Bote des Todes

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Die engagierte TV-Produzentin Moira will die tödlichen Machenschaften der IRA aufdecken, um das Leben des irischen Politikers Jacob Brolin zu retten. Unterstützt wird sie dabei von ihrem Kollegen Michael. Er spielt ihr Informationen zu, die den irischen Journalisten Dan O'Hara, ihren früheren Geliebten, als Drahtzieher des Mordkomplotts aufzeigen. Doch dann macht Moira eine schreckliche Entdeckung...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761752
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Heather Graham

Bote des Todes

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ralph Sander

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,
Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg
Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Night Of The Blackbird
Copyright © 2001 by Heather Graham Pozzessere
erschienen bei: Mira Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Titelabbildung: by GettyImages, München; corbis, Düsseldorf
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz
Satz: Berger Grafikpartner, Köln
ISBN 978-3-95576-175-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Belfast, Nordirland

Sommer 1977

„Es ist so weit, mein Sohn!“ sagte seine Mutter, nachdem sie ohne anzuklopfen in sein kleines Zimmer geplatzt war. „Dein Vater ist zurück, jetzt gehts ins Kino.“

Die Mutter machte einen lebendigen und aufgeregten Eindruck. Ihr üblicherweise von schwerer Arbeit gezeichnetes Gesicht hatte sich zu einem Abbild wahrer Schönheit verwandelt, ihr Lächeln war das eines jungen Mädchens, und ihre Augen leuchteten. Er hielt den Atem an, weil er es kaum fassen konnte. Er hatte sich so sehr gewünscht, ins Kino zu gehen. Der neue Film aus Amerika hatte Premiere. Obwohl erst neun, verbrachte er einen Großteil seiner Zeit auf der Straße, da seine Eltern nur wenige ihrer Versprechen auch wirklich einhielten. Es war nicht ihr Fehler, es waren einfach die Umstände, die sie daran hinderten, und das konnte er gut verstehen. Sein Vater musste arbeiten, ebenso seine Mutter, und dann waren da auch noch die regelmäßigen Treffen im Pub. Für sein Alter war er ein zäher und kräftiger Bursche und leider auch schon wachsam und misstrauisch, was sogar ihm selbst bewusst war. Aber das hier …

Es war ein Science-Fiction-Film voller futuristischer Ritter, Raumschiffe und großer Schlachten. Der Kampf für das Gute und am Ende der Sieg des Guten über das Böse. Jedenfalls rechnete er damit.

Er legte den Comic zur Seite, den er bis eben gelesen hatte, und sah seine Mutter ungläubig an. Dann sprang er auf und umarmte sie. „Ins Kino! Wirklich? Wow!“

„Jetzt geh dich kämmen, Junge, und mach dich fertig. Ich hole deine kleine Schwester.“

Wenig später verließen sie das Haus.

Die Straße, in der sie wohnten, hatte etwas von einem Slum. Alte Ziegelsteinmauern waren mit Graffiti übersät. Auch die Häuser waren alt. Und sie waren klein und zugig, und im Winter musste immer noch mit Torf geheizt werden, damit es warm wurde. Dennoch war es eine gute Nachbarschaft, in der es sich leben ließ. In den Mauernischen gab es viele düstere, geheime Stellen, und es gab viele Orte, an denen man sich verstecken konnte.

Vereinzelt trafen sie Nachbarn. Die Männer tippten zum Gruß mit dem Finger an den Hut, und die Frauen grüßten mit höflichem Tonfall. Es gefiel dem Jungen sehr gut, mit seinen Leuten unterwegs zu sein. Er hielt seine Schwester an der Hand. Sie war erst fünf, und ihre Augen strahlten voller Leben. Sie wusste nichts davon, dass die Menschen, die sie grüßten, ein verbittertes Lächeln zur Schau trugen. Dass die Gesichter dieser Menschen so grau und matt waren wie der Himmel, der immer bedeckt und trüb zu sein schien, und wie die alten Gebäude, die so wirkten, als läge beständig ein Schatten über ihnen. Sie blickte zu ihrem Bruder hoch und lächelte ihn an. Es war ein ehrliches, hübsches Lächeln. Obwohl sie sich hin und wieder stritten, obwohl er ein robuster Neunjähriger und sie nur ein kleines Mädchen war, liebte er seine Schwester von ganzem Herzen.

„Wir gehen wirklich ins Kino?“

„Ja, wir gehen ins Kino“, versicherte er.

Ihr Vater drehte sich zu ihnen um und grinste. „Richtig, Mädchen, und Popcorn werden wir auch kaufen.“

Die kleine Schwester lachte so vergnügt auf, dass sie alle lächeln mussten und die düstere Welt um sie herum ihnen ein wenig unbeschwerter vorkam.

Schließlich hatten sie das Kino erreicht. Einige von den anderen Besuchern waren ihre Freunde, andere ihre Feinde, aber sie waren alle hergekommen, um den Film zu sehen. Manches grüßende Lächeln war ehrlich, manches gezwungen, und seine Eltern nickten dem einen oder anderen nur steif zu.

Wie versprochen, hatte ihr Vater Popcorn gekauft. Und Limonade. Und sogar Schokoriegel.

Es kam nur selten vor, dass er sich seinen Eltern so verbunden fühlte und er sich selbst wirklich wie ein Neunjähriger vorkam. Für gut zwei Stunden entfloh er aus der finsteren Realität in eine andere Zeit und in eine weit entfernte Galaxie. Er lachte, er jubelte, er überließ seiner Schwester das restliche Popcorn, und er erklärte ihr, was sie nicht verstand. Er nahm sie auf seinen Schoß. Er sah, wie seine Mutter zögerte, dann aber den Kopf auf die Schulter seines Vaters sinken ließ. Er legte eine Hand auf ihr Knie.

Sie hatten die halbe Strecke bis nach Hause zurückgelegt, als die bewaffneten Männer wie aus dem Nichts auftauchten.

Sie waren aus einer der dunklen Nischen in der Mauer hervorgetreten, in denen sich der Junge so gut auskannte.

Der Mann, der sich vor sie stellte, trug eine Maske und sprach plötzlich seinen Vater mit Namen an.

„Der bin ich, und ich bin stolz darauf!“ erwiderte sein Vater mit kräftiger und trotziger Stimme, während er sich schützend vor seine Frau stellte. „Aber meine Familie ist bei mir …“

„O ja, so ist das richtig. Versteck dich ruhig hinter einem Rockzipfel!“ rief der zweite Mann verächtlich.

Das Gewehrfeuer, das unvermittelt einsetzte, war ohrenbetäubend.

Der Junge griff nach seiner Schwester, während er sah, wie sein Vater zu Boden ging. Es lief alles unglaublich schnell ab, und doch kam es ihm fast so vor, als würde er einen Film in Zeitlupe sehen. Er erfasste den entsetzlichen Ausgang des Geschehens, aber er konnte es nicht aufhalten.

Die Schützen hatten es nur auf seinen Vater abgesehen, doch ein Querschläger traf auch seine Schwester. Eine innere Stimme sagte ihm, dass die Männer das nicht beabsichtigt hatten, aber auch, dass sie es nicht bedauern würden. Sie war nichts weiter als ein Opfer unter vielen in diesem merkwürdigen Krieg.

Er hörte, wie seine Mutter den Namen seines Vaters schrie. Sie wusste nicht, dass ihre kleine Tochter ebenfalls getroffen worden war.

Der Junge hielt seine Schwester fest und sah, wie ihr Kleid das Blut aufsog. Ihre Augen waren geöffnet. Sie verstand nicht, was soeben geschehen war, und sie spürte auch keinen Schmerz. Sie lächelte und sah ihn an, während sie seinen Namen flüsterte.

„Ich will jetzt nach Hause gehen“, hauchte sie. Dann machte sie die Augen zu, und er wusste, dass sie tot war.

Er hielt sie einfach nur fest, während er auf der nächtlichen Straße kniete, die so finster war wie sein Leben. Er hörte das Schluchzen seiner Mutter, und irgendwann kam das Heulen der Sirenen von Polizei und Krankenwagen näher.

Am Samstagnachmittag gab es einen Gottesdienst für seinen Vater und seine Schwester. Die Totenwache hatten sie auf die traditionelle Weise zu Hause gehalten. Familie und Freunde waren gekommen, um an den Särgen zu wachen. Sie hatten Whiskey und Ale getrunken. Sie hatten seinen Vater zum Helden erhoben und die Rache für den Tod seiner Schwester zu ihrer Sache erklärt. In vielen Berichten überall auf der Welt stellte man sich die Frage, ob dieses junge und unschuldige Opfer vielleicht ein Schachzug Gottes für ihre Sache war.

Keiner von ihnen hatte sie lächeln sehen. Keiner von ihnen wusste, dass sie einfach nur ein Kind gewesen war, voller Hoffnungen und Träume, und mit einem Lächeln, das so vor Leben sprühte wie die strahlenden Augen.

Schließlich war die Zeit gekommen, um die beiden Toten zu Grabe zu tragen. Der Junge wusste aber, dass hier nichts jemals wirklich zu Grabe getragen wurde.

Father Gillian sprach ein Gebet, und einige andere Männer hielten leidenschaftliche Grabreden. Seine Mutter war in Tränen aufgelöst, fuhr sich immer wieder durchs Haar und presste die Hände auf die Brust. Andere Frauen standen ihr bei, hielten sie und trauerten mit ihr. Ihr Wehklagen erinnerte an eine Gruppe heulender Todesfeen.

Er stand ganz allein da, unfähig zu weinen.

Nachdem der Trauergottesdienst beendet war, kamen die Dudelsackspieler nach vorne und setzten zu „Danny Boy“ an.

Als sie wieder verstummten, traten er und einige Männer vor, um die Särge anzuheben. Zum Glück war der Junge für sein Alter bereits sehr groß und trug den Sarg seiner Schwester zusammen mit seinen Cousins, die alle deutlich älter waren als er. Sie war noch so ein kleines Ding gewesen, dass es ihn wunderte, wie schwer der Sarg war.

Die beiden Särge wurden in die Gräber hinabgelassen, dann mit Erde und Blumen bedeckt. Es war vorüber.

Während sich die anderen Trauernden zurückzogen, stand Father Gillian da und hatte einen Arm um die Mutter des Jungen gelegt. Eine Großtante kam zu ihm. „Deine Mutter braucht dich jetzt.“

Er sah auf, Tränen schossen ihm in die Augen. „Im Moment braucht sie mich nicht“, sagte er und wusste, dass er damit Recht hatte. Er hatte sie trösten wollen, doch sie war von ihrem Hass, ihrer Leidenschaft und der neuen Sache erfüllt, für die sie eintreten würde.

Da er niemandem wehtun wollte, fügte er an: „Ich kann jetzt nicht zu ihr gehen. Meine Mutter hat jemanden, der ihr im Moment hilft. Sie braucht mich nachher, wenn sie wieder allein ist.“

„Du bist ein guter und kluger Junge“, sagte die Tante und ging fort.

Allein stand er an den Gräbern und begann zu weinen, ohne einen Laut von sich zu geben.

Er legte einen Schwur ab. Einen leidenschaftlichen Schwur gegenüber seinem toten Vater, seiner armen kleinen Schwester, Gott und sich selbst.

Eher würde er sein Leben geben, als diesen Schwur zu brechen.

Über seiner Stadt brach die Dunkelheit herein, die sich auch um sein Herz legte.

1. KAPITEL

New York City, New York

Heute

„Was soll das heißen, dass du zum St. Patrick’s Day nicht nach Hause kommst?“

Moira Kelly zuckte zusammen.

Die sonst so sanfte und angenehm klingende Stimme ihrer Mutter kam so schrill aus dem Hörer, dass Moira sicher war, dass ihre Assistentin im Nebenzimmer Katy Kelly ebenfalls gehört hatte, obwohl sich ihre Mutter hunderte von Kilometern entfernt in Boston befand.

„Mum, es ist ja nicht so, als würde ich Weihnachten absagen …“

„Nein, es ist schlimmer.“

„Mum, ich bin kein kleines Kind mehr, sondern eine berufstätige Frau.“

„Richtig. Du bist eine Amerikanerin in der ersten Generation und pfeifst auf jede Tradition.“

Moira atmete tief durch. „Mutter, genau darum geht es ja. Wir leben in Amerika. Und ja, ich bin hier geboren. So erschütternd und gemein es auch sein mag, aber der St. Patrick’s Day ist kein Nationalfeiertag.“

„Ich merke schon, du machst dich über mich lustig.“

Moira holte Luft, zählte stumm bis drei und seufzte dann. „Ich mache mich nicht über dich lustig.“

„Du bist selbstständig. Du kannst dir freinehmen und dafür an einem anderen Tag arbeiten.“

„Ich kann mir nicht einfach so freinehmen, ich habe einen Partner. Wir haben eine Produktionsgesellschaft, wir haben Planungen, Termine. Mein Partner hat eine Ehefrau …“

„Dieses jüdische Mädchen, das er geheiratet hat.“

Wieder zögerte Moira.

„Nein, Mum. Andy Garson, der Reporter aus New York, der manchmal die Vormittagssendung mitmoderiert, ist derjenige, der ein jüdisches Mädchen geheiratet hat. Josh ist mit einer Italienerin verheiratet.“ Sie lächelte flüchtig. „Und sehr katholisch. Sie würde dir gefallen. Genauso wie ihre Zwillinge, die jetzt acht Monate alt sind. Sie sind nur ein paar der Gründe, warum wir dieses Unternehmen am Leben halten wollen.“

Ihre Mutter hörte nur, was sie hören wollte. „Wenn seine Frau katholisch ist, dann sollte sie es verstehen.“

„Ich glaube nicht, dass St. Patrick’s Day bei den Italienern ein Nationalfeiertag ist“, gab Moira zurück.

„Er ist ein katholischer Heiliger!“ beharrte ihre Mutter.

„Mutter …“

„Moira, bitte. Ich frage dich nicht meinetwegen.“ Diesmal war es ihre Mutter, die einen Moment lang zögerte. „Dein Vater hatte wieder einen Anfall …“

Ihr Herz setzte einen Augenblick lang aus. „Was soll das heißen?“ fragte sie schneidend.

„Vielleicht müssen sie ihn noch einmal operieren.“

„Du hast mich nicht angerufen!“

„Ich habe dich doch jetzt angerufen.“

„Aber nicht wegen Dad!“

„Er wollte nicht, dass ich dir etwas sage. Ihm geht es nicht so gut, aber er wollte dich vor dem Feiertag nicht beunruhigen. Du bist sonst immer nach Hause gekommen. Wir wollten es dir sagen, wenn du hier bist. Er muss am Montag zu einer Untersuchung – ambulant und nicht lebensbedrohlich –, und dann … na ja, dann werden sie entscheiden, was sie machen können. Aber, Darling, du weißt … er würde dich wirklich gerne sehen, auch wenn er es nicht zugeben würde. Und Granny Jon … also, in letzter Zeit lässt sie ein wenig nach.“

Granny Jon war über neunzig und wog bestenfalls etwas über vierzig Kilo, aber sie war nach wie vor das widerborstigste kleine Geschöpf, dem Moira jemals begegnet war.

Moira war sicher, dass sie ewig leben würde.

Sorgen bereitete ihr dagegen ihr Vater. Er war vor ein paar Jahren am offenen Herzen operiert worden und hatte eine künstliche Herzklappe erhalten. Seitdem war sie immer in Sorge um ihn. Er beklagte sich nie und lächelte immer, was ihn in ihren Augen so gefährlich machte, da er wenigstens halb im Sterben liegen musste, ehe er einen Arzt aufsuchte. Sie wusste, dass ihre Mutter seitdem sehr genau über seine Gesundheit gewacht hatte, aber das löste nicht alle Probleme.

Und was St. Patrick’s Day anging …

„Patrick kommt“, sagte ihre Mutter.

Natürlich, dachte sie.

Ihr Bruder, der Grundbesitz im Westen von Massachusetts hatte, würde seinen ganz persönlichen Feiertag um keinen Preis versäumen.

Aber für Patrick war es auch einfach, weil er ohnehin oft in Boston war.

Mit einem Anflug von Schuldgefühlen wurde ihr klar, dass sie darauf gezählt hatte, dass die Anwesenheit ihres Bruders und ihrer Schwester Colleen es wettmachen würde, wenn sie nicht zum höchsten irischen Feiertag kommen würde. Der wurde ohnehin fast im ganzen Land als willkommener Vorwand ansehen, um grün gefärbtes Bier zu trinken und Grußkarten mit Kobolden zu verschicken, ohne etwas über die wahre Bedeutung zu wissen.

„Du willst doch Patrick sehen, oder etwa nicht?“

„Natürlich, aber in erster Linie mache ich mir Sorgen um Dad.“

„Wenn dein Vater und ich morgen tot umfallen würden …“

„Ich würde mich auch dann mit meinem Bruder und meiner Schwester treffen, Mum. Ihr beide werdet morgen nicht tot umfallen, aber mach dir keine Gedanken – wir würden uns auch weiterhin treffen.“

Es war ein alter Streit. Ihre Mutter sagte ihr und ihrem Bruder immer das Gleiche, und sie beide antworteten jeweils übereinstimmend, während ihre Schwester jedes Mal seufzte und mit den Augen rollte.

Trotzdem liebte Moira ihre Familie.

„Mum, ich werde da sein.“ So weit weg lebte sie auch nicht, und es war auch nicht so, dass sie sich nur selten bei ihren Eltern blicken ließ. Gerade weil sie sie so oft besuchte, hatte sie dieses eine Mal, nur an diesem einen St. Patrick’s Day, nicht vorgehabt, sie wieder zu besuchen. Sie war erst zu Weihnachten in Boston gewesen, und das war noch nicht allzu lange her. Es war ihr nicht so wichtig, sie schon wieder zu besuchen, was zum Teil auch mit den Drehplänen zu tun hatte.

Doch jetzt war es ihr wichtig.

„Hast du mich verstanden, Mum? Ich werde an St. Patrick’s Day da sein.“

„Gott behüte dich, mein Baby. Ich brauche dich wirklich hier.“

„Ich rufe dich an, sobald ich weiß, wie ich das zeitlich einrichten kann. Sorg du dafür, dass Dad auf sich aufpasst, okay?“

„Das werde ich.“

Sie wollte den Hörer auflegen, als sie hörte, dass ihre Mutter weiterredete. „Ach, Schatz, ich habe vergessen, dir zu sagen …“

Moira hielt den Hörer wieder ans Ohr. „Ja?“

„Du errätst nie, wer noch kommt.“

„Der große Kobold?“ Sie konnte sich das nicht verkneifen.

„Natürlich nicht!“

„Auntie Lizbeth?“ Sie war keine richtige Tante, nur eine alte Nachbarin von früher, die alle paar Jahre in die Staaten reiste. Moira mochte sie, auch wenn sie nur selten verstand, was Lizbeth eigentlich sagte. Stattdessen lächelte sie die alte Frau einfach immer freundlich an. Sie war noch älter als Granny Jon und hatte den breitesten irischen Dialekt, den man sich nur vorstellen konnte – und ihr Wolfshund hatte ihre dritten Zähne zerbissen, da sie sie hasste und immer auf dem Tisch hatte liegen lassen. Selbst als sie ihr Gebiss noch getragen hatte, war Moira kaum in der Lage gewesen, ein Wort zu verstehen, und inzwischen war es nahezu unmöglich, einen Sinn in das zu bringen, was sie von sich gab. Granny Jon und ihre Familie schienen allerdings keine Verständigungsprobleme mit ihr zu haben.

„Nein, Dummchen, nicht Auntie Lizbeth.“

„Ich gebe es auf, Mum. Wer kommt?“

„Dan. Daniel O’Hara. Ist das nicht wunderbar? Ihr habt euch immer so gut verstanden. Ich wusste, dass ihr nicht die Gelegenheit verpassen würdet, euch wiederzusehen.“

„Ähm … nein“, sagte sie und zwang sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Machs gut, Darling.“

„Du auch, Mum.“

Danny würde da sein.

Erst als ihre Hand zu schmerzen begann und das tiefe Summen aus dem Hörer zu ihr durchdrang, wurde ihr bewusst, dass sie den Hörer noch immer fest umklammert hielt. Plötzlich meldete sich die Bandansage der Vermittlung: „Wenn Sie ein Gespräch anmelden möchten …“

Moira legte auf und starrte das Telefon an, dann schüttelte sie wütend den Kopf. Wie lange hatte sie Danny nicht mehr gesehen? Waren es zwei Jahre oder drei? Er war die Liebe ihres Lebens gewesen … ihres jungen Lebens, korrigierte sie sich. Aber er war in Windeseile in ihrem Leben aufgetaucht und genauso schnell wieder verschwunden. Als er sie zuletzt angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass er sich für ein paar Wochen in den Staaten aufhielt, war sie einem Treffen bewusst aus dem Weg gegangen. Auf ihn konnte man sich genauso verlassen wie darauf, dass es im Winter in Boston einen Tag mit gutem Wetter geben würde. Und dennoch …

Ein Stich ging ihr durchs Herz. Es wäre schön, Danny zu sehen.

Vor allem jetzt, da sie ihn überwunden hatte.

Außerdem war sie in einer Beziehung und somit immun gegen seine lockeren Sprüche: „Ach, Moira, nur ein Bier auf die Schnelle.“ Oder: „Moira Kelly, du willst nicht mit mir spazieren gehen?“ Oder sogar: „Du willst nicht die Zeit stillstehen lassen und mit mir ins Bett gehen, obwohl du weißt, dass es immer magisch war?“

Nie wieder, Daniel.

Sie führte ein hektisches Leben. Sie würde viel zu tun haben, vor allem, da sie alle bitten musste, ihre geänderten Pläne in ihre eigenen Planungen einzubeziehen.

Moira liebte ihre Arbeit. Sie konnte es noch immer kaum fassen, dass sie und Josh es geschafft hatten, eine Produktionsgesellschaft auf die Beine zu stellen und eine Serie zu produzieren, die durchaus als erfolgreich bezeichnet werden konnte. Die alte Heimat Irland war nach wie vor die Leidenschaft ihrer Eltern. Amerika war ihre eigene Leidenschaft. Sie war hier zur Welt gekommen und aufgewachsen, und sie liebte die Vielfalt ihres Landes. Seit sie zum ersten Mal aufs College gegangen war, hatte sie immer viel zu tun gehabt und das verdrängt, was nie Wirklichkeit werden konnte. Zumindest hatte sie das versucht.

Vielleicht hatte sie insgeheim immer davon geträumt, Danny würde zurückkommen und bleiben.

Sie wurde wütend, als sie merkte, dass allein der Gedanke an ihn sie sehnsüchtig werden ließ.

Zugegeben, Danny bedeutete ihr immer noch etwas, daran würde sich auch niemals etwas ändern. Aber sie hatte ihn in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verdrängt. Sie war zu realistisch, um etwas anderes zu machen. Sie hatte über die Jahre hinweg immer wieder Beziehungen gehabt – wegen ihrer Arbeit jedoch nie etwas wirklich Ernstes. Und im Moment hatte sie auch eine Beziehung, einen klugen, attraktiven Mann, der ihre Interessen teilte und der auf die richtige Weise zum richtigen Zeitpunkt in ihr Leben getreten war …

Danny kam also nach Boston. Schön für ihn. Er würde sicher gerne …

Michael! Sie ging mit einem Mann namens Michael McLean aus. Er war ebenfalls irischer Abstammung, aber vom nüchternen Schlag. Sie hatten eine wirklich wunderbare Beziehung. Michael freute sich über einen guten Film und jammerte nicht, wenn es ein schlechter Film war. Er war ein großer Sportfan, aber er verbrachte ebenso gern einen Tag im Museum oder sah sich ein Stück am Broadway – oder besser gesagt Off-Broadway – an.

Er war nahezu perfekt. Er leistete vollen Einsatz in ihrem Unternehmen. Er war immer bei der Sache, traf sich mit Leuten, achtete auf die Logistik und darauf, dass alle Genehmigungen vorlagen. Sogar in diesem Augenblick war er wieder in irgendeiner Sache unterwegs. Sie wusste zwar genau, was er gerade machte, aber es wollte ihr einfach nicht einfallen – eine Folge des Telefonats mit ihrer Mutter.

Es war egal, wo er war. Michael hatte immer sein Mobiltelefon in der Tasche, und er rief immer zurück, ganz gleich, ob es sich um eine private oder eine geschäftliche Angelegenheit handelte. Das war eine der Eigenschaften, die ihn zu einem so wunderbaren Mann machten.

Aber allein der Gedanke an Danny …

Moira nahm einen Bleistift und klopfte damit ungeduldig auf die Tischplatte. Sie musste sich um andere Dinge kümmern, beispielsweise um das Geschäft. Sie nahm den Hörer wieder ab und rief ihren Partner Josh an.

Es würde schön sein, Danny wiederzusehen.

Die Hitzewallung, die sie bei diesem Gedanken durchfuhr, irritierte sie. Es war wie ein plötzliches Verlangen, mit ihm ins Bett zu gehen. Sie schloss die Augen und sah ihn vor sich. Nackt.

Hör auf! ermahnte sie sich.

„Was gibts?“

„Wie?“

„Du hast mich angerufen“, sagte Josh. „Was gibts?“

„Können wir irgendwo zu Mittag essen?“

Im Geiste zog sie Danny wieder an und drängte ihn zurück in die letzte Ecke ihres Unterbewusstseins, in die er gehörte.

Sie merkte, dass Josh gezögert hatte. Sie konnte ihn vor sich sehen, wie er seine Augenbrauen fragend zusammenzog. Danny verblasste zur Erinnerung. Ihr Partner war etwas Reales, immer ein Teil ihres Lebens. Er war beständig und einfach nur ein grundanständiger Mann. Josh Whalen war groß und so schmal, dass man ihn fast schon als mager beschreiben konnte. Und er sah gut aus. Sie waren sich an der Filmschule der NYU begegnet und hatten fast eine Affäre begonnen, bis ihnen bewusst geworden war, dass sie ein Leben lang Freunde bleiben konnten, ihre Liebe jedoch niemals so lange halten würde. Stattdessen waren sie Geschäftspartner geworden.

Zu der Zeit war Danny immer noch in ihrem Leben aus und ein gegangen. Josh wäre für sie nur der Versuch gewesen, sich klar zu machen, dass sie keine Ewigkeit auf einen Mann warten musste, den sie lieben konnte. Zum Glück war ihr das bewusst geworden, noch bevor sie etwas unternommen hatte, was sie beide am Ende bedauert hätten.

Josh war besser als jeder Mann, mit dem sie jemals ausgegangen war. Sie hatten die gleiche Vision und die gleiche Einstellung zur Arbeit. Sie hatten beide in zahlreichen Restaurants gejobbt, um das Geld zusammenzubekommen, das sie benötigten, um ihre kleine Produktionsgesellschaft zu gründen. Er hatte außerdem auf Baustellen gearbeitet, und beide waren sie bereit gewesen, mit hundert Prozent Leistung zu arbeiten.

„Soll ich nicht einfach in dein Büro rüberkommen?“ fragte Josh.

„Nein, ich möchte mit dir in ein schönes Restaurant gehen und einen guten Wein trinken …“

Er stöhnte auf und fiel ihr ins Wort. „Du willst den Terminplan ändern.“

„Ich …“

„Dann bitte in einer Sport-Bar, und spendier mir ein Bier.“

„Wo?“

Er nannte ihr sein Lieblingslokal, das nur einige Häuserblocks von ihrem Büro im Village entfernt war. Er musste noch ein Vorstellungsgespräch mit einem potenziellen neuen Kameramann führen, und sie war zu einem Kaffee mit einem möglichen Gast für ihre Sendung verabredet, doch unmittelbar danach würden sie beide sich treffen.

Wenig später meldete sich der Gast bei Moira und teilte ihr mit, dass er einen Anschlussflug verpasst hatte und sich nach Möglichkeit erst am Nachmittag mit ihr treffen wollte. Erleichtert hatte sie sich damit einverstanden erklärt und nutzte die freie Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Josh für einen ausgedehnten Spaziergang.

Moira traf vor ihrem Partner in Sam’s Sports Spectacular ein. Normalerweise trank sie tagsüber nichts Alkoholisches und hielt sich auch am Abend sehr zurück, aber an diesem Nachmittag bestellte sie ein Bier vom Fass. Sie hatte sich an dem Tisch niedergelassen, der am weitesten von der Bar entfernt war, und trank einen Schluck, als Josh eintrat. Seine schlaksige Gestalt erinnerte sie an einen Regisseur oder an jemanden, der aus irgendeiner Grunge-Band entflohen war. Er hatte dunkle, wunderschöne Augen, sein lockiges braunes Haar schimmerte rötlich, und obwohl es seiner Frau nicht gefiel, trug er einen Vollbart.

„Wo ist mein Bier?“ fragte er und setzte sich zu ihr an den Tisch.

„Ich war mir nicht sicher, was du trinken wolltest.“

Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Wie viele Jahre kennen wir uns jetzt?“

„Fast zehn. Seit wir achtzehn waren. Aber …“

„Was bestelle ich sonst immer?“

„Miller Lite, aber …“

„Na bitte.“

„Ich bin heute etwas daneben.“

„Das bist du allerdings.“ Er hob die Hand und winkte dem Kellner, der sofort zu ihm kam und die Bestellung aufnahm.

„Und warum bist du heute daneben?“ fragte Josh und beugte sich vor.

„Meine Mutter hat angerufen.“

Er verzog das Gesicht. „Das ist keine Entschuldigung, meine Mutter ruft mich jeden Tag an.“

„Du kennst meine Mutter nicht.“

„Doch.“ Er grinste sie an. „Sie ist eine ganz reizende Frau.“

„Meinem Vater geht es nicht so gut.“

„Oh.“ Josh wurde sofort ernst. „Tut mir Leid.“

„Ich …“ Sie zögerte, weil das nicht der eigentliche Grund war. „Ich glaube, es geht ihm nicht ganz so schlecht, obwohl er wahrscheinlich wieder operiert werden muss.“

„Also willst du an St. Patrick’s Day zu deinen Eltern fliegen.“

„Ich weiß, dass wir da eigentlich in den Themenparks in Florida filmen wollten, und ich weiß ja auch, was du alles unternommen hast, damit der Papierkram dafür erledigt wird und die Rechte geklärt sind …“

„Es sind schon andere Dinge verschoben worden.“

„Ich weiß deine Einstellung wirklich zu schätzen“, sagte sie leise und trank einen tiefen Schluck.

„Ich habe sowieso nie daran geglaubt, dass wir im März nach Florida fliegen würden.“

Sie sah ihn an und wurde rot. „Denkst du, dass ich kein Rückgrat habe?“

„Ich denke eher, dass es deine Mutter mit dem Terminator aufnehmen könnte.“

Sie lächelte ihn dankbar an. „Ich habe eine andere Idee. Wir könnten stattdessen doch eine richtiggehend irische Folkloresendung daraus machen und mit dem Leisure Channel eine Liveschaltung vereinbaren. Das wäre doch nicht schlecht. Ich glaube, unseren Zuschauer würde das gefallen.“

Josh dachte darüber nach, dann hob er die Hände. „Du könntest Recht haben. ‚Spiel und Spaß – live aus der Heimatstadt unserer Moderatorin.‘“

„Und wie denkst du über Boston im März?“

„Mies, aber viel schlimmer als in New York wird es um die Jahreszeit auch nicht sein.“ Plötzlich lächelte er strahlend. „Um ehrlich zu sein, hatte ich damit schon gerechnet. Michael hat nicht nur für Orlando Drehgenehmigungen eingeholt, sondern auch für Boston.“

„Was? Er hat kein Wort davon gesagt!“

„Er weiß, wann er schweigen muss. Ich wollte nicht, dass du meinst, ich würde an dir zweifeln.“

„Na toll.“

„Eine solche Sendung hätten wir schon längst machen können.“

Sie grinste ihn an und fühlte sich auf einmal unglaublich erleichtert. „Aber du und Gina, ihr habt euch doch so auf Disneyland gefreut.“

„Das tun wir noch immer. Wir verschieben es einfach. Und den Kindern ist es sowieso egal, die sind noch zu jung, um zu verstehen, was um sie herum vorgeht.“

Er hatte Recht. Mit acht Monaten wäre es ihnen bestimmt egal, ob sie Mickymaus sehen würden oder nicht.

„Möchtest du auch was essen?“ fragte er grinsend. „Oder trinkst du heute nur etwas zu Mittag?“ Er deutete auf ihr leeres Bierglas. Moira konnte sich nicht erinnern, das Glas leer getrunken zu haben.

„Ich bin eine Irin“, murmelte sie.

Er lachte und beugte sich vor. „Heh! Ich will dir doch gar nichts. Ich habe dich nur gefragt, ob du etwas essen willst oder nicht.“

„Ja, ja, ich glaube, ich sollte was essen.“

„Es gibt hier einen guten Salatteller.“

„Hervorragend. Ich nehme einen Hamburger.“

„Oh, wir geben uns heute mal ganz wild, wie?“ neckte er sie und winkte dem Kellner.

„Was? Versuchst du, ein bisschen herablassend zu sein, damit ich dir nicht ewig dankbar dafür bin, dass du den kompletten Drehplan für die nächsten Monate umwerfen musst?“

Er lachte auf. „Vielleicht. Aber vielleicht amüsiert es mich auch nur, dich zu beobachten, wie du davor zitterst, zu deinen Eltern zu fliegen.“

„Ich zittere nicht! Ich fliege ständig zu meinen Eltern! Da kommt unser Kellner. Bestell für mich einfach einen Hamburger … und noch ein Bier.“

Josh tat es, doch das Funkeln in seinen Augen hielt an.

„Was macht dir solche Angst?“ fragte er behutsam, nachdem der Kellner wieder gegangen war.

„Nichts macht mir Angst. Ich besuche oft meine Eltern.“

„Aber diesmal ist dir irgendetwas unangenehm. Geht es darum, dass du glaubst, wir sollten die Dreharbeiten als Vorwand nehmen, um nach Boston zu reisen? Das Ganze passt doch hervorragend. Es gibt in den Vereinigten Staaten viele Iren. Und am St. Patrick’s Day …“

„… ist jeder ein Ire. Ja, ich weiß“, murmelte sie. Ihr zweites Bier wurde gebracht. Moira lächelte dem Kellner kurz zu, der mit einem Grinsen reagierte und dann fortging. Sie trank sofort einen Schluck, dann lehnte sie sich zurück und strich mit einer Fingerspitze über den Rand ihres Glases.

„Also? Es ist doch perfekt“, sagte Josh.

„Ja, perfekt – und erst die fantastische Besetzung.“

„Deine Mutter ist wirklich nett. Und dein Vater auch.“

„Mhm. Das schon, aber …“

„Aber was?“

„Na ja, sie sind … exzentrisch.“

„Deine Eltern? Ist nicht wahr.“

„Hör schon auf, mich auf den Arm zu nehmen. Du kennst doch Granny Jon. Sie hat mir wirklich eingeredet, dass ich immer gut und brav sein müsse, sonst würden mich die Todesfeen auf dem Weg zum Klohäuschen holen. Ich glaube, Colleen, Patrick und ich gingen schon zur High School, als uns auf einmal klar wurde, dass ihre Taktik einen sehr großen Haken hatte. Wir hatten gar kein Klohäuschen.“

„Deine Großmutter ist reizend.“

„So wie ein Stachelschwein“, stimmte Moira ihm zu. „Als Nächstes hätten wir da meinen Vater, der noch immer nicht akzeptiert hat, dass in den USA die Fighting Irish ein Football-Team sind.“

„Stimmt gar nicht! Ich habe mir mit ihm zusammen Football-Spiele angesehen. Ich muss allerdings sagen, dass er für Notre Dame ist.“

„Meine Mutter hält Vorträge darüber, dass das Nationalgericht Kohl mit Speck ist, nicht Corned Beef. Und ehe du dich versiehst, lässt sich mein Vater über den englischen Imperialismus aus, der die Rechte der gälisch sprechenden Menschen in aller Welt unterdrückt. Von da wechselt er zu einem Loblied auf das wunderbare Amerika, wobei er wie üblich vergisst, dass in diesem Land hunderttausende von Indianern abgeschlachtet wurden. Als Nächstes listet er alle berühmten Amerikaner irischer Abstammung auf, von den Gründungsvätern bis zum Bürgerkrieg – und da natürlich beide Seiten.“

„Vielleicht lässt er wenigstens den Iren aus, der Seite an Seite mit Custer geritten ist.“

„Josh, ich meine das ernst. Du kennst meinen Vater. Großer Gott, lass bloß niemanden auf den irischen Nationalismus oder die IRA zu sprechen kommen.“

„Okay, das Thema Politik lassen wir einfach aus.“

Sie hörte ihn kaum, als sie in Gedanken versunken einen Ellbogen auf den Tisch stützte und sich vorbeugte. „Patrick bringt meine Nichten und Neffen mit, und dann werden Mum, Dad und Granny Jon wieder so tun, als wären die Kleinen entlaufene Kobolde. Überall werden Bierfässer stehen, und alles ist in Grün gehalten.“

„Hört sich großartig an.“

„Jede Menge Leute werden da sein …“

„Je mehr, umso besser.“

Sie richtete sich auf und sah ihn ernst an. „Danny kommt“, sagte sie.

„Oh“, erwiderte er leise. „Verstehe.“

Er wachte erst spät auf und brauchte einige Zeit, ehe er munter wurde. Er befand sich in einer luxuriösen Umgebung. Er lag auf einer weichen Matratze, die Laken waren angenehm kühl auf seiner Haut. Von der Frau neben ihm ging immer noch der süßliche Duft von Parfüm und ihrer Liebesnacht aus. Sie war jung, aber nicht zu jung. Ihre Haut war gebräunt und seidig, sie hatte volles dunkles Haar, das auf dem Hotelkissen ausgebreitet lag. Sie hatte ihren Preis, aber, zum Teufel, sie hatten gemeinsam viel Spaß gehabt.

Die Kaffeemaschine war um die Uhrzeit angesprungen, die er am Abend zuvor programmiert hatte, doch mittlerweile musste der Kaffee angebrannt sein. Er hätte nicht gedacht, dass er so lange schlafen würde.

Er schob sein Kissen gegen das Kopfende und lehnte sich zurück.

Amerika war gut.

Ihm gefiel es hier jedes Mal.

Hier gab es so viel und in solchem Überfluss. Und es gab hier so viele dumme Menschen, die überhaupt nicht zu schätzen wussten, was sie hatten. Zugegeben, sie hatten auch hier ihre Probleme. Er ging nicht mit Scheuklappen durch die Welt, und er war auch kein gefühlloser Mensch. Aber hier waren es andere Probleme. Verwöhnte Kinder von wohlhabenden Eltern, Rassenunruhen, Republikaner, Demokraten … und bei allem Mitgefühl musste er aber auch sagen, dass sie sich einfach neue Probleme schufen, wenn die bisherigen ihnen nicht mehr genügten. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass es sich hier gut leben ließ.

Das Telefon klingelte. Er streckte sich nach dem Nachttisch aus und nahm den Hörer ab.

„Hallo?“

„Haben Sie die bestellte Ware bereit, Sir?“

„Ja, habe ich. Soll ich liefern, oder wollen Sie sie abholen?“

„Es dürfte besser sein, wenn Sie hierher kommen. Vielleicht haben wir über weitere Aufträge zu sprechen.“

„Das geht in Ordnung. Wann?“

Ihm wurde eine Uhrzeit genannt, dann war das Gespräch beendet. Er legte auf.

Die Frau neben ihm bewegte sich und stöhnte leise. Sie drehte sich zu ihm um und blinzelte ihn an. Dann lächelte sie. „Guten Morgen.“

„Guten Morgen.“ Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Er fand, dass sie noch immer so süß aussah wie am Abend zuvor. Dunkle Haare, dunkle Augen, sonnengebräunte Haut.

Sie schob ihre Hand unter das Laken und ließ sie zwischen seine Schenkel wandern.

Erstaunt sah er sie an.

Sie lachte. „Ein Bonus. Normalerweise bleibe ich nicht bis zum Morgen …“

„Normalerweise lasse ich eine Nu… eine Frau auch nicht bis zum Morgen bleiben“, erwiderte er freundlich.

Sie war ausgesprochen talentiert, da er sich in kürzester Zeit erregt fühlte. Er bemerkte allerdings, dass die ersten Sonnenstrahlen auf die äußerste Kante der Vorhänge fielen.

„Was ist?“ fragte sie.

Er lächelte. „Nichts“, sagte er und zog sie zu sich heran. Er gab ihr einen Kuss auf den Mund und schob sie so von sich fort, dass sie verstand, dass er nicht ihre Hand, sondern ihre Lippen spüren wollte. Er sah auf die Uhr. Zeit genug.

Sie war sehr gut, und für ihn war es das erste Mal seit langer Zeit, dass er ein wenig trödeln konnte. Er ließ sie eine Weile gewähren, dann revanchierte er sich bei ihr, und schließlich liebten sie sich, auch wenn es schwierig war, von „lieben“ zu sprechen, wenn es darum ging, mit einer fremden Frau zu schlafen, die zudem eine Nutte war. Er war trotzdem ein rücksichtsvoller Partner, obwohl er schnell zum Höhepunkt kam. Als er sich zur Seite wegrollte, sah er wieder auf seine Armbanduhr.

„Schon spät“, murmelte er, gab ihr noch einen Kuss und ging dann ins Badezimmer. „Der Kaffee ist durchgelaufen, Zigaretten liegen auf dem Bett.“

Er duschte schnell und mit einem über Jahre hinweg erlernten Minimum an Bewegungen. Als er fertig war, nahm er ein Handtuch vom Reck und begann, seine Haare trockenzureiben, während er das Badezimmer verließ. Das Einzige, was er trug, war das Handtuch auf seinem Kopf.

„Hast du dir Kaf…“, wollte er höflich fragen, stockte dann aber und fragte schneidend: „Was machst du da?“

Die Frau kniete auf dem Boden und hielt seine Hose in ihren Händen.

„Ich …“, begann sie und ließ dann seine Hose los, während sie ihn bloß ansah. Sie stand langsam auf. Hatte sie ihn ausrauben wollen?

Er fragte sich, was sie gesehen hatte, und bemerkte, dass sie nicht nur seine Hosentaschen durchsucht hatte. Einzelne Schubladen waren nicht ganz geschlossen, und am Fußende war ein Stück der Bettdecke noch immer hochgeschlagen. Was hatte sie entdeckt, das ihren verängstigten Blick erklärte?

Oder lag es nur daran, dass sie ihm in die Augen sah?

Sie stand da, nur in ein kurzes Seidenhemdchen gekleidet. Er spürte, dass sich ihre Gedanken überschlugen. Sie wünschte, sie hätte sich angezogen und das Zimmer verlassen, solange er duschte.

Aber das hatte sie nicht gemacht.

Ihre Augen verrieten die Furcht, von der sie erfüllt war. Er wandte seinen Blick nicht von ihr ab. Sie hatte in der kurzen Zeit ganze Arbeit geleistet. Sie war gründlich gewesen. Dabei war sie nur eine junge Frau, die ihren Körper verkaufte. Und die offensichtlich auch noch eine Diebin war.

Doch war das wirklich schon alles?

„Ich habe mich nur umgesehen, ich war neugierig, weiter nichts“, sagte sie und fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen.

Ganz gleich, was sie noch sein mochte – auf jeden Fall war sie eine verdammt schlechte Lügnerin.

„Oh, Süße“, sagte er freundlich. „Weißt du nicht? Die Neugier ist der Katze Tod.“

„Oh, dein guter Freund Daniel O’Hara“, zog Josh sie auf. „Wenn man bedenkt, dass wir beide ohne den guten alten Danny-Boy jetzt verheiratet sein könnten.“

„Und schon wieder geschieden wären“, warf Moira ein. „Wobei wir uns da noch glücklich schätzen könnten. Ich glaube, wir hätten uns nach spätestens einer Woche gegenseitig umgebracht.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Mal sehen. Kopfmäßig warst du in mich verliebt, aber du warst nach wie vor auf deine alte Flamme scharf. Ich war der Gute und Anständige, der nur Ehrbares im Sinn hatte, er hingegen der unerreichbare, faszinierende und ungestüme junge Liebhaber, der zwar nie anwesend war, dem aber trotzdem dein Herz gehörte – genauso wie dein … na, du weißt schon.“

„Josh, wir hätten niemals geheiratet.“

„Vermutlich nicht“, stimmte er ihr zu, klang aber eine Spur zu fröhlich.

„Ich mag es nicht auf die dramatische Tour. Er ist ein alter Freund der Familie …“

„Der den Körper eines Athleten und das Aussehen eines Adonis hat, was aber gar nicht zählt, oder?“

„Du bist so unglaublich … oberflächlich. Als wenn ich Männer nicht nach anderen Kriterien beurteilen würde. Außerdem siehst du auch sehr gut aus.“

„Danke. Ich glaube es dir sogar. Allerdings bin ich sicher, dass ich es nicht mit deinem exotischen Liebhaber aufnehmen kann. Außerdem ist es gar nicht nur das Aussehen, da muss ich dir Recht geben. Da sind auch noch sein Akzent, die Tradition und die Tatsache, dass dein Liebhaber ein alter Freund der Familie ist.“

„Er ist nicht mein Liebhaber!“

„Hm, wie prompt und aufgebracht du protestierst.“

„Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.“

„Ich weiß noch, wie du ihn zum letzten Mal gesehen hast. Vor fast drei Jahren, im Sommer. Du hast deine Familie angelogen und gesagt, du würdest nach New York zurückfliegen, obwohl du mit ihm in Boston im Hotel geblieben bist. Du hast gedacht, er würde bleiben, weil du das wolltest. Doch er war nicht bereit, und du bist wütend geworden. Als er dann zu Weihnachten angerufen hat, wolltest du ihn nicht sehen.“

„Das alles habe ich dir nie erzählt.“

„Tja, es mag ja sein, dass ich für dich nicht als Ehemann geeignet gewesen wäre, aber ich bin nun mal dein bester Freund, und ich sage dir, dass dieser Typ etwas an sich hat, worüber du einfach nicht hinwegkommst.“

„Du irrst dich.“

„Tatsächlich?“

„Glaub mir, ich bin über ihn hinweg.“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Wie schnell doch die Zeit vergeht, wenn man von seinem angeblich besten Freund gefoltert wird. Ich habe gleich ein Treffen mit Mrs. Grisholm, meinem nächsten Gast. Sie hat heute Morgen ihren Anschlussflug verpasst. Sie hat diese Krimi-Theatergruppe in Maine, bei der das Publikum mitmacht. Sie kochen und essen sogar zusammen. Du weißt schon, ich habe dir von ihr erzählt, und es klingt so, als …“

„Was wird Michael dazu sagen, dass eine alte Flamme in dein Leben zurückkehrt? Hast du ihm jemals von Daniel O’Hara erzählt?“ fiel Josh ihr amüsiert ins Wort.

„Dan ist Vergangenheit. Und Michael geht dich nichts an.“

Josh begann zu lachen. Ihre Wangen wurden rot vor Wut.

„Dieser St. Patrick’s Day könnte richtig vergnüglich werden. Es geht mich ja vielleicht nichts an, wo du übernachtest, aber wir haben Michael als Locations Manager unter Vertrag genommen, bevor ihr beide was miteinander angefangen habt. Ich gehe davon aus, dass er nach Boston mitkommt.“

„Natürlich kommt er mit nach Boston.“

Josh grinste noch immer.

„Grins mich nicht so schief an!“

„Tut mir Leid. Aber als dein ehemaliger Beinahe-Liebhaber finde ich es amüsant, dass du dein halbes Erwachsenenleben im Zölibat zugebracht hast und du jetzt die beiden großen Liebhaber gemeinsam an deinem höchsten Feiertag um dich hast.“

„Josh …“, sagte sie mit warnendem Tonfall.

„Vielleicht ist das gar nicht mal so schlecht, weil deine Eltern ja auf dich aufpassen können.“

Sie stand auf. „Ich würde dir ja gerne dafür danken, dass du so ein toller Geschäftspartner bist …“

„… wenn ich nicht so ein Idiot wäre“, führte er ihren Satz lachend fort.

„Ich könnte deiner Frau erzählen, was du für mich empfunden hast.“

„Das weiß sie doch schon längst. Ich glaube, sie wird das alles genauso witzig finden.“

„Du bist unmöglich, und ich gehe jetzt.“

„Du gehst nur, weil du sonst zu spät kommst. Und du liebst mich trotz allem“, rief er ihr nach, als sie zur Tür ging.

„Ich liebe dich nicht“, erwiderte sie und drehte sich um. „Denk an die Quittung, und gib ein anständiges Trinkgeld.“

„Du betest mich an!“ rief er.

Sie sah ihn an. Er grinste noch immer so unverschämt, und er begann, „Danny Boy“ zu summen.

2. KAPITEL

Es war ein verdammt langer Tag gewesen. Michael McLean lag seine Arbeit sehr am Herzen, und er erreichte immer das, was er sich vornahm. Mal war dazu Diplomatie und Taktgefühl erforderlich, mal unverrückbare Entschlossenheit und Druck an den richtigen Stellen.

Als das Telefon klingelte, schoss Michael hoch. Er hatte einfach nur dagelegen und war eingedöst. Auch wenn sein Job ihm ungewöhnliche Arbeitszeiten abverlangte, hatte er dieses schrille Klingeln nicht erwartet. Er war durchs ganze Land gereist, weil sie für jede Eventualität gewappnet sein mussten, und er war müde. Obwohl ihm das Klingeln in den Ohren schrillte, unternahm er nichts dagegen. Dann aber zwang er sich, sich aufzusetzen. Er fuhr mit den Fingern durch sein Haar und wollte gerade nach dem Telefon auf dem Nachttisch greifen, als er erkannte, dass sein Handy klingelte. Er stand auf, sah sich um, fand dann endlich seine Hose und holte das Mobiltelefon aus der Tasche.

Sein Blick fiel auf die Anruferkennung. Es war Moira.

„Hey, Baby, was ist los? Alles in Ordnung mit dir? Es ist schon spät.“

„Ich weiß. Es tut mir Leid. Ich hätte dich früher anrufen sollen.“

„Du kannst mich rund um die Uhr anrufen, das weißt du.“

„Danke“, sagte sie mit sanfter Stimme.

Es gab viele Frauen auf der Welt, und er hatte sich ausgetobt. Aber der Klang ihrer Stimme ging ihm durch und durch. Ja, es gab andere Frauen, doch keine von denen war so wie sie. Vor seinem geistigen Auge ließ er ihr Bild entstehen. Moira war eine Schönheit. Sie hatte tiefrotes Haar und blaugrüne Augen, sie war groß und anmutig, sie besaß eine natürliche Eleganz und war sich dabei nicht zu fein, sich die Finger schmutzig zu machen und in die absurdesten Situationen zu geraten. Nachdem ihm die Stellenangebote als Co-Produzent und Locations Manager für KW Productions aufgefallen war, hatte er verschiedene Sendungen aufgezeichnet, um sich ein Bild von den Produktionen dieses Unternehmens zu machen. Dabei war sie ihm schon aufgefallen. Sie hatte einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen, aber in Wirklichkeit war sie noch viel attraktiver. Auf die Gefühle, die sie in ihm geweckt hatte, war er nicht vorbereitet gewesen. Er wünschte, sie wäre jetzt bei ihm. Er fand es erstaunlich, was der Klang ihrer Stimme in ihm auslöste.

„Ich hätte dich schon vor Stunden anrufen sollen … und anrufen können“, sagte sie, dann machte sie eine Pause. „Du hast noch nichts von Josh gehört, oder?“

„Nein.“

Er hörte sie seufzen. „Es war ja klar, dass er mir diesen Anruf überlassen würde. Es ist so spät, weil ich versucht habe, den Mut aufzubringen, um dich anzurufen.“

Er wollte ihr versichern, dass sie nie Mut aufbringen musste, wenn sie ihn anrufen wollte, aber sie redete bereits weiter.

„Ich weiß, wie viel Arbeit du bereits investiert hast …“

„Du bist der Boss, das weißt du.“

„Nicht wirklich. Josh und ich haben alle Entscheidungen gemeinsam getroffen, und seit du mit dabei bist, na ja, du bist die perfekte Ergänzung für unser Team … o, Michael, es tut mir Leid, aber … wir müssen unsere Planungen umwerfen.“

Er hatte es erwartet, dennoch fühlte er, wie sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. Er wusste, was sie als Nächstes sagen würde.

„Ich weiß, du und Josh, ihr habt euch mit Orlando so viel Mühe gegeben. Ich weiß auch, dass es die Hölle war, die Drehgenehmigungen zu bekommen … aber wir nehmen stattdessen den St. Patrick’s Day. Tut mir so Leid. Ich weiß …“

„Die Familie, richtig?“ fragte er ruhig.

„Mein Vater muss nächste Woche für ein paar Tests ins Krankenhaus. Nichts Ernstes, sagt Mum. Aber ich möchte wetten, dass er trotzdem bis spät in die Nacht im Pub arbeitet. Jedenfalls hat sie es so hingestellt, als wollte ich den Osterhasen persönlich schlachten. Und da … da habe ich einfach nachgegeben.“

„Keine Sorge“, sagte er. „Ich habe mich längst um Boston gekümmert.“

„Was?“

„Josh und ich haben das erwartet“, erwiderte er.

Sie sagte nichts.

„Moira, das ist schon in Ordnung. Ich werde deine Familie kennen lernen. Was glaubst du, wie wichtig ich mir vorkommen werde? Der Mann in deinem Leben, jemand, der dir alles bedeutet, stimmts?“

„Du bist unglaublich, weißt du das?“

„Ja, natürlich. Du würdest dich doch nicht mit weniger zufrieden geben“, sagte er.

„Weißt du was?“

„Was?“

„Du hörst dich so gut an“, meinte sie. Ihre Stimme war so weich wie Seide.

„Das habe ich gerade von dir gedacht.“

„Sie sind verrückt, weißt du das?“

„Wen meinst du?“

„Meine Eltern.“

„Moira, da bist du bei mir genau richtig. Meine Familie kommt doch auch aus Irland. Gut, wir haben keinen Pub und wir pfeifen auch nicht den ganzen Tag ‚Danny Boy‘, aber ich kann mit Geschichten über Kobolde und Todesfeen umgehen.

Kein Grund zur Sorge.”

Moira schwieg. Schließlich sagte sie: „Meine Eltern machen das aber.“

„Was?“

„Na, sie pfeifen den ganzen Tag ‚Danny Boy‘.“

Er musste lachen. „Ich habe nichts gegen das Lied. Josh und ich haben übrigens eine Wette abgeschlossen.“

„Dass ich nicht dem Drängen meiner Familie nachgeben würde.“

„Nein, nein, wir haben gewettet, an welchem Tag es so weit sein würde.“

„Ich kann es nicht abwarten, dich zu sehen.“ Wieder sah er sie vor sich, aber nicht die Frau aus dem Fernsehen, sondern die, die in diesem Moment an seiner Seite hätte sein sollen. Dezent duftend, geschmeidig und sanft, das Haar offen und wild, nackt, wie Gott sie geschaffen hatte. Vielleicht machte das ihren Reiz mit aus. In der Öffentlichkeit gab sie sich elegant und fast schon reserviert, privat hingegen konnte sie unglaublich sinnlich und explosiv sein.

„Ich glaube, heute Nacht fliegt keine Maschine mehr“, sagte er bedauernd. „Ich kann nicht mal den Zug nehmen. Aber ich könnte einen Wagen mieten … wenn du mich so sehr brauchst.“

„Du bist gut. Sehr gut.“

„Nein, ich bin nicht gut, sondern …“

„Vergiss es“, sagte sie und musste wieder lachen. „Du weißt, dass du mit einem Leihwagen nicht so schnell aus Florida herkommen kannst. Außerdem muss ich morgen unbedingt noch ein paar Dinge regeln und mich dann auf den Weg machen. Damit haben wir eine Woche Vorlauf vor dem eigentlichen Ereignis. Dann habe ich Zeit, meine Eltern zu besuchen, und dem Leisure Channel können wir eine richtig gute Show anbieten.“

„Ich kann da sein, wenn du es willst.“ Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass er gar nicht in Florida war. Aber vielleicht sollte er das besser Josh überlassen.

Er schwieg einen Moment lang. Ja, es gab andere Frauen auf der Welt, das war richtig. Doch keine von ihnen war so wie sie.

„Ansonsten treffen wir uns im Pub deiner Eltern“, fuhr er schließlich fort. „Wenn du darauf bestehst, dass wir so lange warten.“

„Du würdest wirklich die ganze Nacht durchfahren …?“

„Das würde ich.“

„Nein, mir ist wohler zumute, wenn du für eine solche Aktion nicht dein Leben riskierst“, sagte Moira entschlossen. „Boston, übermorgen Abend, Kelly’s Pub, und ich stelle dich meiner Familie vor. Ich sehe dich da?“

„Einverstanden“, erwiderte er. Obwohl er es erwartet hatte, machte ihm der Gedanke Angst, dass sie alle in Boston aufeinander treffen würden: er, Moira, ihre Familie, ihre Vergangenheit – und die Zukunft. „Ich liebe dich“, fügte er an und war überrascht, wie verzweifelt seine Stimme klang.

„Ich liebe dich auch“, sagte sie, und er glaubte es ihr.

Momente später legten sie auf.

Es war spät, und er war müde, trotzdem begann er, sich anzuziehen. Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht so spät, erst kurz nach Mitternacht.

Er verließ das Hotel.

Sein Ziel konnte er bequem zu Fuß erreichen. Boston war in dieser Hinsicht eine angenehme Stadt. Die Altstadt und auch die neueren Viertel zeichneten sich durch ihre engen, gewundenen Straßen aus. Zwischen der Kolonialzeit und der Moderne lagen nur ein paar Schritte. Boston gefiel ihm. Hervorragende Fischgerichte. Ein ausgeprägter Sinn für Geschichte.

Er ging zügig und erreichte schon bald die Straße, in der er sich bereits früher am Tag umgesehen hatte. Da vorne, auf halber Höhe zwischen zwei Seitengassen, im gelblichen Schein einer Straßenlampe, entdeckte er das Schild.

Kelly’s Pub.

Er stand da und betrachtete es.

Und verfluchte die kommenden Tage.

Die Tür stand noch offen, aber im Lokal war nicht viel los. Es war mitten in der Woche. Er dachte darüber nach einzutreten, ein Bier vom Fass zu bestellen, sich in eine Ecke zu setzen und sich in aller Ruhe umzusehen.

Nein.

Es war halb eins, als er sich abwandte und fortging.

Viertel vor eins.

Im Schatten, den die hohen Gebäude warfen, beobachtete er, wie Michael McLean sich wieder entfernte. Er hatte sein Gesicht noch nie gesehen und den Mann auch nie zuvor kennen gelernt, dennoch fühlte er ganz genau, wer er war.

Dan O’Hara sah dem Mann nach, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er hatte die Straßenlampe auf der gegenüberliegenden Straßenseite gemieden und war dadurch kaum mehr als eine dunkle Silhouette in der Nacht gewesen.

Er lehnte sich gegen das alte Gebäude. Da die Straße nun wieder menschenleer war, zündete er eine Zigarette an, zog an ihr und inhalierte tief den Rauch. Eine schlechte Angewohnheit, die er aufgeben musste. Es war ein müßiger Gedanke. Das war also Michael McLean. Er wusste nicht genug über ihn, um ein rationales Urteil zu fällen, aber rein instinktiv war ihm der Kerl unsympathisch. Andererseits konnte Moira mit einem Heiligen liiert sein, dessen Perfektion durch einen Friedensnobelpreis unterstrichen wurde, und er wäre ihm ebenfalls unsympathisch.

Er musste sich zwingen, keine voreiligen Schlüsse über Michael McLean zu ziehen. Er konnte es ihm nicht einmal verübeln, einen Blick auf den Pub zu werfen.

Kelly’s. Dan war selbst in das Lokal verliebt.

Wie lange war er diesmal fortgeblieben? Auf jeden Fall zu lange. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte eines gefehlt. Moira.

Wie oft hatte er sie zurückgewiesen? Es war jedes Mal richtig gewesen, so zu handeln. Zuerst war sie zu jung gewesen. Dann, als sie schließlich doch ein Paar geworden waren, hatte er einfach gefühlt, dass er nicht der Richtige für sie war. Da war ihm aber noch nicht klar gewesen, dass er immer noch daran glaubte, sie gehöre ihm, und dass sie immer da sein würde. Er wollte, dass sie glücklich war, aber auf der anderen Seite war er ein Mann, der ein ausgeprägtes Ego besaß. Tief in seinem Inneren hatte er geglaubt, Glück würde für sie bedeuten, auf ihn zu warten.

Okay, er war ein Idiot.

Ein Idiot, der sich trotzdem richtig verhalten hatte. Sie war eine starke Frau, sie hatte ein Gespür dafür, was richtig und was falsch war, und was es bedeutete, eine Amerikanerin zu sein. Er hatte nichts dagegen machen können, er war ein Ire. Ein Ire, der Amerika liebte, der sich aber … verpflichtet fühlte.

Würde er immer so empfinden?

Würde er überleben?

Er dachte wütend darüber nach, wie wenig ihm gefiel, was um ihn herum vorging. Zu wissen, dass ihn keine Schuld traf, schien ihm nicht zu helfen. Er hatte nichts von alledem in Gang gesetzt, aber es gab nichts, was er dagegen hätte tun können.

Moira kam nach Hause. Er hatte gestern mit Katy Kelly telefoniert, und sie hatte im siebten Himmel geschwebt, weil die ganze Familie an diesem besonderen Tag zusammenkommen würde. Sie war auch ein wenig nervös gewesen. „Sie ist mit einem Mann zusammen. Ihr Dad und ich haben ihn noch nicht kennen gelernt“, hatte Katy ihm erzählt und sich bemüht, nicht abfällig zu klingen.

„Er ist bestimmt ein großartiger Kerl“, hatte Dan erwidert. „Sie ist eine kluge Frau, Katy, das weißt du. Du solltest stolz auf sie sein.“

„Er arbeitet auch fürs Fernsehen. Er ist bei ihr und Josh angestellt“, hatte Katy seufzend gesagt. „Dieser Josh … der ist ein guter Mann.“

„Ein feiner Kerl.“ Danny konnte leicht so etwas sagen. Er mochte Moiras Geschäftspartner. Der Kerl war verheiratet, er war ein echter Freund, und er hatte nie etwas Ernstes mit Moira gehabt.

„Der Neue ist Ire.“

„Ja? Wie heißt er denn?“

„Michael. Michael McLean.“

„Na, bitte. Was willst du mehr?“

Katy hatte erneut geseufzt. „Wahrscheinlich … dass ihr beide geheiratet hättet, Danny.“

„Ach, Katy. Wir sind jeder unsere eigenen Wege gegangen. Außerdem tauge ich nicht für die Ehe.“

„Das finde ich schon.“

Dann hatte sie ihm erklärt, es würde ihr nichts ausmachen, dass Moira mit ihrer Crew käme. Der hintere Raum im Pub gehöre natürlich ihm, so wie immer, wenn er nach Boston kam. Und Moira wisse, dass er da sein würde.

Ein sonderbares Gefühl von Nostalgie überkam ihn. Dieser Ort war für ihn wirklich so etwas wie ein Zuhause. Seine frühen Jahre schienen eine sehr lange Zeit zurückzuliegen. Er hatte bei seinem Onkel gelebt und war viel gereist. Brendan O’Toole, der Bruder seiner Mutter, der eine Cousine von Katy Kelly geheiratet hatte, war Sachverständiger für antiquarische Manuskripte gewesen. Er hatte ihn mit der Literatur vertraut gemacht, seiner ersten großen Liebe, mit dem geschriebenen Wort und der Macht, die es innehatte. Er war ein Geschichtenerzähler gewesen, und auch diese Begabung hatte er an Dan weitergegeben. Sein Haus in Dublin war sein Heim, aber sie waren immer nur unterwegs gewesen. Dan hatte viele ferne Länder gesehen und einen Großteil seiner Zeit in Amerika verbracht. Er liebte die Staaten.

Ganz gleich, wie lange er sich woanders aufhielt, dieser Ort hier fehlte ihm fast augenblicklich.

Es war Zeit, wieder hier zu sein. Er könnte jetzt in den Pub gehen, aber er hatte gesagt, er würde erst am Morgen ankommen. Er würde warten. Es gab keinen Grund, den Leuten zu sagen, dass er bereits seit einiger Zeit in Boston war.

Ja, er würde warten.

Während er gegen die Hauswand gelehnt stand, bemerkte er einen anderen Mann, der sich dem Pub näherte. Er trug einen weiten Mantel und hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, was an sich nichts Ungewöhnliches war. Um diese Jahreszeit konnte es in Boston sehr kalt sein.

Aber der Mann ging auf seltsame Weise auf den Pub zu. Dann blieb er – so wie zuvor auch Michael – stehen und beobachtete die Fenster.

Der Mann spähte in den Pub, um zu sehen, wer sich im Lokal aufhielt.

Offenbar konnte er den oder die Gesuchten nicht ausmachen, da er nach einem Moment kehrtmachte und in die Richtung ging, aus der er eben gekommen war.

Daran war auch nichts auszusetzen. Ein Mann sucht in einem Pub nach seinen Freunden, sieht, dass sie nicht da sind, und geht wieder.

Daran war wirklich nichts auszusetzen.

Nur dass der Mann in Hut und Mantel Patrick Kelly war, der Sohn des Mannes, dem Kelly’s Pub gehörte.

Dan zündete eine weitere Zigarette an und verspürte eine erneute Anspannung.

Er wartete noch eine Zeit lang, dann schlug er den Kragen seines Mantels hoch und brach ebenfalls auf.

Moira nahm sich nur selten die Zeit für einen Schaufensterbummel. Üblicherweise war sie geschäftlich unterwegs und hatte keine Zeit. Und zudem lebte sie schon seit langem in New York und wusste, wohin sie gehen musste, wenn sie etwas Bestimmtes benötigte. Aber sie liebte es, wenn für die Feiertage so wunderschön dekoriert wurde. Und sie wusste es zu schätzen, dass sie in der Stadt, in der sie lebte und arbeitete, nahezu alles kaufen konnte. Sie mochte schöne Kleidung, und es machte ihr Spaß, sich einen Tag lang die Zeit zu nehmen und dutzende Kleidungsstücke und unzählige Paar Schuhe anzuprobieren, wobei sie regelmäßig das Verkaufspersonal verrückt machte.

An diesem Vormittag war sie auf dem Weg zu einem neuen französischen Restaurant im Village, wo sie sich noch einmal mit der Dame aus Maine treffen wollte, um die Drehtermine abzustimmen, als ihr ein Schaufenster auffiel, das ganz außerordentlich einfallsreich zum St. Patrick’s Day geschmückt worden war. Bei diesem Fenster war jemand mit viel Liebe zum Detail am Werk gewesen. Ein Schwarm zierlicher Porzellanelfen war so aufgehängt worden, dass er über einen Regenbogen flog, der der Tradition entsprechend aus einem Topf voller Gold entsprang. Kunstvoll geschnitzte Kobolde mit reizenden Gesichtern waren so zu beiden Seiten des Regenbogens angeordnet, als würden sie ihre täglichen Arbeiten verrichten. Der Kobold in der Mitte der Gruppe saß erhöht und sah eine zierliche Elfe an, die auf einem Zeh auf ihrem Sockel stand. Ihre Flügel waren in den Farben des Regenbogens bemalt worden. Es dauerte einen Moment, ehe Moira erkannte, dass diese Elfe auf einer Spieldose schwebte.

Sie sah auf ihre Uhr. Die Zeit reichte noch, um sie sich genauer anzusehen. Sie ging ins Geschäft und wurde von der Frau an der Kasse begrüßt, die zugleich die Eigentümerin war. Sie sprach noch immer mit einem leichten irischen Akzent und war erfreut, dass sich ihre Kundin so sehr für diese Spieluhr interessierte.

„Die würde meiner Mutter sehr gefallen“, sagte Moira und fragte nach dem Preis.

Der war recht hoch, doch die Frau erklärte ihr schnell den Grund dafür: „Es handelt sich um ein Einzelstück. Die Elfen aus Porzellan werden in limitierter Auflage von zwei Brüdern aus Dublin von Hand hergestellt. Jede ist anders, und sie sind alle von den Künstlern signiert. Ich glaube, dass sie bald schon sehr gefragt sein werden. Aber sie sind nicht deswegen so teuer, weil sie eines Tages begehrte Sammlerstücke sein könnten. Es ist einfach nur der große Zeitaufwand, der in jedes Stück investiert wird.“

„Ich traue mich kaum, das zu fragen, aber ich hätte gerne die Spieldose aus der Auslage.“

„Aber nein, meine Liebe. Ich hole sie Ihnen gern, auch wenn Sie sich das Teil nur ansehen möchten. Ich habe so ein Gefühl, dass Sie es zu schätzen wissen.“

Moira bejahte ihre Vermutung. Nachdem die Frau die Spieluhr aus dem Schaufenster genommen und vor ihr auf den Tresen gestellt hatte, musste Moira feststellen, dass sie noch viel schöner war, als es durch die Glasscheibe den Eindruck gemacht hatte. Das Gesicht war ganz hervorragend modelliert und verlieh der Elfe eine absolut ätherische Aura. Sie war einfach wundervoll. Alles, was an den Iren so gut und so bezaubernd ist, dachte sie.

„Ich nehme sie.“

„Möchten Sie nicht hören, wie sie klingt?“ fragte die Frau und drehte den Schlüssel an der Unterseite des kleinen Sockels herum.

„Ja, gern. Welches Lied spielt sie denn?“

Die Frau musste leise lachen, dann sagte sie mit einem Hauch von Ironie: „Was glauben Sie, was sie spielt? Natürlich ‚Danny Boy‘.“

Die kleine Fee begann sich zu drehen und zu drehen, während eine schöne und zugleich bewegende Melodie erklang, die vertraut und doch anders war.

„Danny Boy.“ Natürlich. Was auch sonst? Es gab so viele wunderschöne irische Lieder, aber natürlich musste diese Spieldose „Danny Boy“ spielen.

„Stimmt etwas nicht?“ fragte die Frau.

„Nein, alles in Ordnung. Sie ist wundervoll, ich nehme sie.“

„Ich werde sie Ihnen so einpacken, dass ihr nichts passieren kann.“

„Das ist nett von Ihnen, danke.“

Während Moira wartete, wurde ihr klar, dass sie sich die ganze nächste Woche „Danny Boy“ würde anhören müssen. Da konnte sie sich ebenso gut jetzt schon daran gewöhnen.

„Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist, meine Liebe?“

„O ja. Es ist wirklich alles bestens. Ich hätte übrigens noch gerne diese beiden Kobolde. Die sind ein hübsches Geschenk für meine Nichten. Und dann brauche ich noch etwas für einen Jungen.“

„Da ist gerade ein neues Videospiel herausgekommen. Todesfeen gegen Elfen, und die Kobolde als Zufallsfaktor, ein paar gute, ein paar böse.“

„Hört sich gut an“, sagte Moira. „Das nehme ich, vielen Dank.“

Morgen würde sie nach Hause fliegen, und mit einem Mal gesellte sich Vorfreude zu der Angst, die der Gedanke bis jetzt bei ihr ausgelöst hatte.

In Kelly’s Pub ging es bereits hoch her, als Dan O’Hara aus dem Hinterzimmer des Lokals kam, das ihm als Gästezimmer diente. Die Pub-Band Blackbird spielte bereits eine Mischung aus alter und neuer irischer Musik, hier und da vermischt mit einem Schuss amerikanischer Popsongs. Die Mitglieder der Band kannte er schon seit Jahren.

Es war das erste Mal, dass er während der Öffnungszeiten in den Pub kam. Er war auf die überschwängliche Begrüßung gefasst, die ihn zweifellos erwartete.

„Da ist er ja!“ rief Eamon Kelly, der hinter der Theke stand. „Der beste und klügste unter euch Erbschleichern, Mr. Daniel O’Hara.“

„Hey, Danny, wie gehts dir?“ fragte der alte Seamus.

„Danny! Junge! Du bist ja wieder in der Stadt!“ stimmte Liam McConnahy in den Jubel ein.

An der Bar tummelten sich Eamons langjährige Freunde, von denen einige aus Irland stammten, während andere gebürtige Amerikaner waren. Er erkannte Sal Costanza wieder, einen alten Schulkameraden, der im italienischen Viertel am North Shore aufgewachsen war. Eamon Kelly hatte hier sein eigenes kleines gälisches Reich geschaffen, aber er war ein gutmütiger und freundlicher Kerl, der sich für jeden in seiner Umgebung interessierte und der meist einen Riecher dafür besaß, wer einen anständigen Charakter hatte und wer nicht. Was im Moment hier ablief, gefiel Dan überhaupt nicht. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um Kelly’s Pub und den gesamten Kelly-Clan aus dieser Sache herauszuhalten. Doch die Sache war bereits ins Rollen gekommen, und ihm blieb keine andere Wahl. Was es auch sein mochte, das hinter dieser Sache steckte – es hatte den Codenamen Blackbird bekommen, und das konnte nur eine Anspielung auf Kelly’s Pub sein.

Es konnte sogar sein, dass ein Kelly in die Angelegenheit verstrickt war.

„Ja, ich bin wieder da“, sagte Dan beiläufig und umarmte Seamus und Liam, dann reichte er den anderen die Hand, die ihn kurz begrüßten.

„Und?“ fragte Seamus, dessen traurige blaue Augen fast unter den buschigen weißen Brauen verschwanden. „Warst du in der alten Heimat, oder hast du dich in den Staaten rumgetrieben?“

„Von beidem ein wenig“, erwiderte Dan.

„Warst du in letzter Zeit in Irland?“ wollte Liam wissen. Sein Haar war genauso weiß wie das von Seamus, aber es wurde allmählich schütter.

„So ist es“, sagte er.

„In der Republik oder im Norden?“ Seamus legte besorgt die Stirn in Falten.

„Von beidem ein wenig“, sagte Dan abermals. „Eamon, wie wärs mit einer Runde für meine alten Freunde an der Bar? Es ist schön, euch alle wiederzusehen. Sal, wie läuft das Pasta-Geschäft in Little Italy? Mir ist nach einer Portion Lasagne, aber nur von deiner Mutter zubereitet. Mit ihr kann es einfach niemand aufnehmen.“

Als Sal etwas erwiderte, lächelte Dan seine Freunde an, die sich für die Runde auf seine Kosten bedankten. Doch während er sich in das gegenseitige Hänseln an der Bar einmischte, sah er sich im Lokal um. Zwar spielte die Band, aber insgesamt war es ziemlich ruhig. Ein junges Paar saß zusammen mit den Eltern des Mannes oder der Frau an einem der Tische in der Mitte und aß zu Abend. Eine Gruppe Angestellter, die geradewegs von der Arbeit hergekommen waren – vermutlich von einem der Computerunternehmen oder einer Bank gleich um die Ecke –, hatte es sich in der Nähe der Band bequem gemacht und entspannte sich nach einem langen Arbeitstag. Patrick Kelly war da – Eamons Sohn, ein gut aussehender, hochgeschossener Junge mit dunklem Haar, das einen leichten rötlichen Schimmer hatte. Er stand auf der Bühne und spielte neben dem Violinisten. Er sah Daniel und winkte ihm grinsend zu, er solle herüberkommen. Dan nickte, erwiderte das Lächeln und bedeutete ihm, dass er sich später zu ihnen gesellen würde. Patrick stieß Jeff Dolan an, den Leadgitarristen und Kopf der Band. Er sah auf, erkannte Danny und nickte ihm ebenfalls zu.

Dan suchte weiter den Raum ab. An einem Ecktisch am anderen Ende saß jemand im Halbschatten, der den Eindruck eines Geschäftsmanns machte. Ein Fremder. Dan hatte das Gefühl, dass der Mann so wie er selbst die Gäste beobachtete.

Autor

Heather Graham
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