalls ist es für jeden Betrachter völlig offensichtlich“, fuhr sie fort, „dass Sie und ich eine völlig unmögliche Kombination abgäben.“

Er war schockiert, dass Allie noch immer den alten Sam in ihm sah: reich und mächtig, selbstbewusst mit der Welt zu seinen Füßen. Der war er ganz und gar nicht mehr. Ein verstörter Neffe und ein deprimierter Hund hatten sein Leben und seine Welt auf den Kopf gestellt. Jeden Morgen wachte er mit dem Gefühl auf, dem bevorstehenden Tag nicht mehr gerecht werden zu können.

„Ich denke, wir haben keine andere Wahl“, stellte sie fest. „Wir müssen uns irgendwie arrangieren.“

Wenn das so einfach wäre, nachdem er sie in ihrem sparsamen roten Bikini gesehen hatte! Als es gestern Abend im Haus ruhig geworden war, hatte er leise eine Tür quietschen hören. Er war aufgestanden, um nachzusehen.

Popsy war immer nur zu zwei Menschen loyal gewesen: zu Cody und zu Sue, dessen Mutter. In der letzten Nacht hatte der Hund es geschafft, die Tür von Codys Zimmer aufzudrücken, und als Sam durch die ebenfalls leicht geöffnete Tür von Allies Zimmer spähte, hatte er Popsy bei ihr eingekuschelt auf dem Bett entdeckt. Offenbar waren beide Türschlösser nicht mehr in Ordnung.

„Sie müssen sich keine Sorgen machen“, versicherte sie, als stünden ihm seine Bedenken ins Gesicht geschrieben. „Selbst, wenn ich Ihr Typ wäre, und ganz offensichtlich bin ich das nicht: Ich wäre nicht für eine Beziehung bereit. Das habe ich hinter mir.“

Mit ihrem Lächeln wollte sie offenbar ausdrücken, dass sie hinter sich zu haben, völlig belanglos war, doch bei genauerem Hinsehen erkannte er den mühsam überdeckten Schmerz.

Eigentlich ging es ihn nichts an. Dennoch fragte er: „Wie alt sind Sie?“

„Warum wollen Sie das wissen?“

„Weil Sie mir noch zu jung vorkommen, um bereits mit dem ‚glücklich bis ans Ende ihrer Tage‘ abgeschlossen zu haben.“

„Ich bin dreiundzwanzig“, antwortete sie, als sei das alt genug, um alle romantischen Träume aufgegeben zu haben.

„Um ehrlich zu sein, wirken Sie wie eine junge Mutter aus einer Werbung für Kinderwagen und Windeln. Dinge eben, die eine junge Frau glücklich machen.“

„Was für eine altmodische Einstellung!“ Die aufsteigende Röte in ihren Wangen verriet, dass er einen Nerv getroffen hatte.

„Nun ja, so sind Typen wie Thurston Howell und ich nun einmal“, entgegnete er. „Altmodische Managertypen.“

„Mir scheint, wir müssen beide ein paar Vorurteile berichtigen“, lenkte sie ein. „Wie alt sind Sie?“

„Achtundzwanzig.“

„Und wie steht es bei Ihnen mit ‚glücklich bis ans Ende ihrer Tage‘?

Die Frage war ihm unangenehm, aber fairerweise musste er zugestehen, dass er selbst die Auseinandersetzung begonnen hatte.

„Ich habe es einmal versucht“, gestand er zögernd. „Ich war einmal verheiratet. Da ich ganz gut in Mathe bin, hätte ich mir sagen können, dass ein Ende wie im Märchen statistisch gesehen nicht sehr wahrscheinlich ist.“

„Ganz wie bei mir“, sagte Allie. „Ich habe es einmal versucht und hatte kein Glück damit. Da wir uns nun also über unsere persönlichen Schicksale ausgetauscht haben, können wir vielleicht weitermachen?“

„Womit?“

„Ich kann nirgendwo den Mietvertrag finden, den Sie angeblich mit meiner Großmutter abgeschlossen haben. Haben Sie ein Exemplar?“

„Nicht bei mir. Er wird in meinem Büro liegen. Wenn es wichtig ist, kann ich veranlassen, dass er hergeschickt wird. Gibt es etwas Spezielles, das Sie klären möchten?“

„Ich habe mich gefragt, ob Sie die Miete schon im Voraus bei meiner Großmutter bezahlt haben, oder ob ich mich auf etwas Bargeld freuen kann.“

„Paris ist also keine Option mehr?“

„Gar keine!“, stellte sie entschieden fest. „Ich kann nirgendwo hingehen. Jedenfalls nicht jetzt.“

In diesem Moment sah er es. Es blitzte in ihren klaren Augen auf. Bei all ihrem burschikosen Auftreten und geschäftsmäßigem Gerede hatte sie panische Angst davor, allein in die große Welt hinauszugehen.

„Meine Großmutter hat immer gesagt, die beste Kur für alle Leiden sei Salzwasser“, fuhr sie fort und wirkte dabei wieder ganz unerschrocken.

„Salzwasser?“, fragte er nach.

Sie sah ihn an. „Es ist ein Zitat aus einer alten Ausgabe von Readers Digest. Die Schränke meiner Großmutter sind voll davon. Ganz genau lautet es: ‚Die beste Kur gegen alle Leiden ist salziges Wasser … Schweiß, Tränen oder das Meer‘.

Ihr Tonfall bestätigte seinen Eindruck, dass sie mit ihrem forschen Auftreten nur eine tiefe Verletzung zu überdecken versuchte. Diese schöne junge Frau schien sich in diesem schlichten Strandhaus vor der Welt zu verstecken. Er wollte eigentlich gar nicht wissen warum, aber er war erstaunt, dass von seinem Herzen noch so viel übrig geblieben war, dass er Mitleid für sie empfand.

Es war nicht seine Aufgabe, in Ordnung zu bringen, was auch immer in ihrem Leben schiefgelaufen war, aber er wollte es nicht noch schlimmer machen, indem er auf den Buchstaben des Vertrages bestand. Dann wäre nicht einmal mehr dieses Haus am Strand eine sichere Zuflucht für sie. Er wusste selbst zu genau, wie es sich anfühlte, wenn es auf der Welt keinen Halt mehr gab.

Er atmete tief durch und blickte noch einmal über ihre Schulter hinweg auf den Strand. Der Strandläufer war stehen geblieben. Nun beugte er sich hinab und grub mit den Händen im Sand. Als er sich wieder aufrichtete, glitzerte etwas Goldenes in seiner Hand.

Sam war an diesen Ort zurückgekehrt, weil er gehofft hatte, dass entspannte Tage am Strand seinem kleinen Neffen helfen würden. Wenn der durch den Verlust seiner Eltern traumatisierte Junge hier Frieden fand, würde er vielleicht einen Zugang zu ihm finden. Sam hatte große Hoffnung in diesen besonderen Ort gesetzt.

Allies Anwesenheit hatte alles kompliziert gemacht. Aber wenn sie bereit war, ihr Zusammenleben unter einem Dach rein geschäftlich zu betrachten, dann konnte er das auch. Geschäfte waren schließlich seine Spezialität, und es war offensichtlich, dass sie das Geld brauchte.

Außerdem hatte sie recht mit ihrer Feststellung, dass sie einander aus dem Weg gehen konnten. Sie konnten den Strand wie eine Erweiterung des Hauses nutzen. Er hatte das sichere Gefühl, dass Sand, Sonne und Wasser gut für Cody sein würden. Aufgetürmte Sandburgen, im Wind flatternde Drachen und auf das Ufer platschende Wellen würden ihn hoffentlich seinen Seelenfrieden wiederfinden lassen.

Sosehr es ihm auch widerstrebte, sah er ein, dass ihm keine andere Wahl blieb. „Also gut“, hörte er sich selbst sagen. „Ich dachte, ich hätte solche Zeiten längst hinter mir gelassen, aber versuchen wir es einmal als Wohngemeinschaft.“

Allie streckte ihm ihre Hand entgegen. Nach kurzem Zögern schlug Sam ein. „Dann sollten wir aber auch die Förmlichkeiten lassen und uns duzen. Ich bin Sam.“

Er war sich der Gefahr bewusst, die dieses Abenteuer in sich barg, doch für einen Moment gab ihm die zarte Berührung ihrer kleinen Hand das Gefühl, etwas Wertvolles gefunden zu haben, so wie eben der Strandläufer da draußen.

Er seufzte leise. Als wäre sein Leben nicht schon kompliziert genug.

8. KAPITEL

Na also, dachte Allie, jetzt ist es offiziell. Wir sind jetzt eine Wohngemeinschaft.

Als sie sich die Hand darauf gaben, rann ihr ein kleiner Schauer über den Rücken. Das konnte sie nicht leugnen. Dabei hatte sie ihm die absolute Wahrheit gesagt: Sie war fertig mit ‚glücklich bis ans Ende ihrer Tage‘.

Auch er hatte seine Träume hinter sich gelassen. Er war verheiratet gewesen, und es hatte nicht geklappt. Erstaunlicherweise überraschte sie das. Vielleicht weil sie schon in der kurzen Zeit gesehen hatte, wie liebevoll er mit Cody umging. Sie hatte geglaubt, ihr Herz sei inzwischen aus Stein, doch wenn sie ihn mit Cody beobachtete, spürte sie, wie es sich bewegte.

Sam Walker sah nicht aus wie ein Mann, der ein Versprechen gibt und es dann bricht. Aber wie auch immer, das Leben hatte sie beide zynisch werden lassen, und für eine Wohngemeinschaft war das die beste Voraussetzung.

Nur dieses Kribbeln, als sich ihre Hände berührten, irritierte sie. Am besten würde sie ihm aus dem Weg gehen, wenn sie es schon bei einer so belanglosen Berührung spürte. Zwei Wochen sollten kein Problem sein. Sie hatten ja nur einen geschäftlichen Deal abgeschlossen.

Ganz geschäftsmäßig fragte sie deshalb: „Und wie viel schuldest du mir?“

Als er ihr die Summe nannte, blieb ihr der Mund offen stehen. Fast hätte sie einen Freudentanz aufgeführt. Die nächsten beiden Wochen mochten vielleicht anstrengend werden, aber sie waren den Einsatz Wert.

Drei Tage später wurde Allie klar, dass sie ihre Fähigkeit überschätzt hatte, sich mit zwei Mitbewohnern zu arrangieren … der eine total liebenswert, der andere total sexy.

Die Einzelheiten ihres täglichen Zusammenlebens hatten sie einigermaßen geregelt. Sam hatte erstaunt festgestellt, dass der Fernseher aus dem Haus verschwunden war, sich aber schnell darauf eingestellt. Die morgendlichen Cartoons für Cody spielte er auf seinem Tablet ab. Die oberen beiden Fächer im Kühlschrank waren für ihn reserviert, und jeden Abend um sieben war das Bad Cody vorbehalten. Am Nachmittag ging Allie meist an den Strand, sodass Sam die Terrasse für sich hatte.

Dennoch war es schwierig, das Haus mit einem süßen kleinen Jungen, einem absolut anbetungswürdigen Mann und einem Hund zu teilen, der gewiss das Herz von Attila dem Hunnen zum Schmelzen gebracht hätte.

Das Haus selbst profitierte von Sams Anwesenheit. Wann immer er etwas bemerkte, das in Ordnung gebracht werden musste, tat er es einfach ohne großes Aufsehen. Der Umgang mit Hammer und Schraubendreher schien ihm so vertraut, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht.

Plötzlich zeigte sich überall, dass Männer im Haus waren: Ein Hemd blieb auf der Schaukel hängen, große Flipflops standen neben winzigen vor der Verandatür, eine Ladung Unterwäsche blieb im Trockner liegen.

Am auffälligsten war das unablässig laufende Radio. Allie hörte schon gar nicht mehr hin, aber glücklicherweise war ein Sender mit klassischer Musik eingestellt, der nicht ständig von Werbung und Geschwätz unterbrochen war.

Dann und wann hörte sie unabsichtlich mit, wie Sam mit seinen Mitarbeitern im Büro telefonierte. Sie musste feststellen, dass er in geschäftlichen Dingen das Selbstbewusstsein und die Durchsetzungsfähigkeit besaß, die ihm in seiner Rolle als Daddy fehlten.

Sosehr sie sich um Distanz bemühte: Es blieb nicht aus, dass sie wie ein Detektiv mehr und mehr Indizien dazu sammelte, wer dieser Sam Walker eigentlich war.

Am deutlichsten wurde ihr Sams Charakter, wenn sie verfolgte, wie er mit Cody umging. Sie hörte es in seiner Stimme, wenn er dem Jungen vorlas, und sie sah es an dem Eifer, mit dem er mit Cody am Strand spielte oder im Wasser tollte.

Ihr Herz wurde weit, wenn sie die beiden zum Strand gehen sah, eine kleine Hand vertrauensvoll in eine große gelegt.

Aber Sam Walker war nicht nur als Daddy bewundernswert. Mehr und mehr bemerkte sie auch den Mann in ihm. Sein männlicher Duft, wenn sie an ihm vorüberging. Die kurzen Berührungen, wenn sie zufällig gleichzeitig nach etwas griffen. Das gemeinsame Gelächter, als Popsy verschüttete Milch vom Boden aufschleckte.

An diesem Morgen war sie mit ihm zusammengeprallt, als sie, nur in ein Handtuch gehüllt, aus der Dusche kam. Das hatte Gefühle in ihr geweckt, die im Regelwerk für Wohngemeinschaften nicht vorgesehen waren.

Jetzt, nur wenige Stunden später, waren sie wieder aneinandergestoßen. Diesmal trug Sam nur Shorts. „Ich dachte, du wärest draußen“, sagte er als Entschuldigung.

„Und ich dachte dasselbe von dir“, erwiderte sie. Sie war gerade vom Strand zurückgekehrt und trug nichts als ihren roten Bikini.

Kaum bekleidet, standen sie einander gegenüber. Er sah so verdammt gut aus! Am liebsten hätte sie die Hand nach seiner vom Strandleben golden getönten Haut ausgestreckt. Die Luft zwischen ihnen schien zu glühen.

„Vielen Dank für die Reparaturen rund ums Haus“, begann sie auf der Suche nach einem sicheren Thema. „Die Haustürklingel, den Wasserhahn in der Küche und die Tür des Geschirrschranks.“

„Nicht der Rede wert. Das habe ich für Mavis auch immer gemacht.“

„Du hast auch das Schloss an meiner Schlafzimmertür in Ordnung gebracht.“

„Ich dachte mir, dass du keine Lust auf weitere nächtliche Besuche von Popsy hast.“

„Eigentlich habe ich gar nichts dagegen“, gestand sie. Dann errötete sie. Womöglich dachte er, sie schlafe nicht gern allein. „Ich weiß ja jetzt, dass es kein Einbrecher ist.“

„Ich habe gemerkt, dass du die Verandatür nachts nicht mehr verriegelt hast.“

„Sollte ich das lieber tun?“ Mit einem Mann im Haus hatte sie sich sehr sicher gefühlt.

Er lächelte. „Ich habe einen leichten Schlaf. Ich werde auf dich aufpassen.“

Das war es, was sich kaum merklich in ihr Haus geschlichen hatte: ein Gefühl von Sicherheit. Sam passte auf sie auf. Sie ahnte, wie energisch er sein würde, sollten Cody und sie seinen Schutz brauchen. Ein wohliges Gefühl machte sich in ihr breit.

Noch vor wenigen Tagen hätte sie argumentiert, dass sie seinen Schutz nicht brauchte und auch nicht seine Hausmeistertätigkeit, aber jetzt war ihr nicht danach zu argumentieren. Ihr war nach …

Wie von selbst hatte sich ihre Hand auf den Weg zur golden samtenen Haut auf seiner Brust gemacht, als die Badezimmertür plötzlich aufsprang und Cody herausgestürmt kam.

Einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Sam stand wie erstarrt, und Allie ließ ihre Hand kraftlos sinken. Dann hörten sie Kinderfüße auf den Holzplanken der Veranda. Das brach den Bann.

„He!“, rief Sam seinem Neffen nach. „Hast du dir die Hände gewaschen?“ Dann rannte er hinter ihm her.

Plötzlich wurde es atemberaubend still im Haus. Allie konnte es selbst kaum glauben: Hatte sie Sam wirklich berühren wollen? Verlegen wischte sie sich mit den Händen über die Augen, als wolle sie sich selbst beweisen, dass dies der Grund für ihre Handbewegung gewesen sei.

Mehr denn je war es wichtig, dass sie sich von ihm fernhielt. Doch als Cody sich zum Mittagsschlaf hingelegt hatte und Allie zum Strand gehen wollte, begegneten sie sich schon wieder.

„Bis später“, sagte sie zu Sam, der sich auf der Veranda niedergelassen hatte.

„Ja, einen schönen Nachmittag!“

Etwas in seiner Stimme ließ sie innehalten. Er hatte sein Buch sinken lassen und blickte hinaus über den Strand. Der Duft nach Sonnenöl wehte von dort herüber, und bunte Sonnenschirme flatterten in der leichten Brise. Ein knallroter Wasserball trieb hinaus aufs Meer, und man hörte ein kleines Mädchen vor Entsetzen schreien.

„Sam?“

Er wandte den Blick vom Strand zu ihr.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie.

„Ja, natürlich.“

Das klang nicht überzeugend. Etwas in seiner Stimme ließ sie zögern.

„Es ist nur … Sie werden morgen ankommen, meine Schwieger… meine Schwäger … du liebe Zeit, wie nennt man die angeheiratete Familie seiner eigenen Verwandten überhaupt?“

Der plötzliche Einbruch seiner Selbstsicherheit überraschte sie. Sie zog sich einen Stuhl an den Tisch neben ihm.

„Codys Onkel und Tante und seine Cousins werden morgen kommen“, stellte er klar.

„Wie heißen sie denn?“, fragte sie.

„Bill. Das ist Adams Bruder. Seine Frau heißt Kathy und die Kinder sind Nicole und Bryan.“

„Dann sollten wir sie auch so nennen.“

Er nickte. „Natürlich.“ Noch immer klang er angespannt. „Es ist ja nicht so, dass sie Fremde wären. Ich bin ihnen schon ein halbes Dutzend Mal begegnet, aber ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll. Cody selbst redet ja nicht.“

„Sie werden genau wie ich sehen, wie gut du zu Cody bist“, versicherte sie.

Na toll! Das klang, als habe sie ihm nachspioniert.

Autor

Caitlin Crews
<p>Caitlin Crews wuchs in der Nähe von New York auf. Seit sie mit 12 Jahren ihren ersten Liebesroman las, ist sie dem Genre mit Haut und Haaren verfallen und von den Helden absolut hingerissen. Ihren Lieblingsfilm „Stolz und Vorurteil“ mit Keira Knightly hat sie sich mindestens achtmal im Kino angeschaut....
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