Baccara Spezial Band 8

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IN DER HITZE DER FLORIDIANISCHEN NACHT von HEATHER GRAHAM

Diese blauen Augen hinter der düsteren Maske - woher kennt sie sie? Fieberhaft überlegt Dakota, während der Mann sie als Geisel nimmt. Doch selbst, als sie mit ihm in die heißen Everglades flieht, wo Alligatoren, Schlangen und Gangster lauern, kommt sie nicht gleich auf die Antwort …

EIN HAUCH VON TÜLL UND TOD von LISA CHILDS

Ich werde dabei helfen, den Mörder meiner Schwester zu überführen! schwört sich Becca. Aber dafür muss sie mit Special Agent Jared Bell zusammenarbeiten - der noch immer nichts von den Folgen jener Blutnacht ahnt, als er sie erst zärtlich, dann leidenschaftlich tröstete …

UNVERGESSLICH - BRANDGEFÄHRLICH! von CARLA CASSIDY

Ein Plüschhund mit zerschlitzter Kehle: Bei der unmissverständlichen Drohung wird Olivia eiskalt. Ihr neuer Job als Sheriff in Lost Lagoon hat sie nicht nur unerwartet mit Deputy Daniel zusammengebracht, den sie vergessen wollte. Sondern auch ins Fadenkreuz eines Killers gerückt …


  • Erscheinungstag 23.10.2020
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729295
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Heather Graham, Lisa Childs, Carla Cassidy

BACCARA SPEZIAL BAND 8

HEATHER GRAHAM

In der Hitze der floridianischen Nacht

Undercover in einer Gangstergruppe kann FBI-Agent Nick Connolly verhindern, dass eine Geiselnahme in Florida blutig endet. Aber eine der Geiseln kennt ihn. Als die süße Dakota sie beide in Lebensgefahr bringt, weil sie um ein Haar seine Identität preisgibt, fliehen sie gemeinsam in die Everglades. Doch auch das garantiert nicht, dass sie überleben …

LISA CHILDS

Ein Hauch von Tüll und Tod

Seit sechs Jahren jagt Special Agent Jared Bell den „Braut-Schlächter“. Alle schönen, toten Bräute scheinen etwas mit Lexi Drummond, dem ersten Opfer, zu tun zu haben. Weshalb Jared sich jetzt an deren Schwester Becca wendet. Er braucht sie als Scheinverlobte, um dem Mörder eine Falle zu stellen – und erkennt zu spät, wie viel er selbst dabei zu verlieren hat.

CARLA CASSIDY

Unvergesslich – brandgefährlich!

Ungeduldig erwartet Deputy Daniel Carson die Ankunft des neuen Sheriffs von Lost Lagoon – und ist fassungslos, als eine umwerfende junge Frau sein Büro betritt. Vor fünf Jahren hat er nach einer Konferenz eine unvergessliche Nacht mit ihr verbracht! Jetzt muss er Olivia beschützen, als sie den Cold Case „Shelly Sinclair“ untersucht und den Killer aufschreckt …

1. KAPITEL

Dakota Cameron drehte sich zurück zum Fenster und fand sich konfrontiert mit dem Lauf einer glänzenden Pistole, der auf ihr Gesicht gerichtet war. Fassungslos wanderte ihr Blick von der Hand, die die Waffe hielt, über den Arm hinauf zu dem großen, breitschultrigen Mann im schwarzen Kapuzenpullover.

Sein Gesicht war unter einer Maske verborgen. Es war eine jener Gummifratzen, die man zu Halloween in jedem Laden kaufen konnte. Dakotas Gedanken überschlugen sich. Das hier war allerdings nicht Richard Nixon, auch nicht Einstein oder etwa Charlie Chaplin – diese Maske stellte einen bekannten Verbrecher aus der Vergangenheit dar. Aber welchen?

Beinahe hätte sie laut aufgelacht. Im ersten Moment jagte ihr die Maske keine Angst ein, sondern erinnerte sie an ihre Kindertage. An die wunderbaren, unbeschwerten Zeiten, in denen sie sich verkleidet und selbst so getan hatten, als seien sie eine Verbrecherbande, die in den Sümpfen ihr Unwesen trieb.

Für Dakota war es das Größte gewesen, als ihr Vater das alte Anwesen Crystal Manor geerbt hatte. Es befand sich auf der kleinen Insel Crystal Island, unweit des Rickenbacker Causeway, der Miami und South Beach verband.

Die bewegte und mitunter gewaltreiche Vergangenheit dieses Ortes hatte sie nie gestört. Im Gegenteil, als Kind hatten die alten Geschichten um Crystal Manor ihre Fantasie beflügelt und ihren Spielen Leben eingehaucht.

Mit ihren Schulkameraden war sie stundenlang im und um das Anwesen herumgestrichen, und gemeinsam hatten sie sich wilde Geschichten ausgedacht, in denen sie sich wüste Verfolgungsjagden und aufregende Gefechte lieferten.

Es bot einen gewissen Reiz, dabei nicht nur auf der Seite der Guten, sondern auch auf der Seite der Bösen zu stehen und sich als berühmte Verbrecher auszugeben, die die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten.

Kaum verwunderlich, da hier in der Vergangenheit einer der berüchtigtsten Mafiosos gelebt hatte: Anthony Green, der in den späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren die Umgebung in Atem gehalten hatte.

Allerdings war Dakotas Vater ein großer Verfechter von Gerechtigkeit, und so endeten selbst die harmlosen Kinderspiele stets damit, dass das Gute gewann: Die Cops oder FBI-Agenten siegten über die Übeltäter.

Daran musste Dakota denken, als sie sich nun mit einer Waffe im Gesicht wiederfand, und die Erinnerung ließ unwillkürlich ein Lächeln auf ihren Lippen erscheinen.

Doch dann riss der Mann die Pistole unvermittelt in die Höhe. Er gab einen Schuss ab, und das Schild über seinem Kopf, das seit jeher den Schriftzug Crystal Manor gezeigt hatte, zersplitterte in tausend Teile und regnete auf den Gehweg.

Dem Typen war es wirklich ernst.

Bis jetzt hatte Dakota geglaubt, dass es sich um einen schlechten Witz handelte. Nicht, dass sie ihren Freunden einen derartigen Streich zugetraut hätte, aber womöglich hatte jemand aus dem Team mitbekommen, dass sie für eine Woche nach Miami zurückgekehrt war, und wollte ihr einen unvergesslichen Empfang bereiten.

Andererseits wollte ihr beim besten Willen niemand einfallen, der sich einen derart schrägen Streich mit ihr erlauben würde.

„Vorwärts“, kommandierte der Mann nun mit heiserer Stimme.

All das war mit einem Mal so überwältigend und furchteinflößend, dass Dakota beinahe vergaß zu atmen. Durch das geöffnete Fenster des Kassenhäuschens starrte sie ihn an. „Wohin?“, fragte sie. „Was wollen Sie von mir?“

„Raus aus dem Pförtnerhaus, rüber zum Haupthaus. Und zwar ein bisschen fix.“

Das Pförtner- oder vielmehr Kassenhäuschen befand sich am Eingang des Geländes, direkt hinter dem hübschen, schmiedeeisernen Zaun. Es stand hier bereits seit dem Jahr 1900, als der Pionier Jimmy Crystal beschlossen hatte, sich dieses Stück Land zu eigen zu machen. Das gesamte Grundstück befand sich nur einen knappen Meter über der Wasseroberfläche, was in diesen Breitengraden durchaus ausreichte. Überschwemmungen war man gewohnt, und die Einwohner Floridas wussten schon immer jeden Zentimeter, den sie dem Sumpf und dem Meer abgerungen hatten, zu nutzen.

Jimmy Crystal hatte Korallenstein abbauen lassen und damit sein Anwesen und bescheidenes Häuschen errichtet. Was als eine Art Fischersiedlung begonnen hatte, entwickelte sich im Lauf der folgenden zehn Jahre zu einem exklusiven Ort für die Reichen und Berühmten.

Es folgte das große Herrenhaus Crystal Manor, für das man Steine und Interieur aus verfallenen europäischen Schlössern und Palästen anliefern ließ. Es wurde ein Garten angelegt, eine Auffahrt gebaut und eine Anlegestelle, die in ihrem Verlauf in das Biscayne Bay mündete.

In den Dreißigerjahren schließlich war Jimmy Crystal auf mysteriöse Weise auf See verschollen. Der gefürchtete Gangster Anthony Green hatte sich das Anwesen unter den Nagel gerissen und einige Jahre dort geherrscht – bis er in einem Kugelhagel ums Leben gekommen war in einem seiner eigenen Clubs in Miami, von bis dato „unbekannten Angreifern“.

Seither war das Anwesen wieder in Familienbesitz. Die Crystals waren zurückgekehrt, und das Haus gehörte verschiedenen Verwandten, von denen die letzte verschied, als Dakota sechs Jahre jung war.

Das war der Moment, als ihr Vater herausfand, dass jene Verstorbene namens Amelia Crystal seine Ur-Ur-Ur-Großtante gewesen war.

Und so hatte Daniel Cameron das herrschaftliche Anwesen geerbt – und die zahllosen Rechnungen, die mit der Instandhaltung des Besitzes verbunden waren.

„Los jetzt!“, warnte der bewaffnete Mann und riss damit ein abruptes Loch in Dakotas wirre Gedankenkette.

Sie erhob sich von ihrem Stuhl und war erstaunt, dass ihre Beine nicht einfach unter ihr nachgaben. „Schon gut.“ Ihr ruhiger Tonfall strafte ihre zitternden Knie Lügen. „Ich komme, aber dafür muss ich die Tür aufschließen. Und Ihnen ist sicher bewusst, dass überall auf dem Gelände Kameras angebracht sind.“

„Vergessen Sie die Kameras“, sagte er barsch.

Um mutig und gleichgültig zu wirken, hob sie die Schultern. Dann verließ sie ihren Platz am Fenster und wandte sich zur Tür. Während der wenigen Schritte ins Freie überlegte sie fieberhaft, was sie noch ausrichten konnte.

Sollte sie irgendwie versuchen, die Polizei zu verständigen?

Vielleicht war der Alarm aber auch schon ausgelöst worden. Crystal Manor war nicht die größte Touristenattraktion in der Gegend, aber immerhin so bedeutend, dass die Polizei sie auf dem Schirm hatte. Die Cops kannten die Gegend. Vom Festland aus konnte man die Insel nur über die vorgelagerte Insel Celestial Island über den Causeway erreichen. Von Celestial Island mündete der Causeway in eine Brücke bis hierher. Ansonsten blieb der Seeweg.

Wenn die Polizei bereits Bescheid wusste, würde es trotzdem eine Weile dauern, bis Hilfe eintraf.

Der Wachmann, Jose Marquez, machte für gewöhnlich seine Runde am Zaun entlang hinunter ans Wasser, um die rückwärtige Seite des Herrenhauses herum, über den Rasen an den Beeten und dem Irrgarten vorbei und schließlich zurück zum Haupteingang.

Jose hatte das Walkie-Talkie immer eingeschaltet, aber was nützte das jetzt? Mit einer Waffe im Gesicht konnte sie ihn nicht anfunken.

Unwillkürlich fragte sie sich, ob Jose etwas zugestoßen war. Immerhin war es möglich, dass der bewaffnete Eindringling ihm zuerst begegnet war … und ihn ausgeschaltet hatte.

„Was ist los? Sind Sie etwa achtzig? Machen Sie schneller!“

Diese Stimme kam ihr seltsam bekannt vor. War das ein alter Bekannter? Oder spielte ihr jemand aus der Familie einen Streich, als kleine Rache dafür, dass sie die Heimat verlassen und nach New York gezogen war?

Sie liebte ihre Heimat, und der Umzug war ihr keineswegs leichtgefallen. Aber man hatte ihr eine Rolle in einem Stück des living theatre angeboten, einer Art interaktives Theaterspiel in einem schicken alten Hotel in New York City, ein Angebot, dem sie schwer widerstehen konnte.

Außerdem hatte sie sofort die Chance auf einen Teilzeitjob bekommen, als Barkeeperin und Kellnerin in einem Irish Pub, der zur Hälfte einem Schauspielkollegen gehörte. Obendrein hatte sie für die Dauer ihres Aufenthaltes in New York eines der hart umkämpften erschwinglichen Apartments gefunden, und all diese Faktoren hatten schließlich dazu geführt, dass sie den Schritt in den Big Apple gewagt und ihr geliebtes Florida hinter sich gelassen hatte.

Lediglich für eine Woche war sie zurückgekehrt, um sich um einige organisatorische Dinge zu kümmern. Die finalen Theaterproben standen kurz bevor, und die Premiere wurde bereits heiß diskutiert.

„Los jetzt!“ Der Mann gab einen weiteren Schuss ab, und Splitter aus Korallenstein spritzten auf den Gehweg.

Dakotas Gedanken überschlugen sich. Man hörte nichts Gutes über Frauen, die sich einem bewaffneten Fremden ergeben hatten. Für gewöhnlich endete ein solches Szenario ohnehin tödlich.

Unwillkürlich streckte sie die Hand aus und schlug auf den großen Knopf an der Wand. Das schwere Gitter senkte sich ratternd über das Fenster der Verkaufsstelle. Dann wirbelte sie herum und griff nach ihrer Handtasche. Dabei fiel das Handy heraus.

In dem Augenblick, in dem sie danach greifen wollte, zerriss ein weiterer Schuss die Stille. Etwas splitterte. Der Mann hatte auf das Schloss geschossen. Schon sprang die Tür auf, und der Eindringling jagte so schnell herein, dass sie kaum imstande war, zurückzuweichen.

Mit einem einzigen Blick erfasste er den Raum, bückte sich nach ihrem Handy und schleuderte es weg. Dann war er bei ihr und packte ihr Handgelenk.

In diesem Moment bezweifelte sie, dass sie das hier überleben würde. Sie dachte an die Personen, die sich noch immer oben im Herrenhaus aufhielten. Und für einen grausamen Sekundenbruchteil stellte sie sich vor, wie sie alle enden würden – diese Menschen, die das Anwesen ebenso sehr liebten wie sie – bleich und leblos am Boden liegend, mit einer Kugel im Körper.

Da fiel die Starre von ihr ab, und mit einem überwältigend starken Überlebenswillen versuchte sie, sich von dem Mann loszureißen.

„Um Gottes willen, hören Sie auf damit“, flüsterte er ungehalten und packte ihr Handgelenk fester. „Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage. Jetzt!“

„Damit Sie mich draußen umbringen? Oder nachher?“, herrschte sie ihn an, erfüllt von neuer Kraft und buchstäblich todesmutig.

Im gewöhnlichen Leben hatte sie sich oftmals für einen Feigling gehalten, und sie fragte sich, woher dieser plötzliche Anfall von Courage kam. Vielleicht war es das pure Adrenalin in ihren Adern, das sie antrieb.

Bevor der Mann etwas erwidern konnte, ertönte hinter ihm ein Ruf.

„Barrow! Was zur Hölle geht da drinnen vor?“

„Es ist alles unter Kontrolle, Capone!“, rief der Mann zurück.

Capone?

„Die Kameras sind ausgeschaltet“, meldete der Fremde, der sich Capone nannte. Noch konnte sie ihn nicht sehen. „Und am Tor hängen ein paar hübsche Schilder: Wegen Renovierung geschlossen.“

„Gut. Ich kümmer mich um die Kassenfrau. Du kannst schon zum Haus gehen, wir kommen sofort nach.“

„Du bist langsamer als meine Großmutter“, bellte Capone. „Beeil dich mal! Dillinger und Floyd haben das Haus gesichert.“

Capone? Wie der berüchtigte Al Capone, der Miami als eine Spielwiese des Verbrechens benutzt hatte, so wie Anthony Green? Demnach war mit seinem Kumpanen John Dillinger gemeint und mit dem anderen Pretty Boy Floyd.

Der Gangster John Dillinger hatte sich in den späten Zwanzigerjahren mit einer Reihe von Bankrauben einen Namen gemacht und wurde als Erster in der Geschichte des Landes zum Staatsfeind Nummer Eins erklärt, bevor er mit nur einunddreißig Jahren vom FBI erschossen wurde.

Der wegen seines guten Aussehens als Pretty Boy Floyd getaufte Verbrecher, war zur selben Zeit ebenfalls durch eine Reihe aufsehenerregender Banküberfälle und Morde bekannt geworden.

Und Barrow – der muskelbepackte Typ, der sie noch immer mit eisernem Griff festhielt – starrte sie nun durch die Augenschlitze seiner Maske hindurch durchdringend an.

Barrow … natürlich! Die Maske sollte Clyde Barrow darstellen, den aus Dallas stammenden Raubmörder und männlicher Part des weltbekannten Verbrecherpärchens Bonnie und Clyde.

Zum ersten Mal blühte Hoffnung in Dakota auf. Diese Männer gaben sich alberne Namen und trugen Gummimasken, um ihre Identität zu verschleiern. Solange sie also davon ausgingen, dass sie niemand erkannte, war es auch nicht nötig, einen Zeugen zu erschießen.

„Mitkommen!“, befahl Barrow. Trotz der Vermummung fiel ihr Blick auf seine Augen. Sie waren von einer intensiven, blauen Farbe, beinahe marineblau. Es waren sehr außergewöhnliche Augen …

„Los jetzt!“

Gegen ihren Willen musste sie lachen. Lag es an der Nervosität, die sie so blind gegenüber der Gefahr machte? „Sagen sie das nicht immer im Film? Du kommst jetzt mit mir – wenn dir dein Leben lieb ist!“

Offenbar fand er das überhaupt nicht witzig.

„Sie kommen jetzt mit mir – wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist“, betonte er.

Was sollte sie tun? Er war etwa einen Meter neunzig groß und hatte die Schultern und die Statur eines Footballspielers.

„Na schön, aber lassen Sie mich gefälligst los!“, zischte sie entmutigt.

Sobald er ihr Handgelenk losgelassen hatte, marschierte sie in Richtung der zerstörten Tür.

Doch sie kam nicht weit.

Mit einer unglaublichen, lautlosen Geschwindigkeit holte er sie ein und legte den Arm um ihre Schultern. „Verdammt noch mal, wollen Sie da draußen gleich erschossen werden?“, fluchte er.

Mit zusammengebissenen Zähnen ließ sie sich ins Freie eskortieren. Sobald er die Lage erfasst und Entwarnung gegeben hatte, befreite sie sich von seinem Arm.

„Es reicht ja wohl, wenn Sie die Waffe auf mich richten, oder?“, fragte sie kalt.

„Los jetzt. Zum Haupthaus“, war seine Antwort.

Bald würde die Dämmerung einsetzen, doch den Plattenweg aus hübschen Steinen, der sich durch den kurz geschnittenen Rasen zum Herrenhaus schlängelte, hätte Dakota auch im Dunkeln gefunden.

Trotz ihrer Anspannung waren ihre Sinne geschärft, und sie bemerkte die angenehm laue Luft und den Geruch nach salzigem Meerwasser. Das Abendlicht malte eine zauberhafte Palette aus Pastelltönen an den Himmel. Jenseits des Herrenhauses schlugen die Wellen rauschend gegen den Anleger.

Es war ein wunderbarer Winterabend in Florida, weder zu warm noch zu kalt, und ihre Insel kam ihr mit einem Mal so herrlich und friedlich vor wie das Paradies.

Den Namen Crystal Island verdankte sie nicht etwa Jimmy Crystals Nachnamen, wie die meisten Leute annahmen. In einem seiner Tagebücher hatte Jimmy vermerkt, dass die Insel dalag wie auf einem schimmernden Meer aus Diamanten.

Und bis heute hatte sie nichts von diesem Zauber verloren.

Auch wenn Jimmy sich damals noch nicht ausmalen konnte, dass das Anwesen selbst einmal so strahlend und zauberhaft werden könnte.

Es waren Menschen wie Jimmy, Menschen mit einer Vision und einer großen Vorstellungskraft, die aus einem unnahbaren Ort ein Paradies gemacht hatten. Ebenso wie man aus dem ehemalig moskitogeplagten Sumpfgebiet die Stadt Miami erschaffen hatte.

Dakota und ihre Eltern hatten allerdings nie auf Crystal Island gewohnt. Sie waren in ihrem Haus in Coconut Grove geblieben, einem südlichen Stadtteil von Miami, der lange Zeit als Künstlerviertel galt und wo sich wunderschöne, denkmalgeschützte Gebäude befanden.

Die Verwaltung des Anwesens war aufwändig und zeitintensiv, und man hatte die Familie dazu angehalten, ein Kuratorium zu gründen und einen Treuhandfonds anzulegen. Die Ausgaben für die Instandhaltung waren schwindelerregend.

Was als einfaches Fischercamp begonnen hatte, war über viele Jahre und Generationen hinweg zu einem herrschaftlichen Anwesen geworden.

Das Haupthaus erinnerte an einen Mix aus einem italienischen Palast und einem mittelalterlichen Schloss, voll von wertvollen Fliesen und Marmorböden, verziert mit Säulen, Türmchen und Erkern.

Der Grundriss war quadratisch und umschloss einen viereckigen Innenhof. Das zweistöckige Gebäude wurde an jeder der vier Ecken mit einem Turm gekrönt, in dem sich jeweils ein Zimmer befand.

Sie näherten sich dem Haupteingang mit dem breiten Stufen. Dakota lauschte in die Stille, doch sie konnte keinen der anderen Gangster hören.

Bevor sie das Haus betraten, warf sie einen letzten Blick über die Schulter zurück, sah über den Rasen und bis zu dem nun verwaisten Pförtnerhaus und dem hohen Tor nach draußen, das von einer Mauer aus Korallenstein eingefasst war.

Um das Tor hatten die Verbrecher eine Kette gelegt, sodass niemand mehr eintreten konnte. Kein verirrter Tourist, der zu dieser Zeit noch auf die Insel kam, würde es wagen, die Mauer zu übersteigen – auch wenn diese wirklich kein unüberwindbares Hindernis darstellte. Zum Glück, denn sobald Hilfe eintraf, würde es für die Cops ein Leichtes sein, das Grundstück zu stürmen.

Noch einmal musterte sie ihren maskierten Entführer. Diese Augen … irgendwie kamen ihr diese Augen bekannt vor. Aber hätte sie ihn nicht wiedererkannt, wenn es sich um jemanden handelte, mit dem sie aufgewachsen war?

Diese Augen waren zu besonders und ihre Farbe zu intensiv, als dass sie darin keinen alten Freund erkannt hätte. Dieses leuchtende, fast magische Blau …

Um Himmels willen, was dachte sie da eigentlich! Dieser Kerl war ein Verbrecher, kein einfacher Kerl. Und er war auch sonst niemand, der ihr nahestand – oder der sie je bei ihrem Spitznamen Kody nennen würde. Und sie würde den Teufel tun, daran etwas zu ändern!

2. KAPITEL

Da wurde die schwere Doppeltür vor ihnen geöffnet, und ein weiterer Mann in Maske kam zum Vorschein.

Bevor sie eintrat, musterte Kody gewohnheitsmäßig die wunderschönen Holztüren. Ins Innere der Türen waren Glaselemente eingelassen, die stilisierte Ananasfrüchte zeigten – ein Symbol des Willkommens.

Im Augenblick war das ziemlich ironisch, dachte Kody finster.

„Bring sie rein!“, befahl der zweite Mann unwirsch.

„Gehen Sie schon“, wies Barrow sie daraufhin an, doch sein Tonfall hatte etwas an Schärfe verloren.

Kody betrat die Eingangshalle. Dieser Bereich hatte das gesamte Haus gebildet, als Jimmy zu bauen begonnen hatte. Damals bot die Insel außer Mangrovenbäumen und dem Summen der Moskitos nicht viel mehr – schon gar keine Annehmlichkeiten.

Inzwischen hatte sich alles verändert. Neben Star Island und Hibiscus Island war das hier begehrter Baugrund, und viele reiche Investoren hätte ein Vermögen gegeben, um sich hier niederzulassen.

Zum Glück durfte an diesem historischen Anwesen nichts mehr verändert werden. Der Boden bestand noch immer aus Korallenstein, und auch an den Säulen und den Wandverkleidungen aus Elliot-Kiefer durfte nicht gerüttelt werden.

Nach Jimmy Crystal hatte es einige luxuriöse Umbauten gegeben. Die Rückwand des ursprünglichen Hauses war eingerissen und durch große Panoramaglasscheiben ersetzt worden, die die unverstellte Sicht in den Innenhof freigaben. Zusätzliche Säulen waren eingefügt worden.

Kodys Blick glitt durch das Foyer. Es enthielt kaum Möbelstücke, bis auf ein antikes Schaukelpferd von 1890 zur rechten Seite der Tür und eine elegante, altertümliche Wahrsagerbox zur linken. Eine jener Maschinen, in die man eine Münze warf und von einer Wahrsagerpuppe einen Zettel erhielt, auf dem das Schicksal geschrieben stand.

Zwei majestätische Treppenaufgänge erhoben sich zu beiden Seiten des Foyers – und dazwischen stand ein maskierter Eindringling.

Mit einem Anflug von Panik flog Kodys Blick die Stufen hinauf. Wo waren die anderen?

Als sie das Haus vorhin verlassen hatte, um das Pförtnerhäuschen für den Abend abzuschließen, hatten sich noch vier oder fünf Gäste in dem Anwesen befunden. Außerdem waren noch fünf Angestellte zugegen gewesen: Stacey Carlson, der Gutsverwalter, Nan Masters, seine Assistentin, und die drei Touristenführer Vince Jenkins, Brandi Johnson und Betsy Rodriguez.

Der Hausmeister Manny Diaz befand sich heute nicht auf der Insel, aber der Wachmann musste noch irgendwo da draußen sein.

„Das ist also Miss Cameron?“, fragte der Mann an der Treppe.

„Ja, Dillinger. Das ist Miss Cameron“, bestätigte der Mann, der sich Barrow nannte.

Kody fasste den Maskierten schärfer ins Auge. Sie hatte sich nicht getäuscht: Die Maske war dem Gesicht des vor vielen Jahren verstorbenen Killers John Dillinger nachempfunden.

„So so so. Sehr schön. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Ehre es für mich ist, Sie kennenzulernen, Miss Cameron!“, sagte Dillinger. „Stellen Sie sich das mal vor! Sobald ich hörte, dass Sie ein letztes Mal auf Stippvisite herkommen würden, bevor es auf die große Reise in den Big Apple geht, wusste ich: Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln.“

Es war unheimlich, wie er über sie und ihre Familie redete. Als wüsste er eine ganze Menge über sie.

„Wenn Sie glauben, dass ich Lösegeld wert bin, dann täuschen Sie sich“, entgegnete Kody aufrichtig verwirrt. „Wir verwalten zwar das Haus, aber der Besitz ist nicht gewinnbringend. Wir teilen uns die Kosten zur Erhaltung mit dem Staat Florida. Das Anwesen existiert bloß mithilfe von Zuschüssen und den Eintrittsgeldern, die die Touristen einbringen.“

Sie zögerte. „Meine Familie ist nicht reich. Wir kümmern uns bloß um dieses alte Haus, weil wir es lieben.“

„Aber sicher. Daddy ist Archäologe, und Mommy begleitet ihn auf seinen Reisen. Und in diesem Moment sind sie auf dem Heimweg von Südamerika. Sie wollen rechtzeitig zu Hause sein, um ihrem kleinen Mädchen beim Umzug in die große Stadt beizustehen. Richtig! Und ich habe den großen Preis also direkt vor der Nase, nicht wahr?“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, erwiderte Kody. „Ich wünschte, jemand würde für mich eine Million Dollar zahlen, aber da gibt es niemanden, der das könnte. Ich bin niemandes Preis. Ich bin Barkeeperin in einem Irish Pub, weil ich vom Schauspielern noch nicht leben kann.“

„Ach, Schätzchen“, winkte Dillinger ab, „es ist mir doch egal, dass Sie eine schlechte Schauspielerin sind.“

„Hey! Ich habe nicht gesagt, dass ich eine schlechte Schauspielerin bin“, protestierte sie.

Dann fiel ihr auf, wie verrückt sie sich benahm. Wen kümmerte es, ob sie eine schlechte Schauspielerin war, wenn sie diesen Tag nicht überlebte? Himmel, dieser Typ machte sie wahnsinnig mit seiner Art! Die gesamte Situation machte sie langsam wahnsinnig.

Dillinger fegte ihren Einwand mit einer Handbewegung beiseite. „Spielt keine Rolle. Sie werden uns zu Anthony Greens Geheimversteck führen.“

Kody verstummte. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Natürlich hatte jeder schon einmal von Anthony Greens Geheimversteck gehört.

Der Sage nach hatte Green die Bank of the Pioneers ausgeraubt. Diese Bank bestand schon lange nicht mehr, verfügte zur damaligen Zeit aber über enorme Schätze.

Es hieß, Green hätte bei dem Überfall Diamanten, Juwelen und Gold im Wert von mehreren Millionen Dollar aus den Bankschließfächern entwendet.

Doch Anthony Green war in einem Kugelhagel umgekommen, ohne auch nur ein Wort über den Schatz zu verlieren. Das angebliche Geheimversteck wurde niemals gefunden.

Man vermutete, Green habe den Schatz lange vor seinem Tod an einen unbekannten Ort in den Everglades gebracht, in irgendeine seiner zahlreichen Hütten in den Sümpfen, womöglich einige Meilen von Crystal Island entfernt.

Mit der Zeit hatte ein Gerücht das nächste gejagt. Einige glaubten fest daran, der südamerikanische Drogenbaron Guillermo Salazar hätte den Schatz gefunden. Vor etwa zehn Jahren kam er auf mysteriöse Weise zu Geld und spülte damit eine frische Welle Heroin wie Meerwasser in die Gegend um Biscayne Bay. Lange konnte er seinen Reichtum allerdings nicht genießen, da er von einem rivalisierenden Drogenkartell niedergeschossen wurde.

Aber wer konnte schon mit Gewissheit sagen, was stimmte? Das Einzige, was sicher war, war, dass es sich um einen beträchtlichen Schatz gehandelt hatte.

Kody war sofort bereit zu glauben, dass Salazar in Drogengeschäfte verwickelt gewesen war. Die Küstenwache in Florida hatte schließlich alle Hände voll damit zu tun, jeden Tag aufs Neue den regen Drogenimport zu stoppen – oder zumindest einzudämmen.

Aber sie bezweifelte, dass Salazar die Diebesbeute wirklich gefunden hatte. Denn es hieß, er habe das Versteck hier auf dem Anwesen entdeckt, und das hielt sie für unmöglich.

Vielmehr konnte sie sich vorstellen, dass der Schatz für immer und ewig in den Everglades untergegangen war. Die Sümpfe waren hier so undurchsichtig und unüberwindlich wie ein Labyrinth, und die wilden Tiere taten ihr Übriges, um jeden Schatzsucher abzuschrecken.

Mit einem Mal wurde ihr kalt. Ein Schauer rann über ihren Rücken.

Wenn sie diejenige war, die das vermeintliche Geheimversteck finden sollte …

Dann waren sie alle tot. Denn hier im Haus gab es keinen Schatz.

„Wo sind meine Kollegen? Und die Besucher?“, verlangte sie zu wissen.

„In Sicherheit“, kam die knappe Antwort von Dillinger.

„Wo – in Sicherheit?“

Niemand antwortete. „Wo?“, wiederholte sie lauter.

Es war der Mann hinter ihr, Barrow, der schließlich reagierte. „Keinem von ihnen ist etwas geschehen, Miss Cameron.“ Er wandte sich an seinen Partner. „Dillinger, sie muss wissen, dass es den anderen gut geht.“

„Ich versichere Ihnen“, bestätigte Dillinger, „dass es ihnen gut geht. Sie befinden sich im Musikzimmer.“

Der Raum, von dem er sprach, nahm beinahe den gesamten linksseitigen Teil des Untergeschosses ein. Dort war tatsächlich ausreichend Platz für eine Gruppe von Menschen. Es sei denn …

War es möglich, dass irgendjemand aus der Gruppe bereits einen Hilferuf abgesetzt hatte? Es mussten doch mehrere ihre Handys dabei haben …

„Ich will sie sehen“, verlangte sie. „Ich muss mich vergewissern, dass es allen gut geht.“

„Hören Sie mal, Fräulein, das ist hier kein Wunschkonzert. Sie werden etwas für uns tun müssen, basta.“ Dillingers Stimme verriet, dass er ungeduldig wurde.

„Ich weiß nicht, wo das Geheimversteck ist. Wenn ich es wüsste, hätte es die Welt schon erfahren. Und wenn Sie so viel recherchiert haben, sollte Ihnen auch bewusst sein, dass das Diebesgut ohnehin nicht hier sein kann. Nach neuesten Erkenntnissen der Forschung könnte es höchstens irgendwo da draußen in den Sümpfen sein.“

„Sie ist ganz gewiss nicht reich, Dillinger“, mischte sich Barrow ins Gespräch ein. „Es stimmt, was sie sagt: Sie hat einen Teilzeitjob angenommen, weil sie sich mit drittklassigen Schauspielrollen herumschlägt. Sie würde wohl kaum jeden Tag in einem alten Pub Bier ausschenken, wenn sie einen Schatz entdeckt hätte.“

Dillinger schien verärgert zu sein. Es war erstaunlich, wie viel man allein von seiner Körpersprache ablesen konnte, ohne sein Gesicht zu sehen.

„Um deine Meinung hab ich nicht gebeten, Barrow“, sagte er. „Sie ist die Einzige, die den Schatz finden kann. Ich habe jeden verdammten Zeitungsartikel über sie und dieses Haus gelesen. Sie kennt es in- und auswendig, seit sie ein Kind war. Sie hat alles über Anthony Green und Jimmy Crystal und Miamis wilde Vergangenheit gelesen. Sie weiß, welches Zimmer wann angebaut und in welchem Jahr es restauriert wurde. Wenn jemand in der Lage ist, das Versteck zu finden, dann sie. Und genau das wird sie für uns tun.“

„Das ist verrückt“, widersprach Kody. „Noch können Sie fliehen. Niemand hat Ihre Gesichter gesehen. Bald wird es hier von Cops nur so wimmeln. Vielleicht steht gerade schon jemand unten am Tor und wundert sich, warum es abgeschlossen ist. Und wahrscheinlich hat schon längst jemand einen Notruf abgesetzt.“

Auch wenn sie sein Gesicht nicht sehen konnte, spürte sie, wie er lächelte. „Notruf? Womit denn, meine Liebe? Die Handys haben wir schließlich als Erstes konfisziert. Und Ihr braver Wachmann? Der ruht sich aus. Wird für eine Weile Kopfschmerzen haben.“

Dillinger schüttelte den Kopf. „Sehen Sie es doch ein, Lady. Barrow und ich passen auf Sie auf. Floyd ist bei Ihren Freunden, Capone wird ihm gleich dabei Gesellschaft leisten, und die Außenanlage wird von Baby Face Nelson und Machine Gun Kelly bewacht. Wir stehen alle in Kontakt. Und der gute alte Dutch Schultz behält die Gesamtübersicht. Wir sind also bestens versorgt und werden noch eine hübsche Weile miteinander verbringen. Genug Zeit für Sie, das Geheimversteck zu finden.“

Dutch Schultz. Es gab also noch einen weiteren Verbrecher, und dieser hatte sich nach dem Bandenchef eines Alkoholschmuggelrings während der Prohibition in Amerika von 1920 bis 1933 benannt.

Immerhin hatten diese Kerle ihre Hausaufgaben gemacht. Und sie bewiesen ein gewisses Maß an Humor – auch wenn Kody gerade alles andere als nach Lachen zumute war.

„Ich werde überhaupt nichts machen, solange ich mich nicht davon überzeugt habe, dass es den anderen gut geht. Und dass Ihre Leute Jose nicht den Schädel eingeschlagen haben.“

Selbst dann würde sie dieser Bande nicht helfen.

Und sie bezweifelte, dass sie es überhaupt konnte. Der Schatz galt seit den Dreißigerjahren als verschollen.

Ironischerweise hatte sich Anthony Green die sagenumwobene Beute damals auf ganz ähnliche Weise angeeignet. Gemeinsam mit sechs weiteren bewaffneten und maskierten Männern war er in die Bank gestürmt. Es hatte nur wenige Minuten gedauert, dann waren sie unerkannt entkommen.

Die Polizei hatte Green im Verdacht gehabt, doch sie konnte ihm nichts nachweisen. Man behielt ihn im Auge und war noch immer auf seiner Spur, als er in Miami Beach niedergeschossen wurde.

Irgendwie musste Kody genug Autorität ausgestrahlt haben, denn zu ihrem Erstaunen sagte Dillinger zu Barrow: „Na schön. Bring sie rüber.“

Daraufhin wandte er sich um und ging voraus in Richtung Musikzimmer.

Das Musikzimmer war ein großer, sehr geschmackvoll eingerichteter Raum mit hübschen Zierleisten, einem dicken, burgunderfarbenen Teppich und alten Gemälden an den Wänden, die Szenen aus der Seefahrt und dem maritimen Leben darstellten.

Es gab zierliche kleine Sofas, gedrechselte Stühle und einen mächtigen Kamin aus Marmor für die seltenen Tage, an denen es hier draußen so nahe dem Wasser einmal kalt wurde.

Im rückwärtigen Teil des Raums befand sich ein Podium. Dort standen ein Klavier, eine Harfe und einige Notenpulte, und das Podest bot Raum für mindestens sieben Musiker.

Kody liebte jedes Möbelstück und jedes Instrument in diesem Zimmer, doch in diesem Moment hatte sie bloß Augen für die Personen, die sich in der Mitte des Raums auf dem Fußboden zusammengedrängt hatten.

Ihr Blick huschte über die Gesichter, bis sie Stacey Carlson entdeckte, den Verwalter von Crystal Manor. Der Mann war um die sechzig und hatte ergrautes Haar, trug altmodische Koteletten und einen gepflegten Schnurr- und Kinnbart.

Kody kannte ihn seit Jahren als einen sehr würdevollen älteren Herren. Für sie hatte er immer ein Lächeln übrig, und auch wenn er nicht immer ihren Humor teilte, so hatte er doch einen messerscharfen Verstand.

Nan Masters hatte sich neben ihm zusammengekauert. Die beiden verband eine enge, wenn auch nur platonische Beziehung. Nan teilte Staceys Heimatverbundenheit, seine Liebe zu Miami, dem Meer und dem Strand.

Man sah es der schüchternen Rothaarigen nicht an, aber für die Heimat setzte sie sich stets vehement ein und unterstützte Stacey, wo sie nur konnte. Jetzt hatte sich das zierliche Mädchen allerdings angstvoll eingerollt und die Arme schützend um ihre Beine geschlungen, als wollte sie sich am liebsten unsichtbar machen.

Vince Jenkins dagegen saß aufrecht im Schneidersitz auf einem der persischen Läufer und wirkte mehr als wütend. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Kody einen Bluterguss auf seiner Wange, der sich bereits jetzt zu verfärben begann. Offenbar hatte er sich den Eindringlingen widersetzt.

Neben ihm saßen Betsy Rodriguez und Brandi Johnson dicht beieinander. Was die Statur anging, war Betsy die Kleinere der beiden, doch sie war weitaus extrovertierter und sarkastischer als Brandi. Im Augenblick hatte sie den Arm um Brandi gelegt. Die großgewachsene Blondine mit den blauen Augen war ein echter Hingucker, aber ihre Schüchternheit stand ihr oft im Weg, und gerade war sie bleich vor Angst.

Dann entdeckte Kody den Wachmann Jose. Man hatte ihn auf eines der Sofas gelegt. Er hatte eine Platzwunde an der Stirn, doch zum Glück war der dünne Blutstrom bereits versiegt, und Kody konnte sehen, dass sich sein Brustkorb regelmäßig hob und senkte.

Etwas abseits der Angestellten hatte sich die Gruppe der Besucher zusammengedrängt. Kody konnte sich nicht an alle Namen erinnern, doch sie erkannte das Pärchen wieder, Victor und Melissa Arden.

Die beiden befanden sich in den Flitterwochen, und ironischerweise kamen sie direkt aus Texas, wo sie die Gräber des berühmten Verbrecherpärchens Bonny Parker und Clyde Barrow besucht hatten. Begeistert hatten sie Kody davon erzählt, wie faszinierend sie die Biografien damaliger Gangster fanden – und dass Bonny und Clyde trotz ihrer wahnsinnigen Liebe auf verschiedenen Friedhöfen beigesetzt worden waren.

Aus diesem Grund hatte sich Kody auch ihre Namen behalten, während ihr die der anderen Gruppenteilnehmer nicht mehr einfallen wollten: einer jungen Frau aus Indiana, eines älteren Mannes und eines weiteren Mannes um die Vierzig.

Keiner der Besucher sagte ein Wort. Tatsächlich wagten sie kaum zu atmen, und Kody konnte verstehen, wie furchteinflößend die Pistolen auf sie wirken mussten – vor allem für diejenigen, die nicht aus Florida stammten. Im schießwütigen Sonnenstaat gab es reichlich Gelegenheit, Waffen aus der Nähe zu betrachten.

„Kody!“ Stacey hatte den Kopf gehoben. Er klang mehr als erleichtert, und erst jetzt wurde Kody bewusst, dass sich ihre Freunde womöglich ebenso große Sorgen um sie gemacht hatten wie umgekehrt.

Mit einem Mal flammte die Wut in ihr auf. Sie wandte sich an Dillinger. „Wehe, Sie oder Ihre Bande krümmen ihnen auch nur ein Haar!“

„Ein Haar krümmen?“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich will doch niemandem wehtun. Okay, na schön, eigentlich ist es mir ziemlich egal. Aber unser Barrow hier ist ein bisschen zartbesaitet und kann kein Blut sehen. Mein Freund Capone dagegen ist ziemlich wild. Ehrlich, tollwütig trifft am besten auf ihn zu. Der würde erst schießen und dann Fragen stellen. Also, ich mache Ihnen einen Vorschlag.“

Er hielt inne. Seine Augen musterten Kody durch die Maskenschlitze von Kopf bis Fuß. „Sie werden herausfinden, was ich wissen will. Dafür werden Sie hoch in die Bibliothek gehen. Sie werden jeden verfügbaren Zeitungsausschnitt, jedes Buch und jede Landkarte studieren, bis Sie das Versteck gefunden haben. Ihr Leben wird davon abhängen.“

„Und wenn ich nichts finden kann?“, fragte sie. „Bisher ist es noch niemandem gelungen, den Schatz zu finden! Und das seit über achtzig Jahren!“

„Dann werden Sie sich ein bisschen anstrengen müssen“, erwiderte Dillinger gleichmütig.

„Sie werden uns suchen!“, warf Betsy trotzig ein. „Das ist doch total verrückt! Sie sind verrückt! Die Zentrale des Sondereinsatzkommandos der Polizei ist nur ein paar Meilen von hier entfernt. Irgendjemand wird …“

„Sie sollten lieber hoffen, dass niemand kommt“, unterbrach Dillinger sie kalt. Er machte ein paar Schritte vorwärts und ging vor Betsy in die Hocke. „Denn erst, wenn ihr offiziell zu Geiseln werdet, kann es für Sie alle sehr unangenehm werden. Glauben Sie im Ernst, dem Sondereinsatzkommando würde Ihr Leben so sehr am Herzen liegen?“

Er schüttelte den Kopf, und es wirkte beinahe traurig. „Die machen auch nur ihren Job. Sie werden dafür bezahlt, Sie irgendwie hier rauszuholen. Aber um ihnen erst einmal zu beweisen, dass es uns wirklich ernst ist, müssen wir jemanden töten und ihnen vor die Füße werfen. Und drei Mal dürfen Sie raten: Am liebsten fangen wir mit denen an, die ihren Mund nicht halten können!“

Er streckte die Hand nach Betsy aus.

Das war alles, das nötig war, um Kody rot sehen zu lassen. Sie hielt sich nicht für besonders mutig, aber in diesem Augenblick handelte sie einfach aus einem Impuls heraus: Sie wollte ihre Freundin schützen.

Mit ihrem gesamten Körpergewicht warf sie sich gegen Dillinger und riss ihn mit sich zu Boden.

Doch Dillinger war stark. Sehr stark. Und schnell.

Sofort war er wieder auf den Füßen, packte Kody und hielt sie auf Armlänge von sich. „Du kleine verdammte Schlampe“, zischte er, ballte die Hand zur Faust und holte aus.

Doch der vernichtende Schlag in ihr Gesicht kam nicht.

Barrow war schneller. Mit dem Tempo einer Raubkatze fuhr er zwischen Dillinger und Kody und trennte sie mit festem Griff.

„Hör auf, Dillinger. Die Geiseln werden nicht verletzt. Vor allem nicht diese. Wir brauchen sie, Dillinger. Wir brauchen sie!“

„Schlampe! Die hat doch angefangen. Sie hat mich angegriffen.“

„Wir brauchen sie!“

Die Geiseln waren aus Furcht näher zusammengerückt und wollten zurückweichen, doch Capone hielt sie davon ab und schlug jemanden mit dem Griff seiner Pistole.

Barrow zog seine Waffe, richtete sie zur Decke und gab einen Schuss ab.

Der Lärm war ohrenbetäubend, und der Putz regnete auf die erschrockene Gruppe hinab, die schützend die Arme über die Köpfe hielt.

Dann breitete sich Stille über den Raum.

„Bringen wir sie rauf in die Bibliothek. Jetzt, verdammt noch mal. Deswegen sind wir doch hier.“ Barrows Stimme duldete keinen Widerspruch. „Ich bin wegen dem verdammten Geld hier – nicht, um Leichen zu zählen.“

Seine Hand legte sich mit festem Griff um Kodys Oberarm.

Dillinger starrte ihn an.

Ging es hier um eine Machtdemonstration? fragte sich Kody. Waren sich die Verbrecher uneins? Dillinger schien der Anführer zu sein, doch dann hatte Barrow sich eingemischt. Und er hatte sie davor bewahrt, die Nase gebrochen zu bekommen. Oder den Kiefer. Oder Schlimmeres.

Zumindest schienen ihm Menschenleben mehr wert zu sein als seinen Kumpanen. Gegen ihren Willen empfand sie in diesem Moment eine gewisse Sympathie für ihn.

Mehr noch, sie fühlte sich zu ihm hingezogen.

Oh, ist das krank! dachte sie entsetzt. Er war ein Verbrecher, vielleicht sogar ein Mörder.

Trotzdem schien er nicht so blutdürstig zu sein wie Dillinger.

Endlich ließ die Spannung zwischen den beiden nach. Dillinger ging an ihnen vorbei und in Richtung Treppe. Barrow folgte ihm, die Hand noch immer schraubstockartig um ihren Arm gelegt. Doch sie hatte das Gefühl, dass er nicht so fest zudrückte, wie er es vermocht hätte.

Doch noch bevor sie das Treppenhaus erreichten, ertönte ein lauter Ruf. „Hey!“

Kody drehte den Kopf. Sie sah Capone, der dicht neben Betsy Rodriguez stand. Mit dem Griff der Waffe fuhr er über ihr Haar. „Sie sollten lieber aufpassen, Dakota Cameron. Alles hängt jetzt von Ihnen ab.“

Sie wollte sich losreißen, doch Barrows Griff wurde fester. „Bringen Sie ihn nicht auf dumme Ideen“, raunte er.

Doch sie konnte sich nicht beherrschen. „Sie wollen doch etwas von mir, oder? Dann lasst gefälligst meine Freunde in Ruhe!“

Zu ihrem größten Erstaunen begann Dillinger daraufhin zu lachen. „Wir haben eine kleine Raubkatze gefangen, wie’s aussieht. Komm schon, Capone. Wir bringen die Lady in ihr Turmzimmer. Lass ihre Freundin in Ruhe.“

„Wir holen uns das Geld und verlassen das Land so schnell wie möglich“, fügte Barrow hinzu. „Wenn du jetzt unsere Geiseln beschädigst, sind sie wertlos.“

„Miss Cameron.“ Dillinger beschrieb eine einladende Geste mit dem Arm und verbeugte sich leicht. „Meine Männer werden sich wie echte Gentlemen benehmen, wenn sich jeder an die Regeln hält. Haben wir uns verstanden?“

Bildete sie sich das ein, oder hatte Barrow ihren Arm gedrückt? „Sagen Sie ihnen, sie sollen sich ruhig verhalten, und niemandem wird etwas geschehen“, forderte er sie auf.

Erneut fing sie seinen Blick. Diese Farbe! So tief, dunkelblau, intensiv leuchtend …

Müsste sie ihn nicht erkennen, wenn sie wirklich schon einmal in diese Augen gesehen hatte?

Sie wusste es nicht. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihm vertrauen konnte. Und dass sie sich schon einmal in diesen Augen verloren hatte.

Sicher war es bloß das trügerische Gefühl, das die Angst in ihr hervorbrachte.

Ein Zittern lief durch ihren Körper.

Er konnte kein Blut sehen, das hatte Dillinger über ihn gesagt.

Vielleicht war er ein Verbrecher, ein Betrüger – aber wollte kein Killer sein. Und vielleicht … vielleicht wollte er wirklich alle am Leben halten.

„Hört mal“, rief sie in Richtung ihrer Freunde. „Ich kenne dieses Haus. Ihr könnt euch auf mich verlassen. Bitte bleibt einfach cool. Ich schaffe das schon. Ich weiß, dass ich es schaffe.“

Die Gesichter, die ihr zugewandt waren, zeigten neue Hoffnung.

„Sie brauchen Wasser“, sagte sie zu Barrow. „Wenn Sie durch das Musikzimmer und das Esszimmer gehen, kommen Sie in die Küche. Im unteren Schrank bewahren wir Wasser für Besucher auf. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie ihnen ein paar Flaschen geben. Es wird mir helfen, mich zu konzentrieren.“

Es war Dillinger, der ihr antwortete.

„Sicher“, sagte er. „Sie werden das Rätsel lösen – und wir werden die nettesten Burschen sein, die Ihnen je begegnet sind!“

3. KAPITEL

Nick Connolly – für die Mitglieder der Coconut Grove Gang unter dem Namen Barrow bekannt – versuchte, sein Bestes zu geben.

Mit allen Mitteln.

Doch das war gar nicht leicht.

Für diese Gruppe von Dieben, Drogendealern und Mördern war er Clyde Barrow, denn das Misstrauen unter Verbrechern war groß, und selbst nach Wochen hatte keiner dem anderen seinen wahren Namen verraten.

Für gewöhnlich machte es ihm nichts aus, als verdeckter Ermittler zu arbeiten. Er konnte sich sogar bis zu einem gewissen Grad vor den Gräueltaten verschließen, die er zu sehen bekam. Konnte Drogenopfer und Prostitution ausblenden, wenn es nötig war, weil er wusste, dass seine Arbeit dazu beitrug, die Welt ein kleines bisschen sicherer zu machen.

Und ein paar wirklich böse Typen aus dem Verkehr zu ziehen.

Seit er sich vor drei Wochen in die Coconut Grove Gruppe eingeschleust hatte, war er ständig in Alarmbereitschaft gewesen. Es war, als würde man am Rand des Abgrunds balancieren – gemeinsam mit einer Bande Wahnsinniger, die jederzeit bereit waren, ihm den finalen Schubs zu geben.

Trotzdem war er zuversichtlich gewesen.

Dieser Coup bot ihm die Gelegenheit, die gesamte Gang auf einmal hochzunehmen. Und sollte es ihm nicht gelingen, alle zusammen von der Küstenwache in ihrem Fluchtboot aufgreifen zu lassen, so konnte er vielleicht wenigstens einen nach dem anderen festnehmen.

Jeder Einzelne der Bande – Dillinger, Capone, Floyd, Nelson, Kelly und Schultz – musste sich für Mord oder einen bewaffneten Überfall verantworten. Sie alle hatten schon einmal im Gefängnis gesessen. Dillinger war erst vor Kurzem entlassen worden, und offenbar hatte er beschlossen, seine kriminellen Machenschaften bloß zu verlegen – von New York nach Miami.

Es war Capone gewesen, dem Nick seine erfundene Verbrecherlaufbahn aufgetischt hatte. Und Capone hatte ihm geglaubt. Sie hatten sich in einer alten Taucher-Bar in Coconut Grove getroffen, wo es Nick gelungen war, Capone ins Vertrauen zu ziehen.

Für Capone war er Ted Johnson – ein vorbestrafter Verbrecher, der einige Jahre im Leavenworth Gefängnis eingesessen hatte.

Ted Johnson war Nicks Pseudonym für Südflorida. Es hatte tatsächlich ein Ted Johnson existiert, allerdings war dieser in Haft ums Leben gekommen. Eine tödliche Verletzung mit einem Messer.

Aber niemand wusste davon. Niemand außer ein paar eingeweihten FBI-Agenten, der Gefängniskrankenschwester und dem Leiter der Anstalt. Und das war gut so, denn für Nick war die Aufrechterhaltung seiner Story überlebenswichtig.

Keiner der Männer – auch nicht Dillinger – ahnte, dass er über jeden von ihnen die komplette Polizeiakte gelesen und ihren Hintergrund durchleuchtet hatte.

Nick musste den Schein aufrechterhalten, so tun, als ob er nichts über sie wusste. Ihre Anonymität war ihnen heilig. Das Leben als verdeckter Ermittler konnte manchmal ziemlich an den Nerven zehren.

Eigentlich hätte heute sein letzter Tag sein sollen. Er hätte Florida verlassen und wäre nach New York zurückgekehrt.

Nicht, dass er etwas dagegen hatte, den Winter im warmen Florida zu verbringen. Aber langsam begann er die Männer zu hassen, mit denen er sich hier einlassen musste. Und das war nicht gut. Solange man als verdeckter Ermittler aktiv war, musste man seine Emotionen unter Kontrolle halten.

Sogar mitunter Sympathie vortäuschen.

Immerhin diente all das einem wichtigen, übergeordneten Ziel: Die Welt von ein paar gefährlichen Verbrechern zu befreien.

Ursprünglich hätte Nick diese Aufgabe heute zu Ende bringen können.

Doch dann hatte sich plötzlich alles verändert.

Noch bis gestern hatte Nick daran geglaubt, dass sein hübscher Plan aufgehen würde. Der Plan, den er mit seinen Kollegen aus New York – allen voran Craig Frasier – ausgetüftelt hatte. Gemeinsam hatten sie Dillingers blutige Spur aus Drogen und Morden von New York bis nach Florida verfolgt.

Die Falle war ausgelegt, sie musste bloß noch zuschnappen.

Wenn Dillinger sich nur an sein ursprüngliches Vorhaben gehalten hätte.

Erst heute Morgen hatte Nick erfahren, was der skrupellose Verbrecher zusätzlich im Alleingang getan hatte. Ohne die Hilfe, das Wissen oder die Zustimmung seiner Kumpanen hatte sich Dillinger eine Art Zusatzversicherung besorgt. Er hatte einen Jungen entführt, kurz bevor die Gruppe Crystal Manor eingenommen hatte.

Nicht irgendeinen Jungen.

Es war der Sohn von Holden Burke, dem Bürgermeister von South Beach.

Nicht, dass das für Nick eine Rolle gespielt hätte. Für ihn war es ganz gleich, ob es das Kind reicher, berühmter oder einflussreicher Eltern war. Für ihn zählte jedes Leben gleich viel.

Als Dillinger damit herausrückte, war die Aktion bereits angelaufen. Es gab kein Zurück mehr. Dillinger versicherte ihnen, dass der Junge am Leben und in Sicherheit war, wollte allerdings nicht verraten, wo genau er sich befand.

Je mehr davon wussten, desto größer die Gefahr, dass sich jemand verplapperte.

Der kleine Adrian Burke sollte ihre Fahrkarte in die Freiheit werden, falls bei dem Überfall irgendetwas schiefging.

Und Kinder waren immer ein gutes Druckmittel gegenüber der Polizei.

Das war das erste Problem.

Das zweite war Dakota Cameron.

Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Nick sie kannte. Aber sie waren sich schon einmal über den Weg gelaufen, nicht hier, sondern in New York City, und diese Begegnung hatte er nie vergessen.

Damals hatte er sich gewünscht, er könnte sie wiedersehen.

Und jetzt war sie hier. Im Kassenhäuschen einer Touristenattraktion in Florida.

Dass ihr zweites Treffen unter diesen Umständen stattfinden würde, hätte er nie im Leben gedacht.

Auch nicht, dass Dillinger seinen Plan auf einer vagen Vermutung aufgebaut hatte.

Der Wahnsinnige wollte Dakota entführen und sie zwingen, einen Schatz zu finden, der vermutlich gar nicht mehr existierte?

Das passte nicht zu ihm. Dillinger organisierte Drogenkontakte nach Südamerika, verhandelte eiskalt mit Zuhältern, erledigte auch selbst die Drecksarbeit, wenn es darauf ankam.

Aber einem alten, sagenumwobenen Schatz nachjagen …

Das hatte Nick nicht kommen sehen.

Und jetzt war er hier, in Gesellschaft jener jungen, hübschen, dunkelhaarigen Frau mit den wunderschönen Augen, der er in Finnegan’s Pub am Broadway in New York begegnet war.

Nur wegen seines Kollegen Craig Frasier war Nick in der alten Traditionskneipe am Broadway gewesen – ein Ort, an den er sich sonst kaum verirrt hätte. Craig hatte kürzlich die Liebe seines Lebens gefunden. Seine Freundin Kieran Finnegan war Teilhaberin der hundertfünfzig Jahre alten Kneipe, und gemeinsam mit ihren Brüdern hielt sie den Laden sehr erfolgreich am Laufen.

An jenem Abend hatten sich Nicks und Kodys Blicke ineinander verfangen – und waren ein bisschen länger haften geblieben, als es bei Fremden üblich gewesen wäre.

Der Lärm der überfüllten Kneipe um sie herum schien für eine Sekunde zu verstummen.

Spontane Anziehungskraft? Von seiner Seite aus definitiv. Und er hätte schwören können, dass sie in diesem Moment dasselbe empfand.

Dann gesellte sich Craigs neue Freundin zu ihnen, und Kody hatte eine Entschuldigung gemurmelt, weil sie mit Nick zusammengestoßen war. „Das ist Kody Cameron“, hatte Kieran erklärt. „Sie arbeitet mit meinem Bruder bei einem Stück für das living theatre mit. Hört sich cool an, nicht? Und sie jobbt hier, bis sie sich in New York eingelebt hat.“

„Was ist living theatre?“, wollte Nick von Kieran wissen.

„Oh, Kevin könnte dir das besser erklären als ich. Aber kurz gesagt, es ist eine Art interaktives Theater, bei dem die Zuschauer eingebunden werden. Und die Schauspieler handeln und reagieren in der Rolle, die ihnen zugewiesen ist.“

Was auch immer man sich darunter vorstellen mochte, Nick wollte Kody wiedersehen.

Er hatte sich ausgemalt, dass er Finnegan’s bald wieder einen Besuch abstatten würde. Immerhin war es naheliegend, da sich sein Kollege so oft dort aufhielt. Außerdem arbeitete Kieran in einer Praxis von Psychologen, die vom FBI oft zu rate gezogen wurden. Daher wäre es nicht außergewöhnlich, dass Nick das Paar besuchte.

Und dann hatte Dillinger alles ruiniert, weil er nach Florida gegangen war.

Er hatte Kontakt zu seinen alten Gefängnisbekanntschaften Capone, Nelson, Kelly, Floyd und Schultz aufgenommen und Nick dadurch gezwungen, sich bei der Gang einzuschleusen. Er war in Südflorida zur Highschool gegangen. Er kannte das Gebiet gut und hatte sogar noch einige Verwandte in der Gegend.

Es gelang ihm, seine Rolle überzeugend zu spielen.

Und jetzt kam es darauf an, dass auch eine andere Person mitspielte: Dakota Cameron.

Sollte sie ihn wiedererkennen, wäre das fatal. Nick hoffte inständig, dass sie sich nichts anmerken lassen würde. Wenn sie verriet, dass sie ihn kannte und er ein FBI-Agent war … dann waren sie beide tot.

Obendrein schien sie nicht bereit, sich kampflos zu fügen. Sie war mutig – und bereit, ihr Leben für ihre Freunde zu geben.

Auf keinen Fall hätte Nick es so weit kommen lassen dürfen.

Aber seit er wusste, dass auch das Leben eines kleinen Jungen von dieser Aktion abhing, war er vorsichtig geworden. Wenn er doch bloß herausfinden könnte, wo sich der Junge aufhielt!

Selbst wenn es später zu einem Kampf kommen sollte, durfte Dillinger nichts passieren. Solange er der Einzige war, der von Adriens Versteck wusste, war er auch der Einzige, der ihn befreien konnte.

Für ein Gebiet, das knapp oberhalb des Meeresspiegels und flach wie ein Pfannkuchen dalag, bot Südflorida reichlich Verstecke. Dillinger könnte den Jungen bei Komplizen abgeliefert, in einer Drogenhöhle versteckt, in einem verlassenen Wohnhaus eingesperrt haben …

Besonders weit hatte Dillinger nicht fahren können, sonst hätte er es nicht rechtzeitig zu Crystal Manor geschafft. Aber was nutzte das schon? Die Möglichkeiten waren trotzdem endlos, die Suche nach dem Jungen wäre wie nach einer Nadel im Heuhaufen.

Mit Schrecken erinnerte sich Nick an seinen ersten Fall, den er gemeinsam mit den Ermittlern in Miami gelöst hatte. Die Leichen der Opfer waren in Fässer gestopft, mit Säure übergossen und irgendwo in den Sümpfen der Everglades versenkt worden.

Daran wollte er im Zusammenhang mit Adrien Burke nicht einmal denken.

Adrien war am Leben, dessen war er sich fast sicher. Eine tote Geisel würde Dillinger bei seinen Fluchtplänen schließlich nicht viel helfen.

Nick atmete tief ein, lehnte sich an den Türrahmen der Bibliothek und behielt Kody im Auge. Auch dieser Raum strahlte die altmodische Eleganz längst vergangener Tage aus. Der Marmorfußboden war mit persischen Läufern bedeckt, und in den Regalen fanden sich Klassiker der Literatur, antike Lexika, Atlanten und Seekarten.

Kody saß an einem wunderschönen alten Eichenholzschreibtisch am Fenster. Doch ihr Blick war nicht in das Hauswirtschaftsbuch gesenkt, das aufgeschlagen vor ihr lag, sondern ruhte auf Nicks Gesicht.

Auf seiner Maske, erinnerte er sich selbst.

Sie musterte ihn aufmerksam, und er hoffte inständig, dass sie den Zusammenhang zu Finnegan’s Kneipe noch nicht hergestellt hatte.

Falls sie ihn überhaupt wiedererkannte.

„Sie sind nicht wie die anderen“, sagte sie jetzt leise. „Sie wollen nicht, dass hier jemand ums Leben kommt. Bitte unternehmen Sie etwas! Es ist verrückt, nach diesem Schatz zu suchen. Wenn es ihn gibt, liegt er vielleicht irgendwo im Sumpf, begraben unter Mangroven und Alligatorenhöhlen.“

Sie beugte sich leicht vor. „Bitte! Noch können Sie ihn aufhalten. Überlegen Sie doch mal. In diesem Staat gibt es noch immer die Todesstrafe. Bitte, wenn Sie nur …“

Mit wenigen schnellen Schritten war Nick neben ihr. „Still jetzt“, zischte er ärgerlich. „Wenn Sie das hier lebend überstehen wollen, suchen Sie! Geben Sie Dillinger eine Karte in die Hand. Irgendetwas! Er wird nicht eher Ruhe geben, bis Sie etwas gefunden haben. Lügen Sie, wenn es sein muss. Aber tun Sie um Himmels willen, was er sagt.“

„Sie sind keiner von denen. Sie haben Mitgefühl. Tun Sie etwas! Halten Sie die auf!“

Er sah ihr ins Gesicht. Sie war nicht nur wunderschön, sie war auch leidenschaftlich, aufrichtig und tapfer. Am liebsten hätte er sich in diesem Moment die Maske vom Gesicht gerissen und ihr versichert, dass Hilfe auf dem Weg war.

Aber das durfte er nicht.

Es hätte sie alle das Leben kosten können.

Den Angestellten, den Besuchern, Kody, Nick und dem kleinen Adrien.

Da kehrte Capone von seinem Rundgang über die Galerie zurück. „Hey, Barrow! Stör sie nicht! Ich will hier nichts wie raus. Ich habe ja schon einiges mit Dillinger gerissen, aber das hier schießt den Vogel ab. Es macht mich nervös. Lass sie in Ruhe arbeiten.“

„Klar. Ich lasse sie arbeiten. Und sie wird etwas finden.“

Kaum hatte er den letzten Satz ausgesprochen, stürzte Schultz in die Bibliothek. Während Capone sich um das technische Equipment kümmerte, Sicherheitssysteme ausschaltete und Kameras manipulierte, war Schultz, Stärke das Schießen.

Er war von großer, schmaler Statur und drahtig und ein ausgezeichneter Scharfschütze. Nick hatte ihn dabei beobachtet, wie er Ziele auf unglaublich lange Distanz ins Auge fasste. Und er traf immer.

„Jetzt geht’s los“, berichtete er. „Die Cops sind draußen. Haben sich wie feige Hunde hinter der Mauer verschanzt. Ich hab ein paar Warnschüsse abgegeben, und Dillinger hat mit ihnen telefoniert. Sie wissen, dass wir Geiseln hier drin haben.“

Es war, als könnte Nick ein Lächeln aus Schultz’ Stimme heraushören. „So schnell werden die nichts unternehmen. Rufen wohl gerade einen Experten, der sich mit Geiselnahme auskennt. Dillinger überlegt gerade, ob er ihnen den Ersten tot oder lebendig rausschicken soll.“

Kody sprang von ihrem Stuhl auf. „Wenn Sie jemanden erschießen, bin ich raus. Das war’s. Ich werde niemandem helfen, der uns am Ende sowieso alle umbringt.“

„Ach ja? Und was genau willst du stattdessen tun, Lady?“ Schultz ging auf sie zu und streckte die Hand aus. Er berührte Kodys Kinn, und sie wich unwillkürlich zurück.

„Fass sie nicht an!“, entfuhr es Nick. Er straffte sich. „Dillinger will, dass sie ihre Arbeit macht. Also lassen wir sie in Ruhe.“

Schultz starrte ihn an.

„Er hat recht“, mischte sich Capone ein. „Soll sie weitermachen. Noch besteht keine Notwendigkeit, den Cops irgendetwas oder irgendjemand zu bieten. Tot oder lebendig.“

„Ihr steht auf die Puppe, was?“, fragte Schultz mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.

Capone gab einen frustrierten Laut von sich. „Solltest du nicht auf deinem Posten sein? Behalt gefälligst das Tor im Auge.“

Bevor der Streit eskalieren konnte, kam Dillinger ins Zimmer geeilt.

Dessen Anblick veranlasste Schultz, die Bibliothek sofort zu verlassen und auf seinen Posten auf einem der Türmchen zurückzukehren.

Dillinger sah aus dem Fenster. „Vielleicht sollten wir ein paar Geiseln loswerden. Das macht es einfacher für uns.“

„Nein, tut es nicht“, widersprach Nick. „Wenn sie denken, dass uns Menschenleben egal sind, werden sie das Haus sofort stürmen. Und uns töten, bevor wir weitere Geiseln umbringen können. Glaub mir, so werden sie vorgehen, und damit haben wir nichts erreicht.“

Dillinger starrte ihn an. Statt einer Antwort trat er zu Kody an den Schreibtisch. „Wie lange brauchen Sie noch?“

„Wie lange?“, wiederholte Kody ungläubig. „Ich soll etwas herausfinden, woran sich andere jahrzehntelang die Zähne ausgebissen haben. Es ist nahezu unmöglich, den …“

„Sie haben zwei Stunden“, unterbrach Dillinger sie ungerührt. „Verstanden? Zwei Stunden. Sie holen einen Experten, der mit uns verhandeln wird. Bringen Sie mich nicht dazu, Ihnen zu beweisen, dass ich es ernst meine.“

„Ich tue mein Bestes“, sagte Kody. „Noch bin ich ja nicht abgelenkt und am Boden zerstört, weil Sie einen meiner Freunde umgebracht haben. Sie wollen doch, dass ich in Ruhe nachdenken kann? Dann sollten Sie alle am Leben erhalten.“

Eine gefährliche Stille trat ein.

Nick wünschte, sie hätte den Mund gehalten. Auch wenn er nicht umhinkam, ihren Mut zu bewundern.

Entgegen seiner Erwartung begann Dillinger zu lachen. „Meine liebe Miss Cameron, Sie haben mehr Eier in der Hose als die Hälfte der Typen, die für mich arbeiten. Sehr gut. Und jetzt nutzen Sie Ihren Schneid mal für etwas Sinnvolles und finden den Schatz.“

Ohne ein weiteres Wort beugte Kody sich wieder über ihre Bücher.

In Gedanken sondierte Nick die Lage. Capone war nach unten gegangen, um Nelson zu helfen, die Geiseln ruhig zu halten. Schultz hatte im rechten Turm Position bezogen, Floyd im linken, und Machine Gun Kelly überwachte das Grundstück von der Galerie aus.

Vorsichtig trat Nick ans Fenster und spähte hinaus. In der Ferne konnte er mehrere Wagen mit Blaulicht ausmachen. Die Cops bezogen Stellung.

Ob Dillinger ernsthaft glaubte, ungeschoren aus dieser Sache herauszukommen?

Dann begann sich Nick zu fragen, ob überhaupt jemand von ihnen die Sache lebend überstehen würde.

In diesem Moment zerriss das Klingeln eines Telefons die Stille.

Kody zuckte merklich zusammen.

Dillinger trat zu einem kleinen Tischchen und nahm den Hörer des altmodischen Schnurtelefons ab. Er schien den Anruf erwartet zu haben. „Oh, uns geht es ganz fantastisch“, sagte er. „Und den Geiseln ebenfalls. Noch.“

Dillinger begann zu verhandeln. Er verlangte mehr Zeit und zwei Speedboote für sich, seine Männer und die Geiseln. Offensichtlich wollte er zumindest einige der Gefangenen mitnehmen.

Dann veränderte sich seine Stimme. „Das haben Sie aber schnell herausgefunden, Special Agent Frasier. Bravo. Wie? … Aber ja doch. Ich möchte auch, dass der entführte Junge überlebt. Er ist ein wirklich netter Junge. Er sollte nicht da bleiben müssen, wo er jetzt ist – eingesperrt und angekettet.“

Nick hatte Kody während des Gesprächs im Auge behalten. Als der Name Frasier fiel, hatte sie deutlich aufgehorcht. Für einen Moment hatte sie die Stirn gerunzelt und schien angestrengt nachzudenken.

Zwar war Frasier kein außergewöhnlicher Name, aber sie schien sich zu fragen, ob es ein Zufall war, dass sie ausgerechnet einen weiteren Special Agent Frasier kannte. Aus New York. Einen Special Agent, den sie über Umwege kannte, weil ihr Schauspielfreund der Bruder von Kieran Finnegan war, die zufällig mit Craig Frasier ausging.

Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sobald Dillinger aufgelegt hatte, fragte sie voll Abscheu: „Sie haben ein Kind entführt?“

„Sie sind jetzt mal still“, herrschte Nick sie an, um sie vor weiteren Dummheiten zu bewahren. „Dillinger, wenn wir mehr Zeit wollen, sollten wir kooperieren. Sie hinhalten. Wir könnten den Wachmann ausliefern. Er braucht ärztliche Versorgung, und es wird ihnen zeigen, dass wir es ernst meinen. Ernst genug.“

„Vielleicht.“ Dillinger ging zur Tür. „Ich brauche ein paar Minuten Bedenkzeit.“

Nachdem er den Raum verlassen hatte, senkte Nick die Stimme. „Wie weit sind Sie gekommen?“

Kody schüttelte den Kopf. „Nicht weit. Anthony Green hat die Bank ausgeraubt, doch es wurde ihm nie nachgewiesen. Allerdings hat er ein paar ziemlich eindeutige Tagebucheinträge vermerkt. Für mich sieht es so aus, als ob er vorhatte, das Land zu verlassen. Er spricht hier über Boote. Er deutet an, dass er …“

Weiter kam sie nicht, denn ein Schuss zerriss die Stille.

Kurz darauf ging ein Kugelhagel auf das Haus nieder. Vor den Fenstern spritzte der Putz, als die Kugeln in die Wand einschlugen. Eine Kugel durchbrach die Scheibe und schlug in eine kostbare Vase ein.

Nick warf sich über Kody, riss sie mit sich zu Boden und begrub sie unter seinem Körper.

4. KAPITEL

Das Gewehrfeuer hielt einen grauenvollen Moment lang an, dann folgte beängstigende Stille.

Nick spürte, wie sie sich unter ihm bewegte.

Er sah sie an. Ihre Augen waren vor Angst geweitet. Sie musterte ihn mit einem unlesbaren Ausdruck im Gesicht, und etwas in Nicks Innerem begann aufzublühen.

Ihm wurde bewusst, wie sehr er sich gewünscht hatte, sie wiederzusehen. Was er gespürt hatte, war keine flüchtige Anziehungskraft gewesen. Es war der aufrichtige, tiefe Wunsch, sie kennenzulernen. Ihr näherzukommen.

Und jetzt …

Sie zitterte am ganzen Körper.

Er erhob sich, half ihr beim Aufstehen, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich, zur Tür hinaus, den Flur entlang und in Richtung des rechtsseitigen Turms, wo Schultz stationiert war.

Nick war sicher, dass Schultz den ersten Schuss abgegeben hatte. Der Mann war unberechenbar, schießwütig und vollkommen gleichgültig gegenüber Menschenleben.

„Was zur Hölle machst du da?“, schrie er.

Dillinger kam ebenfalls den Flur entlang. „Was geht hier vor?“

„Ich hab gesehen, wie sie sich bewegt haben, Boss!“, rief Schultz von oben.

Nick fluchte. „Wenn du jetzt nicht die Nerven behältst, sind wir alle tot.“

Bevor Schultz etwas erwidern konnte, schrillte das Telefon in der Bibliothek erneut. Nick hastete zurück und nahm den Anruf entgegen, Dillinger folgte mit Kody.

„Wir wollen keine Toten“, sagte er zu Agent Frasier.

„Wir sind wohl alle etwas in Panik geraten“, entgegnete Craig.

Nick spürte Dillingers Blick auf sich ruhen. Jetzt musste er überzeugend wirken. „Wir wollen die besten Speedboote, die es hier gibt, und zwar gleich. Wir geben den Wachmann heraus. Er hat eine leichte Verletzung. Sie werden das Tor nur so lange öffnen, wir wie die Geisel übergeben.“

„Verstanden. Wir erwarten den Mann. Niemand wird das Feuer eröffnen.“

Nachdem Nick aufgelegt hatte, fragte er sich, ob Craig inzwischen wusste, dass Dakota Cameron im Haus war. Sicher hatte er herausgefunden, dass ihrer Familie dieses Anwesen gehörte.

„Na schön“, brummte Dillinger. „Dann werd ich mal zusehen, dass die da unten keinen Mist bauen.“ Er verließ die Bibliothek.

Nick spürte, wie Kody sich ihm näherte, und drehte sich um. „Du bist anders als die anderen“, sagte sie sanft. „Du kannst das hier beenden. Und du hast eine Waffe. Du könntest …“

„Einfach alle erschießen?“, fragte er.

Plötzlich war sie ihm sehr nahe. „Zumindest aufhalten. Ins Bein schießen … irgendetwas. Ich würde mich für dich einsetzen. Ich werde sagen, dass du all diesen Menschen das Leben gerettet hast …“

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, was sie vorhatte. Sie wollte ihn nicht etwa berühren. Sie hatte tatsächlich vor, nach seiner Waffe zu greifen.

Blitzschnell packte er ihr Handgelenk. „Versuchen Sie das bloß nicht bei den anderen. Haben Sie es noch nicht begriffen? Die scheren sich nicht um Sie. Sie würden nicht zögern, Sie zu erschießen. Tun Sie einfach, was man Ihnen sagt. Finden Sie diesen verdammten Schatz!“

Sie zuckte zusammen. Dann warf sie ihm einen merkwürdigen Blick zu.

Nick hatte eine Ahnung. „Haben Sie ihn etwa schon gefunden?“ Hatte sie das nahezu Unmögliche in der kurzen Zeit wirklich fertiggebracht?

Doch zuerst musste er sich vergewissern, dass da draußen alles in Ordnung war. Er trat vorsichtig an das kaputte Fenster und beobachtete, wie Nelson eine kleine Gruppe vor sich her zum Tor trieb. Zwei der Geiseln trugen den verletzten Wachmann und setzten ihn vor dem Tor ab.

Dann zogen sie sich zurück.

Gleich darauf wurde das Tor geöffnet, und der Mann wurde von den Polizisten in Empfang genommen.

Der Erste in Sicherheit, dachte Nick, doch der Anflug von Erleichterung sollte nicht lange anhalten. Schon kam Dillinger von seinem Beobachtungsposten an der Haustür zurück.

Als das Telefon klingelte, gab Dillinger ein Zeichen, Nick den Anruf zu überlassen. Offenbar setzte er ausreichend Vertrauen in ihn, die Verhandlungen allein zu führen. „Bringen Sie die Boote hinter das Haus an den Anlieger“, verlangte Nick gleich darauf. „Und halten Sie bloß Abstand. Wir wollen einen Vorsprung. Wenn wir auch nur einen Cop sehen, sind die Geiseln dran.“

Er lauschte einen Augenblick. „Das erste Boot ist bereit“, sagte er zu Dillinger.

„Was ist mit dem zweiten?“, fragte der Gangsterboss ungehalten.

„Dafür wollen sie zwei weitere Geiseln“, gab Nick die Forderung weiter.

Dillinger begann den Kopf zu schütteln, doch da mischte sich Kody ins Gespräch ein. „Bitte lassen Sie Stacey und Nan gehen. Sie sind älter und würden Sie bloß aufhalten. Es …“

„Wir melden uns“, sagte Dillinger knapp und laut, entriss Nick den Hörer und knallte ihn auf die Gabel.

Kody starrte ihn an. „Bitte, lassen Sie die beiden laufen …“

„Bitte“, imitierte er ihre Stimme, „finden Sie endlich meinen Schatz.“

Sie fixierte ihn. „Vielleicht habe ich das schon.“

„Sieh an.“ Dillingers Blick hatte plötzlich etwas Raubtierhaftes.

„Lassen Sie Stacey und Nan gehen. Dann zeige ich Ihnen, was ich entdeckt habe. Bitte.“

Dillingers neigte seinen Kopf zur Seite. Unter seiner Maske schien er zu lächeln. „Die Lady hat Bitte gesagt“, sinnierte er scheinbar völlig gelassen. „Wer kann da widerstehen? Barrow, sag ihnen, wir schicken ihnen die beiden Geiseln. Aber ich will die Boote jetzt. Nicht in einer halben Stunde, nicht in zwanzig Minuten. Jetzt.

Durch die Maskenschlitze blitzten seine Augen gefährlich auf. „Sonst wird es hier für alle sehr unangenehm.“

Kodys Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

Trotzdem gab es einen Hoffnungsschimmer: Drei ihrer Angestellten waren bald in Sicherheit.

Dann würde sie weitersehen.

Eins nach dem anderen.

Es war nicht leicht gewesen, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, während ihr die Todesangst im Nacken saß. Und die Sorge um ihre Freunde.

Neben ihren Überlegungen zu Anthony Greens Schatz war sie zu der Überzeugung gelangt, dass Craig Frasier aus New York da draußen war. Die Hilfe war so nah und doch im Augenblick unerreichbar fern.

Sie glaubte sich daran zu erinnern, dass sie Kieran und Craig sogar einmal beim Essen von Crystal Manor erzählt hatte, weil sich so viele Gangster-Legenden um das Haus rankten.

Und das letzte Mal, als sie mit Craigs Freundin Kieran gesprochen hatte, hatte diese angedeutet, dass Craig beruflich in den Süden reisen würde, um die Spur eines gefährlichen Ex-Häftlings aufzunehmen.

Vermutlich handelte es sich dabei um Dillinger.

Der Gedanke, dass Craig Frasier draußen vor dem Tor wachte, hatte sie minimal beruhigt.

Noch einmal hatte sie sich die Baupläne des Hauses vorgenommen, doch eigentlich war sie von Anfang an sicher gewesen, dass der Schatz nicht hier war – sondern in den Everglades.

Dort etwas zu finden war eigentlich unmöglich.

Bei den Everglades handelte es sich genau genommen um einen Fluss. Fluss aus Gras wurde das Gebiet auch genannt. Und es war immer in Bewegung. Zum einen durch menschengemachte Dämme, zum anderen durch die im Norden angrenzende Landwirtschaft, die dem Gebiet von Zeit zu Zeit so viel Wasser entzog, dass Teile davon trockengelegt waren. Und natürlich auch durch das Meer und den Regen, der das tropische Marschland überschwemmte.

Überall bildeten sich dort Inselchen und die sogenannten Hammocks – Erhebungen aus Hartholzgewächsen. Buschwerk und Mangrovenbäume wuchsen in unglaublicher Geschwindigkeit.

Davon abgesehen gab es in den Everglades Treibsand, gefährliche einheimische Schlangen und seit einigen Jahren auch über sechzigtausend Pythons und Boas. Seitdem einige Exemplare unbedacht in den Sümpfen ausgesetzt worden waren, vermehrten sich die Tiere in dem schwülheißen Klima wie wahnsinnig.

Nicht zu vergessen die Alligatoren und – meist tief im Brackwasser verborgen – sogar Krokodile, denn in diesem seltenen Biotop aus Süß- und Salzwasser fühlen sich beide Jäger wohl.

Ein tolles Versteck für einen Schatz.

„Nun mal heraus damit“, forderte Dillinger sie auf. „Wo liegt der Schatz?“

„Im Sumpf“, entgegnete Kody dumpf. „In einem Brief heißt es, Anthony Green habe eine Hütte in den Sümpfen gehabt.“

Sie musste an ihren Vater denken, der in der Vergangenheit dort ebenfalls eine Bude besessen hatte. Dorthin hatte er sich manchmal mit seinen Kumpels von der Uni zurückgezogen. Sie hatten eine Lizenz zum Jagen von Alligatoren – jeweils limitiert auf zwei Tiere – aber hauptsächlich ging es ihnen darum, ungestört zu sein, über Sport und Frauen zu philosophieren und ein paar Bier zu trinken.

Vor etwa fünfundzwanzig Jahren wurde die private Nutzung des Sumpfs schließlich verboten und weite Teile des Gebiets unter Naturschutz gestellt.

Allerdings waren die meisten Hütten nie abgerissen worden, und einige ältere Einheimische wussten auch noch, wie sie zu finden waren.

Eigentlich hätte man sich an diese wenden müssen, an alteingesessene Fischer oder an die wenigen Gruppenführer, denen es noch erlaubt war, Touristen mit dem Airboat für einen Ausflug mit in die Sümpfe zu nehmen.

Autor

Carla Cassidy
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