Bad Boy Billionaires - 6-teilige Miniserie

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Diese Milliardäre haben hart gekämpft, um an die Spitze zu kommen – und sie werden ihr Vermögen und ihren guten Ruf auch weiterhin verteidigen! Nur möglicherweise kommt ihnen dabei ihr Herz in die Quere ...



  • Erscheinungstag 17.04.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751537117
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kira Sinclair

Gefährliches Wiedersehen mit dem Milliardär

1. KAPITEL

Zehn Jahre waren eine lange Zeit. Doch offenbar nicht lange genug, um irgendetwas zu ändern. Nichts machte dies offensichtlicher, als an der Balustrade über dem Ballsaal in seinem Elternhaus zu stehen und auf die Menschenmenge hinabzublicken, die sich dort versammelt hatte. Alle waren begierig darauf, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Dabei war die einzige Person, die er sehen wollte, die Frau, von der er sich fernhalten musste.

Gelächter drang zu ihm herauf, während die Gaffer tanzten und teuren Champagner tranken. Sie feierten seine Rückkehr, als hätte er sich zehn Jahre lang auf einer Insel versteckt und nicht im Gefängnis gesessen. Doch all der Glamour konnte die Schadenfreude nicht überdecken. Den Hunger nach Klatsch. Als ob er eine Rede halten würde, um die Geheimnisse preiszugeben, die er seit Jahren für sich behalten hatte, nur weil er endlich frei war. Spott machte sich in seinen Eingeweiden breit. Der ganze Abend war eine Farce.

Anderson Stone, der verlorene Sohn, war heimgekehrt, und alles, was in Charleston Rang und Namen hatte, hatte sich herausgeputzt, um ihn zu begutachten und höflich hinter seinem Rücken zu tuscheln. Wenigstens waren Feinde im Gefängnis leicht zu erkennen gewesen. Hier sah dir jeder lächelnd ins Gesicht, nur um deinen Ruf bei der erstbesten Gelegenheit durch den Schmutz zu ziehen.

„Was machst du hier? Du solltest unten sein, deine Freunde wollen dich begrüßen.“

Stone drehte sich um und erblickte seine Mutter, die auch mit Mitte sechzig noch wunderschön aussah. Ihr dunkles Haar war in den letzten zehn Jahren silbern geworden, und ein paar neue Falten umrahmten ihre blauen Augen, doch nichts – nicht einmal mit anzusehen, wie ihr Sohn in Handschellen aus dem Gerichtssaal geführt wurde – konnte das Licht darin verblassen lassen. Oder das ruhige Selbstbewusstsein ihres Lächelns mindern.

Sie stellte sich neben ihn und hielt ihm die Wange für einen Kuss hin, was Stone nie ablehnen würde. Er hatte sie genug enttäuscht. Dennoch ging er nicht zur Treppe, die ihn in das Becken voller kreisender Haifische hinunterführen würde. Stattdessen umfasste er sein Glas Scotch fester und lehnte sich wieder über das Geländer.

„Schatz“, sagte sie leise neben ihm und legte ihm tröstend eine Hand auf den Rücken.

Wer hätte gedacht, dass ihn mit dreißig und nach allem, was er erlebt hatte, ihre Berührung immer noch trösten konnte wie früher als Kind nach einem Albtraum? Er schnaubte spöttisch, denn er wusste besser als die meisten, dass Monster nicht nur in Träumen existierten. Keine tröstende Hand konnte die Realität wegstreicheln, nicht einmal die seiner Mutter.

„Ich weiß, dass es dir gerade schwerfällt.“

Sie hatte keine Ahnung, doch er würde ihr nicht sagen, was ihn wirklich beschäftigte.

„Diese Menschen sind hier, um dich zu unterstützen.“

Stone ließ den Blick über die Menge schweifen. Das zu glauben fiel ihm schwer, aber er wollte seiner Mutter nicht ihre rosarote Brille nehmen, durch die sie anscheinend die Welt sah. Er war wegen Totschlags verurteilt worden, weil er ein Mitglied ihres „Zirkels“ getötet hatte. Es spielte keine Rolle, dass der Bastard es verdient hatte. Nur eine andere Person kannte diese Wahrheit, und er würde alles dafür tun, dass es so blieb. Er hatte sich sogar schuldig bekannt und seine Zeit abgesessen, um das Geheimnis zu wahren.

„Die halbe Nacht hier oben zu stehen macht es nicht einfacher.“

Damit hatte seine Mutter recht. Nach einem tiefen Atemzug kippte Stone den Rest seines Scotchs hinunter. Guten Schnaps hatte er definitiv vermisst. Dann stieß er sich vom Geländer ab und warf ihr ein gezwungenes Lächeln zu. Er war schon fast an der Treppe, als ihre leise Stimme ihn aufhielt.

„Anderson.“

Seine Mutter war die Einzige, die ihn mit seinem Vornamen ansprach. Ihr melodischer Tonfall löste eine Lawine von Gefühlen bei ihm aus, vor allem Bedauern. Stone wandte sich zu ihr um.

„Ich bin stolz auf dich.“

Er wüsste nicht, warum, doch er wollte nicht mit ihr streiten.

„Du hast noch jede Menge Zeit, herauszufinden, was du als Nächstes tun willst. Dein Vater hat dir zwar eine Stelle im Unternehmen angeboten, und wir wären beide froh, wenn du sie annimmst, aber du musst dich nicht sofort entscheiden. Lass dir Zeit. Genieße deine Freiheit.“

Stone nickte, weil er es nicht über sich brachte, ihr zu sagen, dass er nicht für Anderson Steel arbeiten wollte, das Stahlwerk, das nach dem Großvater seiner Mutter benannt worden war. Schon vor seiner Geburt, als Frauen selten Führungspositionen in der Wirtschaft bekleideten, hatten seine Eltern das Unternehmen gemeinsam geleitet.

Sie hatten sich im Vorstandszimmer kennengelernt, wo sie sich heftig beharkten, nachdem sein Großvater Nick Stone als Berater angeheuert hatte. Seine Mutter kam gerade frisch von der Uni und hielt nichts davon, die Meinung eines Eindringlings akzeptieren zu müssen. Die Funken flogen, doch während der Kompromisssuche im Vorstandszimmer waren sie im Schlafzimmer gelandet.

Stone fand es erstaunlich, dass seine Eltern so eng zusammenarbeiteten und trotzdem immer noch offenkundig verliebt waren, auch wenn ihm ihre Zuneigungsbekundungen als Kind oft peinlich gewesen waren.

Anderson Steel war das Lebenswerk seiner Eltern, aber er hatte nie dort arbeiten wollen, obwohl ihm vor zehn Jahren nicht in den Sinn gekommen wäre, einen anderen Weg einzuschlagen. Doch zehn Jahre lang seine Freiheit einzubüßen brachte einen dazu, jede Entscheidung zu überdenken. Er wusste, dass sein Platz nicht bei Anderson Steel war, momentan sah er jedoch keinen anderen Ausweg.

Seine Füße hatten noch nicht mal die letzte Stufe berührt, als die Musik abrupt verstummte. Alle Blicke im Saal wandten sich ihm zu. Stone hatte keine Ahnung, was sie sahen oder dachten, und es war ihm egal. Nein, nicht ganz. Eine Person zählte, auch wenn sie es nicht sollte. Er hatte sie gespürt, sobald sie den Raum betreten hatte. Doch er würde sein Bestes tun, um sie zu ignorieren, ebenso wie das Gestarre und Geflüster.

Piper Blackburn stand im Schatten. Ihr Herz pochte schmerzhaft, und trotz des Glases Merlot, das sie getrunken hatte, fühlte sich ihre Kehle trocken an. Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden. Oder verhindern, dass ihre Hände zitterten. Schnell stellte sie das leere Glas ab, damit es ihr nicht durch die Finger glitt. Auf keinen Fall wollte sie eine Szene machen und seine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Noch nicht. Bevor sie ihn konfrontierte und zehn Jahre aufgestauten Frust, Schmerz und Schuldgefühle auf ihn losließ, musste sie sich erst wieder fangen.

Piper schloss die Augen und atmete tief ein, wie sie es ihren Patienten beibrachte. Als sie sich etwas ruhiger fühlte, öffnete sie die Augen. Sofort verlor sie erneut ihre innere Mitte, da Stone in ihrer Blickrichtung stand. Groß, stark und gut aussehend.

Mit seinem Blick aus beinah golden wirkenden Augen schien er den ganzen Raum herauszufordern. Er hatte sich verändert, zehn Jahre Gefängnis würden allerdings jeden verändern. Irgendwie erschien er größer. Schon mit zwanzig war er fast einen Meter neunzig groß gewesen, aber nun war er breiter. Muskulöser. Härter, nicht nur körperlich, sondern auch im Auftreten. Als Junge hatte er sich mit lässiger Anmut bewegt. Diese Anmut war immer noch da, jetzt wirkte sie jedoch wie eine seidige Hülle über einem Kern aus purem Stahl.

Bei diesem Vergleich wollte Piper loslachen. Stahl für den Sohn der Stahlmagnaten. Sie musste sich wirklich beherrschen, sonst würde sie die Rede, die sie vorbereitet hatte, vermasseln. Das würde sie noch mehr ärgern. Der Abend mochte Stones Rückkehr gewidmet sein, doch für sie sollte er auch einen Abschluss darstellen. Das letzte Puzzleteil, das sie brauchte, um die Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen.

Leises Gemurmel machte sich breit. Leute setzten sich in Bewegung. Dann schob sich jemand durch die Menge, um Stone auf den Rücken zu klopfen und ihn willkommen zu heißen.

Fast eine Stunde lang bewegte Piper sich am Rand der Gästeschar und sah zu, wie er mit regungsloser Miene Menschen begrüßte, die er schon sein Leben lang kannte. Er lächelte oder lachte nicht. Stone war höflich und selbstbewusst, distanziert und ungerührt. Er war anders, und das war ihre Schuld. Doch das würde sie nicht hindern, die Fragen zu stellen, deren Antworten ihr zehn Jahre lang verwehrt worden waren.

Piper hielt sich zurück, während sie ihn beobachtete und auf den richtigen Zeitpunkt wartete. Wiederholt lehnte sie den Champagner ab, mit dem mehrere Kellner sie zu locken versuchten. Sie konnte es nicht riskieren, dass ihr Kopf noch mehr durcheinandergeriet.

Als Stone zu seiner Mutter ging, ihr etwas ins Ohr flüsterte und danach die Treppe anstrebte, wusste sie, dass der Moment gekommen war. Ihr Mund wurde ganz trocken, und kurz bedauerte sie es, nicht doch ein Glas Champagner zu haben, um wenigstens einen winzigen Schluck nehmen zu können. Was sie vorhatte, würde schwierig werden, wenn ihr die Stimme versagte.

Sie atmete tief durch und schlängelte sich an der Menge vorbei. Statt der Haupttreppe nahm sie die kleinere, die unauffällig im hinteren Teil des Saals lag und vom Personal benutzt wurde. Als Kind war ihr dieses Haus ebenso vertraut gewesen wie ihr eigenes. Sie kannte jeden Winkel, hatte sie mit jenem Mann erkundet, der gerade versuchte, einer Party zu seinen Ehren zu entfliehen. Ihr zu entfliehen. Doch sie würde nicht zulassen, dass er sie weiter ignorierte.

Hinter der schweren Holztür oben an der Treppe befand sich ein ruhiger Flur. Piper hörte, wie die Tür zur Bibliothek am anderen Ende geschlossen wurde. Natürlich ging er ausgerechnet dorthin, wo sie unzählige Stunden miteinander verbracht hatten. Ein Raum voller Glück und schöner Erinnerungen. Als Kinder lagen sie vor dem gewaltigen Kamin und lasen sich gegenseitig wilde und exotische Abenteuer vor. Als Teenager hatten sie auf den Sofas gesessen, Hausaufgaben gemacht und über die Zukunft philosophiert. Das Leben war so wundervoll gewesen, voller Möglichkeiten. Bis es das nicht mehr war.

Nicht einmal diese schmerzliche Erinnerung hielt sie davon ab, die Tür zu öffnen und ihm nachzugehen. Lange einstudierte Worte schwirrten ihr durch den Kopf, als die Tür leise hinter ihr zufiel. Piper lehnte sich dagegen, froh über den Halt, den ihr die solide Fläche bot. Der warme, gedämpfte Schein der Wandleuchten tauchte den Raum in goldenes Licht. Stone stand vor den großen Fenstern und wandte ihr den Rücken zu.

Ohne sich umzudrehen, sagte er: „Ich hatte mich schon gefragt, wie lange du warten würdest.“

Seine tiefe Stimme reizte ihre strapazierten Nerven und ließ ihre Haut prickeln. So einfach und so kompliziert war es. Seit Jahren löste dieser Mann widersprüchliche Gefühle bei ihr aus.

Als Stone den Kopf drehte und sie mit scharfem Blick fixierte, erstarrte Piper. Sein distanzierter Gesichtsausdruck traf sie wie ein Schlag.

Mistkerl. Sie hatten zu viel durchgemacht, als dass er sie auf die gleiche leere, emotionslose Weise ansah wie alle anderen. Sie hatte mehr verdient.

Plötzlich stürmte sie auf ihn zu. Die Worte, die sie eingeübt hatte, brannten ihr auf der Zunge.

Stone stellte sich breitbeinig hin, die Hände in den Taschen seiner Anzughose zu Fäusten geballt.

Piper wollte ihm ins Gesicht schlagen, wollte hören, wie ihre Hand auf diesen starken, sturen Kiefer klatschte. Doch sie schaffte es nicht. Trotz ihres Zorns war sie so erleichtert, ihn zu sehen. Stattdessen prallte sie aus vollem Lauf auf ihn. Sie schlang die Arme um seinen kräftigen Oberkörper und drückte sich an ihn. Tief in ihrem Inneren machten sich Wärme, Glück und schmerzhaftes Bedauern breit. Sie schloss die Augen, weil heftige Sehnsucht sie übermannte. Es war so schön, ihn zu halten.

Dann wurde ihr bewusst, dass er sich nicht bewegt hatte. Stones Hände waren immer noch Fäuste in den Taschen seiner Hose. Sein großer Körper war so fest und unbeweglich wie die Wand hinter ihm.

Scham mischte sich in den Zorn, der sie anfangs angetrieben hatte. Sie war nicht hergekommen, um sich ihm an den Hals zu werfen. Piper löste sich von ihm. „Tut mir leid.“

„Was denn?“

„Gerade musste ich mit ansehen, wie ein paar Dutzend Leute einen Aufstand um dich veranstalten, als wäre es die Wiederkehr Christi, obwohl du ihnen in Wirklichkeit egal bist. Im Stillen habe ich sie als Heuchler beschimpft.“

Kurz blitzte etwas in seinen warmen, goldbraunen Augen auf. Doch es dauerte nur einen Atemzug, bis es wieder erlosch.

„Dann sind wir schon zwei.“

„Ich habe im Grunde dasselbe getan.“

„Wohl kaum.“

Piper schüttelte den Kopf. „Aber ich hatte nur die Wahl, dich entweder zu umarmen oder dich zu ohrfeigen, bis du Sterne siehst.“

Stones Mundwinkel fielen herab. „Du bist wütend auf mich.“

„Natürlich bin ich wütend, du Dummkopf.“ Na toll, jetzt beschimpfte sie ihn. Sie verstieß gegen alle Regeln. Warum auch nicht? Immerhin stand sie vor Anderson Stone, jenem Mann, der Regeln nur als Anregungen betrachtete.

„Dafür hast du keinen Grund.“

„Keinen Grund? Du hast dich zehn Jahre lang geweigert, mich zu sehen oder mit mir zu sprechen. Und das, nachdem du meinen Stiefbruder getötet hast, um mich zu beschützen.“

Zwar war ihre Beziehung damals kompliziert gewesen, aber sie hatten sich immer noch nahegestanden. Beste Freunde. Dann war er einfach … verschwunden. Als sie ihn am meisten brauchte. Doch nicht deswegen war sie wütend. Sie hatte sich mit dem Geschehenen abgefunden. Mehrere Jahre hatte sie eine Therapie gemacht, um ihre Wut und die Schuldgefühle zu verarbeiten. Worüber sie nicht hinwegkam, war die Tatsache, dass er sie rigoros ausgeschlossen hatte und sich weigerte, sich von ihr beschützen zu lassen, so wie er es stets für sie getan hatte.

„Du hast mir keine Chance gegeben, zuzugeben, dass Blaine mich jahrelang eingeschüchtert und belästigt hatte, ehe alles eskalierte.“ Als sie die Worte aussprach, flammten ihre Wut und ihr Bedauern wieder auf. „Du hast alles geopfert und dich dann geweigert, mit mir zu reden.“

Piper war so mit ihrem eigenen Zorn beschäftigt, dass sie die Veränderung bei Stone nicht bemerkte, bis er ihre Oberarme umfasste und sie auf die Zehenspitzen zog, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen konnte.

„Er hat dich jahrelang belästigt?“

Die Frage war von tödlicher Härte, ebenso wie der mörderische Ausdruck in seinem Gesicht nur Zentimeter vor ihrem. Unbehagen kroch ihr über das Rückgrat. Sie schluckte laut und versuchte, sich auf den plötzlichen Gefühlsumschwung einzustellen.

Stone wählte seine Worte mit Bedacht: „Das war nicht das erste Mal, dass er dir wehgetan hatte?“

Langsam schüttelte Piper den Kopf. „Nein. Das heißt, ja.“

Ein leises Grollen drang tief aus seiner Brust und erinnerte sie an ein wildes Tier in einem Käfig. Eins, das kurz davor war, auszubrechen.

„Was genau?“

„Nein, vor jener Nacht hatte er mich nie sexuell belästigt. Aber er hat mich geschlagen. Gekniffen. Mir Angst eingejagt. Einmal hat er mich mit einer Schere geschnitten. Er tat so, als wäre es ein Unfall, und ich konnte nicht beweisen, dass er log.“

Das war einer der Gründe, aus denen sie geschwiegen hatte, als sie etwas hätte sagen sollen. Alles war so schnell passiert. Als ihr klar wurde, was Stone getan hatte, fürchtete sie, dass ihr niemand glauben würde, wenn sie die Wahrheit sagte. Es gab keinerlei Beweise für das, was sie Blaine vorwarf. Sie war verängstigt, verletzt und durcheinander. Und unsicher, ob das, was sie sagte, etwas ändern würde.

Stone lockerte seinen Griff. Behutsam ließ er sie hinunter, bis ihre Füße auf dem Boden standen. Sorgfältig löste er seine Finger von ihr, einen nach dem anderen. Seine Hände strichen an ihren Armen hinab, was einen Schauer über ihre Haut jagte. Die Sanftheit seiner Berührung stand in krassem Widerspruch zum harten Ausdruck in seinem Gesicht. Piper wollte ihn anfassen, stattdessen ballte sie nun die Fäuste.

Stone schob sie zur Seite und ging an ihr vorbei. Verwirrt drehte sie sich nach ihm um. „Wohin gehst du?“ Diese Unterhaltung war noch lange nicht zu Ende.

Die Hände auf die Tür gepresst, knurrte Stone: „Ich will dieses Arschloch ausgraben, damit ich ihm nochmals den Schädel einschlagen kann.“

Pipers Knie wurden weich. Sie gaben einfach nach, und sie sackte in sich zusammen. Nicht gerade das Bild der selbstbewussten Frau, das sie vermitteln wollte. Sie hatte ihm zeigen wollen, wie stark sie inzwischen war. Um sich selbst – und ihm – zu beweisen, dass sie sehr gut ohne ihn klarkam. Was offensichtlich nicht stimmte.

Stone riss seine schönen goldenen Augen auf. Er eilte zu ihr, sodass sie kaum Zeit hatte, tief einzuatmen, ehe sie in die Luft gehoben wurde. Alles schien sich um sie zu drehen. Das Schwanken hörte auf, als sie sich an Stones harten Körper lehnte. Sein Duft umfing sie. Seine Wärme kroch ihr unter die Haut und ließ ihre wackeligen Beine zu Gelee werden.

Benommen und verunsichert blickte sie zu ihm auf. Seine zusammengepressten Lippen mit den heruntergezogenen Mundwinkeln waren ihren so nah. Was stimmte nicht mit ihr, dass sie die winzige Distanz zwischen ihnen überwinden und sie kosten wollte? Diesen Drang verspürte sie nicht zum ersten Mal, aber es war lange her. Dabei hatte sie sich eingebildet, sie hätte sich unter Kontrolle.

Stone setzte sie auf das nächste Sofa, hockte sich vor sie hin und starrte sie an. Sein Gesicht war ihr so vertraut und doch so fremd. Früher hätte sie gewusst, was er dachte. Nicht nur, weil sie sich so nahe waren, dass sie praktisch seine Sätze für ihn beenden konnte, sondern weil sein Ausdruck so offen war, dass sie seine Empfindungen lesen konnte wie eins der Bücher auf den Regalen hinter ihm. Jetzt gab er nichts preis. Keinen Hinweis auf seine Gedanken oder Gefühle. Zum ersten Mal, seit sie diese Konfrontation geplant hatte, fragte sie sich, wie er sich angesichts ihres Wiedersehens fühlte.

Nein, sie hatte darüber nachgedacht und die einzige Erklärung verdrängt, die ihr eingefallen war: Er war so wütend auf sie wegen dem, was passiert war, weil sie sein Leben ruiniert hatte – oder so angewidert von dem, was er in jener Nacht gesehen hatte –, dass er ihren Anblick nicht ertragen konnte. Sie begriff nur nicht, warum er dann seine Freiheit und seine Zukunft für sie geopfert hatte. Piper schüttelte den Kopf, weil sie Stones Handlungen jetzt genauso wenig verstand wie damals oder im Laufe der letzten zehn Jahre.

Stone schlug die Augen nieder und schaute auf ihre Schultern. Ihr ärmelloses Kleid hatte einen hohen Kragen und hinten einen subtilen länglichen Ausschnitt, der einen großen Teil ihrer Wirbelsäule unbedeckt ließ. Sein Blick glitt über ihren Arm, der auf ihrer Hüfte lag. Er befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze, während er ihren Körper musterte. Dann strich er ihr mit rauen, warmen Fingern hauchzart über die Schulter und einen Arm. Die Berührung war kaum zu spüren, nur ein Flüstern, und hätte nicht ausreichen sollen, um ein Feuer in Piper zu entfachen. Doch ihr Körper hatte noch nie richtig reagiert, wenn es um Stone ging. Zumindest nicht seit sie fünfzehn war.

„Warum hast du nie etwas gesagt?“

Sie zuckte die Achseln. „Was hätte ich sagen sollen? Du weißt, dass Blaine ein Rotzbengel war, seit ich dort einzog.“

Stones Gesicht verdüsterte sich auf eine Weise, dass Piper ihn berühren wollte. Ihn beruhigen. Doch dieses Recht hatte sie nicht.

„Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob sich jemand danebenbenimmt oder dich körperlich verletzt, Piper.“ Seine Stimme triefte vor Ärger.

„Dessen bin ich mir bewusst. Es ist ja nicht ständig passiert. Mal war alles okay, und dann ging er im Flur an mir vorbei und schlug mich so hart, dass ich blaue Flecken bekam. Aber nie dort, wo es jemand hätte sehen können.“

„Du hättest etwas sagen sollen.“

Wieder zuckte sie die Achseln. „Dann hättest du was getan? Wenn ich je gedacht hätte, dass er so weit gehen würde … Dann hätte ich was gesagt. Aber ich war fast frei. Nur noch ein paar Monate, dann wäre ich aus dem Haus gewesen und weg von ihm.“ Sie hatte sich oft gefragt, ob es das war, was Blaine in jener Nacht angetrieben hatte, doch darauf würde sie nie eine Antwort bekommen. Sie winkte ab. „Es bringt nichts, alles wieder aufzuwärmen.“

Sie war jahrelang in Therapie gewesen und hatte eine Art Frieden gefunden, was Blaine anging. Nun brauchte sie einen Schlussstrich unter ihrer Beziehung zu Stone, um das Verlangen hinter sich zu lassen, das sie seit Jahren zu leugnen versuchte. Als sie hereinkam, war sie wütend auf ihn gewesen – und auf sich –, doch unter all dem lag stets ein sprudelnder Quell der Sehnsucht und Verwirrung. Wenn sie jetzt in Stones goldene Augen sah, spürte sie den überwältigenden Drang, diese Gefühle endlich auszumerzen.

„Es tut mir leid“, entfuhr es ihr unwillkürlich.

„Was?“

Wie konnte er es nicht wissen? „Dass ich dein Leben ruiniert habe.“

2. KAPITEL

Pipers sanfte Worte trafen ihn wie ein Faustschlag. Und sie redete weiter, ohne zu ahnen, was sie ausgelöst hatte.

„Ich habe hart daran gearbeitet, über das hinwegzukommen, was Blaine mir angetan hat. Er hat keine Macht mehr über mich.“

Zum Glück. Stone spannte die Fäuste an, um Piper nicht erneut zu berühren. Diesen Luxus durfte er sich nicht erlauben. Er verdiente es nicht.

„Worüber ich nicht hinwegkomme, ist, was du mir angetan hast.“

Genau deshalb durfte er sie nicht berühren, denn er konnte es ihr nicht verübeln, dass sie ihn hasste. Er hasste sich selbst für das, was passiert war. Nicht, dass er daran etwas ändern würde. Nicht wenn es bedeutete, dass Piper sicher war. Nur die jahrelange Übung darin, seine Gefühle unter Verschluss zu halten, gestattete es Stone, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. Doch ihre Worte drangen ihm unter die Haut. Sie schmerzten mehr als die Stichwunde, die er sich im ersten Jahr hinter Gittern eingefangen hatte. Bevor er herausfand, wie man sich Macht und Respekt verschaffte.

Ohne dass er es vorausgesehen hätte, legte Piper ihm die Hände auf die Brust und schubste ihn. Stone kippte nach hinten und landete auf dem Hintern. Ungläubig sah er zu ihr auf, bis ihm die Absurdität der Situation bewusst wurde. Er fing an zu lachen, was selbst in seinen Ohren eingerostet klang. Wenn Finn und Gray ihn sehen könnten, würden sie sich auch kaputtlachen. Er schloss die Augen und kämpfte nicht länger dagegen an, sondern ließ sich fallen und lag mit ausgestreckten Gliedern auf dem weichen Teppich. Sogar das fühlte sich fantastisch an.

„Hör auf.“

Pipers ungläubige Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Widerstrebend öffnete Stone die Augen und blickte in ihr fassungsloses Gesicht.

„Nichts hieran ist lustig.“

„Da irrst du dich.“ In vielerlei Hinsicht. „Sehr sogar.“

Stone rollte auf die Seite und drückte sich vom Boden ab. In seiner Kehle stieg erneut Gelächter auf, wohingegen sich Pipers Gesichtsausdruck von Verärgerung in Vorsicht verwandelte. Sie war schon immer eine kluge Frau. Er brachte etwas Abstand zwischen sie beide und ging auf die andere Zimmerseite, wobei er die Fäuste in die Taschen schob. Vielleicht würden sie dann aufhören, Piper berühren zu wollen.

„Größere und stärkere Männer haben versucht, mich zu Boden zu schicken. Und du findest es nicht komisch, dass eine Frau, die kaum sechzig Kilo wiegt, geschafft hat, was sie nicht konnten? Ich schon.“

Sie presste die Lippen zusammen, was seine Aufmerksamkeit auf eine Weise erregte, die ihr nicht bewusst gewesen sein dürfte.

„Ich hatte reichlich Kampfsporttraining.“

Das ließ seine Heiterkeit schnell vergehen, denn es bestand kein Zweifel, weshalb sie dieses Training begonnen hatte.

„Ich auch.“ Er hatte es jedoch auf die harte Tour gelernt.

Als er der Absprache im Strafverfahren zustimmte, hatte ihm sein Anwalt versichert, dass er in ein Gefängnis der untersten Sicherheitsstufe gebracht werden würde. Die Art von Knast, in die Wirtschaftskriminelle kamen. Doch Wirtschaftskriminelle waren auch Kriminelle, und keiner von ihnen war erfreut darüber, einen Mörder in ihrer Mitte zu haben. Vor allem einen berüchtigten, der ihrer Ansicht nach sein milderes Urteil erkauft hatte.

Es half ebenfalls nicht, dass die Geschichte von Blaines Tod und Stones rascher Verurteilung auf allen großen Nachrichtensendern verbreitet worden war. Seine Weigerung, über das Geschehene zu sprechen, goss noch Öl ins Feuer. Dadurch wurde die Sensationsgier so angeheizt, dass ihn alle, einschließlich seiner Anwälte, PR-Berater und sogar seiner Eltern, angefleht hatten, die Situation zu entschärfen. Doch er hatte seine Anwälte nur mitteilen lassen, dass es ein Unfall gewesen sei. Erst nach Monaten hatten die Reporter aufgegeben.

„Warum hast du es getan?“

Stone schnaubte verächtlich. Obwohl er genau wusste, wonach sie fragte, stellte er sich dumm. „Ihn zu töten? Ich dachte, das wäre offensichtlich. Allerdings hatte ich nicht vor, ihn umzubringen, was mich vor einer Mordanklage bewahrt hat.“ Er hätte wissen müssen, dass Piper ihn damit nicht davonkommen lassen würde.

„Du weißt, was ich meine. Warum bist du auf die Urteilsabsprache eingegangen? Warum hast du mich der Polizei nicht die Wahrheit sagen lassen? Sie haben mich nicht mal befragt. Was hast du ihnen erzählt? Wieso hast du dich geweigert, mich zu sehen, mit mir zu reden?“

Mit jedem Wort wurde ihre Stimme lauter, bis sie von den Bücherregalen zurückgeworfen wurde. Wenn sie nicht aufpasste, konnte jeder unten im Saal sie hören, und all die Jahre, die er weggesperrt gewesen war, wären umsonst gewesen. Als er jetzt auf sie zuging, um ihr zu sagen, sie solle unbedingt leiser sprechen, sah sie plötzlich ängstlich aus. Stone blieb ein Stück weit vor ihr stehen, nahe genug, um die Wärme ihres kurvigen Körpers zu spüren, die ihn zu liebkosen schien und sein Blut zum Kochen brachte.

„Es hätte nichts geändert.“

„Blödsinn“, zischte sie. „Es hätte alles ändern können. Du hast mich verteidigt.“

„Ich habe ihn getötet.“ Er hatte einem anderen schlicht und einfach das Leben genommen. „Es gab keinen Grund, warum du noch mal all das Furchtbare erzählen solltest, das er dir angetan hat, denn es hätte keinen Unterschied gemacht.“

„Für mich schon.“

Nicht genug, dass sie … Nein, er würde diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Er hatte nicht gewollt, dass sie aussagte und noch mehr Schmerzen erdulden musste.

„Dann hast du mich einfach … ausgesperrt. Du warst mein bester Freund. Der Einzige, dem ich alles erzählt habe.“

„Nicht alles“, entfuhr es ihm.

Piper zuckte zusammen, ihre Nasenflügel weiteten sich, als sie scharf einatmete.

„Wieso wolltest du nicht, dass ich dich besuche, für dich da bin, wie du für mich da warst?“

Das ließ sich nicht vergleichen. Auf keinen Fall hätte er Piper gestattet, ihn so zu sehen, wie er in jenen ersten Monaten gewesen war, angeschlagen und beinahe gebrochen. Er hatte sich sogar geweigert, seine Mutter zu sehen, doch vermutlich wusste sie das nicht. Die einzige Person, die ihn besuchen durfte, war sein Vater, und das auch nur, nachdem der versprochen hatte, niemandem zu erzählen, in welchem Zustand Stone war. Widerwillig hatte sein Vater zugestimmt, weil ihm klar war, dass er nichts für seinen Sohn tun konnte und dass Stone selbst einen Weg finden musste, mit der Situation umzugehen. Es war das erste Mal, dass sein Vater ihn wie einen Mann behandelt hatte statt wie einen Jungen. Vielleicht war es auch das erste Mal, dass er ein Mann gewesen war.

„Du hattest dort nichts verloren.“

„Genauso wenig wie du“, gab sie zurück, ihr Gesicht war vor Kummer angespannt.

Stone zuckte die Achseln. „Es ist vorbei. Geschichte. Kein Grund, das Geschehene zu sezieren.“

Sie schüttelte den Kopf und lachte verächtlich. „Ich verdiene mein Geld damit, die Vergangenheit zu sezieren. Ich bin Psychologin, oder wusstest du das nicht?“

Er wusste genau, wie ihr Leben verlaufen war. Sein Vater hatte ihm monatliche Berichte über alle wichtigen Personen in seinem Umfeld gegeben.

„Selbst wenn du damit recht hattest, was ich nicht glaube, was ist mit den Briefen, die ich dir geschrieben habe und die du zurückgeschickt hast?“

Stone versuchte, nicht darauf zu achten, wie ihre verschränkten Arme ihre Brüste unter dem engen Kleid hochschoben. Oder wie sich das glänzende, seidige Material an ihre Hüften schmiegte, die sie frustriert ausgestellt hatte. Seine leichte Erektion kam ihm denkbar ungelegen. Wäre er ein schwächerer Mann, könnte er sich einreden, dass seine körperliche Reaktion auf Piper mehr mit der langen Zeit zu tun hatte, die er ohne die weichen Kurven einer Frau zugebracht hatte. Doch das wäre eine Lüge.

Seine Reaktion hatte alles mit der Frau zu tun, die vor ihm stand, er hatte dagegen angekämpft, seit sie etwa sechzehn war. Damals war es ebenso unpassend gewesen wie jetzt, da es nicht nur unangemessen gewesen wäre, darauf einzugehen, sondern auch die Freundschaft gefährdet hätte, die ihm so viel bedeutet hatte. Und danach … hatte er sie nicht verdient. Er tat es immer noch nicht.

Stone trat auf der Stelle und versuchte, etwas mehr Platz in der Smokinghose zu finden, doch das Ding schien ihn einzuschnüren.

„Stone!“

Ach ja, die Briefe. „Ich wollte sie nicht lesen, also habe ich sie zurückgeschickt.“

Hätte er nicht gerade gegen eine spezielle Art der Folter ankämpfen müssen, hätte er vielleicht eine subtilere Antwort gegeben. Der verletzte Ausdruck auf Pipers Gesicht machte ihn betroffen, doch als sie sich von ihm abwandte, wurde ihm klar, dass seine unverblümte Aussage langfristig eine bessere Lösung für sein Problem sein könnte. Sobald er das Anwesen seiner Eltern betreten hatte, wusste er, dass er Piper gegenübertreten musste. Zweifellos würde sie Fragen und reichlich Ärger für ihn mitbringen. Seit Tagen hatte er diesen Moment gefürchtet.

Ein kleiner Teil von ihm hatte gehofft, dass die Distanz, die zwischen ihnen aufgekommen war, sie auf Abstand halten würde. Doch er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass diese Möglichkeit nicht bestand.

Abgesehen von der offenbar andauernden Belästigung durch ihren Stiefbruder war Piper seines Wissens nach noch keiner Herausforderung aus dem Weg gegangen. Das war eins der Dinge, die er früher am meisten an ihr bewundert hatte, und es gab keinen Grund, anzunehmen, dass sie sich geändert hatte. Vielleicht waren seine Worte ja der nötige Tritt, der sie beide aus ihrem Elend erlöste und die Qualen beendete. Denn er konnte Piper nicht in seinem Leben lassen.

Selbst wenn sie kein Monster in ihm sah, er tat es. Nicht nur wegen dem, was er Blaine angetan hatte, sondern auch wegen allem, was er seitdem getan hatte. Und allem, was er nicht getan hatte.

Sein Leben war vor zehn Jahren zum Stillstand gekommen, während Piper sich weiterentwickelt hatte. Sie war erfolgreich geworden und hatte gegen die Nachwirkungen dessen angekämpft, was sie durchgemacht hatte. Dafür war er stolz auf sie. Doch er wollte sie nicht ständig an das Vergangene erinnern und wusste nicht, wie er das verhindern konnte.

Wie konnte sie im selben Zimmer mit ihm sein und nicht an jene Nacht zurückdenken? Deshalb war er zu dem Schluss gekommen, dass Piper genug durchgemacht hatte und er nicht der Auslöser für noch mehr Schmerz sein konnte. Unglücklicherweise bestand der beste Weg, ihr künftiges Leid zu ersparen, darin, ihr jetzt wehzutun.

Seine Worte trafen sie tief, obwohl sie nichts anderes erwartet hatte. Welche Erklärung konnte es sonst geben? Offensichtlich gab er ihr die Schuld dafür, dass sein Leben zum Teufel gegangen war. Ohne sie wäre Stone nie im Gefängnis gelandet. Kopfschüttelnd versuchte Piper, gegen die Enge in ihrer Brust anzuatmen. Jetzt die Beherrschung zu verlieren würde nicht helfen.

Sekundenlang starrte sie Stone an. Was machte sie hier? Sie wusste nicht mehr, was sie sich von diesem Gespräch erhofft hatte. Nein, das stimmte nicht. Sie hatte ihn sehen wollen. Um herauszufinden, ob das Verlangen noch da war. Und das war es.

Sie hatte sich selbst belogen und sich gesagt, dass sie nichts als einen Schlussstrich wollte und dass es ihr nicht darum ging, dass er nur einen Blick auf sie warf, sie in die Arme nahm und sie schwindelig küsste, um ihr dann zu gestehen, dass er schon immer mehr gewollt hatte. Leider war klar, dass nur sie diesen Traum hegte. Stone hatte ihr nie zu verstehen gegeben, dass er mehr als Freundschaft wollte. Am Ende war der Schlussstrich alles, was sie bekommen würde. Zwischen ihnen gab es nichts, das wiederaufleben konnte, nicht einmal Freundschaft.

Trotz ihrer zugeschnürten Kehle zwang Piper sich zu einer Antwort: „Dich das sagen zu hören tut weh. Aber ich verstehe dich und werde dich nicht mehr belästigen.“

Schmerzlich lächelnd schob sie sich an ihm vorbei. Sie wollte weg von ihm, bevor sich ihre Gefühle in peinlichen Tränen Bahn brachen. Stone sollte nicht sehen, wie verletzlich sie war. Sie hielt den Blick starr auf die Tür gerichtet, deshalb erschrak sie, als sich seine warme Hand um ihren Oberarm legte und sie festhielt.

„Piper.“

Dieses einzelne, leise Wort kratzte an ihren Nerven und ließ ihre Kopfhaut prickeln. Er hielt sie fest, sein Körper nah an ihrem, ohne sie zu berühren. Absichtlich behielt sie den Blick abgewandt, als sie fragte: „Was willst du von mir?“

Ihr Herz pochte so laut, dass sie glaubte, er müsste es in der angespannten Stille zwischen ihnen hören. Stone regte sich nicht, rührte nicht mal einen Finger. Die Sekunden vergingen, und das Prickeln lief ihre Wirbelsäule hinunter, erregend und unangenehm zugleich. Als sie es nicht mehr ertrug, drehte sie den Kopf und blickte ihn an. Was sie sah, ließ sie erstarren. Wut, Verzweiflung und Hoffnung lagen in seinen goldbraunen Augen. Sie wollte die Hand nach ihm ausstrecken und über sein Gesicht streichen. Ihn beruhigen und ihm versichern, dass alles gut werden würde, aber das durfte sie nicht.

„Ich will nichts von dir.“

„Dann lass mich los.“

Jetzt bewegte er die Finger, doch statt sie loszulassen, verstärkte er seinen Griff. Er öffnete die Lippen, und in dem Moment pulsierte die Smartwatch an ihrem Handgelenk. Das Licht des Displays lenkte sie beide ab, und die Spannung zwischen ihnen verpuffte, als sie den Blick voneinander lösten. Als Piper die Nachricht las, stieg jedoch eine andere Anspannung in ihr auf.

Ich würde gern über den Tod Ihres Bruders reden. Rufen Sie mich an, damit wir einen Termin ausmachen können, an dem Sie Ihre Sicht der Dinge schildern.

Piper überlief es heiß und kalt. Das Letzte, was sie wollte, war, mit einem Reporter über Blaine zu reden. Sie hatte sich damit abgefunden, was geschehen war, doch das hieß nicht, dass sie mit jemandem darüber sprechen wollte, der es der ganzen Welt erzählte.

Er war nicht der Erste, der sie in den vergangenen Monaten kontaktiert hatte. Vor zehn Jahren war sie bloß eine Fußnote in der Geschichte gewesen, da Blaine auf ihrer Schulabschlussfeier gestorben war. Niemand hatte sie damit in Verbindung gebracht. Es gab viele Spekulationen – eine Frau, Drogen, ein misslungenes Geschäft –, doch keiner hatte in Betracht gezogen, dass sie im Mittelpunkt des Skandals stehen könnte. Jetzt suchten die Geier nach Informationen über Stones Entlassung.

„Was zum Teufel?“

Stones tiefe Stimme wurde hart, als er ihren Arm an sich zog, um die Nachricht zu lesen. Piper versuchte gar nicht erst, ihn wegzuziehen, sondern rückte näher an Stone heran. Es war selbstsüchtig, und sie würde es später bereuen, aber sie war schwach genug, um sich nach seiner Wärme zu sehnen.

Stone presste die Lippen noch fester zusammen. „Kannst du mir das erklären?“

„Nicht unbedingt.“

Knurrend erwiderte er: „Versuch es.“

Piper zuckte die Achseln. „Die Reporter nerven mich seit Monaten.“

„Warum höre ich erst jetzt davon?“

„Vielleicht weil du dich seit zehn Jahren weigerst, mit mir zu reden, und ich nicht dachte, dass es dich interessieren würde?“

Stone strich sich durchs Haar und zog an den Enden, als wollte er sie mit den Wurzeln ausreißen. Seine Frustration hätte ihr inneres Gleichgewicht nicht wiederherstellen sollen, aber das tat es. Es hatte etwas Beruhigendes, ihn so durcheinander zu sehen, wie sie sich gefühlt hatte.

„Das hat nichts mit dir zu tun, Stone.“

„Von wegen!“

„Nicht wirklich.“

Unwirsch wies er auf ihr Handgelenk. „Das ist deine Privatnummer.“

„Ich weiß.“

„Woher haben sie die?“

Piper verschränkte die Arme und versuchte, sich nicht provozieren zu lassen. „Ich bin leicht zu finden. In meinem Beruf muss ich erreichbar sein.“

Er gab ein dumpfes Grollen von sich, sodass sie zurückwich. Der Mann war ebenso aufbrausend wie verwirrend.

„Eben wolltest du mich noch aus deinem Leben vertreiben. Tun wir einfach so, als hättest du die Nachricht nicht gesehen, und kehren wir dazu zurück, dass ich durch diese Tür gehe.“

„Diese Nachricht ändert alles.“

Piper zog eine Augenbraue hoch und erwiderte: „Sie ändert gar nichts.“ Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und wollte gehen, weil sie plötzlich Platz brauchte. „Ich schulde dir gar nichts, am wenigsten eine Erklärung darüber, was in meinem Leben vor sich geht.“

Sie fasste nach dem Türknauf, doch bevor sie ihn drehen konnte, landete Stones Hand mit lautem Klatschen auf dem Türblatt. Er rückte nahe heran und drückte gegen die Tür, die keinen Zentimeter nachgab, als Piper daran zog.

„Das mag so sein, aber wir werden trotzdem darüber reden.“

Wütend sah sie ihn an. „Sonst was?“

„Sonst werfe ich dich mir über die Schulter und sperre dich ein, bis du vernünftig wirst.“

„Das würdest du nicht wagen.“

„Fordere mich nicht heraus. Ich habe jemanden umgebracht, um dich zu beschützen. Du glaubst doch nicht, dass ich nicht zu solchen Maßnahmen fähig wäre, damit es auch so bleibt?“

Ihm war anzuhören, dass er der Ansicht war, etwas Schreckliches getan zu haben. Sie würde ihn jedoch nie als Mörder betrachten oder als irgendetwas anderes als ihren Retter in jener Nacht. Plötzlich fühlte sie sich nur noch müde. Die letzten Tage waren sehr emotional gewesen.

„Es ist nur ein Reporter. Ich bin sehr gut in der Lage, ihn zu ignorieren.“

Stone rührte sich hinter ihr, und die offenen Revers seines Jacketts strichen über ihren Rücken. Nur schwer widerstand Piper dem Drang, sich an ihn zu lehnen. Dann überwand sie sich, duckte sich unter seinem Arm hindurch und bewegte sich weg von seiner verlockenden Wärme. Sie straffte die Schultern, reckte trotzig das Kinn und marschierte zurück zu dem Sessel, in dem sie vorhin gesessen hatte.

„Was möchtest du wissen?“

„Du hast gesagt, Reporter hätten dich seit Monaten kontaktiert. Warum?“

Piper sah ihn schief an. „Vielleicht weil durch deine Entlassung alle wieder an der Geschichte interessiert sind?“

„Das weiß ich. Die PR-Abteilung von Anderson Steel hat jeden Tag Anfragen bekommen. Ich meinte, warum du? Warum jetzt? Vorher haben sie dich in Ruhe gelassen.“

Sie hatte schon angesetzt, um etwas Cleveres zu erwidern, als seine Worte zu ihr durchdrangen. Sie klappte den Mund zu und musterte ihn.

„Woher weißt du das?“, fragte sie schließlich.

„Woher weiß ich was?“

„Dass sie mich in Ruhe gelassen haben.“

„Dad hat es mir gesagt.“

„Weil du ihn gefragt hast, oder weil er es erzählt hat?“

Sein Kiefer spannte sich an, und kurz dachte sie, er würde nicht antworten.

„Weil ich gefragt habe.“

Piper starrte ihn an und wusste nicht, was sie mit diesem Geständnis anfangen sollte. Sie wollte ihn fragen, fürchtete aber, dass er nicht ehrlich sein würde. Oder dass ihr nicht gefallen würde, was er sagte.

„Ich vermute, dass sie sich neue Informationen erhoffen. Damals war ich nicht wichtig, weil ich mit achtzehn fast noch ein Kind war. Jetzt bin ich erwachsen und erfolgreiche Psychologin. So könnten sie nicht nur Insiderinformationen bekommen, sondern gleich noch die Meinung einer Expertin.“

„Du redest nicht mit ihnen.“

Es ärgerte sie, dass am Ende seiner Aussage kein Fragezeichen stand. „Du bist kaum in der Position, Befehle zu erteilen.“

Wieder schob er die Hände in seine Haare und zog daran. Anscheinend hatte er eine neue Angewohnheit, wenn er frustriert war.

„Dann eben bitte. Rede nicht mit ihnen.“

Plötzlich war die Erschöpfung wieder da. Achselzuckend erklärte sie: „Warum sollte ich?“ Es war leicht, ihm dieses Zugeständnis zu machen, da sie es ohnehin nicht vorgehabt hatte. Sie stand auf und durchquerte den Raum. „Der Abend ist nicht so gelaufen, wie ich geplant hatte. Ich gehe jetzt nach Hause.“

„Wir sind noch nicht fertig.“

Sie schenkte ihm den Hauch eines Lächelns und griff nach der Tür. „Dann pass mal auf.“

3. KAPITEL

Zum zweiten Mal an diesem Abend stand Stone an der Balustrade und blickte auf die Menge hinunter. Nur hatte er dieses Mal einen triftigen Grund, statt nur das Unvermeidliche hinauszuzögern.

Sein Blick klebte an Piper, die sich einen Weg durch die Gästeschar bahnte. Sie blieb stehen und lächelte, redete und lachte. Sie tat so, als wäre die letzte halbe Stunde nicht gewesen. Zum Teil bewunderte er sie dafür, dass sie sich zusammenreißen konnte, wohingegen er ein Loch in die Wand schlagen wollte. Er wusste nicht, welcher Teil ihres Gesprächs ihn mehr aufgeregt hatte.

Ihre Gefühle zu verletzen war unangenehmer, als er es je erwartet hätte. Es war eine Sache, zu wissen, dass er es tun musste, aber etwas ganz anderes, den Schmerz in ihren hellblauen Augen zu sehen und zu wissen, dass er der Grund dafür war.

„Ist es so schlimm, wie du befürchtet hattest?“, fragte Gray Lockwood und stellte sich neben ihn.

Gray legte ebenfalls die Arme über das Geländer, blickte auf die Leute hinab und wartete. Sie beide waren verdammt gut im Warten geworden.

„Schlimmer.“

In Grays Lachen schwang Selbstironie mit. „Wenigstens schmeißen deine Leute eine Party für dich. Meine Familie will nichts mehr mit mir zu tun haben.“

„Tut mir leid.“

Er, Gray und Finn hatten sich im Gefängnis kennengelernt, und nach holprigen Anfängen waren sie mehr als nur Freunde geworden. Sie waren Brüder und hatten die letzten Jahre aufeinander aufgepasst. Vor knapp elf Monaten war Gray als Erster entlassen worden, nachdem er eine Haftstrafe wegen Veruntreuung von vierzig Millionen Dollar aus dem Familienunternehmen abgesessen hatte. Das Ganze war lächerlich, da der Mann mindestens eine halbe Milliarde wert war, auch ohne das Geld der Firma. Selbst nach der Rückzahlung von zwanzig Millionen, die Gray, wie er versicherte, überhaupt nicht gestohlen hatte, besaß er immer noch genug Geld, um mehrere Entwicklungsländer aufzukaufen.

Gray zuckte nur die Achseln. „So ist es eben. Ich habe meinen Frieden damit gemacht.“

Sein Freund mochte davon überzeugt sein, doch Stone hörte die Bitterkeit in dessen Stimme.

„Es wird einfacher“, versprach Gray.

„Gut, denn wenn jeder Tag draußen so ist wie heute, wäre ich lieber wieder drin.“

Gray drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer und grinste ihn schief an. „Blödsinn.“

„Ja, du hast recht.“

„Erzählst du mir, wer die hübsche Frau in dem umwerfenden Kleid ist?“

Stone wusste genau, wen Gray meinte, stellte sich aber dumm. „Da unten sind viele hübsche Frauen.“

„Möglich, aber nur eine hast du angestarrt, als würdest du erwarten, dass sie den Hasen eines Zauberers nachahmt und jede Sekunde verschwindet.“

„Wann hast du dir das ausgedacht?“

„Lenk nicht ab.“

„Sie ist nicht wichtig.“

„Dann hättest du also nichts dagegen, wenn ich sie zum Essen einlade?“

Stone hätte nicht erklären können, wieso ihn plötzlich Ärger übermannte. „Sie ist tabu, Gray.“

„Das dachte ich mir. Lass mich raten. Piper?“

Er könnte lügen, aber das war sinnlos. Wenn Gray wollte, konnte er jederzeit herausfinden, wer sie war, und falls er viel Aufhebens um die Sache machte, würde sein Freund anfangen zu graben.

„Ja.“

„Ist sie für die Mischung aus Wut, Gereiztheit und geprügeltem Hündchen verantwortlich, die sich in deinem Gesicht abzeichnet?“

Er hatte geglaubt, er hätte seine Maske wieder angelegt, aber vielleicht kannte Gray ihn auch nur gut genug. „Ja.“

„Ich nehme an, das Wiedersehen verlief nicht so gut.“

„Sagen wir, es endete damit, dass sie sauer wurde und aus dem Zimmer stürmte.“ Was er ja gewollt hatte, oder? Warum fühlte er sich also wie eine Mischung aus absolutem Esel und besagtem Hündchen?

„Was hast du zu ihr gesagt?“

„Nichts, was nicht gesagt werden musste.“

Kopfschüttelnd stellte Gray sich vor ihn hin. „Habe ich schon mal erwähnt, dass du ein Trottel bist?“

„In letzter Zeit nicht.“

„Aber das bist du.“

„Egal. Eigentlich wollte ich sie in Ruhe lassen, doch das geht jetzt nicht mehr.“

„Wieso?“

„Weil sie zu stur ist, um zu erkennen, dass sie sich selbst in Gefahr bringt.“

„Dir ist klar, dass du nicht für sie verantwortlich bist, oder? Du musst nicht jeden Drachen in ihrem Leben erlegen. Sie ist zu schön, um allein zu sein. Lass denjenigen, der in ihrem Bett liegt, sich um das Problem kümmern.“

Stone war ebenso überrascht wie Gray, als seine Fäuste Grays makelloses weißes Hemd packten. „Mach keine solchen abfälligen Bemerkungen über sie.“

Gray hob beschwichtigend die Hände. „Botschaft angekommen, Kumpel.“

Was war nur los mit ihm? So leicht reizbar war er seit seinem ersten Jahr hinter Gittern nicht mehr gewesen. Doch bei der Vorstellung von Piper im Bett mit einem anderen war irgendwas in ihm durchgebrannt, denn er wollte der Mann sein, der neben ihr schlief, und das konnte er nicht. Er verdiente es nicht. Stone entspannte sich und atmete aus. „Tut mir leid.“

„Meine Schuld. Ich habe absichtlich auf den Knopf gedrückt.“

„Weil du ein Arschloch bist.“

„Weil ich dein Freund bin und mir Sorgen um dich mache. Aber warum verschieben wir das Gespräch über den Übergang in die echte Welt nicht auf später und konzentrieren uns darauf, was sich bei deinem Mädchen geändert hat.“

„Sie ist nicht mein Mädchen.“

„Klar doch.“

Kopfschüttelnd verbiss er sich die Widerworte. Gray war ein Dickschädel. „Die Medien haben sie anscheinend auch belästigt.“

„Das ist nicht überraschend.“

Grays Reaktion erstaunte Stone. „Wirklich? Ich habe es nicht erwartet. Bisher haben sie sie in Ruhe gelassen.“

„Sie graben nach Informationen.“ Gray lehnte sich weiter zurück, um ihm in die Augen zu sehen. „Du weißt, was du dagegen tun könnest.“

„Kommt nicht infrage.“

Gray zuckte die Achseln. „Ich weiß, aber ich wäre nicht dein Freund, wenn ich es nicht sagen würde. Schon wieder.“

Stone wünschte, alle würden damit aufhören. „Was sollte ich deiner Meinung nach tun?“

„Wer sagt, dass ich von dir erwarte, irgendetwas zu tun?“ Gray lachte. „Du kannst einfach nicht loslassen. Das gehört zu deinen besten Eigenschaften und zu deinen größten Fehlern.“

Stone zeigte ihm den Stinkefinger, stritt es aber nicht ab, denn sein Freund hatte recht. „Ich will mehr über den Reporter wissen, der Piper eine Nachricht geschickt hat. Mir gefällt es nicht, dass sie dem Ganzen ausgesetzt ist. Sie achtet nicht darauf, sich zu schützen.“

Gray drehte den Kopf. Stone musste seinem Blick nicht folgen, um zu wissen, dass er Piper ansah.

„Sie sieht aus, als könnte sie gut auf sich selbst aufpassen.“

Vielleicht, aber alte Gewohnheiten ließen sich schwer ablegen. „Informationen, das ist alles. Du weißt besser als viele andere, wie wertvoll sie sein können.“

Gray summte zustimmend. „Und jetzt hast du ein Ziel. Eins, das aufregender ist, als in der Führungsetage von Anderson Steel zu sitzen.“

Das Problem mit Freunden, die alles über ihn wussten, war, dass sie nicht zögerten, dieses Wissen zur ungünstigsten Zeit gegen ihn zu verwenden. „Vielleicht.“

„Daran gibt es keinen Zweifel, Herr Anwalt. Oder lieber Geschäftsführer? Welchen der vielen Abschlüsse, die du hinter Gittern angehäuft hast, willst du eigentlich nutzen?“

Stone verstand Grays Anspielung. „Nur weil du neidisch bist, dass ich schlauer bin als du, musst du dich nicht wie ein Idiot aufführen.“

„Irgendwie schon. Wir wissen beide, dass du wie ein Hamster ohne Rad bist, wenn du kein Ziel oder Projekt verfolgst – traurig und irgendwie gefährlich. Ich sage nur, dass dir das hier ein Ziel gibt. Zumindest für den Moment. Und du hast Glück. Ich habe auch gerade nichts zu tun und könnte eine Ablenkung gebrauchen. Also hast du jetzt einen zweiten Mann im Team.“

„Toll.“ Trotz des Sarkasmus war Stone froh über Grays Hilfe. Er würde Piper beschützen, ob sie es wollte oder nicht.

Piper schloss die Haustür auf. Sie konnte es kaum erwarten, ins Bett zu fallen, denn sie war hundemüde. Dieser Plan löste sich jedoch in Luft auf, als sie in die Küche kam und ihre beste Freundin vorfand. Vor ihr auf dem Tisch standen eine Weinflasche und ein leeres Glas. Ein weiteres Glas verharrte in ihrer Hand auf halbem Weg zu ihren Lippen.

Zum Teil wünschte Piper sich, Carina wäre nicht da, doch andererseits konnte sie die tröstliche Unterstützung, die die ihr zweifellos geben würde, gut gebrauchen. Vermutlich verstand ihre Freundin als Einzige, wie belastend der Abend für sie gewesen war. Die zierliche Blondine goss ihr ein Glas Wein ein und hielt es ihr hin.

„Du hast es überlebt.“

„Gerade so.“ Piper schüttelte den Kopf und schleuderte achtlos die Schuhe von den Füßen. „Ich ziehe mich schnell um.“

Ihr Haus war klein, aber perfekt für sie. Das Gärtnerhäuschen befand sich auf der Rückseite des Anwesens ihrer Eltern. Nach ihrer Promotion hatte sie ausziehen wollen, doch ihre Mutter erklärte, dass das Haus dann einfach leer stehen würde und sie ihnen einen Gefallen täte, wenn sie bliebe. Abgesehen davon, war es ihrer Mutter lieber, sie in der Nähe zu haben.

Gleichzeitig bot das Haus ihr auch Privatsphäre. Sie hatte eine eigene Zufahrt auf das Gelände, sodass sie ihre Eltern manchmal tagelang nicht sah. Außerdem konnte sie den beheizten Pool nutzen. Also hatte sie nachgegeben und war geblieben. Sie liebte das Haus. Dahinter befand sich noch ein kleiner Garten. Carina wohnte ebenfalls auf dem Anwesen, im Poolhaus.

Sie schlüpfte in Baumwollshorts und ein abgetragenes T-Shirt. Barfuß tappte sie in die Küche zurück, schnappte sich das Glas und trank einen großen Schluck. Seufzend ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen, zog die Beine an und stützte das Kinn auf ein Knie.

„Tut gut, oder?“

Piper schüttelte bloß den Kopf, weil sie nicht wusste, was sie ihrer Freundin über den Abend erzählen sollte, denn es war komplizierter als nur ihre verworrenen Gefühle für Stone. Carina war die Verlobte ihres Stiefbruders gewesen. Da sie mehrere Jahre älter war als sie, hatten sie sich vor Blaines Tod nicht besonders nahegestanden. Doch danach nahmen ihre Eltern Carina auf. Sie war am Boden zerstört gewesen und stand ganz allein da.

Piper war sich sicher, dass sich ihr Stiefvater um Carina kümmern wollte, weil er hoffte, so an einem Teil seines Sohnes festzuhalten. In den letzten zehn Jahren war Carina so sehr zu einem Teil der Familie geworden, wie es der Fall gewesen wäre, hätten sie und Blaine geheiratet.

Da Piper emotional am Ende gewesen war und sich ohne Stone verloren fühlte, hatte sie eine Freundin ge...

Autor

Kira Sinclair
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