Mit dir in der unendlichen Weite des Outbacks

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Rote Erde, ockergelbe Felsen und der endlos blaue Himmel … Als Sapphie ins australische Outback aufbricht, hat sie nur ein Ziel: den Vater ihres kleinen Neffen ausfindig zu machen! Das hat sie ihrer Schwester versprochen. Stattdessen trifft sie auf den Onkel des Jungen, den grimmigen Viehzüchter Liam. Erst als sie seine sanfte Seite kennenlernt, keimt zarte Hoffnung in ihr auf, im fernen Outback ihr eigenes Glück zu finden. Aber kann Liam das Geheimnis akzeptieren, das ihr Leben seit Jahren überschattet?


  • Erscheinungstag 29.04.2025
  • Bandnummer 092025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751534796
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Douglas

Mit dir in der unendlichen Weite des Outbacks

1. KAPITEL

„Das da unten ist die Außenstation von Jarndirri“, erklärte der Pilot.

Sapphie Thomas wandte sich von dem schlafenden Baby neben ihr ab und blickte durchs Fenster des Postflugzeugs nach unten. Ihre besten Freundinnen, Anna und Lea Curran, waren da aufgewachsen, und sie selbst hatte auch schon viel Zeit dort verbracht.

Darüber hatte sie den Piloten Sid vorher informiert. Sie stieg doch nicht zu fremden Männern in ein kleines Flugzeug, ohne sie vorher wissen zu lassen, dass sie einflussreiche Freunde besaß. Freunde, die ihr in Windeseile zu Hilfe kommen würden, wenn es nötig wäre.

„Sie landen doch nicht, oder?“, erkundigte sie sich, von schmerzlicher Sehnsucht durchflutet.

Sie wollte trotzdem keinen Fuß auf diesen Boden setzen. Aus mehreren Gründen. Nicht zuletzt wegen des Briefs, den sie zwei Tage zuvor erhalten hatte. Nein, nicht daran denken! Dazu hatte sie gar keine Zeit.

Eine Landung hier würde bestimmt auch Harry wecken. Der Kleine schien das Fliegen zu hassen. Kein Wunder, ihr Neffe war erst ein Jahr alt. Er hasste Landungen und Starts. Er hasste den Staub, die Hitze und die Fliegen. Er hasste die grelle Sonne am wolkenlosen Himmel, er hasste es, wenn sie, Sapphie, versuchte, ihm in dem beengten Raum die Windeln zu wechseln. Ja, er hasste die Reise von ganzem Herzen und teilte das durch lautes Weinen mit. Sapphie hätte sich ihm am liebsten angeschlossen und ebenfalls geheult.

Denn Harry hasste auch sie.

In den langen fünf Stunden, die sie bisher im Flugzeug ertragen hatten, war er nur ein einziges Mal ruhig gewesen: als er das Fläschchen bekommen hatte. Dessen Inhalt hatte er kurz darauf auf Sapphies T-Shirt erbrochen. Schließlich war er doch noch eingeschlafen, aus totaler Erschöpfung. Auf keinen Fall sollte er jetzt aufwachen.

„Nö, wir landen nicht“, antwortete Sid lakonisch. „Die haben nix für mich zum Abholen, und ich habe nix für sie abzugeben, also geht es einfach weiter.“

Sapphie seufzte erleichtert, dann kam ihr ein neuer Gedanke. „Müssen Sie zur Station?“

Die Hauptranch – oder Station, wie man im Outback sagte – war einige Hundert Kilometer nordöstlich von hier gelegen, was nicht hieß, dass sie nicht auf Sids Postroute lag.

Jetzt sei nicht albern, du läufst hier Anna oder Lea nicht zufällig über den Weg, ermahnte sie sich gleich darauf. Beide Freundinnen waren zurzeit anderswo.

Und dem Vater der beiden konnte sie auf keinen Fall begegnen, denn der war seit sechs Jahren tot.

Das kleine Flugzeug geriet in eine Turbulenz. Und Sapphie wurde schlecht, obwohl ihr das Fliegen normalerweise nichts ausmachte. Aber normalerweise würde sie jetzt auch nicht über die nordwestliche Ecke Australiens fliegen, eine der abgelegensten Gegenden dieser Erde. Und das, um einen Mann zu finden, den sie noch nie im Leben gesehen hatte.

Es war nichts mehr normal in ihrem Leben. Seit zwei Tagen.

„Also …“, antwortete Sid endlich. „Die Hauptstation wird dienstags mit Post beliefert. Donnerstags ist diese Ecke hier dran.“

Sapphie war dankbar, dass sie es gestern nach Broome geschafft und somit heute das Flugzeug erwischt hatte. Sonst hätte sie eine ganze Woche auf die nächste Gelegenheit warten müssen, nach Newarra zu kommen. Da Broome ein kleiner Ort war, hätte Anna sicher erfahren, dass sie, Sapphie, in der Stadt war … und dass … Nein, daran wollte sie gar nicht denken.

Am liebsten hätte sie sich die Hände vors Gesicht geschlagen, aber sie wollte nicht, dass Sid mitbekam, wie verzweifelt sie war.

„Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus“, meinte er auch so.

Das war vermutlich noch freundlich formuliert. „Liegt wohl daran, dass ich mich so fühle“, erwiderte sie und rang sich ein Lächeln ab. Er meinte es ja sicher gut.

„Kein Wunder“, sagte er und wies mit dem Kopf auf Harry.

Beschützerinstinkte durchfluteten sie. Harry hasste sie, aber sie hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt.

„Ihm bekommt das Fliegen halt nicht“, sagte sie.

„Wie den meisten Kids.“

„Tut mir leid, Sid. Der Flug bisher muss ja die Hölle für Sie gewesen sein.“

„Kein Grund, sich zu entschuldigen“, erwiderte der Pilot.

Doch, es gibt sogar viele Gründe, um sich zu entschuldigen.

Sapphie brannten die Augen, und sie umfasste behutsam Harrys Füße. Sie konnte sich gar nicht oft genug bei ihm entschuldigen, dass er bei ihr gelandet war, anstatt bei jemandem, der sich mit Babys auskannte. Der wusste, wie man ihn trösten, ihm die Angst nehmen konnte.

Sie konnte das alles nicht. Aber vorerst musste er sich mit ihr abfinden.

Es war erst zwei Tage her, dass sie von Harrys Existenz erfahren hatte. Zwei Tage, seit ihre jüngere Schwester Emmy, erst neunzehn Jahre alt, wegen Drogenvergehens ins Gefängnis gekommen war. Zwei Tage seit ihrem eigenen fünfundzwanzigsten Geburtstag, an dem sie von einem Notar erfahren hatte, wer ihr biologischer Vater war: Bryce Curran, der vor Jahren verstorbene Vater ihrer besten Freundinnen Anna und Lea.

In den letzten drei Jahren hatte sie unablässig überall nach Emmy gesucht – erfolglos. Deren Anruf vor zwei Tagen hatte sie für das schönste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten gehalten. Bis sie dann erfuhr, worum es ging.

Emmy wollte nicht gratulieren. Tatsächlich wusste sie gar nicht mehr, dass es Sapphies Geburtstag war. Sie hatte von der Polizeistation in Perth aus angerufen und um Hilfe gefleht. Natürlich war Sapphie sofort zu ihr gefahren, und Emmy hatte ihr den Jungen in den Arm gedrückt und gefordert: „Versprich mir, dass du Harrys Vater findest.“

Sapphie hatte es versprochen. Was blieb ihr denn anderes übrig? Sie hatte ihre kleine Schwester ja irgendwie in jeder Hinsicht, die zählte, im Stich gelassen. Diesmal würde sie Emmy nicht enttäuschen. Ja, sie, Sapphire Thomas, würde Harrys Vater finden.

Sie wusste, wie es war, ohne Vater aufzuwachsen. Wie es war, sich ständig zu fragen, wer er war, und nie seine Identität zu kennen. Dass es Harry ebenso erging wie ihr, würde sie nicht zulassen.

Zum Glück hatte gab es jemand anderen als sie, der die Verantwortung für Harry übernehmen musste. Emmy hatte ihr Daten, Orte und einen Namen genannt.

„Liam Stapleton“, hatte sie gesagt. „Ein Rinderzüchter in der Region Kimberley. Die Gegend kennst du ja. Anna und Lea Curran helfen dir sicher, wenn du sie darum bittest.“

Genau das kann ich nicht tun, dachte Sapphie und ihr wurde flau zumute. Wenn die beiden jemals herausfanden, dass ihr Vater ihrer sterbenskranken Mutter untreu gewesen war und sie, Sapphie, der lebende Beweis dafür …

„Müssen Sie sich übergeben?“, erkundigte Sid sich besorgt.

Sie rang sich ein Lächeln ab. „Nein, ich bin nur ein bisschen erschöpft.“

„Machen Sie doch ein Nickerchen wie Ihr Jungchen. Würde Ihnen guttun.“

Ihr Jungchen? Sapphie unterdrückte einen drohenden Anfall von Hysterie. Sie hatte jetzt keine Energie mehr, Sid zu berichtigen. Wenn sie vor sieben Jahren anders entschieden hätte, könnte sie jetzt ein Kind haben, aber …

Vor dem Gedanken schrak sie förmlich zurück. Damit durfte sie sich nicht beschäftigen, solange sie für Harry verantwortlich war. Mit achtzehn hatte ihr der Mut gefehlt, den Emmy bewiesen hatte, indem sie ihr Kind bekam.

„In etwa vierzig Minuten sind wir in Newarra“, informierte Sid sie.

Das war die Station von Liam Stapleton, wie Sapphie erfahren hatte. Also reichte die Zeit noch für ein Nickerchen. Sie durfte ihre Energie nicht vergeuden, denn die würde sie brauchen, um ihr Versprechen einzulösen und Liam Stapleton dazu zu bringen, seinen Sohn zu akzeptieren.

Das würde nicht einfach werden. Nicht, wenn Liam genauso wenig von Harrys Existenz wusste wie sie selbst bis vor zwei Tagen.

„Sie haben gesagt, dass Liam Sie erwartet, richtig?“

„Richtig“, bestätigte Sapphie und hielt die Augen geschlossen, damit man ihrem Ausdruck nicht entnehmen konnte, dass sie gerade log.

„Da unten steht er, um Sie abzuholen.“

Nun machte sie doch die Augen auf. Sie waren schon über Newarra? Sie drückte das Gesicht ans Fenster und sah unten gelbgrünes Gras, niedriges Gebüsch, Baobab-Bäume und weiter hinten das Glitzern eines Flusses. Ein weitläufiges Haus stand in einem saftig grünen Garten, mit weißen Schindeln verkleidet wirkte es einladend und Kühle verheißend im grellen Sonnenlicht des Outbacks.

Dann tauchte das Flugfeld auf, neben dem ein weißer Pick-up stand. Sapphie seufzte. Emmy hatte nicht gelogen. Wie es schien, besaß Harrys Vater eine Rinderranch, die es an Größe und Bedeutung mit Jarndirri aufnehmen konnte.

Das Flugzeug ging in den Sinkflug, und Sapphie wurde erneut mulmig zumute. Sie hatte Liam Stapleton nicht angerufen. Sie hatte keine E-Mail geschickt. Sie hatte keinen Kontakt mit ihm aufgenommen, um ihm nicht die Chance zu geben, sich mit Anwälten zu umgeben und sie abzuweisen. Harry abzuweisen.

Das Flugzeug setzte auf, Sapphie kämpfte gegen Panik an. Dann straffte sie die Schultern. Ich tue das Richtige! Harry gehört zu seinem Vater. Nach dem ersten Schock würde Liam Stapleton das einsehen. Er würde sich um Harry kümmern. Dafür würde sie sorgen.

Sid sprang aus dem Flugzeug, kaum, dass es zum Stehen gekommen war. Harry schlief weiter. Sapphie überlegte kurz. Wenn er aufwachte und sie brauchte, war sie in Hörweite. Also atmete sie tief durch und stieg aus.

„Schönen Tag auch, Liam“, grüßte Sid.

„Hallo, Sid“, erwiderte Liam Stapleton.

„Ich habe Ihnen Ihren Besuch heil und ganz hergebracht“, informierte Sid ihn und wies mit dem Kopf auf Sapphie.

Liam Stapleton wandte sich ihr zu und musterte sie. „Ich erwarte keine Besucher“, erwiderte er, ging aber auf sie zu.

Sie trat ihm mit ausgestreckter Hand entgegen, aber ohne zu lächeln. „Guten Tag, Mr. Stapleton. Ich bin Sapphire Thomas.“

Er drückte ihr die Hand, und sie bemerkte, wie lang seine Finger waren und wie rau von der harten Arbeit auf der Station. Und groß war er! Mindestens einen Meter fünfundachtzig. Seine Augen hatten ein intensives Blau, sein Gesicht war markant, schmal und sonnengebräunt … aber er machte ihr keine Angst. Zum Glück! Andernfalls hätte sie wieder ins Flugzeug klettern, nach Broome zurückfliegen und alle weiteren Schritte irgendwelchen Anwälten überlassen müssen.

„Müsste ich Sie kennen?“, fragte Liam Stapleton schroff.

„Nicht wirklich“, antwortete sie.

„Was führt Sie dann her?“

Beinah hätte sie jetzt gelächelt. Rinderzüchter in Kimberley gingen wohl immer sparsam mit ihren Worten um. Zwei Tage lang hatte sie sich ausgemalt, Harrys Vater würde sich der Verantwortung für sein Kind entziehen. Doch dieser Mann hier würde das nicht tun, davon war sie überzeugt, je länger sie ihn betrachtete.

Liam Stapelton sah streng, geradezu grimmig aus. Ein bisschen Freude würde ihm nicht schaden. Ein Kind bedeutete Freude. Ein Kind war ein Geschenk. Und …

„Nun?“, drängte er.

Der Stress und die Sorgen der letzten zwei Tage kamen Sapphie plötzlich der Mühe wert vor. Sie lächelte.

„Mr. Stapleton, ich bin hier, um Ihnen Ihren Sohn zu bringen.“

Liam stemmte die Hände in die Hüften und atmete tief durch. „Sagten Sie, Sie bringen mir meinen Sohn?“

Der jungen Frau – Sapphire Thomas – verrutschte das alberne Lächeln. „Ja, das … das stimmt.“

Ach ja? Er hatte Newarra seit zwei Jahren nicht verlassen. War in der Zeit mit keiner Frau zusammen gewesen. Und diese Frau hier hatte er noch nie im Leben getroffen. Daran würde er sich erinnern.

„Und wie alt ist dieser vermeintliche Sohn von mir?“

Sein Ton hätte jeden anderen veranlasst, einen Rückzieher zu machen. Diese Sapphire tat das nicht.

„Er ist ein Jahr alt“, antwortete sie sofort.

Zorn stieg in Liam auf, den er zu zügeln wusste. Darin hatte er Übung.

„Miss Thomas, ich habe ganz sicher keinen Sohn“, erklärte er.

Dafür hatte seine Frau gesorgt. Seine Ex-Frau.

„Aber …“

„Kein ‚Aber‘!“, brach es wütend aus ihm heraus.

Sapphire sah ihn groß an und wich einen Schritt zurück.

„Sie können also wieder ins Flugzeug steigen und dahin zurückfliegen, wo Sie hergekommen sind.“

„Aber …“

Liam wandte sich ab. Ihm war ihr Problem egal. Er würde sich nicht noch mal von einer verzweifelten Frau zum Narren machen lassen.

„Vor einundzwanzig Monaten haben Sie auf der Landwirtschaftsmesse in Perth meine Schwester kennengelernt. Emerald Thomas.“

Ihre Worte klangen klar und deutlich, so formell, als würde sie ein Gerichtsurteil aussprechen. Oder einen auswendig gelernten Text aufsagen, den sie ständig wiederholt hatte, um ihn perfekt hinzubekommen. Aber er klang falsch.

„Sie haben mit ihr eine Woche auf Rottnest Island verbracht“, fügte sie hinzu.

Nun drehte er sich wieder zu ihr, sein Herz pochte wild.

Sie zog die Brauen hoch. Ihre Augen funkelten ihn an. Grüne Augen. Sie müsste Smaragd heißen, nicht Saphir, ging ihm durch den Kopf.

„Rottnest Island“, wiederholte sie. „Na, klingelt’s bei Ihnen?“

Oh ja, das tut es! Liam ballte die Fäuste. Aber …

Da ertönte das durchdringende Schreien eines Babys, und Sapphire kletterte ins Flugzeug. Kurz darauf tauchte sie wieder auf, mit einer Babytragetasche.

Liam wurde erneut zornig. Lügen! Alles Lügen, und grausame noch dazu.

Eins war klar: Das Kind war nicht von ihm. Die Frau konnte ihr Baby zurückbringen, zurück in das Loch, aus dem sie gekrochen war! Er würde ihr nicht erlauben, den Kummer seiner Familie auszunutzen und einen Vorteil daraus zu schlagen.

„He!“, brüllte er sie an, als sie die Tragetasche hinstellte und das Baby heraushob. „Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen zurückfliegen. Also nehmen Sie Ihr Baby, denn auf keinen Fall …“

Der Kleine wandte sich ihm zu und starrte ihn an.

„Denn auf gar keinen Fall …“, wiederholte Liam.

Das Kind verzog das Gesicht und neigte sich so weit zurück, dass es Gefahr lief, der Frau aus den Armen zu stürzen.

„Erschrecken Sie ihn doch nicht so, Sie Grobian“, herrschte sie ihn an und umfasste das Kind mit sicherem Griff.

Liam konnte sich nicht rühren, er konnte nur das Baby anstarren. Das Baby, das das genaue Ebenbild von ihm, Liam, im selben Alter war. Und von seinem Bruder Lachlan.

Und von Lucas.

Nein, diese Ähnlichkeit musste Zufall sein! Er war ja auf keinen Fall der Vater des Kleinen. Aber … wie war das bei Lachlan und Lucas?

Er schüttelte den Kopf. Nein, Lucas konnte nicht der Vater sein, denn Lucas war tot. Diese Miss Thomas behauptete, er habe ihre Schwester vor einundzwanzig Monaten getroffen. Und ja, da hatte Lucas noch gelebt, war gesund und munter gewesen vor dem Unfall, der ihn zum Invaliden gemacht hatte. Da war er noch in der Lage gewesen, zu gehen, zu reiten … und vermutlich auch, Sex zu haben.

Sie hatte Rottnest Island erwähnt.

Aber jeder, der die Familie und vor allem Lucas gekannt hatte, hätte diese Geschichte erfinden können. Also auch Sapphire Thomas.

Doch das Aussehen des Babys sprach gegen eine rein erfundene Geschichte.

Er sah, wie Sapphire erschauerte. „Was für ein Mensch sind Sie bloß?“, flüsterte sie.

Liam hörte sie kaum. Lucas war tatsächlich auf der Landwirtschaftsmesse in Perth gewesen. Er war auf Rottnest Island gewesen, wie eine Ansichtskarte von dort bewies. Konnte das Baby also Lucas’ Sohn sein?

„Lassen Sie mich eins klarstellen, Mr. Stapleton: Ich lasse nicht zu, dass Sie Harry im Stich lassen. Verstanden? Wir können das wie zwei Erwachsene aushandeln, oder wir überlassen es den Rechtsanwälten. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“

Er musterte sie und fand, dass sie nicht wie eine Lügnerin und Betrügerin aussah. Das hatte seine Ex-Frau allerdings auch nicht getan.

Insofern wäre es besser, alles Anwälten zu überlassen.

Unter seinem Blick wurde Sapphire blass, dann knöpfte sie den obersten Knopf des viel zu großen und völlig zerknitterten Hemds zu.

„Und hören Sie auf, mich so anzusehen“, sagte sie ätzend wie Batteriesäure. „Ich habe zwei Tage und Nächte nicht geschlafen. Ich war über sechs Stunden in dieser Schuhschachtel von Flugzeug eingesperrt. Das Baby hat mich angepinkelt, es hat auf mich gekotzt, zu allem Übel ist es hier draußen höllisch heiß. Und der Staub treibt mich in den Wahnsinn. Wenn ich also aussehe wie eine Pennerin, dann …“

„Das tun Sie nicht.“ Wieso hatte er das jetzt gesagt? Abgesehen davon, dass es stimmte und sie nicht wie eine Pennerin aussah. Und wenn ihr so heiß war, warum knöpfte sie das langärmelige Hemd zu statt auf? Oder zog es gleich aus? Sie trug doch ein T-Shirt darunter, wie er sehen konnte.

Liam überlegte nun, ob ihre Behauptung stimmen konnte … und ihre Schwester und sein Bruder etwas miteinander gehabt haben konnten.

Warum aber hatte sie dann nicht gesagt, dass Lucas der Vater war?

Plötzlich verkrampfte sich sein Magen, als ihm klar wurde, dass die Geschichte durchaus Sinn ergab. Natürlich konnte alles immer noch unwahr sein, Sapphire konnte eine Betrügerin sein … oder ihre Schwester hatte ihr einen Haufen Lügen aufgetischt. Ja, das alles waren Möglichkeiten.

Aber er konnte die Ansprüche der Frau nicht einfach abweisen, auch wenn er das am liebsten getan hätte. Da musste man genauer nachforschen. Das war er Lucas schuldig. Das und noch viel, viel mehr.

Als Erstes musste er die Frau allerdings von ihrem Irrtum befreien. „Miss Thomas, ich weiß, Sie haben mir nicht geglaubt, als ich Ihnen eben sagte, ich wäre nicht der Vater des Babys.“

„Aber …“

„Ich habe Ihre Schwester niemals getroffen, ich war nie auf Rottnest Island. Tatsächlich war ich in den letzten fünf Jahren nirgendwo außer hier.“

Ihre grünen Augen verdunkelten sich. „Aber …“

„Das stimmt“, mischte Sid sich ungebeten ein. „Das ist hier in der Gegend schon ein gängiger Witz.“

Sapphire wurde noch blasser. Liam machte einen Schritt auf sie zu, um sie aufzufangen, falls sie in Ohnmacht fiel, aber sie fand die Kraft, sich gerade aufzurichten und das Kinn zu heben. Sie sah so müde aus, dass es ihm zu Herzen ging.

„Aber Emmy hat mir Ihren Namen genannt! Sie sagte …“ Sie schluckte mühsam, während sie versuchte, mit seiner Enthüllung klarzukommen. Dann wich sie weiter zurück, als hätte er gedroht, sie zu schlagen. „Sie würden Ihren eigenen Sohn verleugnen?“

„Nein!“, rief er unüberlegt und schroffer als beabsichtigt. „Ich wünschte …“ Den Satz konnte er einfach nicht zu Ende bringen, also sagte er: „Ich bin wirklich nicht der Vater des Jungen. Aber ich denke, ich weiß, wer es sein könnte.“

Nun war sie sichtlich erstaunt. Liam blickte kurz zu Sid, um ihr zu signalisieren, dass er vor dem Piloten nicht weitersprechen wollte. Hoffentlich deutete sie das richtig.

„Wissen Sie das tatsächlich?“ Sie kniff die Augen zusammen. „Oder wollen Sie mich bloß abwimmeln?“

„Nein, das will ich nicht“, versicherte Liam ihr. „Und Sie haben recht: Wir müssen sehr viel besprechen. Wo sind Sie untergebracht?“

„Oh, ich …“ Sie blinzelte, als hätte sie nicht erwartet, dass er so vernünftig sein könnte. „Im Beach View Motel in Broome.“

„Heute Nacht nicht“, mischte Sid sich ein. „Ich mache nämlich einen Zwischenstopp in Kununurra. Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie wieder zurückwollen. Nur, dass es für Sie nach Newarra gehen soll.“

„Aber …“

„Ich fliege erst in zwei Tagen wieder nach Broome“, erklärte Sid weiter. „Und da ist dann der Verkauf der Jährlinge.“

Liam unterdrückte mühsam einen Fluch. Die Pferdeauktion bedeutete, dass jeder verfügbare Raum in Kununurra belegt sein würde. Er wollte keine Frau hier auf seiner Station haben. Auch kein Kind … eins, das ihn an alles erinnern würde, was er verloren hatte. Nicht mal für zwei Tage würde er das ertragen.

„Tja, es geht nicht anders.“ Sid klopfte ihm auf den Rücken. „Du musst Miss Thomas und den Kleinen bei dir aufnehmen, Liam.“

Da Sapphire in Hörweite stand, konnte er sich nicht Luft machen, indem er Sid ungeschönt sagte, was er von dem Plan hielt. Was Sid bezweckte, war ihm klar. Der wollte nur seine Junggesellenbude freihalten von Frauenbesuch. Gut, die „Bude“ war eine improvisierte Unterkunft in einem der Hangars, also überhaupt nicht geeignet für eine Frau mit Kind. Außerdem machte Sid nur das, was er, Liam, auch tat. Besser gesagt zu tun versuchte, nämlich Sapphire Thomas nebst Anhang fernzuhalten.

„Was sagt Sid da?“, fragte Sapphire brüsk.

„Dass Sie heute Nacht hierbleiben müssen.“

„Das denke ich nicht. Ich werde in Kununurra ein Zimmer buchen, Mr. Stapleton.“

„Miss Thomas, wenn der Pferdemarkt stattfindet, bekommen Sie dort kein Zimmer.“ Er machte eine umfassende Geste auf die unbesiedelte Umgebung. „Und es wimmelt hier nicht unbedingt von Alternativen. Kununurra ist beinah vierhundert Kilometer entfernt, Broome etwa sechshundert. Bis zu meinem nächsten Nachbarn sind es dreihundertfünfzig Kilometer. Es bleibt Ihnen also nichts anderes übrig, als mein Angebot zu akzeptieren, auf Newarra zu bleiben. Sie haben einfach keine andere Wahl.“

Sie wich wieder zurück wie ein erschrockenes Tier. „Ein Frau hat immer eine Wahl.“

Das klang nachdrücklich. Er hingegen versuchte, ruhig und gelassen zu klingen. „Nun ja, Sie könnten draußen zelten. Ich würde Ihnen sogar die Ausrüstung leihen. Aber meine Haushälterin gerbt mir das Fell, wenn ich Ihnen das erlaube.“

Draußen zu kampieren, kam nicht infrage. Wer weiß, in welche Schwierigkeiten sie da geraten würde. Darauf musste sie aber von selbst kommen. Frauen sind ja gern widerborstig, wie er aus Erfahrung wusste. Anspruchsvoll. Kurz gesagt: nichts als Ärger.

„Beattie kocht übrigens wahnsinnig gut“, fügte Sid ungefragt hinzu.

Sapphire entspannte sich sichtlich bei der Erwähnung einer Haushälterin, genau wie Liam gehofft hatte.

„Man muss ja auch den Kleinen bedenken“, ergänzte er.

Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und verriet so, wie nervös sie war. Dann hob sie erneut das Kinn, und er musste zugeben, dass sie die Nervosität gut verbarg. Das nötigte ihm fast so etwas wie widerstrebende Bewunderung ab.

„Harry“, erwiderte sie herausfordernd. „Er heißt Harry.“

„Harry zieht ein Kinderbett einem Zelt vielleicht vor“, meinte er lässig.

Sie nagte an der Unterlippe.

„Es gibt heißes Wasser und Strom in meinem Haus.“

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