Die Flynn Brothers Trilogie: Ahnentanz - Erntemord - Sündenzeit

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AHNENTANZ

Ein unerwartetes Erbe - und Mächte, mit denen sie nicht gerechnet haben

Es ist nicht nur einfach eine Plantage in New Orleans, die die Flynn-Brüder geerbt haben … Als die Tarotkartenleserin Kendall Montgomery ihm erzählt, dass die ererbte Plantage von Geistern heimgesucht wird, kann Privatdetektiv Aidan Flynn nur lachen. Aber dann findet er einen menschlichen Knochen in der Erde und später einen weiteren am Fluss. Aidan beginnt, in die dunkle Geschichte der Flynn-Plantage einzutauchen. Bald schon stoßen er und Kendall auf Spuren eines Serienmörders, dessen Opfer spurlos verschwinden - und erkennen, dass ihr eigenes Schicksal besiegelt ist, wenn sie nicht anfangen, an das Unglaubliche zu glauben.

ERNTEMORD

Ein unerwartetes Erbe - und Mächte, mit denen sie nicht gerechnet haben: die Flynn-Brothers-Trilogie von Heather Graham!

Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Vogelscheuche, ist die Leiche einer jungen Frau, ein Lächeln ins Gesicht geschnitten, das Genick gebrochen. Schnell glauben die Menschen in Salem, dass der gefürchtete Sensemann mehr als nur ein Gerücht ist. Jeremy Flynn hat keine Zeit für Schauergeschichten. Er sucht in Salem die Frau eines Freundes, die spurlos von einem Friedhof verschwand. Bei seinen Recherchen stößt er auf die Okkultexpertin Rowenna Cavanaugh, die davon überzeugt ist, dass der Horror der Vergangenheit wieder lebendig geworden ist. Bald schon muss Jeremy sich dem Unglaublichen stellen - denn auch Rowenna droht, der Verführung des Sensemanns zu erliegen.

SÜNDENZEIT

Eine irische Sage scheint im eiskalten Winter auf Rhode Island zum Leben zu erwachen.

An einem kalten Dezembertag nimmt Eddie Ray im Hafen von Newport, Rhode Island, einen seltsamen Passagier an Bord der Sea Maiden - und wird danach nie wieder gesehen. Zach Flynn soll im Auftrag des reichen alten Sean O'Riley herausfinden, was mit seinem Geschäftspartner geschehen ist. Doch dessen Familie macht es Zach nicht leicht. Da wären zum einen die Streitigkeiten zwischen O'Rileys blutjunger Frau und seiner paranoiden Tochter. Zum anderen die exzentrische Tante, die in der Dachwohnung lebt und behauptet, im Haus würde eine Todesfee wohnen. Einzig die schüchterne, irische Krankenschwester Caer versucht alles, um Zach bei seinen Recherchen zu helfen. Doch irgendwie wird er das Gefühl nicht los, dass sie auch etwas zu verbergen hat. Gerade als Caer ihm gestehen will, wer sie wirklich ist, kündigen die Raben einen neuen Tod an.


  • Erscheinungstag 26.11.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765170
  • Seitenanzahl 1152
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Heather Graham

Die Flynn Brothers Trilogie: Ahnentanz - Erntemord - Sündenzeit

PROLOG

Die Flynn-Plantage

Bei New Orleans

1863

Da war es …

Sein Zuhause.

Alles, was er kannte und liebte, so nahe.

Sloan Flynn saß auf Pegasus, dem großen Rotschimmel, der ihn von den Schlachtfeldern bei Sharpsburg, Williamsburg und Shiloh hierher getragen hatte, und blickte gen Süden.

Farmland. Reich und fruchtbar, so weit das Auge reichte. Wenn er sich jedoch Richtung Norden wandte …

Zelte über Zelte, in perfekter militärischer Ordnung aufgereiht. Männer reinigten an brennenden Lagerfeuern ihre Waffen. Der eine Anblick zeugte von Schönheit, Frieden und Harmonie. Der andere verhieß ein Land, das im Blut seiner Söhne ertrank, ein Land, das der Zerstörung anheimgegeben war.

Sloan hatte keine Illusionen mehr über den Krieg. Er war abstoßend und brutal. Er bedeutete nicht nur Tod. Er bedeutete versehrte und gebrochene Männer auf dem Schlachtfeld. Er bedeutete einen Mann, der blind umherlief und nach Hilfe rief, weil das Kanonenfeuer ihm das Augenlicht geraubt hatte. Er bedeutete abgetrennte Gliedmaßen und die verstümmelten Körper der Verwundeten, der Toten und der Sterbenden. Und in den schlimmsten Momenten bedeutete der Krieg Angehörige, die über den Leichen ihrer Liebsten weinten.

Jeder Mann, der Krieg noch immer für ein probates Mittel der Konfliktlösung hielt, war nicht in Sharpsburg, Maryland, gewesen. Ebenso wenig hatte er mit angesehen, wie sich der Antietam Creek so rot gefärbt hatte wie das Rote Meer, weil er dermaßen angefüllt war mit Blut, dass er sich wie ein grellrotes Band durch die Landschaft wand.

Sloan hatte den Krieg als Captain der Kavallerie einer Louisiana-Einheit begonnen. Doch das war damals gewesen. Heute gehörte er zur Bürgerwehr, die Jeb Stuart und der Armee von Nord-Virginia unterstand. Sie waren in den Süden geschickt worden, um Gebiete des Mississippi auszukundschaften, doch heute Morgen hatte man sie zurück in den Norden berufen.

Es wäre so leicht, einfach nach Hause zu gehen …

Doch ein Mann brach den Krieg nicht einfach ab. Er wachte nicht auf und sagte den Vorgesetzten oder seinen Männern, dass Krieg etwas Verabscheuungswürdiges sei, das nur Leid hervorbrächte, und dass er deshalb gehen würde. Stattdessen kämpfte er, kämpfte, um zu siegen. Denn Krieg bedeutete auch Siegen. Die empörte Parole von der Verteidigung der Rechte der Einzelstaaten, die einst wie ein Fanfarenstoß in seinem Herzen geschmettert hatte, war zu einem stillen Schluchzen verstummt. Wenn sie zurückgehen könnten – wenn sie alle zurückgehen könnten –, um die Politiker und Kongressabgeordneten auf die Schlachtfelder zu zwingen und sie mit den verstümmelten und blutgetränkten Leichen ihrer Söhne zu konfrontieren, wäre es nicht so weit gekommen.

Doch das war es. Und nun bereiteten sie sich auf eine weitere Schlacht vor. Sie würden nicht versuchen, New Orleans zurückzugewinnen. Nicht jetzt. Sie versammelten sich, um Richtung Norden zu ziehen. General Robert E. Lee befahl Truppen aus dem ganzen Süden in Richtung Norden. Er wollte den Krieg in die Städte tragen, auf die Farmen und in das Weideland der Union. Sloans geliebtes Virginia lag in Trümmern, war wieder und wieder seiner Reichtümer beraubt worden und gezeichnet durch das Gemetzel.

Sehnsüchtig blickte Sloan noch einmal in Richtung seines Zuhauses.

Die Flynn-Plantage gehörte nicht zu den größten und prächtigsten Anwesen. Doch sie war Heimat. Seine Heimat.

Und sie würde dort sein. Fiona MacFarlane. Fiona Fair, wie sie sie gerne neckisch nannten. Tatsächlich allerdings – und wegen des Krieges heimlich – hieß sie Fiona MacFarlane Flynn.

Es war so lange her …

Ihr eigenes Zuhause, Oakwood, war kurz nach Beginn des Kriegs zerstört worden, woraufhin Fiona auf die Flynn-Plantage gekommen war, den Sitz seiner Familie. Die Plantage war nicht prachtvoll – seine Familie war einst ohne Geld und nur mit der Bereitschaft zu arbeiten nach Lousiana gekommen –, doch es gab genug Platz für Fiona. Es würde dort immer einen Platz für sie geben.

Jetzt stand die Plantage kurz vor dem Ruin, wie er wusste. Trotz des Krieges unterhielten er und sein Cousin Brendan, ein Lieutenant der Unionsarmee, einen Briefwechsel. Daher wusste er, dass es nicht gut stand um den Besitz. Seit die Yankees New Orleans eingenommen hatten, hatte Brendan einige Zeit auf der Plantage verbracht, und seine Briefe waren aufrichtig gewesen. Auf dem Schlachtfeld mochten die beiden Männer Todfeinde sein, doch sie waren noch immer Cousins, was die Korrespondenz für beide gefährlich machte. Brendan hatte von „The Beast“ Butler geschrieben, dem örtlichen Befehlshaber der Union, und dass er die Familie gewarnt habe, den Kontakt mit den Unionstruppen um jeden Preis zu vermeiden.

Und wenn diese Warnung von einem Offizier der Union kam … nun, Sloan wollte gar nicht darüber nachdenken, was das bedeutete.

Er zögerte einen Moment und wusste, dass er nach Norden reiten sollte. Seine Aufklärungsmission hatte ergeben, dass sie heftige Scharmützel zu erwarten hatten, wenn die Truppen sich dem Bezirk näherten.

Doch er war so nah …

So nah an seinem Zuhause.

So nah bei Fiona.

Er könnte sich eine Stunde fortstehlen. Nur eine Stunde.

Eine Schar Soldaten würde einen sofortigen Vergeltungsschlag provozieren, doch er allein konnte unbemerkt durch die Reihen schlüpfen.

Nein. Er befand sich im Krieg und hatte seine Befehle. Doch trotz der Warnungen in seinem Kopf trieb er mit einem Schenkeldruck sein Pferd an und ritt gen Süden.

Bald erstreckte sich die lange, von Eichen beschattete Auffahrt vor ihm. Aus diesem Blickwinkel wirkte das Haus noch immer wunderschön. Elegant, im klassischen Stil errichtet und mit einer durchgehenden, offenen Eingangshalle, damit die Brise, die kühle Luft vom Fluss brachte, besser zirkulieren konnte. Die umlaufenden Veranden im ersten und zweiten Stock waren noch immer mit Efeu bewachsen, durch das einige Blüten durchschimmerten. Als Kind hatte er beim Bau des Hauses mitgeholfen. Es war seine Heimat, und beim bloßen Anblick überkam ihn ein Gefühl von bittersüßer Nostalgie.

Er ritt nicht die vordere Auffahrt hoch, sondern machte einen Umweg durch das angrenzende Gehölz und kam an überwachsenen, verwahrlosten Feldern vorbei. Sloan band Pegasus an einen Baum und bahnte sich dann einen Weg zu den Ställen hinter dem Haus. Ihr Verwalter Henry war dort, ein magerer Mann mit indianischem, haitianischem und vermutlich deutschem Blut, ein freier Farbiger und der wahre Chef des Anwesens seit Sloan überhaupt denken konnte.

„Henry?“, fragte er mit leiser, aber drängender Stimme. Henry, der gerade einen Sattel reparierte, sah lächelnd auf.

Sein Gesicht wirkte alterslos und stark. „Sloan?“ Sloan kam hinter einem Ballen Heu hervor.

Henry ließ die Lederahle fallen und stand auf. Beide Männer umarmten einander. Doch Henry löste sich rasch, seine Miene war düster.

„Da sind ein paar Soldaten oben im Haus“, warnte er Sloan leise. „Sie sind gerade heute Morgen angekommen.“

Sloan runzelte die Stirn. „Soldaten? Warum?“

„Warum?“, wiederholte Henry bitter. „Weil es ihnen nun gehört, nachdem New Orleans sich ergeben hat.“

Sloan verzog das Gesicht. Im Moment wollte er nicht über die Warnung vor „The Beast“ Butler nachdenken. „Was ist mit all den anderen? Ist noch jemand da? Von Ma habe ich gehört. Brendan schrieb mir letzten Sommer, dass sie gestorben ist.“ Selbst wenn er früher davon erfahren hätte, hätte er nicht an ihrem Begräbnis teilnehmen können. Er hatte die Schlacht von Sharpsburg beobachtet. „Aber was ist mit Fiona und Missy und George? Sind sie noch hier?“ Missy und George waren schon ebenso lange bei der Familie wie Henry.

„Ja, sie sind noch hier“, erwiderte Henry und wirkte unangenehm berührt. „Aber Miss Fiona sagte, ich solle hier draußen bleiben und mich fernhalten, bis sie mich ruft.“

Sloan blickte Henry an. Da er Fiona kannte, wusste er sofort, warum sie ihm den Befehl gegeben hatte. Sie befürchtete, dass es nicht gerade die Elitesoldaten der Konföderierten waren, die zum Haus gekommen waren. Sie wusste nicht, was sie von ihr verlangen würden, und wollte nicht Henrys Tod riskieren, falls sie sich selbst verteidigen musste.

Sloan blickte in die Ferne. Henry wirkte noch immer sehr unbehaglich. Was zur Hölle ging hier vor?

„Henry, was ist los? Was zum Teufel ist los?“, verlangte er zu wissen.

„Nichts. Nichts. Es ist nur … nun, es ist lange her, dass Sie zu Hause waren. Fast ein Jahr.“

Sloan starrte ihn an. „Was hat das mit alldem hier zu tun?“, fragte er.

„Brendan … er ist im Moment auch nicht hier. Er ist fort. Wenn er hier ist … Nun, dieser Ort gehört seiner Familie, deswegen lassen die Truppen ihn in Ruhe.“

„Und?“

„Er ist seit einer Weile nicht mehr hier gewesen.“ Henry atmete tief durch. „Das ist nicht gut. Das ist einfach nicht gut. Die Yankees sind eine Sache. Darunter sind gute Männer, und darunter sind schlechte Männer. Doch es gibt auch schlechte Männer von hier. Schlechte Männer, die ohne Grund Böses tun, nur um Geld zu machen. Wenn ich kann, gehe ich in die Stadt und versuche mich umzuhören, was so passiert.“ Henry blickte zur Seite. „Da ist ein Mann aus dem Ort … er findet Mädchen. Findet sie für diesen Offizier. Dann … sieht man sie nie wieder. Ich versuche, ihn zu stören. Manchmal gelingt es mir. Ich höre Dinge, zum Beispiel, wo die Leute hingehen. Und ich versuche, uns aus der Sache rauszuhalten, wenn ich es schon nicht aufhalten kann. Aber es gibt Menschen, die anderen Menschen gerne verraten, was passiert oder wo etwa Frauen allein sind … Miss Fiona, sie will es nicht glauben, doch sie wird Ärger bekommen, wenn sie nicht vorsichtig ist.“

Sloan spürte, wie sein Herzschlag kurz aussetzte. Guter alter Henry, der immer versuchte, Schaden von Fiona abzuwenden. Doch offenbar war sie überzeugt, mit den feindlichen Soldaten selbst fertig werden zu können. Eisige Furcht erfasste ihn.

Er wandte sich um und wollte den Stall verlassen, doch Henry versuchte, ihn aufzuhalten.

Und Henry war ein echter Kämpfer, weshalb Sloan sich umdrehte und ihm einen harten Schlag gegen den Kiefer verpasste. Es tat ihm leid, als Henry mit einem Stöhnen zu Boden sank, doch diese Schlacht musste er allein schlagen. Er würde Henry auf keinen Fall mit hineinziehen.

Sloan nahm seine Flinte, ein Repetiergewehr, das er einem toten Soldaten in Sharpsburg abgenommen hatte, und hastete auf das Haus zu. Noch auf dem Weg vernahm er den Schrei. Und dann sah er, wie sie aus dem Schlafzimmer auf den oberen Balkon gerannt kam.

Fiona.

Ihr schönes tiefrotes Haar wehte hinter ihr her, ihr Gesicht war zu einer Maske der Angst verzerrt und ihr schlanker Körper angespannt.

Ein Mann verfolgte sie. Ein Mann, der über ihre offensichtliche Panik lachte.

Sloan hob das Gewehr auf Schulterhöhe und rannte los.

 

Die Flynn-Plantage

Gegenwart

Es war hochgradig aufregend. Ein Täuschungsmanöver. Das größte Abenteuer ihres Lebens.

Bewaffnet mit ihrer Taschenlampe schlich Sheila Anderson durch die Dunkelheit. Sie spürte den Brief in ihrer Tasche. Triff mich am Flynn-Haus. Um Mitternacht. Ich kenne nun die Wahrheit hinter der Legende.

Sie wusste nicht, wer ihr den Brief geschickt hatte, doch sie nahm an, dass es ein anderes Mitglied der Historischen Gesellschaft gewesen sein musste – vielleicht sogar ein heimlicher Verehrer. Nun, da Amelia Flynn tot war und die neuen Inhaber der Flynn-Plantage in die Stadt kommen sollten, um ihr Erbe zu beanspruchen, musste die Gesellschaft einen Weg finden, das Haus zu erwerben und zu erhalten. Weder der Staat noch der Bezirk erwiesen sich als hilfreich. Es gab zahlreiche historische Orte rund um New Orleans, und Geld regierte die Welt. Die Gegend stand vor einem großen Aufschwung, und zu viele Unternehmen versuchten, das Land entlang des Flusses aufzukaufen. Die Historische Gesellschaft brauchte einen Durchbruch, einen Hinweis auf die Vergangenheit des Hauses, der wichtig genug war. Dann konnten sie, die die Geschichte und alles, wofür sie stand, liebten, einen Verkauf des Anwesens vielleicht so lange verhindern, bis sie genug Geld aufgetrieben hatten, um es selbst zu erwerben.

Aus diesem Grund war sie hier und schlich durch die Dunkelheit. Sie bahnte sich ihren Weg über den alten Familienfriedhof, wobei sie den Strahl ihrer Taschenlampe abschirmte. Niemand sollte sie dabei ertappen, wie sie auf der Plantage nach der Wahrheit hinter der Legende suchte in der Hoffnung, dass sie genug fände, um die historische Bedeutung des Hauses zu sichern.

Es war beängstigend, aber auch großartig. Besser als ein Film, besser als die Achterbahn. Seit jeher rankten sich Geistergeschichten um die alte Flynn-Plantage. Die Einheimischen behaupteten, sie sei verflucht. Die Flynns hätten sich hier beinahe ausgelöscht, und das war erst der Anfang der Geschichte.

Die Wahrheit hinter der Legende.

Und es war eine großartige Legende. Es ging um eine Frau und zwei Männer. Cousins, die auf unterschiedlichen Seiten kämpften im Angriffskrieg des Nordens, wie man ihn hier im Süden gerne nannte. Die beiden Männer waren sich beim Anwesen begegnet und hatten sich ihretwegen gegenseitig getötet. Sie war ebenfalls umgekommen, und man sagte, dass ihre Schreie noch immer zu hören wären und sie als weiße Gestalt auf der oberen Veranda erscheine.

Sheila hielt inne und ließ die Atmosphäre des Ortes auf sich wirken. Fast fürchtete sie sich davor, durch die Bäume in Richtung des Hauses zu schauen, das dort in tiefer Dunkelheit stand. Jetzt, da Amelia Flynn tot war, wohnte auch ihre Freundin Kendall Montgomery nicht mehr dort. Sie hatte der alten Dame, die jahrzehntelang in dem Haus gelebt hatte und in demselben Raum starb, in dem sie geboren worden war, zuletzt Gesellschaft geleistet.

Die Hitze des Tages war verklungen und hatte sich mit der Feuchtigkeit vom Fluss verbunden, sodass dichter Nebel über das Land zog. Die Grabsteine und Mausoleen erhoben sich dunkel vor den Nebelschwaden, und ein silberner Strahl Mondlicht tanzte über dem Marmor.

Keine Spur von einem Geist, dennoch spürte Sheila, wie ihr Herz raste.

„Sheila, hier drüben!“

Erschrocken fuhr sie zusammen. Aber die Stimme – eine männliche Stimme – war real, und sie lächelte erwartungsfroh. Gleich würde sie erfahren, wer sie für würdig befunden hatte, an einer solch kostbaren historischen Entdeckung teilzuhaben.

Ein Schauer überlief sie. Das war es! Sie half gerade dabei, Geschichte zu schreiben.

„Wo?“, rief sie und lief durch das Gestrüpp, wobei sie den Sarkophagen auswich. Sie stolperte über einen zerbrochenen Grabstein, und die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand. Sie hörte das Glas zerbrechen. Nun blieb ihr nur noch der schmale Lichtstrahl des Mondes, der sein Bestes tat, um den wabernden Nebel zu durchdringen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie auf dem Boden lag und an die Frau in Weiß dachte, die auf der Veranda erschien.

Rasch rappelte sie sich auf, und einen Moment lang überwog ihre Angst die Aufregung.

„Sheila!“

In dem Nebel und der Dunkelheit konnte sie kaum erkennen, wohin sie ging. Obwohl sie den Friedhof gut kannte, weil sie hier oft genug am Tag spazieren gegangen war, fühlte sie sich nun orientierungslos. Vorsichtig bewegte sie sich in die Richtung, aus der sie die Stimme zu hören geglaubt hatte. Sie stolperte erneut, doch diesmal fing sie sich an einem zerfallenen Mausoleum ab.

Eine Wolke schob sich vor den Mond und hüllte sie in völlige Finsternis.

„Sheila?“ Diesmal war es ein Flüstern, aber ganz nah. „Los, hol mich hier raus“, rief sie. „Ich habe meine Taschenlampe verloren.“ Überrascht registrierte sie, wie zittrig ihre Stimme klang, und erkannte, dass sie tatsächlich Angst hatte. Innerhalb weniger Sekunden war die leichte Beklommenheit zu echter Panik angewachsen. Es war dumm gewesen, hierherzukommen, begriff sie. Sie war eine Idiotin. Mitten in der Nacht auf einem entlegenen Friedhof herumzulaufen, nachdem sie einen nicht unterzeichneten Brief erhalten hatte.

Was hatte sie sich dabei gedacht?

Sie würde zurück zum Wagen gehen, nach Hause fahren, ein großes Glas Wein trinken und streng mit sich ins Gericht gehen, dass sie etwas so Idiotisches getan hatte.

„Ich bin doch hier“, sagte die Stimme ungeduldig.

„Scheiß drauf“, murmelte sie.

Als sie sich gerade von der Stimme abwandte, schien ein

riesiger schwarzer Schatten hinter ihr aufzusteigen und sie zu schubsen. Intuitiv streckte sie die Hände aus, um nicht hinzufallen, und berührte etwas, das sich wie rostiges Metall anfühlte. Sie hörte ein quietschendes Geräusch, als das Metall unter ihrem Druck nachgab, und geriet ins Stolpern.

Dann …

Ein weiterer Stoß.

Und dann schrie sie, weil sie fiel …

 

Die Flynn-Plantage

1863

Brendan Flynn war zurückgekehrt von der Überführung eines Kriegsgefangenen zum Hauptquartier von „The Beast“ Butler in New Orleans, wo er den berüchtigten General aber nicht zu Gesicht bekommen hatte.

Bill Harvey, ein unbedeutender Landstreicher, der sich gut in die Army eingefügt hatte – jedenfalls wenn Gemeinheit, Brutalität und sogar Sadismus einen guten Soldaten ausmachten –, hatte draußen herumlungert, als Brendan eintraf.

„Hallo, Flynn.“

„Bill“, murmelte Brendan, während er die Tür der Villa öffnete, in der Butler sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte.

„Du kennst die Vorschrift, nicht wahr?“ Bill Harvey grinste anzüglich bis über beide Ohren, was immer ein schlechtes Zeichen war.

„Wovon redest du, Bill?“

Bills Grinsen wurde noch breiter, wenn das überhaupt möglich war. „Nun, du weißt doch, was General Butler über diese Frauen sagt, die uns Soldaten anspucken und so. Wenn sie spucken und frech sind, nun, dann sind sie einfach Huren, und wir können sie wie die Huren behandeln, die sie nun mal sind. Und dieses Mädel, das da auf der Flynn-Plantage lebt – sie ist das frechste Miststück von allen.“

„Fiona?“ Zuerst war er aufrichtig verblüfft. Fionas Erziehung ließ es gar nicht zu, dass sie sich bei welcher Gelegenheit auch immer anders als höflich verhielt. Und er hatte sie beschworen, sich von den Soldaten der Union fernzuhalten. Das Anwesen war nicht konfisziert worden, weil er es erben würde, sollte Sloan im Krieg getötet werden. Damit niemand auch nur eine Konfiszierung versuchen würde, hatte er keinen Zweifel daran gelassen, dass er seine Besitzansprüche angemeldet hatte.

„Mm-mm. Ein paar von uns waren letzte Woche am Fluss, um nach Essbarem zu suchen. Und sie war saufrech“, sagte Bill.

Brendan trat einen Schritt näher und schlug dann zu. Wie ein Schraubstock schlossen sich seine Finger um Bills Hals und pressten ihn an die Säule, an die er sich gerade noch gelehnt hatte. Bill krächzte und wand sich, doch er war kein Gegner für Brendan und wusste das auch. „Was zur Hölle …? Dafür kommst du vors Kriegsgericht“, keuchte er.

„Was habt ihr mit ihr gemacht?“, wollte Brendan wissen. „Nichts! Nichts, ich schwöre es!“ Bills Gesicht lief rot an.

Weitere Soldaten hatten sich um sie versammelt, sahen jedoch nur zu. Bill war ein Mistkerl und von niemandem wohlgelitten. Und die meisten Männer fühlten sich abgestoßen von der Grausamkeit, mit der man ihren geschlagenen Brüdern und Schwestern begegnet war.

„Es ist Victor Grebbe … Er ritt heute Nachmittag fort mit … Art Binion.“

Brendan ließ den Mann los. „Wann genau?“, wollte er wissen.

Bill rieb sich den Hals. Sein Gesicht war noch immer gerötet. „Du Scheißkerl …“, begann er.

Innerhalb einer Sekunde hatte Brendan ihn wieder im Würgegriff.

„Vor dreißig Minuten“, keuchte er.

Brendan fluchte. Er konnte auf offiziellem Wege gegen die Sache vorgehen. Doch offizielle Wege würden Fiona nicht retten.

Oder den kleinen Sohn seines Cousins.

Brendan vergaß völlig den Gefangenen, den er übergeben sollte, machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zu seinem Pferd. Mercury war auf der Familienplantage gezogen worden, ebenso wie Sloans getreuer Pegasus. Armes Pferd. Mercury musste erschöpft sein. Doch Brendan trieb ihn kraftvoll an und galoppierte die Auffahrt hinunter nach draußen, wo die Straßen holprig und ausgetreten waren von zu vielen Pferden und zu vielen Männern.

Abgenutzt von zu viel Krieg.

Verdammt war der Krieg, verdammt war der Tod. Verdammt war der Ausnahmezustand, der es Männern erlaubte, Recht und Unrecht, Gnade und Menschlichkeit zu vergessen.

Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er hatte einiges gehört über Victor Grebbe. Hatte gehört, dass er eine kranke Vorliebe für Frauen hegte und dass man einige, die mit ihm gingen, seitdem nie wieder gesehen hatte.

Es war ein langer harter Ritt hinaus zur Plantage.

Er trieb sein Pferd an in der Hoffnung, dass er die Männer überholen konnte, die es auf Vergewaltigung und vielleicht sogar Mord abgesehen hatten, doch sie hatten zu viel Vorsprung und zudem zweifellos frische Pferde.

Und dann schließlich lag das Haus vor ihm. Aus der Ferne wirkte es so ruhig und freundlich, wie seine Familie einst gewesen war. Bis zum Krieg.

Im Krieg ging es um Konflikte, um Territorium.

Aber das hier? Das hier war persönlich.

Während er die eichengesäumte Auffahrt hinaufgaloppierte,

hatte er nur einen Gedanken im Kopf.

Fiona.

Er kam gerade rechtzeitig, um sie vom Balkon stürzen zu sehen. Er hörte ihren Schrei und erblickte den Feind, einen Soldaten der Konföderierten, auf dem Hof. Der Mann feuerte in Richtung Balkon und stieß einen Wutschrei aus, wie Brendan ihn noch nicht gehört hatte. Der Schuss explodierte in der Stille des schönen Frühlingstages, und Brendan tat, was jeder Mann getan hätte.

Er zog seine Waffe.

Und er feuerte auf den Feind.

Erst als dieser sich tödlich verwundet umdrehte, um zurückzufeuern, erkannte er, wer da die graubraune Uniform der Konföderierten trug.

Sloan.

Als die Kugel in seine Brust einschlug, wusste er, dass er den eigenen Cousin getötet hatte. Aber nicht mit Absicht, Gott möge ihm vergeben. Nicht mit Vorsatz und niemals aus Böswilligkeit. Oh, lieber Gott, was für ein Ende für sie alle, verdammt in den Augen all jener, die nach ihnen kommen sollten …

Und welch eine Ironie, dass Sloan ihn ebenfalls getötet hatte. Denn er lag im Sterben, das wusste er.

In diesem Moment erblickte er Victor Grebbe, der oben auf dem Balkon fluchend seine verletzte Schulter hielt, wo Sloans Kugel ihn erwischt hatte.

Brendans eigener Arm war kalt, und er wusste, dass er fast tot war. Seine Lebensgeister schwanden. Dennoch hob er in einer letzten Anstrengung die Waffe und zog mit letzter Kraft den Abzug.

Und er feuerte. Feuerte auf Grebbe, einen Mann, der eine Schande war für jede Uniform, eine Schande für die Menschlichkeit, die Menschheit.

Grebbe, durch den sie alle verdammt waren.

Während er starb, hörte er das angsterfüllte Wehgeschrei des Säuglings im Haus. Sloans Sohn. Sloan hatte niemals erfahren, dass er einen Sohn hatte. Brendan hatte es ihm nicht geschrieben, weil er fand, dass dies Fionas Vorrecht sei. Er betete zu Gott, dass das Kind leben und das furchtbare Schicksal seiner Familie irgendwie ausgleichen möge.

Denn sie waren verdammt zur Erinnerung, verdammt in den Augen der Menschen.

Was war mit den Augen Gottes?

Er würde es nur allzu bald erfahren.

Er konnte nur hoffen, dass Gott – und die Zeit – ihnen allen vergeben würde.

 

Die Flynn-Plantage

Gegenwart

Sheila kam wieder zu sich. Sie fühlte sich ausgesprochen verwirrt. Sie hörte … Wasser. Und sie nahm einen widerlichen Geruch nach Feuchtigkeit und Verwesung wahr, der an den Wänden zu kleben schien … wo auch immer sie hier lag. Sie blinzelte mehrere Male, doch es war nicht mehr neblig. Es war stockdunkel.

Sie setzte sich auf und versuchte zu ergründen, wo sie sich befand.

Plötzlich sah sie ein Licht. Nur wie ein Nadelstich, und es half nicht. Es war zu grell und stach schmerzhaft in ihren Augen. Sie hob eine Hand, um sich gegen die blendende Helligkeit zu schützen.

Mit der Hand vor den Augen blickte sie zur Seite und keuchte erschrocken auf.

Da war ein Gesicht in der Dunkelheit. Tief liegende Augen, eingesunkene Wangen, verwestes Fleisch. Es schwamm in dem Wasser, das sie umgab, und schien sie anzustarren.

Halloween, ermahnte sie sich. Halloween stand vor der Tür. Zweifellos war dies nur jemandes makabre Vorstellung von einem Streich.

Doch im Innersten wusste sie, dass sie unrecht hatte. Dies hier war echt. Dies war ein menschlicher Kopf, der nicht länger mit dem Körper verbunden war.

Voll nackter Panik wollte sie schreien, doch bevor sie einen Laut von sich geben konnte, ließ die Stimme sie erstarren.

„Sheila …“, flüsterte sie freundlich, sogar liebevoll.

Und dann … Sie wusste, dass sie nie wieder schreien würde.

1. KAPITEL

New Orleans

Gegenwart

„Es ist ein Knochen“, verkündete Dr. Jon Abel.

„Offensichtlich“, bemerkte Aidan Flynn trocken.

Der Doktor warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Ein Oberschenkelknochen.“

„Und er ist menschlich“, sagte Aidan.

„Ja, das ist ein menschlicher Oberschenkelknochen“, stimmte Dr. Abel zu. Er stand am schlammigen Ufer des Mississippi und schaute achselzuckend in die Gesichter um sich herum. Es ging auf den Abend zu, doch der Tag war heiß und drückend gewesen, und nur eine leichte Brise vom Fluss deutete an, dass es kühler wurde. Jenseits des matschigen Ufers, an dem Aidan den Knochen gefunden hatte, war das aufgewühlte Wasser von einem hässlichen Braun. Ein Moskito summte. Der Doktor schlug auf seinen Arm und schüttelte angewidert den Kopf. Er hatte Außeneinsätzen noch nie viel abgewinnen können.

Aidan hatte darum gebeten, ihn vor Ort zu holen. Da Aidan jedoch nur ein Privatdetektiv war, der gemeinsam mit seinen zwei Brüdern gerade die alte Familienplantage geerbt hatte, war es Hal Vincent gewesen, der Ermittler von der örtlichen Mordkommission, der den Doktor angefordert hatte. Jonas Burningham vom hiesigen FBI hatte sich dem „Fall“ angeschlossen, falls sich herausstellen sollte, dass sie nach einem Serienmörder suchten, der sich das Chaos – und die viel zu häufige Gewalt – im Gefolge von Hurrikan Katrina zunutze machte.

„Wissen Sie“, sagte Abel. „Wir finden noch immer alle möglichen … Überreste, die der Sturm bloßgelegt hat. Das wird noch Jahre so gehen. Wir haben hier nicht immer oberirdisch bestattet, und das ganze Mississippi-Ufer entlang gibt es eine Menge Familiengrabstellen. Unten in Slidell lebt eine Frau, die nach dem Sturm monatelang drei Särge in ihrem Garten hatte. Niemand wusste, wo sie hingehörten, und keine Behörde erklärte sich bereit, sie abzuholen. Also nannte sie sie einfach Tom, Dick und Harry und grüßte sie jedes Mal, wenn sie an ihnen vorbeikam.“ Jon Abel war ein groß gewachsener, dünner Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, der mehr wie ein verrückter Professor wirkte und weniger wie das, was er wirklich war: einer der angesehensten Gerichtsmediziner des Staates. Er sah hinaus auf das braune Wasser und seufzte. „Herrje, dieser Fluss hat mehr Leichen gesehen, als Sie und ich uns überhaupt nur vorstellen können, und man würde zwölf Leben brauchen, um sie alle zu untersuchen.“

„Das ist alles?“, fragte Aidan. „Keine Untersuchung? Sie tun das einfach so ab?“ Während er sprach, verdunkelte sich allmählich der Himmel. Sturmwolken, die sich vorher nur angedeutet hatten, wuchsen zu großen, bedrohlichen Schatten am Himmel heran. Er deutete auf den Knochen. „Für mich sieht es so aus, als ob noch Gewebereste daran sind, was hieße, dass der Knochen frisch ist. Und es könnte irgendwo in der Nähe noch weitere Leichenteile geben, die dazu passen. Wenn ich über etwas Altes gestolpert wäre, hätte ich einen Anthropologen gerufen.“

Jon Abel seufzte genervt auf. „Na klar. Ich habe ja auch nicht genug Leute, die von Kugeln durchlöchert wurden. Oder in Fetzen geschnitten. Bei Autounfällen zerquetscht. Zerschmettert unter irgendeiner Brücke. Sicher. Ich nehme einfach diesen Oberschenkelknochen, der vielleicht ein bisschen Gewebe an sich hat, und mache mich gleich an die Arbeit.“

„Jon“, mischte sich Hal Vincent beruhigend ein. „Es könnte etwas an der Sache dran sein. Ich weiß, dass ihr beschäftigt seid und du eine Menge dringender Fälle hast, aber tu, was du kannst, okay?“

„Männlich oder weiblich?“, fragte Aidan.

„Bislang ist es nur ein Knochen.“

„Männlich oder weiblich – Ihre Einschätzung“, insistierte Aidan.

Der Gerichtsmediziner warf ihm einen gereizten Blick zu. „Weiblich“, sagte er. Der Mann war schon lange dabei. Ob ihm die heutige Vorgehensweise nun gefiel oder nicht, er war einer der Besten auf seinem Gebiet. Er rückte seine Brille zurecht und schüttelte den Kopf. „Aus dem Stegreif würde ich schätzen, dass sie etwa eins achtundsechzig groß war.“ Er sah genauer hin. „Vermutlich zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Sonst kann ich nichts sagen. Nicht einmal vermuten.“

„Ich vermute, sie ist tot“, sagte Hal trocken.

Jonas schaltete sich ein und versuchte, die Wogen zu glätten. Er gehört zum Typ Schlipsträger. Vierzig Jahre alt, groß und muskulös gebaut, mit glattem, blondem Haar und attraktiven Gesichtszügen. Selbst mitten im Matsch wirkte er tadellos und nicht aus der Ruhe zu bringen. „Wir würden es sehr begrüßen, Dr. Abel, wenn Sie uns mehr sagen könnten, sobald ihr Terminplan das zulässt. Sehen Sie, Jon, wir wissen, dass Sie sehr beschäftigt sind. Und wir wissen auch, dass Sie der Beste sind.“

Jon Abel grunzte als Reaktion auf das Kompliment, warf Aidan jedoch wieder einen verärgerten Blick zu. Was ihn anbetraf, war Flynn ein Außenseiter. Er kam oft nach New Orleans, um hier Freunde zu besuchen, doch er war noch immer ein Außenseiter – zumindest für Jon Abel.

Diesmal war Aidan wegen eines Vermisstenfalls in der Gegend. Ausgerissene Jugendliche hatten sich angewöhnt, auf dem sumpfigen Grasgelände jenseits des Flusses zu campen. Er hatte das Objekt seiner Suche gefunden, und sie war dreckig genug, nass genug, hungrig genug und elend genug gewesen, um dankbar zu hören, dass ihre Eltern sie wieder zu Hause haben wollten.

Und Aidan war dankbar gewesen, dass er sie lebend gefunden hatte. Das war nicht immer der Fall bei Ausreißern. Und wohl auch nicht bei der Frau, deren Knochen er in der Nähe gefunden hatte.

Jonas und Flynn kannten sich seit langer Zeit. Sie hatten zusammen die FBI-Akademie besucht. Jonas war bei der Behörde geblieben.

Aidan hatte nach einigen Jahren seinen Dienst quittiert und war ausgeschieden.

Es war vor allem Jonas’ guten Beziehungen zu Jon Abel zu verdanken, dass der Gerichtsmediziner sich vor Ort eingefunden hatte.

„Ich tue, was ich kann“, sagte Jon. Er winkte seinem Assistenten Lee Wong, der allem aufmerksam zugehört hatte. Er wollte es zu was bringen, und mit Jon Abel zu arbeiten war dafür der richtige Weg.

Der Oberschenkelknochen wurde ordnungsgemäß gekennzeichnet und eingetütet. Vor sich hin grummelnd, ging Jon dann in Richtung Auto, während Lee ihm folgte. Jon winkte zum Abschied und drehte sich für seinen letzten Satz nicht mehr um. „Ich melde mich, wenn ich etwas weiß.“

Als er fort war, ergriff Hal Vincent das Wort. „Ich werde ein paar Männer hierher beordern, um die Gegend zu durchkämmen.“ Er war ein großer Mann, gut eins fünfundneunzig groß und dünn, doch jede Faser seines Körpers bestand aus Muskeln. Seine Haut schimmerte kupferfarben, und er hatte grüne Augen. Sein weißes Haar trug er kurz geschoren. Sein Alter war schwer zu schätzen. Aidan dachte, dass er mit hundert wohl nicht viel anders aussehen würde. Geboren in Algiers, Louisiana – direkt auf der anderen Seite des Flusses –, kannte Hal die Gegend wie seine Westentasche. Er war ein guter Polizist, verlässlich, kein Schwätzer.

„Danke, Hal“, sagte Jonas. Er blickte zu Aidan und zuckte die Achseln. „Du weißt … es könnte unter Umständen … ein alter Knochen sein.“

„Ja, möglich“, stimmte Aidan zu. „Aber vielleicht auch nicht.“ Er versuchte, jeden sarkastischen Unterton zu unterdrücken.

„Wir starten die Suche und unterrichten dich.“ Hal blickte auf die Uhr. „Ich habe inzwischen Feierabend und könnte ein Bier vertragen. Hat jemand Lust mitzukommen?“

„Klingt gut“, erwiderte Jonas. Er hatte eigentlich im Westen eingesetzt werden wollen, war aber nach New Orleans beordert worden und hatte sich zur eigenen Überraschung in die Gegend verliebt. Schließlich hatte er ein Mädchen von hier geheiratet und war ins French Quarter gezogen. „Aidan?“

Aidan schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich bin schon spät dran. Ich will meine Brüder weiter flussabwärts treffen.“

„Ich hörte, dass Sie die alte Plantage am Mississippi geerbt haben“, sagte Hal.

Aidan verzog das Gesicht. „Ja, und was für ein Erbe.“ „Man weiß nie“, sagte Hal. „Der Ort hat eine sagenhafte Geschichte. Es gibt eine Legende, Geister, das ganze Programm. Es verfällt alles, doch noch stehen die ursprünglichen Ställe, das Räucherhaus, sogar die Sklavenquartiere. Wenn Sie etwas damit anfangen wollen, tun Sie es bald. Die örtlichen Denkmalschützer werden Ihnen bald die Bude einrennen.“

„Na ja … Ich weiß noch nicht, was wir tun werden. Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns heute treffen“, erwiderte Aidan neutral.

„Ich hörte, dass ihr drei zusammen ins Detektivgeschäft eingestiegen seid“, sagte Jonas. „Wie läuft es?“

„Gut“, erwiderte Aidan kurz.

„Kaum zu glauben. Leute aus Florida, die das alte Haus übernehmen“, sagte Hal. Aidan war nicht sicher, wie er das meinte. „Lass uns Bier trinken gehen, Jonas. Aidan, wir melden uns, wenn wir irgendwas über Ihren Knochen erfahren.“

Aidan nickte, und sie stapften alle durch den Dreck zurück. Bei ihren Wagen angekommen, winkten sie einander zu. Die anderen beiden Männer fuhren Richtung Stadt.

Aidan fuhr weiter flussabwärts.

Zwanzig Minuten später war er bei seinen Brüdern.

Alle drei standen da und starrten das Haus auf dem Hügel an, der nicht wirklich als Anhöhe durchging.

Aber das Gebäude war auch nicht wirklich ein Haus. Nicht mehr. Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung hingen Schindeln vom Dach, Säulen waren zerbrochen, und die Farbe bröckelte und blätterte ab. Das Ergebnis wirkte wie die Kulisse für einen Horrorfilm.

Dass sich ein Sturm ankündigte, machte die Sache nicht besser. In der Ferne grollte der Donner, und der Himmel hatte eine merkwürdige Farbe angenommen. Doch zumindest linderte das kommende Unwetter die Hitze. Eine kühle Brise brachte sogar ein leichtes Frösteln mit sich. Und die Dunkelheit schien ein Eigenleben zu führen: Sie fegte über den Himmel und legte sich über die Bäume, sie kroch wie Nebel den Boden entlang und bildete einen schattigen Schleier, der nach Gewalt und Fäulnis roch.

Aidan war der älteste der drei Brüder und mit gut einem Meter und neunzig der größte von ihnen. Sein Gesicht war wettergegerbt, und er hatte von allen dreien den eindrucksvollsten Körper. Durch seine Zeit beim Militär war er durchtrainiert und wachsam. Er verfügte über hervorragende Reflexe und hatte ein gewisses Misstrauen seiner Umwelt gegenüber zurückbehalten, was ihm eine unnahbare Aura verlieh. Er hatte mal ganz gut ausgesehen, nahm er an. Er hatte blaue Augen, die viele inzwischen als eisig bezeichneten, und tiefschwarzes Haar. Serena hatte ihn unwiderstehlich genug gefunden. Er vermutete, dass es mehr seinem Verhalten als seiner Erscheinung zuzuschreiben war, dass Menschen auf Distanz zu ihm gingen. Auf der anderen Seite hatte er sich in der Zeit mit Serena vermutlich nicht so unnahbar und frostig gegeben. Die Welt hatte ein Versprechen in sich getragen, als sie noch lebte. Jetzt … Nun, es war gut, dass er Arbeit hatte. Viel Arbeit. Das bewahrte ihn vor dem Sturz in die Leere.

Seine Brüder, seine Familie – ihnen traute er. Aber anderen … Er hatte das FBI-Trainingszentrum in Quantico durchlaufen, doch nachdem das Leben ihn davon überzeugt hatte, dass er kein Teamplayer war, hatte er das FBI verlassen. In Anbetracht seines Hintergrundes war seine Entscheidung gefallen, sich eine Zukunft als Privatdetektiv aufzubauen.

Vielleicht hätte er über das Haus vorher Erkundigungen einholen sollen.

„Hmm“, sagte Jeremy, der zweitälteste der Brüder. Jeremy hatte als Erster vorgeschlagen, dass sie zusammen eine Firma gründeten. Als Aidan das FBI verließ, hatte Jeremy gerade seinen Job als Polizeitaucher in Jacksonville aufgeben wollen. Anders als bei Aidan war seine Krise nicht privat bedingt. Er war nur der Erste gewesen, der auf einen Van mit misshandelten Pflegekindern gestoßen war. Sie waren alle ertrunken, nachdem der Wagen den Mittelstreifen überquert hatte und direkt in den St. Johns River gefahren war. Er war schon lange bei der Einheit und hatte schreckliche Dinge gesehen. Doch diese Sache verfolgte ihn. Jeremy spielte gerne Gitarre, und die Musik ließ ihn durchhalten. Er gründete eine Wohltätigkeitsorganisation für misshandelte, verlassene und verwaiste Kinder und entdeckte dabei sein Talent für das Radio. Er war nach New Orleans gekommen, um mit einem bekannten DJ bei einer Gala für seine Wohltätigkeitsorganisation Children’s House Geld zu sammeln. Children’s House kümmerte sich unter anderem um Kinder aus der Gegend, die seit Katrina verwaist waren und ein neues Zuhause brauchten.

Jeremy mochte Menschen und hatte New Orleans und die Gegend immer geliebt, doch auch er war nun sprachlos, da sie ihr unerwartetes Erbe zum ersten Mal sahen.

Plantage, dachte Aidan.

Das Wort rief Bilder von langen, eichengesäumten Auffahrten hervor, von reichen, grünen Feldern und Viehweiden – und von einem im Greek-Revival-Stil erbauten blütenweißen Haus mit schönen Frauen in langen, flatternden Gewändern, die auf der Veranda saßen und an ihrer Minzlimonade nippten.

Falls hier jemand etwas trank, dann waren es Obdachlose, die ihr in braunen Papiertüten verstecktes Bier hinunterkippten.

Oh ja. Er hätte sich das Haus eindeutig vorher ansehen sollen.

Zachary, der Jüngste des Trios, bei dem sich das Stoische seines ältesten Bruders und die Aufgeschlossenheit des jüngeren mischten, stieß einen Seufzer aus.

„Ich schätze, man könnte es renovierungsbedürftig nennen“, sinnierte er trocken.

Aidan wandte sich ihm zu. Zachary war ebenso wie Jeremy einen Meter und neunzig groß. Es war, als wären die Brüder in dieselbe Form gegossen und dann unterschiedlich bemalt worden. Aidans Augen waren von einem Blau, das von eisig bis dunkelblau changierte. Jeremy hatte wolkengraue Augen, sein Haar war dunkelbraun mit einem rötlichen Schimmer. Zachary wiederum hatte es als Kind schwer gehabt, weil er mit rotblonden Locken geboren wurde. Die Farbe war mit den Jahren nachgedunkelt, doch der rote Stich blieb. Seine Augen waren fast wasserblau. Aidan und Jeremy hatten ihn zu Kinderzeiten gnadenlos gehänselt, doch tatsächlich war er so schön wie ein griechischer Gott. Zachary hatte sich seine ganze Jugend lang geprügelt – aber dafür waren die Iren ja schließlich bekannt, wie ihre Mutter mehrmals bedauerte. Dennoch hatte Zach eine gute Jugend gehabt. Er konnte sich in jedem Kampf behaupten, doch seine größte Liebe gehörte der Musik, mit der er sich ebenso wie Jeremy immer wieder beschäftigte. Seelentrost nannte er sie.

Auch er war bereit gewesen für das Familienunternehmen. Nach Jahren bei der Spurensicherung in Miami hatte er genug gehabt, als er einen Tatort untersuchen musste, bei dem ein drogensüchtiger Vater seinen kleinen Sohn in der Mikrowelle getötet hatte. Er hatte sich bereits bei einigen kleinen Plattenstudios im Land eingekauft, doch als er von der Gründung des Detektivbüros hörte, faszinierte ihn die Idee, und er gab seinen Job sofort auf.

Aidan war jetzt sechsunddreißig, Jeremy fünfunddreißig und Zachary dreiunddreißig. Als Kinder hatten sie sich ständig in den Haaren gelegen, doch als Erwachsene waren sie zu Freunden geworden.

„Wir sollten es einfach verkaufen“, sagte Aidan.

„Ich bin mir nicht sicher, was wir in dem gegenwärtigen Zustand dafür bekommen würden“, wandte Zach ein.

„Es verkaufen?“, protestierte Jeremy. „Das ist unser … nun, das ist unser Erbe.“

Die beiden anderen sahen ihn stirnrunzelnd an. „Unser Erbe? Bis zu dem Anruf des Anwalts wussten wir nicht einmal, dass es diesen Ort gibt“, erinnerte ihn Aidan.

Jeremy zuckte die Achseln. „Mag sein, aber herrje, jede Menge Flynns haben in dem Haus gewohnt, und nun gehört es uns. Ich finde das toll. Wie viele Menschen wachen morgens auf und erfahren, dass sie eine Antebellum-Plantage geerbt haben?“

Aidan und Zach starrten das Haus an und dann wieder ihren Bruder.

„Kommt schon“, drängelte Jeremy. „Allein das Land muss etwas wert sein.“

„Richtig“, sagte Aidan. „Deswegen sage ich, wir sollten es zu dem Wert des Landes verkaufen.“

„Nein, wir sollten etwas daraus machen“, schüttelte Jeremy den Kopf. Er blickte fasziniert Richtung Haus, bevor er sich wieder seinen Brüdern zuwandte. „Was hält uns davon ab, in diese Gegend zu ziehen, hm?“

Aidan wollte etwas einwenden, verschränkte aber stattdessen die Arme vor der Brust.

Es stimmte.

Er war nach New Orleans gekommen, um einen ausgerissenen Teenager zu finden. Danach hatte er vorgehabt, an jenen Ort zurückzukehren, den er seit einiger Zeit sein Zuhause nannte, Orlando in Florida. Aber warum? Sie konnten mit der Firma überallhin ziehen, und ohne Serena gab es nichts, was ihn an Orlando band.

Sie alle drei mochten New Orleans und würden hier genug Beschäftigung finden. Jeremy konnte sich weiter um Children’s House kümmern, Zach kam sowieso oft hierher, um mit einigen alten Freunden in einer Band zu spielen. Und jetzt, nach dem Tod von Amelia Flynn, waren sie die einzigen Erben der zerfallenen Plantage.

Vielleicht hätte es nicht ein solch großer Schock sein müssen. Sie wussten, dass die Familie ihres Vaters aus dem Süden stammte, doch er war ein Einzelkind gewesen, und sein Vater wiederum ebenfalls, und davor … Nun, Menschen verloren sich aus den Augen, so war das eben.

Nicht dass ihr Zweig der Flynn-Familie weit gediehen war, dachte Aidan ironisch.

„Wir können alle bei der Sanierung helfen und es dann verkaufen“, sagte Jeremy. „Wenn wir es in einen anständigen Zustand bekommen, machen wir vermutlich ein ganz gutes Geschäft. Wenn es nicht länger nach einem Geisterhaus aussieht, werden die Käufer uns die Bude einrennen.“

„Geisterhaus?“, sagte Zach.

„Es soll doch dort tatsächlich Geister geben, oder?“, fragte Jeremy.

„Ja“, sagte Zach. „Da war irgendwas mit zwei Cousins, die während des Bürgerkriegs auf unterschiedlichen Seiten kämpften und sich schließlich hier vor dem Haus gegenseitig umbrachten. Gruselig.“

„Das ist tragisch, aber nicht gruselig“, sagte Aidan ungeduldig.

„Es ist tragisch, aber auch ein bisschen gruselig. Ich meine, sie waren unsere Vorfahren. Unsere Familie“, sagte Zach.

Der Wind pfiff leise, als ob er zustimmen wollte.

„Ich finde, Jeremy hat recht. Wir sollten das Haus restaurieren“, verkündete Zach.

„Genau. Und es wieder in ein Schmuckstück verwandeln“, stimmte Jeremy zu.

Aidan starrte die beiden an. „Seid ihr zwei verrückt?“, wollte er wissen.

Zach grinste ihn an. „Was ist los? Hast du Angst vor Geistern? Ich bezweifele, dass das Haus wirklich verflucht ist“, zog er ihn auf.

„Wir sind Investoren und keine Handwerker. Und alle alten Häuser werden angeblich von Geistern heimgesucht“, sagte Aidan und war selbst überrascht, wie gereizt er darauf reagierte. „Wenn es als verflucht gilt, heißt das, dass alle möglichen Idioten aus ihren Löchern kommen, um hier Nachforschungen anzustellen oder so was.“

Jeremy zwinkerte Zach zu. „Ich muss zugeben, dass ich den Gedanken aufregend finde, ein Stück Geschichte zu besitzen. Und wir gehören ebenso sehr zu dem Haus, wie das Haus zu uns gehört. Ich meine, das hier ist die Flynn-Plantage, und wir sind alles, was von den Flynns übrig geblieben ist.“

Aidan stöhnte laut auf. Er war bereits überstimmt. Er wusste nicht, warum, doch wenn er sich das Haus ansah, verspürte er keinerlei Drang, etwas damit zu tun zu haben.

Es war nichts als ein weißer Elefant, entschied er. Nein, nicht weiß. Ein grauer Elefant, dessen Farbe abblätterte.

„Wir wissen nicht einmal, ob die Statik in Ordnung ist“, sagte er. Als er zu dem Haus sah, blendete ihn die Sonne einen Moment. Und dann …

Dann sah er eine Frau auf dem Balkon. Sie war groß, mit wehendem, kastanienfarbenem Haar, und sie trug irgendwas Langes, Weißes, das ebenso hinter ihr herzuflattern schien wie ihr aufregendes, langes Haar. Sie war auf seltsame Weise schön – und sie wirkte sehr real.

Als er blinzelte, war sie verschwunden.

„Sagt mal, habt ihr gerade jemanden gesehen?“, fragte er seine Brüder.

„Nein, aber möglicherweise ist die Frau hier, die sich um Amelia gekümmert hat. Der Anwalt sagte etwas davon, dass sie herkommen wollte, um ihre Sachen zu holen.“

„Ich dachte, ich hätte jemanden in … egal“, sagte Aidan.

Er fixierte den Balkon und dann die Fenster. Dort war niemand.

Falls seine Brüder seine genaue Musterung des Hauses bemerkten, sagten sie nichts. Vermutlich waren sie zu beschäftigt, sich über ihre handwerklichen Fähigkeiten zu streiten.

Er ließ sie stehen und ging in Richtung Haus.

„Aidan!“, rief Zach. „Was tust du da?“

„Ich sehe mir das näher an“, rief er zurück.

Eine Minute später hatten sie ihn eingeholt, und sie alle gingen die Kiesauffahrt hinauf, deren uralte Eichen links und rechts einen willkommenen Schutz vor der Sonne boten. Als sie sich dem Haus näherten, bemerkte Aidan, dass der Anstrich in einem noch schlechteren Zustand war als angenommen. Hier wird man richtig Arbeit hineinstecken müssen, dachte er mit einem innerlichen Stöhnen.

„Wir können hier draußen eigentlich keine baurechtlichen Probleme bekommen“, sagte Zach.

„Wenn es eine historische Sehenswürdigkeit ist, werden wir dennoch mit jemandem verhandeln müssen“, entgegnete Aidan.

Zach schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, dass es irgendeinen historischen Schutz genießt. Aber historische Gebäude sind wichtig. Ich weiß nicht, wie es dir geht, Aidan, aber manchmal … herrje, manchmal glaube ich, dass wir zumindest versuchen sollten, die Welt etwas zu verbessern.“

Aidan blieb stehen und sah seinen Bruder verständnislos an. „Wovon sprichst du?“

Zach zuckte die Achseln. „Ich habe so viel schlimmen Scheiß da draußen gesehen – herrje, wir alle haben das –, und ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, dass das hier etwas Wichtiges ist, etwas, das uns bestimmt ist.“

„Was, wenn die Historische Gesellschaft die Plantage kaufen will?“, wollte Aidan wissen.

Zach starrte ihn an. „Der Sturm ist zwar inzwischen Jahre her, doch du und ich wissen, dass es noch Jahre dauern wird, bis wieder richtiges Geld in die Region fließt. Ich bin mir sicher, dass die Historische Gesellschaft alles Mögliche getan hat, um die Gebäude zu restaurieren, die sie schon besitzt. Aber wir könnten etwas Wichtiges tun, indem wir diesen Ort wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückverwandeln. Hier könnten Vorträge und Konzerte stattfinden, vielleicht sogar Festspiele, um das Publikum daran zu erinnern, wie man ein Land aufbaut.“ Zach errötete und war von seiner kleinen Rede offenbar selbst überrascht, doch er machte keinen Rückzieher.

Als Jeremy sein „Ich bin dabei“ murmelte, hob Aidan resigniert die Hände. „Tatsächlich habe ich eine Idee“, übernahm nun Jeremy das Ruder.

„Ach ja?“, sagte Aidan.

„Warum setzen wir uns nicht ein zeitliches Ziel? Wie Halloween. Wir könnten zu einem Event für Children’s House einladen.“

Aidan sah Jeremy an. Sein Bruder meinte es ernst. Und warum auch nicht? Als ihn der Beruf mit dem Schlimmsten konfrontiert hatte, was er sich vorstellen konnte, war er nicht verbittert, hatte nicht aufgegeben. Er hatte sich einer Aufgabe verschrieben, damit nicht noch mehr Kinder tot in einem Fluss landeten.

Sicher, Jeremy versteifte sich manchmal auf etwas, aber was sollte es? Vielleicht lag es im Blut. Hatte er nicht selbst vor weniger als einer Stunde am Ufer gestanden und darauf bestanden, dass ein einzelner Knochen, den jeder für eine Folgeerscheinung der Naturkatastrophe hielt, ernst genommen und eingehend untersucht werden musste?

Zachary hatte Jeremys Sache von Beginn an aus vollem Herzen unterstützt, aber was hatte er, der Älteste, getan?

Nichts, das war es. Er hatte seine Seele sterben lassen.

Nun, genug davon. Er schuldete seinem Bruder etwas.

„Ein Event?“, fragte er und bemühte sich noch immer, die Stimme der Vernunft zu spielen.

„Eine Halloween-Party.“ Jeremy lächelte, als die Idee in seinem Kopf Gestalt annahm. „Wir dekorieren die Plantage, heuern ein paar Leute an, die sich verkleiden und herumgeistern.“

Aidan stöhnte laut auf.

„Denk drüber nach, Aidan. Dieser Ort wurde uns geradezu geschenkt, warum ihn also nicht dazu benutzen, um anderen zu helfen?“, fragte Zach und schlug sich auf Jeremys Seite.

Aidan wusste, dass sie seinen Segen nicht brauchten. Er war überstimmt.

Doch sie wollten seine Unterstützung.

„Lasst uns heute erst einmal untersuchen, ob das Haus überhaupt stehen bleibt, wenn es regnet, okay?“, sagte Aidan. „Danach bin ich offen für alles.“

„Er ist offen für alles. Hast du das gehört?“, wandte sich Zach an Jeremy.

„Ja. Er muss zu lange in der Sonne gewesen sein“, erwiderte Jeremy grinsend.

Aidan ging weiter, und sie folgten ihm mit etwas Abstand. Sie kennen mich so gut, dachte er.

Er erinnerte sich, wie sie sich als Kinder und Jugendliche ständig geprügelt und ihre Eltern damit fast in den Wahnsinn getrieben hatten. Von ihm hatte man erwartet, sich besser zu benehmen, weil er der Älteste war. Meistens hatte er den Dingen Einhalt geboten, bevor es zu schlimm wurde. Dennoch waren sie Brüder gewesen. Wenn irgendjemand sich mit einem von ihnen anlegte, bildeten sie eine geschlossene Front. Sie waren die Flynn-Brüder und so unzertrennlich wie ein Clan nur sein konnte, wenn es hart auf hart kam.

Doch dann war er zum Militär gegangen und hatte einen bezahlten Dienst angetreten, um bei seiner Ausbildung zu helfen. Selbst als er in Übersee war, hatte die Familie ihn natürlich besucht – zumindest während er in Deutschland stationiert war. Doch es war nicht das Gleiche, als wenn er geblieben wäre. Er war als Erster fortgegangen. Die anderen beiden waren zwar nicht zu Hause, wohl aber im Staat und in der Nähe des Zuhauses geblieben. Außerdem verband Jeremy und Zach ihre Liebe zur Musik – nicht dass er damit nichts anfangen konnte, aber er liebte sie nicht ganz so sehr, wie seine Brüder es taten. Und als er zurückkam, ging er zum FBI. Die Ausbildung war faszinierend, wenn auch hart gewesen, doch irgendwie – vielleicht lag es an seinen Jahren beim Militär – hatte er die ganze Struktur als unangenehm und einengend empfunden. Er hatte seinen Hut genommen, hoffentlich ohne Groll auf beiden Seiten. Er war ziemlich sicher, dass dem so war. Die paar Male, die er bei seinen Recherchen in Sackgassen gelandet war, hatte man ihm beim FBI diskret geholfen.

Und natürlich war da Serena gewesen.

Es lief immer wieder auf Serena hinaus. Sie war der wahre Beginn seines Lebens gewesen.

Und das Ende.

Seit damals in der Highschool hatte sie mit ihm alles durchgestanden. Sie half ihm, sich durch die Zweifel bei allen wichtigen Entscheidungen hindurchzukämpfen. College oder Militär? Grafikstudium oder Kriminologie? Beim Militär bleiben oder sich beim FBI bewerben?

Doch dann hatte sich das Leben von einem Moment auf den anderen geändert, und er bereute, dass sie seine Arbeit und ihre politische Karriere nicht beiseitegeschoben hatten. Ein betrunkener Baggerfahrer war über den Mittelstreifen gerast und hatte Serena getötet. Und seitdem war nichts mehr von Bedeutung.

Das war jetzt fünf Jahre her. Und auch wenn ihn seine Arbeit mit Stolz erfüllte und trotz der guten Dinge, die er für andere Menschen erreichte, wusste er nicht mehr, wofür er lebte. Die Tage kamen, und die Tage gingen.

„Ich glaube nicht, dass ihr beiden auch nur ansatzweise ahnt, von wie viel Arbeit ihr hier sprecht“, sagte er. „Und all die Lizenzen und Genehmigungen und Versicherungen und …“

„Mach keinen Aufstand. Wir sind die Brüder Flynn“, sagte Zachary, der sich zwischen Aidan und Jeremy stellte und jedem einen Arm um die Schultern legte. „Wie könnte bei uns etwas schiefgehen?“

Aidan sah zum Haus hinauf. Wieder verspürte er einen merkwürdigen Anflug von Beklommenheit, was ihm gar nicht ähnlich sah. Er war der logische und pragmatische Bruder. Er hatte keine irrationalen Gefühle wie diese.

Er riss sich zusammen. Was zum Teufel konnte das schon sein?

„Die Brüder Flynn“, stimmte er zu.

2. KAPITEL

Verdammt.

Sie waren schon da.

Die Erben waren nicht da gewesen, als Amelia krank war, und sie waren nicht da gewesen, als sie starb. Laut dem Rechtsanwalt hatten sie nicht einmal von ihrer Existenz gewusst, bis er ihnen die Nachricht von ihrer Erbschaft mitteilte. Eine Entschuldigung, die für sie verdammt verdächtig klang.

Kendall Montgomery verließ den Balkon, auf dem sie so oft mit Amelia gesessen hatte, und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie hoffte, dass man sie nicht gesehen hatte. Sie wusste, dass der Anwalt die Flynns getroffen und ihnen die Besitzurkunde für die Plantage übergeben hatte.

Sie hatte nur nicht erwartet, dass sie hier auftauchten. Jedenfalls noch nicht.

Sie war gekommen, um ihre letzten Sachen zusammenzupacken. Bücher und CDs, die sie Amelia geliehen hatte, ein paar Kleidungsstücke, die sie hiergelassen hatte für die Nächte, in denen sie geblieben war, um der alten Dame Gesellschaft zu leisten. Sie hatte getan, was sie konnte, um Amelia zu helfen, hatte ihr Liebe und Loyalität gezeigt. Schließlich war die ältere Frau auch für sie da gewesen, als sie dringend jemanden gebraucht hatte. Amelia war entzückend gewesen und hatte mit Vorliebe faszinierende Einzelheiten und Geschichten der örtlichen Historie erzählt und von der Legende, die das Haus umgab. Sie hatte vieles erlebt, und es war ihr gelungen, die Plantage zu behalten – auch wenn sie den Verfall nicht hatte verhindern können. Das allein zeigte, was für eine bemerkenswerte Frau sie gewesen war.

Kendall blickte zu Boden und bemerkte, dass sie etwas festhielt. Das wunderschöne alte Tagebuch, das sie auf dem Dachboden gefunden hatte, als sie für Amelia einen Umschlag mit Papieren heraussuchen sollte. Sie hatte das Tagebuch neben Amelias Bett gelegt und vorgehabt, es später zu lesen, doch irgendwie war sie nie dazu gekommen. Bis heute.

Ausgerechnet heute, wo sie eigentlich nur kurz ihre Sachen holen wollte, hatte sie es in die Hand genommen und aufgeschlagen.

Und es war faszinierend. Es stammte von einer Frau, die während des Bürgerkriegs in dem Haus gelebt hatte. Nachdem Kendall die ersten Einträge überflogen hatte, war sie rasch völlig vertieft. Sie staunte über die Tatsache, dass sie ein mehr als hundertundfünfzig Jahre altes Buch in den Händen hielt, dass sie Worte las, die vor so langer Zeit geschrieben worden waren. Die Gedanken einer Frau, die inmitten eines furchtbaren Krieges gelebt hatte, der Familien auseinanderriss. Worte vom Überleben. Es gab in dem Tagebuch kleine Tratschereien über das alltägliche Leben, und es gab auch Hoffnungen und Träume für die Zukunft.

Das Tagebuch hatte sie viel länger im Haus festgehalten als geplant, und nun waren die Erben im Anmarsch.

Rasch stopfte sie das Buch in ihren Rucksack.

Es gehörte ihr nicht. Es gehörte den Männern, Amelias einzigen lebenden Verwandten.

Aber sie musste es zu Ende lesen. Sie würde es nicht behalten, sondern nur so lange borgen, bis sie die letzte Seite gelesen hatte. Danach würde sie es so schnell wie möglich zurückgeben. Und nun musste sie sich zurechtlegen, wie sie den neuen Besitzern der Plantage begegnen wollte.

Kendall dachte daran, sich zu verstecken. Sich zur Hintertür hinauszustehlen. Doch vermutlich würden sie ihren Wagen bei den Ställen bemerken, bevor sie ihn erreichte. Nein. Es war besser, ihnen entgegenzutreten, auch wenn sie nicht hier sein sollte, nicht ohne Erlaubnis.

Sie würde sich für ihr Eindringen entschuldigen, erklären, dass sie nur ihre Sachen holen wollte, und dann so schnell wie der Teufel verschwinden.

Sie hatte Jeremy Flynn am Tag vorher im Radio gehört, wie er darüber sprach, Spendengelder zu sammeln, um jenen Kindern zu helfen, die durch den Hurrikan ihre Familie verloren hatten. Er war eindeutig ein Macher und sprach sehr überzeugend. Sie musste zugeben, dass er ihr in dem Radiogespräch gefallen hatte.

Laut dem Anwalt waren es drei Brüder, die zusammen eine Privatdetektei betrieben. Vermutlich lauerten sie auf Schnappschüsse von verheirateten Männern, die eine Affäre hatten, und spionierten Babysittern hinterher.

Das French Quarter war eine ziemlich verschworene Gemeinschaft, und sie hatte dort gehört, dass ein anderer der Brüder ein netter Kerl und hervorragender Gitarrist sei.

Der dritte Bruder allerdings …

Ein knallharter Typ, hatte sie gehört. Erst beim Militär, dann beim FBI.

Er würde sie vermutlich wegen unbefugten Eindringens verhaften.

In Wahrheit jedoch schuldeten die Männer ihr aufrichtige Dankbarkeit. Sie war diejenige, die für Amelia da gewesen war. Und das nicht zu ihrem persönlichen Gewinn. Sie hatte sich angewöhnt, die meiste Zeit hier draußen zu verbringen, weil Amelia Angst gehabt hatte. Amelia hatte ihre ganzes Leben in diesem Haus verbracht, doch in den letzten Monaten war sie überzeugt gewesen, dass merkwürdige Dinge vor sich gingen, dass alte Geister aus vergangenen Jahrhunderten Tag und Nacht anwesend waren – im Haus und in ihren Träumen. Vor langer Zeit hatte sich auf der Plantage eine gewaltsame Tragödie zugetragen. Als Amelia dem Tod näher kam, schien sie überzeugt, dass ihre Vorfahren sie heimsuchten und mit ihren knochigen Fingern aus dem Grab nach ihr griffen.

Und dennoch hatte sie in den Stunden vor ihrem Tod so friedlich gewirkt. Geradezu erfreut über die Geister, als ob sie Familienmitglieder wären, die sie liebten und die sie nun nach Hause holten.

Die Hälfte der Zeit, die ich hier war, habe ich mich gegruselt und war halb besinnungslos vor Angst, dachte Kendall. Doch ich bin geblieben, weil ich mich um Amelia gesorgt habe. Wo waren diese Jungs gewesen, als sie ihre richtige Familie um sich gebraucht hätte? Wie hatten sie so völlig ahnungslos sein können von der Existenz dieses Familienmitglieds?

Doch diese Frage konnte warten. Das Wichtigste war im Moment, dass sie so schnell wie möglich hier wegkam.

Aber wie?

Geh zur Vordertür hinaus und zeig es diesen Mistkerlen, beschloss sie.

Sie warf den Kopf zurück und ging die Treppe hinunter, wo sie ihren Rucksack neben die Tür stellte, um mit beiden Händen den Riegel zu öffnen. Als sie die Tür öffnete, standen die drei Männer bereits auf der Veranda.

„Hallo“, sagte sie, als hätte sie jedes Recht der Welt, hier zu sein. Was sie tatsächlich hatte, wie sie sich ins Gedächtnis rief.

Ein streng wirkender, kantiger Mann mit kobaltblauen Augen und dunklen Haaren starrte sie kühl an. Glücklicherweise machten die anderen beiden Brüder einen bedeutend freundlicheren Eindruck. Der eine lächelte sie sogar neugierig an.

„Entschuldigen Sie. Ich bin Kendall Montgomery. Ich begleitete Amelia – Ihre … Tante? – in ihren letzten Tagen“, erklärte sie. „Ich … ich habe einige Dinge hier zurückgelassen, die ich jetzt holen wollte. Ich nehme an, Sie sind die Flynn-Brüder?“

„Das sind wir“, antwortete der, der lächelte. „Das zu meiner Linken ist mein ältester Bruder Aidan, und zu meiner Rechten steht Zach, der Jüngste. Ich bin Jeremy.“

„Na dann“, sagte sie unbehaglich. „Ich werde …“

„Ich dachte, Amelia sei vor drei Monaten gestorben“, sagte Aidan.

Sie sah ihn an. Er war groß, durchtrainiert und recht imposant, mit klaren, ausgeprägten Gesichtszügen. Doch es war weniger der Kämpferausdruck in seinem Gesicht, der sie abschreckte, als vielmehr sein Ton und das eisige Dunkel in seinen Augen, wenn er sie anschaute.

„Ich arbeite für meinen Lebensunterhalt. Ich habe ihr Begräbnis arrangiert, mich um ihre letzten Rechnungen gekümmert und alles für Sie drei vorbereitet“, entgegnete sie und war sich des beißenden Untertons in ihrer Stimme wohl bewusst.

„Wohnen Sie seitdem hier?“, fragte er kurz.

„Aidan …“, murmelte Zach.

„Ich habe mich um Amelia gekümmert. Sie wussten nicht einmal von ihrer Existenz“, gab sie zurück.

„Das ist richtig, wir wussten nicht, dass es sie gab. Wir wussten nichts von diesem Ort. Vermutlich hätten wir etwas wissen sollen, aber … wir taten es eben nicht“, sagte Jeremy leise.

„Ganz ehrlich“, ergänzte Zachary. „Wir haben diese Gegend immer gemocht, aber wir hatten keine Ahnung, dass wir hier Familie haben. Offenbar haben Sie sich um Amelia gekümmert, und nun, da wir davon wissen, sind wir sehr dankbar.“

„Sie war eine wunderbare alte Dame“, sagte Kendall und blickte zur Seite. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. „Sehr liebenswert.“ Sie starrte den ältesten Bruder an. Mit einem Meter fünfundsiebzig war sie nicht gerade klein, aber sie musste aufsehen, um ihm in die Augen zu blicken, und sie scheute davor zurück.

Was zum Teufel war mit ihr los? Es war doch egal. Wenn er zu ignorant war, um dankbar zu sein, was machte das schon? Amelia war tot und begraben, und sie hatte ihr eigenes Leben. Sie hatte nicht alles aufgegeben, um für Amelia zu sorgen. Sie würde einfach in ihr altes Leben zurückkehren und diesen Idioten den Platz überlassen.

Nein, das war nicht gerecht.

Sie schienen nicht alle Idioten zu sein, nur dieser eine. „Nun, wie ich schon sagte, ich arbeite für meinen Lebensunterhalt“, sagte sie. „Sie sind hier, und ich muss los, also …“

„Was arbeiten Sie denn?“, fragte Aidan.

Es ärgerte sie selbst, dass sie zögerte, doch sie wusste nur zu gut, dass er sich über sie lustig machen und sie für eine Blutsaugerin halten würde, wenn sie die ganze Wahrheit sagte.

„Ich betreibe ein Café mit Geschenkeshop“, sagte sie. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …“

„Miss Montgomery“, sagte Jeremy mit einem schiefen Lächeln. „Wir wissen überhaupt nichts über diesen Ort. Wenn Sie sich auskennen und ein paar Minuten erübrigen könnten, wären wir ewig dankbar, wenn Sie uns herumführen würden.“

„Bitte“, fügte Zach hinzu.

Sie atmete tief durch. Der älteste Bruder starrte sie noch immer an. „Na gut. Kommen Sie rein. Wir sind hier, ähm, im Foyer.“ Sie trat zurück und deutete während ihres Vortrags jeweils in die entsprechende Richtung. „Die große Treppe, der Ballsaal zur Linken, Wohnzimmer, Esszimmer – dort finden Sie übrigens eine Wand mit Familiengemälden, wenn es Sie interessiert – und die Küche zur Rechten. Die Küche wurde nach der Jahrhundertwende hinzugefügt und zum letzten Mal in den Fünfzigern modernisiert, fürchte ich. Doch so baufällig das Haus auch aussieht, die Statik ist einwandfrei. Unter uns befindet sich ein riesiger Keller, oben gibt es vier Schlafzimmer und darüber einen Dachboden mit Lagerraum und einer kleinen Mansarde. Es ist wirklich ein schönes Haus. Einige der vorderen Säulen müssten restauriert werden. Und es gibt mehr als ein Dutzend Nebengebäude, manche in besserem, manche in schlechterem Zustand. Da ist die ursprüngliche Küche, die originalen Ställe, ein Räucherhaus und zehn kleine Gebäude, die als Sklavenquartiere dienten. Tatsächlich …“ Sie brach ab. Es gab keinen Grund, ihnen mehr mitzuteilen. Sie hatte ihnen das Wichtigste gesagt, und nun war es Zeit, dass sie hinauskam und ihnen das Haus überließ.

Schließlich gehörte es ihnen.

Und sie würden es mit einiger Sicherheit verkaufen wollen.

Mit Glück war eine der historischen Gesellschaften in der Lage, es zu kaufen.

„Tatsächlich was?“, fragte Aidan scharf.

„Oh … das hat nichts mit dem Haus zu tun“, sagte sie. „Ich bin sicher, dass Sie hier zurechtkommen.“

„Ganz ernsthaft, was wollten Sie sagen?“, fragte Zach. Ihr fiel auf, dass er ein umwerfendes Lächeln hatte. Er sah unglaublich gut aus und wirkte dabei selbstbewusst, aber nicht eingebildet.

Sie zuckte die Achseln. „Amelia hatte Angst. Gegen Ende. Während des Bürgerkriegs geschahen hier schreckliche Dinge, und sie … nun, sie hörte nachts Geräusche … und sie hatte Angst. Darum bin ich hier bei ihr geblieben.“

„Sie dachte, dass es hier spukt?“, wollte Aidan wissen. Er blieb ruhig, doch sie spürte, wie er innerlich verächtlich schnaubte. Großer, starker Muskelmann. So einer hatte kein Verständnis für Furcht.

„Auf jeder guten Plantage spukt es“, grinste Jeremy. „Oder?“ Die beiden jüngeren Brüder wirkten ganz anständig, dachte sie. Aber das überraschte sie nicht. Ihr Freund und Angestellter Vinnie hatte beide schon getroffen und sie sogar gebeten, mit seiner Band zu spielen. Er sagte, dass sie beide Talent hätten und außerdem nette Jungs wären.

Sie zuckte unbehaglich die Achseln. „Dieses Haus hat eine lange Geschichte. Ihre Familie wurde während des Bürgerkriegs beinahe ausgelöscht.“

Einen Moment schwieg sie gedankenverloren. „Und da war nicht nur der Krieg. Es gab auch noch andere Vorfälle. Andere Todesfälle. Um 1890 hatte der Besitzer eine Affäre mit einem der Hausmädchen. Sie sei unglaublich schön gewesen, heißt es, mit Augen so grün wie Smaragde und einer Haut wie Schokolade.“

Sie bemerkte ein leichtes Lächeln um Aidans Mundwinkel, als er sagte: „Und dann brachte die Ehefrau das wunderschöne Hausmädchen um – oder das Hausmädchen tötete die Ehefrau –, und jetzt geht ihr Geist um, oder? Oder noch besser: Sie brachten sich gegenseitig um und spuken hier jetzt beide herum.“

Kendall blickte ihn ausdruckslos an und beendete ihre Geschichte. „Die Ehefrau verlangte, das Hausmädchen zu hängen. Die Familie hatte damals viel Einfluss in der Gegend, also kümmerte man sich darum. Ihr Kopf … Sie wurde geköpft, als man sie hängte. Man sagt, sie spukt auf dem Anwesen herum, weil sie nach ihrem Kopf sucht. Ach ja, und sie verfluchte die Ehefrau, als man sie dort zu der Eiche schleppte, um sie zu hängen.“ Sie deutete auf einen großen Baum an der rechten Seite des Hauses. „Der Fluch tat offenbar seine Wirkung. Ein Jahr nachdem man das Mädchen hingerichtet hatte, starb die Frau, als sie die große Treppe hinunterstürzte.“

„Großartige Geschichte“, sagte Jeremy lächelnd. „Ist sie wirklich passiert?“

„Ich bin nicht sicher. Sie müssten das bei der Historischen Gesellschaft nachprüfen. Ehrlich gesagt nehmen viele Plantagen diese oder eine ähnliche Legende für sich in Anspruch. Ich kann für keine der Geschichten über diesen Ort garantieren – außer für die von den Cousins im Bürgerkrieg. Diese Episode steht auch in den Geschichtsbüchern.“

Aidan nahm seinen Raubvogelblick von ihr und blickte kopfschüttelnd um sich. „Ich glaube doch, dass wir es verkaufen und uns hier fortmachen sollten“, sagte er zu seinen Brüdern.

„Sieh es dir nur richtig an“, erwiderte Jeremy und öffnete die Arme, als ob er das Haus umarmen wollte. „Es ist schön. Es ist unser Erbe. Hey, wir sind mit diesen Geistern verwandt.“

„Vielleicht auch nicht“, sagte Aidan.

„Vielleicht auch nicht?“, echote Jeremy fragend.

Aidan zuckte die Achseln. „Wer weiß, ob nicht eine der Hausherrinnen fremdging?“ Kendall fragte sich, ob er damit seinen Sinn für Humor demonstrieren wollte. „Von den Männern weiß man, dass sie Affären mit der Dienerschaft hatten, vielleicht betrogen die Frauen sie also mit den Stallknechten. Wer weiß, was da alles passiert ist?“

Jeremy lachte. „Mein Bruder ist ein Zyniker, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten“, sagte er.

„Das scheint so“, stimmte sie freundlich zu.

„Innerlich ist er aber ganz anders“, versicherte Jeremy ihr. „Tatsächlich? Und ich dachte, dass er schlicht und einfach unleidlich ist.“

Sie konnte nicht glauben, dass ihr diese Worte wirklich entschlüpft waren. Zwar erwartete sie nicht, einen dieser Männer wiederzusehen, doch normalerweise verhielt sie sich höflich.

Ihr Worte hatten Aidan eindeutig irritiert. Seine Augenbrauen schossen hoch, und sie hätte schwören können, dass er fast grinste.

„Das heißt wohl, die Dinge beim Namen zu nennen“, sagte er. „Es tut mir leid, Miss Montgomery, dass ich offenbar einen solch schlechten Eindruck bei Ihnen hinterlassen habe. Aber vielen Dank für das Herumführen, und nun lassen wir Sie auch gehen.“

„Danke.“

„Einen Augenblick noch, bitte. Haben Sie hier jemals etwas erlebt oder gesehen?“, fragte Aidan. Sein Blick war wieder hart und seine Stimme flach und emotionslos, als ob er sie verhörte.

Sie starrte zurück. „Nein“, erwiderte sie.

Sie log. Und die Art, wie er sie musterte, gab ihr das Gefühl, dass er das bemerkte.

Sie hatte etwas gesehen. Sie wusste nur nicht, was. Sie war nicht einmal sicher, ob nicht einfach nur Amelias Geschichten und Ängste in ihren Kopf gekrochen waren und sie hatten glauben lassen, dass da etwas war …

Dass da merkwürdige Lichter in der Dunkelheit waren und dass die Geräusche, die sie mitten in der Nacht aufweckten, keinen natürlichen Ursprung hatten. Als ob etwas – oder jemand – unter ihrem Fenster über den Rasen geschleift wurde. Dass da ein Flüstern mitten in der Nacht war, gespenstisch und unergründlich, als ob ein verrückter Wissenschaftler in dem Haus arbeitete.

„Nein, selbstverständlich nicht“, bekräftigte sie und warf ihr Haar mit gespielter Ungeduld zurück.

Das war alles nur Einbildung gewesen, beschwichtigte sie sich selbst.

Sie kannte die Erklärung. Hatte sie nicht ihr Studium mit „gut“ abgeschlossen, und zwar sowohl in Psychologie als auch in Schauspiel? Sie kannte die Tiefen der menschlichen Seele. Sie hatte einfach Amelias Albträume geteilt, die wiederum eine sehr verständliche Manifestation ihrer Todesangst waren.

Kendall durfte niemals auch nur im Entferntesten daran glauben, dass irgendwas davon wirklich geschehen war.

Denn Kendall war eine Schwindlerin. Sie war eine erstklassige Schauspielerin, und sie war eine Schwindlerin.

Obwohl es ein paar Male gegeben hatte, als sie …

Die Psychologin in ihr schaltete sich ein und beharrte darauf, dass auch an diesen Vorkommnissen nichts Unerklärliches gewesen war. Sie hatte eine Schauspielausbildung, so einfach war das, und nun sorgte sie dafür, dass sich die Psychologie und das Theater auszahlten, indem sie die Wahrsagerin spielte. Und „spielen“ ist das richtige Wort, ermahnte sie sich. Sie war keine echte Hellseherin, falls es so etwas überhaupt geben sollte. Für alles, was sie erlebt hatte, gab es eine Erklärung. Der menschliche Geist stellte eine erstaunliche Kombination von Logik und Einbildung dar, und es war Aufgabe der Logik, die Zügel an sich zu reißen, wenn die Einbildung überhandnahm.

„Raten Sie, was wir mit der Plantage machen wollen“, sagte Jeremy.

„Nicht wir wollen das machen“, berichtigte ihn Aidan, bevor sie antworten konnte.

„Ich habe keine Ahnung“, sagte sie zu Jeremy und ignorierte Aidan völlig.

„Das Haus restaurieren und eine Möglichkeit finden, dass es der Gemeinde nutzt“, antwortete Zachary an Jeremys Stelle.

„Ach ja?“, erwiderte sie höflich. Bei den zwei jüngeren Flynns konnte sie sich ein aufrichtiges Interesse vorstellen, aber sie vermutete, dass die Zukunft des Hauses anders aussähe, wenn Aidan zu entscheiden hätte.

„Ich dachte“, erklärte Jeremy, „dass wir uns Halloween als Ziel setzen, um das Haus wieder instand zu setzen. Und dann öffnen wir es für das Publikum und verwenden die Einnahmen für Children’s House.“

„Sie meinen, Sie wollen es als Spukhaus eröffnen?“, fragte sie.

Aidan schnaubte empört.

Zachary sagte: „Nun, wir werden in jedem Fall eine Party feiern, obwohl ein Spukhaus großartig wäre. Wir müssen darüber nachdenken.“

„Ich bin sicher, dass es großartig wäre“, sagte sie, doch ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie wollte ihm davon abraten, aber sie wusste nicht, warum. Sie wusste nur, dass es eine schlechte Idee war, ein Spukhaus zu erschaffen. Eine sehr schlechte Idee.

Warum denn?, neckte sie sich selbst. Glaubst du wirklich, dass sie die Toten wecken könnten?

„Es könnte den Kindern wirklich zugutekommen“, sagte Jeremy. „Ich kann das hier auf eine ganze neue Größenordnung bringen. Und ich werde die bereits aufgenommenen Radiospots nutzen, um es zu promoten.“

„Das … das klingt gut“, musste sie zugeben.

„Die Party wäre einfach eine große Eröffnungsfeier“, sagte Zachary. „Mir würde es gefallen, dieses Haus wieder in seiner ursprünglichen Eleganz zu sehen. Und dann können wir es für alle möglichen gemeinnützigen Zwecke nutzen.“

Konnten sie das wirklich?, fragte sie sich. In diesem Moment spürte sie auf ihrem Gesicht die Sonne, die durch die Sturmwolken lugte, und fühlte, wie der Wind nachließ. Ein gutes Omen? Sie liebte dieses alte Haus, und es wäre schön, es restauriert zu sehen und in Benutzung für einen guten Zweck.

Sie kannte diesen Ort in- und auswendig. Sie war noch jung gewesen, als Amelia in ihr Leben getreten war, jung genug, um dem Zauber der Legende zu erliegen, und bereit, sich über die schaurige Vergangenheit zu amüsieren.

„Erst mal einen Schritt nach dem anderen“, sagte Aidan und sah seine Brüder an.

Nicht nur ein Idiot, sondern auch noch ein Spielverderber, entschied sie.

Dann wandte er sich ihr zu, und einen Moment lag ein aufrichtiges Lächeln auf seinem Gesicht.

Es veränderte ihn. Es ließ ihn zugänglich und menschlich wirken. Sexy. Wo zum Teufel war denn dieser Gedanke hergekommen?

„Es tut mir leid, wenn ich unhöflich war, Miss Montgomery. Könnten Sie uns vielleicht die große Führung anbieten?“, bat er und fügte höflich hinzu: „Falls Sie die Zeit erübrigen könnten.“

„Ich …“

„Bitte“, sagte er.

Dieses eine Wort ändert nichts daran, dass er ein Idiot ist, sagte sie sich. Auch wenn er noch immer lächelte. Und ihr Honig um den Bart schmierte. Nun, Pech für ihn, sie war keine Närrin.

Auf der anderen Seite hatte sie gerade daran gedacht, wie gut sie das Haus – das jetzt den Flynn-Brüdern gehörte – kannte und wie sehr sie es liebte. Was schadete es also, wenn sie ein letztes Mal durch das Gebäude ging, nur eben mit ihnen?

„Sicher. Kommen Sie.“

Sie ging an ihm vorbei. Ihr Rucksack mit ihren Habseligkeiten – und dem Tagebuch – lehnte an der Wand der Eingangshalle. Kurz verspürte sie einen Anflug von Schuld wegen des Tagebuchs, doch sie ermahnte sich, nicht weiter darüber nachzudenken, und ging weiter. Sie hörte, wie die drei Männer ihr folgten. „Wie Sie sehen, ist dies ein sogenannter Shotgun-Flur. Man nennt ihn so, weil …“

„Weil ein Schuss, der an der Haustür abgegeben wird, durch den Flur zur Hintertür hinausgehen würde“, beendete Jeremy ihren Satz. „Und seht mal die Treppe!“

„Ja, und ich sehe auch die Holzfäule“, entgegnete Aidan. „Schnell repariert“, versicherte Zachary ihm. „Wirklich, Aidan. Ich habe ein Studio gekauft, das Holzfäule hatte. Alles, was du brauchst, ist ein vernünftiger Tischler, der das wieder Ordnung bringt.“

Das Haus ist wirklich schön, dachte Kendall, wie immer, wenn sie hier war. Sicher, die Pracht verfiel allmählich, doch hinter der abblätternden Farbe und dem faulenden Holz war noch immer die Eleganz spürbar. Im Ballsaal gab es bodentiefe Fenster. Das Wohnzimmer war noch immer möbliert mit einem Zweisitzersofa von Duncan Phyfe und Gobelinstühlen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sogar ein großer Flügel stand darin – der allerdings dringend gestimmt werden musste, wie Kendall die Brüder warnte. Außerdem gab es einige elegante Beistelltische, einen Sekretär und noch mehrere Möbelstücke. Sie hielten inne, um die Wand mit den Familienporträts in Augenschein zu nehmen. Einige davon waren Kunstwerke, andere wiederum weniger ansehnliche Zeugnisse der Vergangenheit.

„Amelia?“, fragte Aidan, der ein Bild am äußersten rechten Rand betrachtete.

Amelia war nicht als junges, schönes Mädchen porträtiert worden. Sie hatte das Bild erst vor ein paar Jahren machen lassen, und es zeigte sie so, wie Kendall sie kannte. Mit einer Kappe schneeweißen Haares, feinen, wenn auch gealterten Gesichtszügen, klaren Augen und dem freundlichen Lächeln, das sie immer im Gesicht trug.

„Sie wirkt sehr nett“, sagte Zachary.

„Das war sie“, erwiderte Kendall.

Im oberen Stockwerk schlug Aidan gegen die Wände und stampfte prüfend auf den Boden. Er warf einen flüchtigen Blick auf den mit Truhen vollgepackten Dachboden.

„Familiengeschichte“, sagte Zach.

Doch selbst das konnte Aidan nicht mehr als ein zurückhaltendes „Hmmm“ entlocken, als sie wieder nach unten gingen.

Trotz ihres geringen Alters hatte Kendall die Küche immer sehr charmant gefunden mit ihrer 50er-Jahre-Behaglichkeit.

Die drei Brüder musterten den Raum skeptisch und teilten ihre Begeisterung offensichtlich nicht.

„Sie ist wunderbar. Sehen Sie, dort ist ein Speisenaufzug“, sagte sie und zeigte ihnen den kleinen, durch einen Flaschenzug betriebenen Aufzug, der einst das warme Essen nach oben und schmutzige Teller und Wäsche nach unten transportiert hatte – und gelegentlich sicher auch mal das ein oder andere Kind.

Schließlich gingen sie nach draußen. Sie zeigte ihnen das ursprüngliche Küchengebäude, das nun als Verwalterhäuschen diente, falls es je wieder einen Verwalter geben sollte, und das Räucherhaus, das noch immer nach Rauch roch. Sogar die Ställe, die sich von allen Gebäuden im besten Zustand befanden, rochen noch nach Heu und Pferden, obwohl Amelia seit mehr als zwanzig Jahren kein Pferd mehr besessen hatte. Sie gingen an der Reihe alter Sklavenquartiere entlang, die alle zwei Zimmer hatten und zumeist dringend einer Reparatur bedurften. Als sie das letzte Gebäude in der Reihe erreichten, sagte Aidan: „Jemand wohnt hier draußen.“

„Wirklich?“, fragte sie überrascht. Er sah sie an, und sie begriff, dass er ihre Reaktion prüfte. Sie merkte, dass er ihr glaubte, doch sie war empört, dass er überhaupt Zweifel gehabt hatte.

„Woher willst du das wissen?“, fragte Zach stirnrunzelnd.

Aidan trat gegen einen kleinen Müllhaufen. „Die Suppendosen“, sagte er trocken.

„Toll. Und wir sind Detektive“, murmelte Jeremy betreten. „Wir hätten sie noch entdeckt“, fügte er hinzu.

„Suppendosen und Bierflaschen.“ Aidan sah Kendall an. „Sie wussten nichts davon.“

Es war eine Feststellung, keine Frage.

Sie schüttelte den Kopf. „Aber … Amelia sagte, dass sie Lichter sehe. Vielleicht hat sie sich die Dinge doch nicht eingebildet.“

„Und Sie sind dem nie nachgegangen?“

„Hey“, wehrte sie sich. „Ich kam hier raus, um ihr Beistand zu leisten, wenn sie allein war und krank und voller Angst. Ich wurde nicht vom Staat bezahlt. Sie … sie sah gegen Ende viele Dinge.“

„Nun, wenn sie Lichter sah, hatte sie jedenfalls recht“, sagte Aidan und trat wieder gegen den Stapel.

Dann erstarrte er mit angespanntem Gesicht. Er beugte sich hinunter und griff nach etwas in dem Müllhaufen.

„Aidan, was zum Teufel …?“, fragte Jeremy, als Aidan etwas aus dem Haufen zog.

„Was ist das?“, fragte Kendall neugierig.

Er hob es hoch, und ihr drehte sich der Magen um, während sie dachte, dass es nicht sein konnte, wonach es aussah.

Doch das war es.

„Ein Oberschenkelknochen“, sagte er. „Ein menschlicher Oberschenkelknochen.“

3. KAPITEL

Immerhin musste ich nicht mit ihnen auf die Polizei warten, dachte Kendall, auch wenn sie sie vorgewarnt hatten, dass die Polizei sicherlich irgendwann mit ihr sprechen wollte.

Und, dachte sie trocken, nicht einmal Aidan Flynn schien zu glauben, dass sie für die Existenz des Knochens verantwortlich war.

Ein menschlicher Oberschenkelknochen.

Ein Schauer überlief sie.

Sie versuchte sich zu überzeugen, dass nichts wirklich Schockierendes daran war. Auch nach so langer Zeit nach dem Wirbelsturm tauchten noch immer furchtbare Dinge auf. Bei diesem Knochen handelte es sich zweifellos um einen weiteren traurigen Überrest, der aus einem Grab gespült worden war. Sie durfte ihre Angst und ihr Unbehagen nicht zulassen.

Meistens schaffte sie den Weg von der Flynn-Plantage bis ins French Quarter innerhalb von dreißig Minuten, doch an diesem Tag war der Verkehr so stark, dass sie erst um vier Uhr wieder vor ihrem Laden stand. Schuldbewusst trat sie ein, denn sie hatte Vinnie gesagt, dass sie gegen drei zurück wäre. Seine Band spielte an diesem Abend in der Bourbon Street und musste um fünf Uhr mit dem Aufbau beginnen.

Sie seufzte erleichtert auf, als er sie mit einem Hallo begrüßte und dabei keineswegs verärgert klang.

Er stand hinter dem Tresen, an dem sie Kaffee und Tee für die Kunden kochten und dazu Gebäck von dem Bäcker in der Straße nebenan anboten. Gedankenversunken zwirbelte er eine Locke seines langen dunklen Haares – unverzichtbar für einen Gitarristen und Sänger – und las Zeitung. Als er zu ihr aufsah, lächelte er sie neugierig an.

„Dann bist du also nicht rein- und rausgekommen, bevor die lange verschollenen Erben auftauchten, hm?“, fragte er.

„Nein.“

„Einzelheiten, bitte.“

Sie zuckte die Achseln. „Sie sind zu dritt.“

„Richtig, als ob das nicht die ganze Stadt wüsste. Ich kenne bereits zwei von ihnen, erinnerst du dich? Erzähl mir also was Neues.“

„Ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll.“

„Wie fandest du sie?“

„Die zwei, die du kennst, sind nett – der dritte ist ein Mistkerl.“

„Der Jüngste, Zach, hat vielen Musikern sehr geholfen. Ihm gehören ein paar Studios. Kleine Anlagen, aber manchmal stellt er sie neuen Talenten kostenlos zur Verfügung, sodass sie ihre Musik herausbringen und ein bisschen verdienen können.“

„Da weißt du mehr als ich“, erwiderte sie.

„Natürlich tue ich das“, sagte Vinnie. „Anders als gewisse andere Menschen habe ich ein Leben. Ich gehe tatsächlich raus und spreche mit Menschen.“

„Schön für dich“, entgegnete sie trocken.

„Dann ist der älteste Bruder das Arschloch?“

„Er ist …“

„Ein Arschloch“, wiederholte Vinnie.

„Hey, sie kamen, ich bin gegangen, es ist vorbei. Es spielt keine Rolle mehr.“

Sie tat so, als sei sie damit beschäftigt, ein paar handgemalte Grußkarten in der Auslage zu ordnen.

„Und was stimmt dann nicht?“, wollte er wissen, um seine Frage gleich selbst zu beantworten. „Was nicht stimmt? Die Plantage hätte an dich gehen sollen.“

„Ich bin nicht bei Amelia geblieben, damit sie mir das Haus hinterlässt“, sagte sie fest. „Um ehrlich zu sein, nahm ich an, dass es um die Steuerrückstände an den Staat geht. Und selbst mir ist klar, dass man viel Geld hineinstecken muss, damit es überhaupt stehen bleibt.“

„Vielleicht kannst du es kaufen“, schlug Vinnie vor. „Nachdem es instand gesetzt wurde.“

„Oh ja. Bestimmt.“ Sie starrte auf die Karten. „In ganz New Orleans gibt es nicht genug Tarotkarten zu lesen, damit ich genügend Geld verdiene, um das Haus zu kaufen.“ Sie hielt inne und sah Vinnie an. „Ich besäße nicht einmal diesen Laden, wenn es Amelia nicht gegeben hätte. Auch wenn ich ihr alles zurückgezahlt habe, jeden Penny.“

„Ich weiß. Und du hast noch viel mehr für sie getan.“

„Sie war sozusagen meine Adoptivgroßmutter“, erinnerte ihn Kendall.

„Wahrscheinlich liegt es an der Sache mit seiner Frau“, sagte Vinnie. „Ich meine den Bruder.“

Sie brauchte einen Moment, um umzuschalten. „Du meinst, der älteste Bruder ist wegen seiner Frau so ein Arschloch?“, fragte sie. „Was ist mit ihr, ist sie eine Furie oder so was?“

Vinnie blickte sie ernst an und schüttelte den Kopf. „Sie ist tot.“

„Oh, das tut mir leid.“ Sie schwieg einen Moment. „Woher um Himmels willen weißt du das alles? Die Anwälte sagten mir, dass sie gemeinsam ein Geschäft betreiben, und heute Morgen rief einer an, dass sie die Plantage heute übernehmen würden. Und ich habe den mittleren Bruder im Radio gehört, aber …“

Vinnie trat auf sie zu und strich ihr liebevoll über die Wange. „Ich habe mit zwei von ihnen Musik gemacht“, erinnerte er sie.

„Dann kennst du sie und ihr Leben besser als ich, und ich weiß nicht, warum du mich dann überhaupt fragst“, sagte sie ungeduldig.

Er lachte und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht sagen, dass ich sie kenne, nicht wirklich. Und den Ältesten habe ich nie getroffen, aber offenbar spielt er nicht Gitarre. Hey, vielleicht ist er deshalb ein Arschloch.“

„Halt dich zurück, du Blödmann“, warnte sie. „Was ist mit seiner Frau?“

„Ich sagte doch, sie ist tot.“

„Aber … wie?“

Vinnie legte einen Finger an den Mund. Sie hörten Stimmen im hinteren Teil des Ladens. Mason Adler erschien im Flur und begleitete eine zierliche Frau in einem T-Shirt vom Footballteam der New Orleans Saints. Sie hielt einen Stadtplan des French Quarters in der Hand, hatte einen Sonnenbrand und trug eine auffallend geformte Sonnenbrille, deren Gläser von Alligatoren eingerahmt wurden. Mit einem großen Schild, das sie als Touristin auswies, hätte sie nicht mehr auffallen können.

Aber sie lachte und wirkte gelöst und glücklich. „Mason, Sie sind einfach zu gut“, gurrte sie.

Mason blickte Kendall über den Kopf der Frau hinweg an und zuckte die Achseln. Er war ein guter Tarot-, Teeblätter- und Handleser. Ebenso wie sie hatte er seinen Abschluss in Psychologie gemacht. Statt den Kunden zu sagen, dass sie in einem Monat ihre große Liebe fänden, nächstes Jahr eine erhebliche Summe Geld erhielten oder in den nächsten zehn Jahren zwei Kinder bekommen würden, besaß er die Fähigkeit, sich auf die Menschen einzustellen und glaubwürdige Voraussagen abzugeben. Er sah außerdem sehr eindrucksvoll aus: Mason war gut einen Meter und achtzig groß und kahlköpfig, er hatte pechschwarze Augenbrauen und einen sportgestählten Körper.

Dazu trug er einen goldenen Ohrring. Wer ihn kennengelernt hatte, vergaß ihn nur schwer.

„Nun, Sie müssen wissen, Miss Grissom, dass Sie eine sehr starke Ausstrahlung haben“, schmeichelte er der gurrenden Frau. „Und sehen Sie, hier ist sie. Kendall, dies ist Fawn Grissom. Eigentlich wollte sie zu dir, doch ich tat mein Bestes.“

„Ach, tatsächlich?“ Kendall lächelte die Kundin an und reichte ihr die Hand. „Schön, Sie kennenzulernen.“

„Wie geht es Ihnen?“ Die Frau ergriff ihre Hand. „Meine Freundin Ellen – Sie erinnern sich an sie? Sie sagte, Sie wären wunderbar. Darum bin ich gekommen. Und ich bin sicher, Sie sind wunderbar. Aber Mason war … nun, er sieht es einfach.“

„Er ist wirklich großartig, und ich glaube, es sollte so sein, dass Sie auf ihn treffen“, versicherte Kendall der Frau.

Die schaute sie groß an, als hätte Kendall eben etwas unfassbar Kluges gesagt. „Natürlich. Es sollte so sein.“

Kendall behielt ihr Lächeln. „Ganz genau.“

„Wenn ihr mich alle entschuldigt, ich muss los. Ich habe heute Abend einen Auftritt“, unterbrach Vinnie. Er winkte und ging Richtung Tür.

„Vinnie, warte!“, rief Kendall.

Er hatte die Tür bereits geöffnet, als er sich umdrehte. „Was ist? Ich muss los“, drängte er.

„Spielt keine Rolle. Nicht so wichtig.“ Sie winkte ihm und schalt sich innerlich. Sie wusste nicht, warum sie so neugierig war, doch sie war es. Sie wollte wissen, wie Aidan Flynns Frau gestorben war. Nicht dass es sie etwas anging – sie würde den Mann nie wiedersehen.

„Das ist so ein hübscher Laden“, schwärmte Fawn Grissom. „Sie haben köstlichen Tee, den besten Handleser und wunderbare Kleinigkeiten.“

„Wir unterstützen gerne die Künstler aus der Gegend – und vielen Dank“, erwiderte Kendall.

„Mir gefallen diese Voodoo-Puppen“, sagte Fawn und deutete auf die kunstvoll eingekleideten Baumwollpuppen, die auf einem Regalbrett hinter dem Tresen saßen.

„Die sind raffiniert, nicht wahr?“, sagte Kendall und wünschte, dass die Frau endlich den Mund hielt. Normalerweise unterhielt sie sich gerne mit Kunden, aber heute …

Heute war ihr nicht danach. Sie wollte nur, dass die Frau verschwand.

„Das sind Unikate“, sagte Mason nachdrücklich. „Sie werden von einer alten Dame hergestellt, die wir Gramma Mom nennen, und man sagt, dass ihre Puppen jeden glücklich machen.“

Was für ein Schwachsinn!, dachte Kendall. Das waren Voodoo-Puppen. Aber sie waren Unikate. Und sie freute sich immer, wenn sie die alte Frau unterstützen konnte, die draußen im Sumpfgebiet lebte.

„Ich nehme zwei“, sagte Fawn. „Oder nein, was rede ich denn da? Ich brauche drei. Eine für mich und jeweils eine für meine Schwestern.“

„Sie sind nicht ganz billig“, warnte Mason und nannte ihr den Preis. „Die alte Dame braucht mindestens eine Woche für eine Puppe.“

„Ach, das ist in Ordnung. Sie sind es wert. Schließlich sind sie einzigartig. Das liebe ich so an dieser Stadt. Man kann so viele einzigartige Dinge in so vielen verschiedenen Läden kaufen.“

Sie kramte eine Kreditkarte heraus und hielt sie Kendall hin, die wieder über Aidan Flynn nachdachte und es nicht einmal bemerkte. Mason hüstelte leicht, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. „Brauchst du, äh, Hilfe, um bei Miss Grissom zu kassieren?“, fragte er.

„Oh, Entschuldigung“, sagte sie. Was war nur los mit ihr heute?

Schließlich war es großartig für sie – und für Gramma Mom –, drei Puppen auf einen Schlag zu verkaufen.

Fawn musterte entzückt die von ihr ausgewählten Puppen, während Kendall den Preis eintippte und Mason Schachteln zum Verpacken hervorholte.

„Voodoo-Puppen“, sagte Fawn nachdenklich, bevor sie Kendall anblickte und grinste. „Der Mann meiner Schwester ist ein richtiger Mistkerl. Meinen Sie, sie kann sich mit ein paar Nadelstichen revanchieren?“

Überrumpelt reagierte Kendall mit dem ersten Gedanken, der ihr kam.

„Ich denke, sie sollte sich mit einer Scheidung revanchieren, wenn er nicht gut zu ihr ist.“

Fawn nickte ernst. „Dennoch, ein kleiner Stich …“ Und dann sprudelte sie wieder vor guter Laune, als sie sich verabschiedete und versprach, wiederzukommen.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, wandte sich Mason Kendall zu. „Was ist los mit dir?“, fragte er. „Sie hätte es sich anders überlegen können, während du dort standest und ihre Kreditkarte angestarrt hast. Haben wir uns etwa entschieden, kein Geld mehr verdienen zu wollen?“

„Nein, nein, es tut mir leid. Ich schätze, ich bin ein bisschen müde“, entschuldigte sich Kendall, die dachte, wie froh sie sein konnte, dass ihre Angestellten auch Freunde waren. Vinnie kannte sie praktisch schon ewig, sie waren zusammen zur Grundschule gegangen. Mason war an dem Tag aufgetaucht, an dem sie den Laden eröffnete. Er arbeitete in einem Laden näher am Jackson Square und gab zu, dass er gekommen war, um die Konkurrenz unter die Lupe zu nehmen. Am nächsten Tag hatte sie verlegen herumgefummelt und überlegt, wie sie den vorderen Teil des Ladens im Auge behalten konnte, während sie im Hinterzimmer Sitzungen abhielt, als er zurückkam. Mit einem Blinzeln sagte er, dass er es in den Karten gesehen hätte – sie bräuchte Hilfe. Seitdem arbeitete er für sie, und mit ein bisschen Hilfe von Vinnie kamen sie gut über die Runden. Katrina wäre beinahe ihr Ende gewesen – nicht weil sie viele Waren in der Flut verloren hätten, sondern weil die ganze Stadt in eine Art Koma gefallen war. Dank ihrer vielen treuen Kunden hatten sie jedoch schnell wieder öffnen und sich mit dem Geschäft so lange über Wasser halten können, bis die Touristen zurückgekommen waren.

Während der kurzen Zeit, bevor sie den Laden wiedereröffnen konnte, hatte Amelia sie ihre Sitzungen sogar auf der Plantage abhalten lassen.

Sie spürte wieder einen Stich bei dem Gedanken an die Frau, die so viel für sie getan hatte, und schloss kurz die Augen. Amelia hatte ein langes, erfülltes Leben gehabt. Sie hatte so viel gesehen, Krieg und Frieden, gute und schlechte Menschen. In Anbetracht ihres Alters war ihr Tod traurig, aber nicht tragisch. Er war unvermeidbar gewesen.

Plötzlich bemerkte Kendall, dass Mason sie noch immer musterte. „Ich vermute, es lief nicht so gut mit den Prinzen, die das Schloss übernehmen.“

„Sei nicht so dramatisch.“

Er deutete mit dem Finger auf sie. „Du nimmst es ihnen übel.“

„Tue ich nicht. Wirklich.“

„Lügnerin.“

„Ich bin nur traurig, dass Amelia sie nie kennengelernt hat und am Ende nicht von Liebe umgeben war.“

„Kendall, sie hat sie nie gekannt. Aber sie kannte dich. Und sie war von Liebe umgeben. Herrje, wir alle liebten sie. Und du … du warst ihr besonders nah. Es ist, als hättest du eine Großmutter verloren. Und dann diese Eindringlinge zu erleben, nun, das muss ein bisschen traumatisch sein.“

„Ja, ich musste gleich los und einen Psychologen anheuern.“ Sie seufzte gekünstelt.

Manson lachte. „Ich nehme an, sie werden die Plantage sofort verkaufen.“

„Nein.“

„Nein?“

„Sie sagen – zumindest sagen das die beiden jüngeren Brüder –, dass sie die Plantage wieder instand setzen wollen.“

„Um darauf zu leben?“

„Ich nehme es an.“ Dabei fiel ihr auf, dass die Brüder darüber eigentlich nichts gesagt hatten.

Er dachte einen Augenblick nach und sagte: „Das wird nicht funktionieren.“

„Was meinst du?“

„Die Prinzen sind angekommen – doch es kann nur einen König auf dem Schloss geben. Das weiß jedes Kind.“

„Nun, wer weiß, vielleicht werden sie dort gar nicht wohnen. Sie sagten, dass sie das Haus instand setzen, es für eine Benefizveranstaltung benutzen und dann in einen Ort für Gemeindeveranstaltungen umwandeln wollen.“

„Du machst Witze“, sagte Mason ungläubig.

„Ich sage dir nur, was sie gesagt haben. Woher soll ich wissen, was sie wirklich vorhaben?“ „Du bist sauer“, warnte er sie.

„Ich bin nicht sauer. Meine Zeit auf der Flynn-Plantage ist vorbei. Endgültig. Fini. Ich muss weitermachen. Ich habe ein Leben.“

Mason begann zu lachen, was sie wirklich irritierte.

„Ich habe ein Leben“, wiederholte sie trotzig.

„Lass mal sehen … Du arbeitest. Gelegentlich gehst du mit Vinnie und mir etwas trinken. Ab und zu triffst du dich mit ein paar Freundinnen. Freundinnen, wohlgemerkt. Du hast eine Katze. Eine Katze, Kendall.“

„Eine große Katze, wenn es dir nichts ausmacht“, sagte sie. „Hey, es ist nicht einfach, diesen Laden zu betreiben. Und ich mag mein Leben. Ich muss nicht die ganze Zeit ausgehen oder eine Million Freunde haben.“

Er schüttelte den Kopf. „Das Problem ist, dass du zu viel Zeit mit der Betreuung von Amelia verbracht hast. Das war viel zu lange dein ganzer Lebensinhalt.“

„Mason, sei nicht so negativ. Ich schuldete es ihr, und ich liebte sie.“

„Und was du getan hast, war gut. Aber jetzt musst du das alles abschütteln und von vorne anfangen.“

Ergeben hob sie die Hände. „Ich weiß. Das will ich ja auch.“ „Du solltest dir ein Date gönnen.“

„Ach ja? Und wo soll ich dieses Date hernehmen? Soll ich einen betrunkenen Collegejungen in der Bourbon Street auflesen?“

Er blickte sie streng an. Dann kräuselte ein Lächeln seine Lippen. „Das wäre zumindest ein Anfang. Ich meine, wie lange willst du noch ohne Sex leben?“

„Woher weißt du, wie viel Sex ich habe?“

„Weiß ich nicht. Ich weiß nur, wie viel Sex du nicht hast.“ „Du bist echt eine Nervensäge, weißt du das?“, sagte sie. „Vielleicht weißt du ja nicht mehr, wie das ist mit einem Date“, überhörte er ihren Vorwurf. Dann zuckte er die Achseln. „Also fang einfach mit Sex an.“

„Ich werde deine ungeheuer hilfreichen Vorschläge im Hinterkopf behalten“, versicherte sie.

„Du könntest jederzeit Sex mit mir haben“, neckte er sie. „Dazu schätze ich unsere Freundschaft zu sehr – auch wenn ich im Moment wirklich nicht weiß, warum“, gab sie zurück.

„Es gibt heutzutage Freunde mit gewissen Extras.“

„Mason, reiß eine Collegemaus auf, wenn du es so nötig hast. Okay?“

„Es ist gleich Feierabend.“ Er ging zum Tresen und warf ihr ein Geschirrtuch zu. „Du machst die Küche sauber. Ich erledige die Abrechnung.“

„Hey! Eigentlich bin ich der Boss hier.“

„Richtig. Aber als guter Angestellter lasse ich dich heute nicht an die Kasse. Du bist zu weggetreten. Es ist ja ruhig heute, also lass uns einfach schließen. Ich glaube nicht, dass uns noch irgendwelche Notfall-Prophezeiungen ins Haus stehen“, sagte er fröhlich. „Und ich könnte einen Drink gebrauchen.“

„Dann geh. Ich kann das hier fertig machen. Du und Vinnie habt mich heute Nachmittag vertreten, also los, geh schon.“

„Nicht ohne dich“, entgegnete er.

„Warum nicht?“

„Du brauchst den Drink nötiger als ich. Komm schon. Wir gehen aus, und du kannst Onkel Mason alles erzählen, was dir wirklich auf dem Herzen liegt.“

„Nichts liegt mir auf dem Herzen.“

„Blödsinn. Insgeheim sinnst du auf gewaltige Rache an diesen elenden Plantagendieben. Ich weiß, dass du das tust.“ Sie lachte. „Ganz ehrlich, nein, das tue ich nicht.“ „Was ist es dann, das dich bedrückt?“

„Nichts“, wehrte Kendall ab. Um das Thema zu wechseln und weil es tatsächlich eine gute Idee schien, schlug sie vor: „Hey, vielleicht sollte ich Sheila anrufen und fragen, ob sie uns auf einen Drink begleiten will. Ich habe sie eine Weile nicht mehr gesehen.“ Sheila war eine andere alte Freundin. Sie war schon immer ein Bücherwurm gewesen und arbeitete inzwischen für die Historische Gesellschaft. Tatsächlich fühlte sich Kendall ihr gegenüber ein bisschen schuldig. Sheila hatte immer die Flynn-Plantage besichtigen wollen, doch Amelia mochte keinen weiteren Besuch haben.

„Du kannst sie anrufen, doch es wird nichts nützen“, sagte Mason.

„Warum?“

Er seufzte. Mason mochte Sheila, das wusste Kendall. Mehr als das, er hatte eine Schwäche für sie. Er würde es nur nicht zugeben.

„Sie ist im Urlaub, erinnerst du dich?“

„Ach ja, richtig.“ Wie hatte sie das vergessen können? Sheila hatte eine dreiwöchige Reise nach Irland geplant. Sie würde erst am Wochenende wiederkommen, und heute war erst Montag.

„Aber“, sagte Mason bestimmt, „wir gehen aus. Wir. Du und ich. Und du erzählst mir, was dir auf dem Herzen liegt.“

Es war schon fünf Uhr, als sie – nachdem sie den Laden sauber gemacht und geschlossen hatten – nun an einem Ecktisch im Hideaway saßen, der Bar, in der Vinnie spielte. Schließlich erzählte Kendall Mason, was sie bedrückte.

„Ich glaube, es ist der Knochen.“

„Der Knochen?“, fragte Mason. „Wovon zum Teufel sprichst du?“

Sie sah ihn an. „Offenbar hat sich ein Obdachloser – oder vielleicht auch mehrere – in den Sklavenquartieren eingenistet. Da lag ziemlich viel Abfall herum. Und ein Knochen.“ Entgeisterte starrte er sie noch immer an. „Ein Hühnerknochen? Spareribs?“

„Von einem Menschen“, sagte sie und nahm einen großen Schluck von ihrem Bier.

Aidan hatte nichts dagegen, mit seinen Brüdern auf einen Drink auszugehen. Doch nach dem Tag, den sie hinter sich hatten, hätte er ein paar ruhige Biere in der Hotelbar vorgezogen. Seine beiden Brüder aber waren erpicht darauf, möglichst jeden Bandauftritt in der Gegend zu erleben, auch außerhalb des French Quarter. Für heute Abend hatten sie diese Bar ausgewählt, weil sie die Band nicht nur kannten, sondern sogar einmal mit ihr gespielt hatten.

Er lehnte sich zurück und genoss die wirklich gute Musik. Ein Kompliment, das sich nicht unbedingt auf das Äußere der Bandmitglieder erstreckte. Sie waren zwar keine ausgewiesenen Grufties, doch alle trugen lange schwarze Baumwolljacken über schwarzen Jeans. Er war nicht ganz sicher, war für ein Look das sein sollte. Vampire? Voodoo? Sie nannten sich jedenfalls The Stakes.

Dennoch, die Musik war gut.

Und Musik und Alkohol konnten ein wenig von der Anspannung abbauen, die er verspürte.

Und die hatte am meisten mit Dr. Jon Abel, Detective Hal Vincent und sogar mit Jonas Burningham zu tun.

Er konnte ihre Haltung bis zu einem gewissen Grad verstehen, aber nur bis zu einem gewissen Grad.

Ja, New Orleans und die gesamte Golfregion waren verwüstet worden. Ja, Hunderte von Leichen, die man nicht in oberirdischen Gräbern bestattet hatte, waren aus ihren Särgen und Gräbern herausgespült worden und vermischten sich mit den frischeren Leichen jener, die im Sturm umgekommen waren.

Doch das war kein Grund, die Entdeckung eines menschlichen Knochens nicht mit Respekt und einer gewissen Dringlichkeit zu behandeln. Und es war einfach zu merkwürdig, gleich zwei menschliche Oberschenkelknochen an einem Tag zu finden, auch wenn mehrere Meilen zwischen den Fundorten lagen.

Aidan war darauf gefasst gewesen, dass sich Jon Abel wegen des erneuten Außeneinsatzes beklagte. Doch er war nun mal Gerichtsmediziner und am ehesten qualifiziert, zu bestimmen, ob es eine Verbindung zwischen den beiden Knochen gab. Und tatsächlich hatte er sofort sagen können, dass die Knochen von zwei verschiedenen Personen stammten – außer eine Frau wäre irgendwann mit zwei rechten Beinen herumgelaufen. Doch er war barsch geblieben und offensichtlich verärgert, dass man ihn gerufen hatte.

Hal Vincent hatte ebenso unglücklich gewirkt und darauf hingewiesen, dass sie sich schließlich außerhalb seines Dienstbereichs befänden. Doch er war immerhin höflich geblieben und hatte zugestimmt, dass man den Fund von menschlichen Überresten ernst nehmen müsse. Sogar Jonas hatte so getan, als mache Aidan aus einer Mücke einen Elefanten, und angedeutet, dass er vielleicht eine verspätete Reaktion auf Serenas Tod zeigte.

Und selbst seine Brüder waren von der Heftigkeit seiner Reaktion überrascht, nachdem auch die gründliche Suche keine weiteren Knochen zutage gefördert hatte.

Genau dieser Umstand irritierte Aidan mehr als alles andere. Die anderen – Jeremy und Zach eingeschlossen – hielten es für die plausibelste Erklärung, dass der Knochen von dem großen Familienfriedhof stammte, der gleich hinter dem Haus und leicht östlich von den Sklavenquartieren lag.

Der Friedhof war ein sehr eindrucksvoller Ort mit mehreren Mausoleen. Das größte, in dem man die meisten Flynns bestattet hatte, war auch das imposanteste. Andere waren für die Familien von verheirateten Töchtern, entfernten Verwandten, Dienern und auch Freunden errichtet worden. Es gab sowohl oberirdische als auch unterirdische Gräber. Und vermutlich war es keineswegs unlogisch, davon auszugehen, dass der Knochen von dort stammte, auch wenn es keinerlei Anzeichen dafür gab, dass der Fluss über die Ufer getreten war und den Friedhof überschwemmt hatte.

Was ihn ärgerte, war jedermanns Annahme, dass der Knochen alt sein musste. Was zum Teufel war los mit ihnen? Waren sie zu abgestumpft, um sich zu fragen, ob hier jemand ein faules Spiel spielte?

Oder war er selbst so erpicht darauf, bösen Vorsatz auch dort zu entdecken, wo gar keiner war, dass er aus dem Nichts einen Tatort erschuf? Schließlich hatte zumindest der zweite Knochen keinerlei Gewebereste aufgewiesen und war nicht weit von einem Friedhof entfernt gefunden worden.

„Was meinst du?“, fragte Zach und hob die Stimme, um bei der Musik gehört zu werden.

„Was?“ Aidan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Augenblick.

„Zu der Band?“, ergänzte Zach.

Aidan beugte sich vor. „Sie sind gut. Für meinen Geschmack ist ihr Outfit etwas zu morbide, doch der Sänger hat eine tolle Stimme.“

Zach nickte und blickte Aidan eindringlich an.

„Was?“

„Geht es dir gut?“ Zach klang besorgt.

„Ja, warum?“

„Du guckst so finster.“

„Nein, tue ich nicht.“

„Doch, das tust du“, sagte Zach.

„Hey“, unterbrach sie Jeremy, der zu ihnen getreten war.

„Lasst euch nicht die Laune verderben, weil wir heute mit einer Meute Hyänen zu tun hatten. Ob dieser Knochen nun ausgewaschen wurde oder nicht, nur ein Idiot würde der Sache nicht nachgehen.“

Aidan nickte und senkte lächelnd den Kopf. Einer für alle, und alle für einen. Seine Brüder. Nicht jeder hatte das. Er konnte sich glücklich schätzen.

„Ja.“

Jeremy und Zach musterten ihn beide. „Ich gehe morgen gleich als Erstes an den Computer“, sagte Zach, „und recherchiere nach vermissten Person.“

Aidan schüttelte den Kopf. „Hey, vielleicht bin ich auch einfach nur neurotisch, weißt du“, sagte er. „Und schließlich haben wir keinen Klienten.“

„Ich gehe zum örtlichen Polizeirevier“, bot Jeremy an. „Durch die Kampagne für Children’s House habe ich einige der Beamten kennengelernt. Ich kann mich umhören, ob sie eine Erklärung haben. Es gibt noch immer Hunderte von Vermissten seit dem Hurrikan, aber ich werde mich auf die jüngsten Fälle konzentrieren.“

Aidan nickte. „Danke“, sagte er leise. „Ich werde in der Zwischenzeit Jon Abel auf die Pelle rücken.“

„Und was das Haus angeht, Aidan“, warf Jeremy ein. „Du glaubst, dass wir uns übernehmen, aber dieser Ort hat etwas Besonderes … Wie auch immer, wenn du nicht möchtest, musst du nichts mit der Sache zu tun haben. Zach und ich können mit den Tischlern und den anderen Handwerkern allein verhandeln.“

Aidan schüttelte den Kopf. „Wenn wir uns entscheiden, es zu behalten, bin auch ich verantwortlich. So oder so ist klar, dass wir es renovieren lassen müssen. Aber eins nach dem anderen. Wir brauchen zunächst einen Statiker. Ich verlasse mich nicht auf irgendjemandes Wort, dass das Haus stabil ist, nicht bis jemand vom Fach das bestätigt hat“, sagte Aidan.

„Eins nach dem anderen“, stimmte Zach zu.

Aidan lehnte sich zurück und beobachtete wieder die Band.

Nach einigen Minuten ertappte er sich dabei, wie er stattdessen einen alten Mann musterte, der der Musik zuhörte und sich im Raum umsah. Sein Teint schien mehr golden als schwarz oder braun, und seine Gesichtszüge ließen auf eine Herkunft schließen, bei der sich Schwarz, Weiß und Indianisch vermischten. Es lag Stärke in seinen Gesichtszügen. Und Traurigkeit. Er lehnte an einer Säule rechts von der Bühne, und irgendetwas an seiner entspannten Haltung ließ vermuten, dass er öfter hierherkam.

„Weißt du, woran du erkennst, dass diese Jungs besser sind als die meisten Bands in der Stadt? Weil die Einheimischen hierherkommen, um sie zu sehen“, sagte Jeremy, der damit Aidans Aufmerksamkeit von dem Fremden ablenkte. Dann runzelte er die Stirn und straffte die Schultern.

„Was ist los?“, wollte Aidan wissen.

„Dein Gerichtsmediziner sitzt dort drüben mit einem Haufen Cops, darunter auch diesem Hal Vincent. Hat sich gut zurechtgemacht. Er sieht jetzt nicht mehr ganz so sehr wie ein verrückter Professor aus.“

„Jon Abel? Hier?“, fragte Aidan verblüfft. Er hatte den Mann für einen Einzelgänger gehalten, für jenen Typ Wissenschaftler, der abends nach Hause ging und in seinem Kellerlabor herumexperimentierte.

Doch Abel saß tatsächlich mit ein paar Cops an einem Tisch. Er trug Jeans und T-Shirt und wirkte jünger als zuvor am Tag. Offenbar trug er Kontaktlinsen und hatte sich auch gekämmt. Er schien seinen Feierabend zu genießen. Kein Wunder, dass er nicht noch mehr Arbeit haben wollte, als ihm diese Stadt, die sich in einem fragilen Prozess des Wiederaufbaus befand, sowieso schon bereitete.

„Sieh jetzt nicht hin“, sagte Jeremy und nickte in Richtung Eingangstür. „Aber hier kommt noch ein Kumpel von dir.“

„Ein Kumpel?“, fragte Aidan verwirrt und drehte sich dann trotz der Warnung seines Bruders um.

Jonas betrat die Bar, gemeinsam mit Matty, seiner langjährigen Ehefrau.

Sicher, die Band war gut, und die Einheimischen hingen hier ab. Dennoch war es ausgesprochen merkwürdig, dachte Aidan, dass sie alle an demselben Abend in derselben Bar landeten.

Und er fragte sich allmählich, was hier eigentlich wirklich vor sich ging.

4. KAPITEL

Jonas trug ebenfalls Jeans, doch sie passten, als wären sie maßgefertigt, und stammten wahrscheinlich von irgendeinem Designer. Sein Poloshirt schien gebügelt, und seine Haare saßen noch immer perfekt. Matty war eine Schönheit. Sie trug die gleichen Designerjeans, dazu eine Seidenbluse. Beides umschmeichelte einen Körper, der vermutlich schon von Anfang an beeindruckend und nun zur Perfektion operiert worden war. Nicht eines ihrer platinblonden Haare lag unordentlich.

„Ja, das sind Jonas und seine Frau Matty“, bestätigte Aidan. Im gleichen Moment erblickten ihn die beiden. Jonas hob grüßend eine Hand und sah dann zur Seite. Offenbar hatte ihm Aidans Gesellschaft am Tag schon gereicht, jedenfalls ging er hinüber zu den Cops. Matty kam dennoch zu ihnen. „Hallo, wenn das mal nicht Aidan Flynn ist. Und das hier müssen deine Brüder sein. Jonas erzählte mir, dass ihr ein Haus hier unten geerbt habt. Wie geht es euch?“

Mochte ihr Körper auch zu großen Teilen aus Silikon geformt sein, ihre Begrüßung war doch herzlich und aufrichtig. Aidan stand auf, um sie zu umarmen und ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Seine Brüder erhoben sich ebenfalls, und er stellte sie einander vor.

„Jonas sagt, ihr wollt das Anwesen behalten“, sagte sie, während Jeremy ihr einen Stuhl heranzog.

„Das haben wir vor“, erwiderte Jeremy.

„Ich bin so froh, dass ihr hier wohnen werdet“, sagte Matty.

„Diese Gegend braucht Menschen, die hier sein wollen, die arbeiten wollen, die wieder eine Gemeinde aufbauen. Und es gibt hier eine Menge privater Sicherheitsarbeit“, fügte sie hinzu, wobei sie Aidan etwas unsicher ansah. Er begriff, dass sie sich wegen Serena unbehaglich fühlte. Während seiner FBI-Zeit waren sie oft zu viert ausgegangen, und sie wusste, dass Serenas Tod der Grund für sein Ausscheiden war.

Hier wohnen?

Eigentlich hatte er daran nicht gedacht. Auf der anderen Seite war er nirgendwo lange geblieben, nicht einmal an dem Ort, den er jahrelang sein Zuhause genannt hatte. Er war immer weitergezogen. Hatte nach all den Fällen gegriffen, die ihm die Gelegenheit gaben, in einer anderen Stadt zu sein.

Wegzulaufen.

Nun, er war frei und über einundzwanzig. Weglaufen war in Ordnung, wenn er sich dafür entschied.

Seltsam. Trotz allem, was sie an ihrem Äußeren verändert hatte, war Matty in ihrem Herzen echt und unverfälscht geblieben. Sie nahm Anteil.

Er lächelte. „Hey, wer weiß? Wir werden sehen.“

„Sieh mal. Ist das nicht das Mädchen vom Haus?“, fragte Zach plötzlich und deutete mit seiner Bierflasche in Richtung Bühne.

Aidan blickte in die angezeigte Richtung. Der Bassist kündigte gerade ein eigenes Lied der Band an, während der Gitarrist – der zu seinen Stiefeln ein an Vampirfilme erinnerndes schwarzes Cape trug – sich vorbeugte, um von Kendall Montgomery einen Drink entgegenzunehmen.

Aidan hatte gerade angefangen, sich wohlzufühlen, nicht zuletzt durch Mattys warme Begrüßung. Nun spannte sich jeder Muskel seines Körpers wieder an. Es gab so viele Bars und Musikkneipen in der Bourbon Street, warum musste Kendall Montgomery heute Abend ausgerechnet hier landen?

Der Gitarrist grinste, ergriff den Plastikbecher mit was auch immer, nahm einen langen Schluck und gab ihn zurück. Bevor er sich für den weiteren Auftritt bereit machte, stupste er den Drummer an, der daraufhin zu Kendall sah und sie mit einem Salut grüßte.

Danach kehrte sie an den Tisch zurück, an dem sie offenbar saß. Begleitet wurde sie von einem großen, gut gebauten Mann mit Glatze und dicken schwarzen Augenbrauen. Er grüßte mit seiner Bierflasche in Richtung Bühne, als wolle er auf den Erfolg der Band anstoßen.

„Was für eine hübsche Frau“, sagte Matty, was sie in Aidans Augen noch liebenswerter machte. Sie war nicht der Typ, der andere Frauen schlecht machte.

„Sie hat schönes Haar“, bemerkte Zachary.

„Bist du sicher, dass du nur ihr Haar anschaust?“, fragte Jeremy neckend.

„Mag sein, dass ich mir die ganze Verpackung anschaue“, erwiderte Zachary und grinste Matty an. „Sie ist wirklich umwerfend, oder? Wobei hier natürlich eine Schönheit die andere bewertet.“

Matty lachte. „Das Kompliment ist ebenso charmant wie geschätzt. Und ja, diese junge Frau ist absolut umwerfend. Ihr kennt sie?“

„Wir haben sie heute kennengelernt. Beim Haus“, erklärte Jeremy.

Aidan ertappte sich, wie er Kendall eingehend musterte. Sie sah unbestreitbar umwerfend aus, doch waren ihr Stolz und die Würde, die sie heute an den Tag gelegt hatte, wirklich echt? Oder war sie eine Blutsaugerin, die Amelia Flynn bis zum Ende ausgenutzt hatte?

Eigentlich glaubte er das nicht. Im Laufe der Jahre hatte er eine ganz gute Menschenkenntnis erworben. Normalerweise wusste er, wann jemand log. Es gab winzige äußere Anzeichen, an denen er inzwischen erkannte, dass ihm jemand eine Lüge auftischte oder auch nur die Wahrheit ausschmückte. Es wurde zu oft geblinzelt, der Puls raste. Es fiel den Menschen schwer, einem in die Augen zu sehen, während sie logen. Einige Lügner waren natürlich besser als andere und hatten gelernt, den Blick nicht abzuwenden – sie waren Gewohnheitslügner. Doch selbst dann – die Handflächen wurden ein bisschen feuchter, und auch die Venen am Hals waren ein Signal.

Wenn man außerdem noch berücksichtigte, wie Kendall Montgomery angezogen war und was für ein Auto sie fuhr, dann schien es ihr zwar gut zu gehen, doch sie machte nicht den Eindruck, als ob sie in Geld schwamm. Sie hatte zum Beispiel keine dicken Klunker an den Fingern. Sie sah einfach nicht aus, als ob sie Amelia gemolken hätte, um ihr Einkommen zu verbessern.

Sie hatte sich nur einmal abgewandt, als es um Amelia ging und die Dinge, die sie angeblich nachts gesehen hatte. Und selbst da war ihr Ärger auf die Brüder – nein, auf ihn – wegen der versteckten Anschuldigung gegen Amelia echt gewesen.

Sie hatte tatsächlich schönes Haar, wie ihm jetzt auffiel, da er sie eingehender musterte. Es war lang, dicht, seidig und glänzte selbst im gedämpften Licht der Bar noch feuerrot. Ihr Gesicht war perfekt: klare, große Augen, eine markante Kieferkontur, hohe Wangenknochen, ein perfekt geformter, großzügiger Mund, eine gerade Nase, nicht zu klein, nicht zu groß, sondern genau richtig für ihr Gesicht. Es war ungewöhnlich symmetrisch. Dass sie so umwerfend wirkte, hatte allerdings mehr mit ihrem Auftreten als mit ihrem Aussehen zu tun. Sie war groß und hatte eine gute Haltung. Elegant. Sie bewegte sich anmutig, sicher, mit geraden Schultern. Sie war der Typ Frau, der alle Blicke auf sich zog.

Ihm fiel auf, dass er seine Beobachtungen sehr kühl analysierte – und fragte sich, ob er wirklich so kühl war. Sie schien nicht unwesentlich zu seiner Anspannung beizutragen. Nun, sie konnten schließlich alles Mögliche tun, um moderne Männer zu sein, aber die Natur änderte sich nicht. Die Frau war perfekt gebaut, und es war nahezu unmöglich, sie nicht anzusehen und nicht daran zu denken, wie großartig es wäre, sie zu berühren – wie großartig sie im Bett wäre.

Verärgert über seine eigenen Gedanken wandte er sich ab. Es war nicht so, dass er seit Serenas Tod wie ein Mönch gelebt hätte. Er war seitdem mit Frauen ausgegangen. Mit vielen Frauen. Das Spiel hatte sich verändert, seit er das letzte Mal regelmäßig Dates gehabt hatte. Einige Frauen suchten eine Beziehung, doch viele andere wollten nur einen One-Night-Stand, und genau diese lagen ihm am meisten. Er wollte kein anderes Gesicht auf dem Kissen neben sich sehen, wenn er morgens aufwachte. Er wollte mit den Frauen auch nicht befreundet bleiben. Und er wollte mit Sicherheit nicht mit einer Freundin ins Bett gehen.

Die Frauen, mit denen er ausging, waren eindeutig keine Freundinnen. Er kannte sie kaum.

Er wandte sich um und bemerkte, dass der kahlköpfige Mann zu ihrem Tisch starrte. Ihn anstarrte.

„Entschuldigt ihr bitte?“, sagte er höflich zu Matty und seinen Brüdern.

„Selbstverständlich“, entgegnete Matty mit einem wissenden Lächeln und einem Kopfnicken in Kendalls Richtung.

Er machte sich nicht die Mühe, ihr zu erklären, dass ihre Hoffnungen vergebens waren. Er wusste selbst nicht genau, warum er hinüberging, doch sicherlich nicht, weil er Kendall zum Abendessen einladen wollte.

Er steuerte direkt auf den Tisch zu. „Hallo“, sagte er, stellte sich dem Mann vor und reichte ihm die Hand. Der Typ sah verdammt gut aus, vermutlich ihr Freund. „Miss Montgomery, schön, Sie wiederzusehen.“

Der glatzköpfige Typ lächelte. „Dann sind Sie Aidan Flynn. Ich bin Mason Adler. Ich arbeite für Kendall. Nett, Sie kennenzulernen. Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?“

Aidan zog sich einen Stuhl heran. Für Bourbon-Street-Verhältnisse war es noch immer früh, sodass es in der Bar genügend Plätze gab.

Nein, es war nicht überfüllt. Doch die Bar war auf merkwürdige Art angefüllt mit Menschen, mit denen er im Laufe des Tages zu tun gehabt hatte.

Kendall starrte ihn aus ihren tiefgrünen Augen an. Sie schien weder erfreut noch verstimmt.

„Was tun Sie hier?“, fragte sie schließlich.

Er hob die Brauen. „Ein Bier trinken, Musik hören.“

„Aber … hier?“

Fast hätte er laut gelacht. Kendall schien ebenfalls misstrauisch. Oder auf der Hut.

„Zach schlug die Bar hier vor, weil er die Band mag, vor allem den Gitarristen.“

„Vinnie ist gut“, sagte sie und fragte dann: „Wie ist es gelaufen mit dem Knochen?“

Er zuckte die Achseln und grinste. „Sie halten mich für einen Panikmacher.“

„Ich verstehe nicht?“

„Ich hatte früher am Tag schon einen Knochen gefunden“,

erklärte Aidan.

Sie blickte ihn erstaunt an. Mason schaltete sich sofort ein. „Warten Sie mal, Sie haben am gleichen Tag noch einen Knochen gefunden?“ Er warf Kendall einen vorwurfsvollen Blick zu, als habe sie ihm nicht alle Neuigkeiten mitgeteilt. „Auf dem Gelände der Plantage?“

Aidan schüttelte den Kopf. „Nein, am Fluss.“

„Noch einen … menschlichen Knochen?“, fragte Mason.

Aidan nickte, lehnte sich zurück und entschied, die Sache zu erklären. „Ich bin Privatdetektiv. Man hatte mich engagiert, um eine Ausreißerin zu finden. Sie lebte mit einer Gruppe Jugendlicher in einer alten Hütte am Fluss. Ich sah den Knochen, als ich bei den Jugendlichen war, deswegen kam ich mit den Cops und einem Gerichtsmediziner noch einmal zurück.“

„Und das Mädchen geht wieder nach Hause?“, fragte Kendall.

Er nickte erneut. „Es ging alles gut aus.“

„Aber das tut es nicht immer“, sagte Kendall. Es war keine Frage.

„Und was hat der Gerichtsmediziner gesagt?“

„Dass es ein alter Knochen sei, der vermutlich aus irgendeinem Grab gespült wurde. Dass in diesen Tagen eine Menge alter Knochen auftauchten.“

„Unglücklicherweise stimmt das, wie Sie wissen“, sagte Mason.

Der Kerl sah aus wie ein Türsteher, dachte Aidan, doch er schien ganz anständig zu sein.

„Sicherlich“, stimmte er zu.

„Verbringen Sie viel Zeit hier?“, fragte Mason.

„Ich bin im Laufe der Jahre ab und zu hier in der Gegend gewesen“, sagte Aidan.

Mason schüttelte den Kopf. „Das ist erstaunlich. Die ganzen Jahre … und Sie hatten keine Ahnung, dass Sie hier Familie haben? Dass Sie hier eine Plantage erben würden?“

„Absolut keine Ahnung“, versicherte Aidan.

Eine Kellnerin kam an den Tisch und brachte ihnen drei Bier. Aidan blickte sie fragend an. „Die sind von Vinnie“, erklärte sie und ging wieder.

„Dann ist Vinnie, der große Gitarrist, also ein guter Freund von ihnen?“, fragte Aidan Kendall, als hätte er die Szene zwischen ihr und Vinnie vor einer Weile nicht bemerkt.

„Seit der Grundschule“, erwiderte sie.

„Ich bin nicht sicher, ob ich die Outfits verstehe“, sagte Aidan. „Sie sehen ein bisschen merkwürdig aus.“

Kendall lachte. „Merkwürdig? Kommen Sie, das hier ist New Orleans.“

„Sie haben nie gewusst, dass es eine Flynn-Plantage gibt?“, hakte Mason nach und ignorierte die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, völlig.

„Mason …“, mahnte Kendall sanft.

Aidan schüttelte den Kopf. „Wir wussten nichts davon.

Und selbst wenn ich davon gehört hätte – Flynn ist ein ziemlich geläufiger Name.“

„Ich hörte, dass Ihre Brüder beide gute Musiker sind“, sagte Kendall, die versuchte, von dem schwierigen Thema abzulenken.

Aidan nickte.

„Wie sind Sie dem entkommen?“, fragte Mason.

„Wie bitte?“

„Na, der Musiksache?“, sagte Mason.

„Ich ging zur Navy“, antwortete Aidan.

„Wissen Sie, Sie sollten wirklich zu einer Sitzung vorbeikommen“, sagte Mason.

„Mason!“ Dieses Mal war Kendall überhaupt nicht sanft, und ihr schien alles Blut aus dem Gesicht gewichen zu sein.

„Vorbeikommen zu was?“, fragte Aidan mit gerunzelter Stirn.

Kendall erhob sich abrupt. „Ich werde Ihre Brüder fragen, ob sie sich nicht zu uns setzen wollen. Oder vielleicht sollte ich einfach gehen. Es wird spät.“

„Kendall“, protestierte Mason, „es ist acht Uhr.“

„Ich weiß, aber ich muss morgen den Laden öffnen.“ Sie wirkte verlegen, als hätte sie sich für die falsche Entschuldigung entschieden.

„Wo ist Ihr Laden?“, frage Aidan. Eine Sitzung? Was für eine Art Laden hatte sie denn?

„Wir sind in der Royal Street. Der Laden heißt Tea and Tarot“, erwiderte Mason an Kendalls Stelle.

„Ich verstehe“, sagte Aidan langsam. Wieder diese merkwürdige Anspannung in seinen Muskeln. Tarot. Spirituelle Sitzungen. Sie war eindeutig eine Art Quacksalberin. Er war seltsam enttäuscht – ein Gefühl, das er gar nicht näher hinterfragen wollte.

„Wir verkaufen Produkte von Künstlern aus der Umgebung“, sagte sie kühl. Offensichtlich hatte sie erraten, was er dachte.

„Sicher tun Sie das“, erwiderte er höflich.

„Hören Sie, tut mir leid, aber ich werde jetzt wirklich die Nacht einläuten“, sagte Kendall bestimmt.

„Vinnie wird untröstlich sein. Er wollte einen neuen Song singen, den er geschrieben hat“, warnte Mason sie. „Er wollte, dass du dabei bist.“

„Ich höre ihn beim nächsten Mal. Ich muss gehen. Gute Nacht.“

Sie wandte sich ab und ging in Richtung Tür. Aidan war selbst überrascht, dass er sofort aufstand.

„Wohnt sie weit von hier?“, fragte er Mason.

„Nein, sie wohnt unten an der Royal Street, zur Esplanade hin. Es ist sicher“, versicherte Mason ihm. Der Mann war eigenartig, doch zwischen ihm und Kendall schien nicht mehr zu bestehen als eine Freundschaft. Kein Mann verhielt sich so gleichgültig gegenüber einer Frau, mit der er etwas hatte.

„Ich werde mich nur darum kümmern, dass sie keiner von den Betrunkenen draußen belästigt“, sagte Aidan.

Mason nickte. „Gute Idee. Ich glaube, ich werde mich inzwischen Ihren Brüdern vorstellen.“

Ob Mason an den anderen Tisch ging oder nicht, erfuhr Aidan nicht, da er in Kendalls Kielwasser aus der Kneipe eilte.

Bourbon Street. So früh am Montagabend war es ziemlich ruhig. Lockvögel standen auf der Straße und versuchten, die Passanten in ihren Club zu ziehen. Aus der einen Kneipe drang gute alte Countrymusik, während auf einer Neonreklame gegenüber Beine auf- und abschwangen und einen Stripclub ankündigten. Ein paar Jungs aus einer Studentenverbindung gingen eingehakt und mit überschwappenden Plastikbechern vorbei und grölten ein nicht zu identifizierendes Lied. Zwei Frauen mit Ballonhüten kicherten, als sie an den Jungs vorbeikamen.

Da er Kendall nirgendwo auf der Bourbon Street erblickte, bog er in die Seitenstraße zur Royal Street.

Die war fast ausgestorben. Ein älteres Paar führte einen kleinen Terrier spazieren. Hinter ihnen sah Aidan jemanden schnell gehen. Kendall.

Er beeilte sich, sie einzuholen. Sie musste tief in Gedanken versunken sein, denn als er sie an der Schulter berührte, fuhr sie zusammen und drehte sich mit einem kleinen Aufschrei um.

„Oh!“, sagte sie, als sie ihn erkannte.

„Tut mir leid. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.“

„Sie haben mir keine Angst eingejagt, Sie haben mich erschreckt. Das ist nicht das Gleiche.“

Sie war wieder ungehalten. In Verteidigungsstellung. Nun, zu Recht. Er hielt nicht viel von Handlesern, Tarotlesern oder was auch immer. Er glaubte an nichts davon. Und er war ziemlich sicher, dass auch sie nicht daran glaubte, auch wenn er nicht erklären konnte, warum. Vielleicht weil sie zu nüchtern wirkte, zu bodenständig.

„Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Sie atmete tief durch. An der pochenden Ader an ihrem Hals erkannte er, dass ihr Puls jagte. Er hatte ihr Angst eingejagt, egal was sie sagte.

„Also. Was wollen Sie?“

„Ich dachte nur, dass … ich war nicht sicher … herrje. Ich dachte, ich begleite Sie auf dem Heimweg.“

Sie sah ihn eindringlich an. „Sie dachten, ich brauche jemanden, der mich nach Hause begleitet?“ In ihrem Tonfall hielten sich Ungläubigkeit und Ungehaltenheit die Waage.

„Es ist Abend. Und es ist dunkel“, sagte er lahm.

Sie blickte ihn an. Mit ironischem Unterton sagte sie: „Ich lese Tarotkarten. Und ich lese aus der Hand. Man hält mich für eine Art Medium. Meinen Sie nicht, ich würde Gefahr vorhersehen?“

„Keine Ahnung. Die parapsychologische Telefonberatung ist pleitegegangen. Man hätte annehmen sollen, dass einer von ihnen das vorhergesehen hätte.“

„Ich wohne hier. Ich wohne hier schon mein ganzes Leben. Ich weiß, wo ich ohne Risiko langgehen kann. Und das hier ist auch keine gefährliche Stadt, egal, was die Leute sagen. Sicher, wir haben Probleme. Alle Großstädte haben Probleme.

Ich kann allein und ohne irgendeine Gefahr die nächsten zwei Blocks bis nach Hause gehen. Und ich danke Ihnen für die Besorgnis, aber ich bin nicht sicher, ob Sie mir wirklich aus diesem Grund gefolgt sind.“

„Nein?“

„Nein“, sagte sie ausdruckslos. Sie seufzte, als wäre sie wirklich erschöpft. „Dann frage ich Sie noch einmal: Was wollen sie wirklich von mir?“

Er zögerte nicht. Er log nicht. Es wäre albern gewesen. „Ich möchte mehr über Sie wissen.“

„Über mich?“

„Sie – und die Zeit, die Sie mit Amelia verbracht haben. Und darüber, was nachts vor sich ging. Was sie sah, was sie träumte, was sie sagte und was es war, das ihr – und Ihnen – Angst eingejagt hat.“

Sie starrte ihn an.

„Geister?“, fragte sie, als wolle sie sich über sich selbst mokieren.

„Glauben Sie an Geister?“, fragte er.

Die Frage schien aufrichtig gemeint zu sein. Er veralberte sie nicht, er war nur neugierig.

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie.

Und das war die Wahrheit, oder?

Sie gingen weiter, und er erwähnte, dass er die Stadt allein wegen ihrer Architektur schon immer geliebt habe. Daraufhin erklärte sie ihm die Geschichte einiger Gebäude, an denen sie vorbeikamen. Zehn Minuten später waren sie noch immer im angeregten Gespräch.

In ihrer Wohnung.

Kendall konnte sich nicht daran erinnern, wie sie es geschafft hatte, ihn einzuladen, wo sie ihn ja nicht einmal mochte, doch er war eindeutig da.

Sie wohnte im Erdgeschoss eines schönen alten Hauses, Baujahr 1816. Von dem langen durchgehenden Hausflur gingen vier Mieteinheiten ab, zwei zu jeder Seite. Kendalls Tür führte in ein kleines Empfangszimmer, das sich wiederum zu einem Flur öffnete, von dem zwei Schlafzimmer abgingen – eines nutzte sie als Büro – und der in einem geschmackvoll renovierten Wohn- und Küchenbereich mündete. Ein langer Tresen im hinteren Bereich trennte die Küche von dem Wohnbereich, der sich zum Garten öffnete. Statt Schiebe-Glastüren führten doppelte Fenstertüren in einen Innenhof und einen Garten, der ursprünglich den Eingang des Hauses markiert hatte. Hinter dem Zaun am Ende des Grundstücks verlief eine Gasse, und es gab noch immer ein Eingangstor. Die Menschen waren einst dort ins Haus gegangen, wo heute die Rückseite war.

„Hübsch“, kommentierte Aidan.

Da er schon mal da war, hatte Kendall sich verpflichtet gefühlt, ihm einen Drink anzubieten. Gedankenverloren ließ er nun den Scotch in seinem Glas kreisen, während er hinaus in den Garten sah.

„Es ist mein Zuhause“, sagte sie. „Gehört es Ihnen?“

„Ich wohne zur Miete.“

„Läuft Ihr Laden gut?“

„Ja.“

„Ich schätze, die Menschen kommen wirklich hierher, um sich in Voodoo und allem Okkulten zu versuchen“, sagte er.

„Die meisten machen es nur zum Spaß“, sagte sie.

Er wandte sich um und ging zurück in die Küche, wo er sich auf einen der Barhocker setzte.

„Was ist mit den Leuten, die es nicht nur zum Spaß machen?“

Sie nahm einen langen Schluck von ihrem Drink, Wodka mit Cranberrysaft. „Voodoo ist eine anerkannte religiöse Praxis.“

Mit einer Handbewegung wischte er den Einwand fort. „Wenn ich ins Internet gehe, kann ich Vertreter von einem halben Dutzend verschiedener Religionen werden. Das macht sie nicht echt.“

„Voodoo war der herrschende Glaube auf Haiti. Es ist eine Mischung aus alten afrikanischen Religionen und dem Katholizismus. Seine Anhänger beten zu oder auch durch die Heiligen. Sie glauben an ein höheres Wesen, an Gott.“

„Und daran, dass sie einen Menschen verletzen können, indem sie eine Nadel in eine Puppe stechen, und dass ein Priester Tote als Zombies wieder zum Leben erwecken kann.“

„Stehen Sie in geheimer Verbindung mit dem höheren Wesen, sei es Gott, Allah, Jehova oder wie auch immer Sie ihn oder sie nennen wollen?“, fragte sie.

Er hatte die Größe, darüber zu lächeln. „Es ist nicht der Glaube der Menschen, der mich beunruhigt. Es sind die Menschen, die den Glauben anderer missbrauchen.“

Sie zuckte die Achseln. „Ich … ich möchte Sie nicht kränken – wirklich nicht –, aber ich verstehe nicht, warum Sie so überzeugt sind, dass hier etwas Schreckliches vor sich geht. Vor gar nicht so langer Zeit trieben nicht nur Knochen, sondern ganze verfaulende Leichen im Mississippi.“

„Ich weiß. Und das war eine furchtbare Tragödie.“

„Wir rappeln uns noch immer täglich Stückchen für Stückchen auf. Es braucht einfach Zeit. Nicht einen Tag oder eine Woche oder einen Monat oder ein Jahr. Es wird Jahre dauern – Plural. Und viel Einsatz.“

„Ich weiß.“

„Aber Sie sind noch immer überzeugt, dass da etwas vor sich geht.“ Sie errötete. „Abgesehen davon, dass Obdachlose auf der Plantage wohnten und ich nichts davon wusste.“

Er zuckte die Achseln, und ein reumütiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihr mit seinem Glas zuprostete. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen damit zu nahe getreten bin. Sie waren eben nur zwei Menschen, einer davon alt und dem Tode nah, die in einem großen Haus auf einem riesigen Gelände wohnten.

Sie hätten sich ja gar nicht um Amelia kümmern müssen, auch wenn ich dankbar bin, dass Sie es getan haben. Und mit absoluter Sicherheit konnten Sie nicht auch noch die Grundstücksverwalterin spielen. Warum also beunruhigt mich die Sache? Nennen Sie es eine Ahnung. Oder vielleicht wirkte der Knochen, den ich beim Haus gefunden habe, nur deshalb verdächtig, weil ich zuvor einen anderen gefunden hatte, am Fluss.“

„Überall in dieser Gegend können Knochen auftauchen.“ „Ja, das können sie.“

„Aber …?“

„Erzählen Sie mir von Amelia“, wechselte er überraschend das Thema.

Kendalls riesige Perserkatze Jezebel wählte genau diesen Moment, um ins Zimmer zu spazieren und sich an seinen Beinen zu reiben, wobei sie so laut schnurrte, dass Kendall es noch drei Meter weiter hörte.

Sie ertappte sich dabei, dass sie sich fast auf die Katze stürzte, um sie hochzunehmen und zu verjagen. Ich schätze, ich habe dich nicht umsonst Jezebel genannt, dachte sie, während sie die Katze wieder absetzte und aus dem Zimmer scheuchte.

„Das ist ein schönes Tier“, sagte Aidan.

„Danke“, erwiderte Kendall kurz.

Dass ihr die Zuneigungsbekundungen ihrer Katze zu missfallen schienen, ließ er unkommentiert.

„Amelia?“, hakte er nach.

„Sie war außergewöhnlich freundlich zu mir – immer. Wir hatten eine besondere Verbindung, schätze ich. Sie war intelligent, liebenswürdig, eine wirklich feine Dame. Sie starb an Krebs, aber ich vermute, dass Ihnen der Anwalt das gesagt hat.“

„Dann nahm sie vermutlich viel Morphium gegen die Schmerzen, oder?“, fragte er.

Kendall nickte. „Ja“, bestätigte sie misstrauisch, wohl wissend, worauf er mit der Frage hinauswollte.

„Und sie sah Dinge?“

„Ja.“ Noch mehr Misstrauen.

„Und Sie sahen sie auch – oder nicht?“, fragte er. So viel zu den Nettigkeiten. Seine kühlen blauen Augen musterten sie, und sein Tonfall hatte sich verändert.

„Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir hören wollen. Die letzten zwei Wochen vor ihrem Tod schien sie die ganze Zeit Angst zu haben. Ich baute mir ein Feldbett in ihrem Schlafzimmer auf, um nachts bei ihr sein zu können. Manchmal wachte sie auf und rief etwas von Lichtern. Ich war immer im Halbschlaf, weshalb ich wirklich nicht sagen kann, ob ich die Lichter auch sah oder nicht. Wir sprechen hier nicht von riesigen Die-Alienslanden-Scheinwerfern, sondern von winzigen Lichtpünktchen weit draußen in der Gegend des Friedhofs. Oder manchmal hörte sie Dinge, und auch da war ich immer im Halbschlaf. Ob ich etwas Ungewöhnliches gehört habe? Ich bin nicht sicher.“

„Was haben Sie denn gehört?“

„Manchmal den Wind. Er klingt wie ein Wimmern, wenn er durch die alten Eichenbäume fährt. Geraschel – vielleicht auch vom Wind oder vielleicht von Eichhörnchen. Für das alles gibt es eine Erklärung, da bin ich sicher. Außer dann am Ende …“

„Was war am Ende?“

Er war ein guter Fragesteller, dachte sie. Seine Stimme klang jetzt sanft und ermutigend.

Sie nahm einen weiteren Schluck von ihrem Drink. „Ich schätze, ich hatte erst zum Ende hin richtig Angst.“ Sie zögerte einen langen Moment. „Sie können darüber lachen, wenn Sie wollen. Aber die meiste Zeit … fühlte ich mich völlig sicher auf der Plantage. Als ob sie … von der Vergangenheit beschützt würde, von einem guten Geist oder so etwas. Vielleicht liegt es nur an der Schönheit der Gegend, ich weiß es nicht. Aber zum Ende hin verunsicherte mich Amelia dann doch. Ich meine, nachts hat man auf der Plantage wirklich das Gefühl, mitten im Nirgendwo zu sein. Und obwohl ich mich in dem Haus eigentlich sicher fühlte, beschlich mich zunehmend ein Gefühl, als ob dort etwas … irgendwas Böses umging, ich aber sicher wäre, wenn ich mich ruhig verhielt und im Bett blieb. Vielleicht habe ich Dinge gehört, vielleicht auch nicht, aber jedenfalls schlief ich immer mit einem Baseballschläger an meinem Bett.“

„Sie hätten ein Gewehr gebraucht.“

„Na, das wäre ein Spaß gewesen. Ich kann nicht schießen.

Ich hätte mir oder Amelia eine Kugel in den Körper gejagt.“

Er lächelte. „Sie sollten das Schießen lernen – vor allem, wenn Sie noch weitere Zeit auf verfallenen Plantagen mitten im Nirgendwo verbringen wollen. Sie wissen, dass es dort noch viel Schlimmeres als Geister gibt. Echte lebende Monster.“

„Nun, ich habe nicht vor, in der Wildnis zu übernachten. Insofern ist es wohl in Ordnung, wenn ich keine Scharfschützin werde“, entgegnete sie.

„Machen Sie weiter. Erzählen Sie mir mehr über das Ende.“ Unwillkürlich schauderte Kendall. Sie hasste sich dafür, denn sie wusste, dass er jede ihrer Bewegungen registrierte. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie begann nur, mit Menschen zu sprechen, die ich nicht sehen konnte.“

„Und dabei sagte sie was?“

„Verschiedene Dinge zu verschiedenen Zeiten.“

„Erzählen Sie weiter.“

„Es klang so, als ob sie eine Geschichtsstunde gab. Sie sprach über den Wiederaufbau – nach dem Bürgerkrieg – und über den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, Martin Luther King … alle möglichen Dinge. Sie sagte, wie stolz sie auf das alte Haus sei. Sie wirkte glücklich. Sie redete mit …“

„Geistern?“

„Ja, genau.“

„Aber sie bekam viel Morphium.“

„Sicher … Aber ich war am Ende nicht mit ihr allein, wissen Sie. Sie wollte nicht in einem Krankenhaus sterben. Sie war in dem Haus geboren, und dort wollte sie auch sterben. Aber ich bin keine Pflegerin, weshalb ich eine examinierte Krankenschwester beauftragte, bei Amelia zu bleiben, als klar war, dass es auf das Ende zuging. Dennoch …“

„Was?“

„Sie war bewusstlos gewesen, schon im Koma, als sie plötzlich die Augen öffnete und sich aufsetzte. Sie sah mich direkt an und sagte Auf Wiedersehen und dass sie mich liebe. Dann streckte sie die Hand aus, als ob sie sie jemandem reichte – Sie werden mich nie überzeugen, dass sie nicht irgendetwas oder irgendjemand sah –, und dann sagte sie: ‚Es ist Zeit. Ich bin jetzt bereit.‘ Und dann starb sie.“

„Morphium“, sagte er sanft. Tatsächlich sagte er es in einem Ton, als wolle er sie beruhigen.

Sie erwiderte seinen Blick. „Sicher.“

Und dann fühlte sie sich plötzlich unbehaglich. Er stand einige Meter von ihr entfernt und bedrohte sie in keiner Weise. Im Gegenteil, er war extrem umgänglich, fast freundlich. Wollte er sie bei Laune halten? Vielleicht nicht. Er schien aufrichtig zu sein, und wenn er lächelte oder auch wenn er nachdenklich dreinblickte, wirkte er erstaunlich anziehend. Es mochte an seinem Selbstbewusstsein liegen, daran, dass er nicht einmal vorgab, sich um die Meinung anderer zu kümmern, sondern dass sie ihm wirklich egal war. Durch seine Größe und die breiten Schultern wirkte er von Natur aus eindrucksvoll, und die Schärfe seiner Gesichtszüge machte ihre konturierte Strenge noch faszinierender. Er strahlte eine kontrollierte Energie aus, die sie unwillkürlich sexuell anziehend fand.

Wieder fragte sie sich, was mit seiner Frau passiert war. Doch diese Frage würde sie ihm mit Sicherheit niemals stellen.

Sie sagte sich, dass ihr plötzliches Unbehagen lächerlich war. Nur weil er ein alleinstehender Mann und sie eine alleinstehende Frau war, hieß das nicht, dass sie einander anspringen mussten. Oh Gott. Was für ein bizarrer Gedanke, der da in ihrem Kopf aufgetaucht war. Sie hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht, und sie mochte ihn noch immer nicht. Sie hatte nur aufgehört, seinen Drohgebärden zu glauben, und festgestellt, dass er ganz freundlich sein konnte.

Und sie war sich dessen bewusst, dass er als Mann …

Was als Mann?, fragte sie sich gereizt. Er hielt sie für eine Schwindlerin.

Nun, gab es nicht Momente, in denen sie dasselbe dachte? Sie musste ihn aus dem Haus schaffen. Sie war erschöpft.

Eine merkwürdige Schwäche überkam sie, und das mochte sie nicht. Sie brauchte den logischen Teil ihres Denkens, um das Gespräch weiterzuführen, und dazu fühlte sie sich einfach zu müde.

Sie räusperte sich. „Ich brauche jetzt wirklich ein bisschen Schlaf.“

„Sicher.“ Er schien sich selbst ein wenig zu entspannen. Er hatte sie ebenso gemustert wie sie ihn. Wie lange? Etwas erschien in seinen Augen. Ein Flackern. Als hätte er etwas in ihr gesehen, das er mochte.

„Natürlich.“

Er stellte sein Glas auf dem Tresen ab und vermied jede Berührung, als er an ihr vorbeiging.

„Danke für den Drink.“ Seine Worte waren höflich. Distanziert. Sie folgte ihm nicht, als er den Flur hinunterging.

Erst als sie hörte, wie sich die Eingangstür hinter ihm schloss, ging sie langsam hinterher und schloss ab.

Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sich die erwartete Erleichterung, wieder allein in ihrem Apartment zu sein und Zeit zum Entspannen und Schlafen zu haben, nicht ein. Stattdessen …

Sie fühlte sich unbehaglich.

Und lächerlicherweise wünschte sie sich, dass er noch bei ihr wäre. Normalerweise wirkte ihr Apartment so einladend.

Und nun … Nun schien es einfach nur leer zu sein.

Und sie fühlte sich so allein wie schon seit Jahren nicht.

Jezebel miaute neben ihr. Kendall nahm die Katze auf den Arm und rieb ihr Kinn an dem weichen Perserfell. Sie mochte alle Tiere, doch bei ihrem Arbeitspensum war eine Katze die beste Wahl als Haustier.

„Warum wünsche ich mir plötzlich, du wärst ein Hund?“, fragte sie. „Zum Beispiel ein riesiger Mastiff oder ein Pitbull?“

Wieder miaute Jezebel.

„Du bist ein große Hilfe“, sagte Kendall sarkastisch.

Doch es lag nicht an der Katze. Selbst mit Jezebel auf dem Arm fühlte sich Kendall noch immer allein.

Und verängstigt.

5. KAPITEL

Der Tod.

Er konnte gewaltsam kommen oder friedlich, auf einem Schlachtfeld oder auf der Straße, zu Hause oder in einem Krankenhaus. Er konnte einen Menschen so ruhig aussehen lassen, als ob er schliefe, oder völlig zerfetzt, geschändet, verfallen.

In der modernen Welt wurde er nach Möglichkeit ausgesperrt und steril gehalten. Doch Katastrophen bedeuteten Feldlazarette, improvisierte Leichenhallen, manchmal auch Massengräber und Verbrennungen.

Aber der Sturm lag hinter ihnen. New Orleans kam allmählich wieder auf Hochtouren.

Katrina hatte schwere Verwüstungen in der Stadt angerichtet, auch im Leichenschauhaus. Vieles hier war neu. Die Besucher betraten nun einen ruhigen, geschmackvollen Empfangsraum, wie er auch bei einem Geschäftsmann oder einem Arzt zu finden war. Leise Musik wurde gespielt, und eine junge Frau mit freundlicher Stimme bot ihre Hilfe an.

Man hatte alles getan, um die Anwesenheit des Todes zu verbergen in diesen Räumen, wo die Hinterbliebenen einen letzten Blick auf ihren geliebten Menschen werfen wollten. Und nicht nur das, hier wurden sie auch oft von der Polizei befragt, die das Rätsel ihres Todes lüften wollten. Und einem ruhigen Ehemann gelang es natürlich besser, sich daran zu erinnern, was seine Frau vor ihrem Tod getan hatte.

Aidan kannte das Leichenschauhaus. Er war einige Male hier gewesen, wenn ein Fall ihn nach New Orleans geführt hatte. Und wie in allen Leichenschauhäusern gab es dort trotz aller Versuche, es zu verdecken, noch immer etwas, das selbst die Wände zu durchdringen schien. Keine Musik konnte das Weinen einer Mutter übertönen, die ihr Kind verloren hatte. Und keine noch so große Menge an Reinigungsmitteln konnte jemals den Geruch des Todes völlig tilgen.

Doch das Mädchen an der Rezeption war freundlich – vielleicht aus echtem Mitgefühl, vielleicht weil sie einfach eine gute Schauspielerin war – mit den Polizisten, Eltern, Geschwistern und Freunden – all jenen, die in der Furcht hierherkamen, dass ein geliebter Mensch tot war, und all jenen, die erleichtert waren, dass die Tage der Sorge um einen geliebten Menschen vorüber waren.

„Hallo, Mr. Flynn“, begrüßte sie ihn.

Offenbar waren sie einander schon mal begegnet. Toller Privatdetektiv, der er war, erinnerte er sich nicht daran. Glücklicherweise wies ihr Namensschild sie als Ruby Beaudreaux aus, sodass ihm nichts anzumerken war.

„Hallo, Ruby.“ Er lächelte. „Ich hoffte, Dr. Abel sprechen zu können. Ist er da?“

„Ich schaue mal nach.“

Lächelnd nahm sie den Telefonhörer ab und wählte. Ihre Miene verdüsterte sich bei der Antwort vom anderen Ende. Aidan hörte Jon Abel brüllen.

Ruby legte auf und sah ihn entschuldigend an. „Er ist wirklich beschäftigt, tut mir leid.“

„Das ist in Ordnung. Ich kann warten.“

Ruby war noch jung. Sie errötete leicht, und genau das tat sie auch jetzt. „Oh, ich glaube nicht, dass das nützen wird.“

„Ich habe den ganzen Tag Zeit“, sagte Aidan fröhlich und setzte sich. „Sagen Sie ihm das. Ich werde hier sein – wann auch immer er fertig ist.“ Das Gebäude hatte vermutlich eine Hintertür, die Abel zweifellos benutzen würde. Er wollte den Mann nur wissen lassen, dass er die Sache nicht auf sich beruhen ließ.

„Sie möchten … dass … ich ihn noch einmal anrufe?“, fragte Ruby. Sie wirkte, als hätte er von ihr verlangt, einen Löwenkäfig zu betreten.

„Ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Sie zögerte und trat dann hinter ihrem Empfangstresen hervor. „Mr. Flynn, Sie müssen verstehen. Wir waren monatelang nach Katrina völlig überlastet. Sie können sich nicht vorstellen, wie furchtbar das war. Dr. Abel ist kein schlechter Kerl. Er hat nur viel hinter sich, so wie alle hier.“

„Das verstehe ich“, sagte er sehr ernst.

„Oh.“ Sie stellte die Frage nicht, sondern blieb stocksteif stehen und wartete einfach, dass er ging.

Sie betet geradezu, dass ich gehe, dachte er. Es tat ihm leid für Miss Beaudreaux, aber das würde nicht geschehen.

„Sehen Sie, egal was in der Vergangenheit geschehen ist, die Menschen sterben heute noch immer“, sagte er. „Es gibt noch immer Mörder dort draußen, und Dr. Abel ist sich dessen bewusst.“

„Oh Gott! Ermitteln Sie in einem Mordfall?“, fragte sie. „Ein möglicher Mord“, sagte er.

Sie nickte, streckte sich entschlossen und ging zurück zum Telefon. Sie sprach leise in den Hörer und sagte nach dem Auflegen: „Ich führe Sie nach hinten.“

Sie stoppte vor einem Autopsieraum und deutete auf eine Ablage mit weißen Kitteln. „Sie werden sich etwas überziehen wollen“, sagte sie.

Er schlüpfte in Kittel und Maske und betrat den Raum. Es sah so aus, als hätte Jon Abel die Autopsie gerade erst begonnen.

Aidan war sicher, dass der Körper im Tagesplan des Gerichtsmediziners später dran gewesen wäre, doch der Mann hatte ihn offenbar vorgezogen, um Aidan nicht sehen zu müssen.

„Ich sagte Ihnen doch, Flynn, dass ich beschäftigt bin“, begrüßte ihn der Arzt, ohne dabei aufzusehen. Er machte seinen ersten Schnitt, und eine grüne, faulige Flüssigkeit quoll aus dem Körper. Einer der Assistenten murmelte etwas und sprang zurück.

Abel sah auf, offenbar in der Hoffnung, dass Aidan ebenso abgeschreckt war.

Es ist abschreckend, dachte Aidan. Der Tod war oft abschreckend. Er konnte das natürliche Ende eines langen erfüllten Lebens markieren, doch allzu oft bedeutete er verwüstetes Fleisch und zerschmetterte Knochen und Horror in den weit offenen Augen derjenigen, die gewaltsam gestorben waren. Er hatte die Leichen von Menschen gesehen, die im Krieg getötet, ermordet, einem Anschlag zum Opfer gefallen oder sogar gefoltert worden waren. Es war nie leicht. Doch er hatte gelernt, nicht darauf zu reagieren. Jedenfalls normalerweise nicht.

Bei Serena hatte er reagiert.

Er verbannte den Gedanken daran aus seinem Kopf. „Ich schätze, dieser Typ lag eine ganze Zeit in der Hitze herum, bevor er entdeckt wurde, oder?“, fragte er.

Abel grunzte – vielleicht um ihm ein Minimum an Respekt zu zollen? „Leroy Farbourg. Ich vermute, dass er ungefähr eine Woche oben auf dem Dachboden lag. Laut den Cops behauptet seine Frau, dass sie ihn versehentlich erschossen hat – viermal hat sie versehentlich auf ihn gefeuert. Das ist echt nicht leicht.“

„Was hatte sie denn, eine Uzi?“

„Nur Leroys alte Schrotflinte“, erwiderte Abel. Er war zurückgetreten, damit sein Assistent die faulige Flüssigkeit wegspülen konnte.

„Gibt es irgendwas zu diesen Oberschenkelknochen?“, fragte Aidan.

Abel straffte verärgert die Schultern. „Wie Sie sehen, bin ich beschäftigt.“

„Sie könnten sie einem Kollegen oder einem Assistenten geben“, schlug Aidan vor.

Das trug ihm einen giftigen Blick ein. „Mr. Flynn, haben Sie eine Ahnung, mit wie vielen unbekannten Leichen wir es hier zu tun haben? Oder besser: mit wie vielen Leichenteilen?“

„Vermutlich zu vielen, um sie zu zählen“, entgegnete Aidan gleichmütig. „Aber … bitte. Wenn Sie dazu kommen, schauen Sie sich bitte für mich diese Knochen an.“ Abel starrte Aidan an. „Suchen Sie eine vermisste Person, Mr. Flynn? Haben Sie einen Klienten im Nacken sitzen? Falls ja, wird dieser Klient so lange warten müssen, bis ich eine gründliche forensische Untersuchung durchführen kann. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Ich habe keinen Klienten“, sagte Aidan.

Abel schwieg giftig.

„Ich würde Ihre Hilfe zu schätzen wissen“, sagte Aidan. Abel verdrehte die Augen, sagte dann aber mürrisch: „Ich werde mich in den nächsten Tagen an die Knochen machen. Und wenn ich das tue, rufe ich Sie an.“

„Alles klar, vielen Dank. Wenn ich nichts von Ihnen höre, melde ich mich bei Ihnen“, versicherte Aidan ihm freundlich.

Abels Skalpell schnitt tief in den toten Mann. Aidan fragte sich, ob es irgendein Gesetz gab gegen die Ausübung grober Gewalt an Toten. Doch im Moment konnte er hier nichts mehr ausrichten. Er dankte Jon Abel noch einmal höflich und verabschiedete sich.

Kendall kannte alle Geschichten über Marie Laveau, die berühmte Voodoo-Queen von New Orleans. Die Frau hatte zweifellos Talent gehabt, aber war sie wirklich ein Medium gewesen oder eher eine erfahrene Meisterin in der Kunst des Zuhörens, die aus dem Gehörten die richtigen Schlüsse zog? Kendall war sich dessen noch nicht sicher. Aus den Tarotkarten zu lesen war tatsächlich einfach. Sie alle trugen verschiedene Bedeutungen. Die Todeskarte bedeutete keineswegs immer – sogar nur höchst selten – den Tod. Oft deutete sie auf Veränderungen hin, das Ende einer Sache und den Beginn einer anderen. Ähnliches galt für alle Karten. Tarotkarten zu lesen bedeutete einfach, sich hochkonzentriert zu geben, dabei vorsichtig ein paar gezielte Fragen zu stellen und dann so allgemeingültige Antworten zu geben, dass man nie das Gegenteil beweisen konnte.

Die Teeblätter waren ein bisschen verzwickter – und zugleich einfacher. Um Himmels willen, es waren Teeblätter. Niemand konnte vorhersagen, wie sie aussahen, wenn eine Klientin ihre Tasse ausgetrunken hatte, und eine gewitzte Leserin konnte alles Gewünschte daraus herauslesen.

Ady Murphy kam seit Jahren zu Kendall. Sie war eine siebzigjährige Witwe, klein, rüstig und denkbar liebenswürdig, die sich nur zu gern aus den Teeblättern lesen ließ. Glücklicherweise erfand Kendall gerne Geschichten für sie. Ady hatte sechs Kinder, neunzehn Enkel und elf Urenkel. Nahezu alles, was Kendall sagte, brachte sie mit einem von ihnen in Verbindung. Doch die meiste Zeit hörte Kendall – ebenso wie Marie Laveau es getan hatte – einfach nur zu. Und dann überlegte sie sorgfältig, was sie sagte.

Sie unterhielten sich, während sie in das kleine Hinterzimmer mit dem Tisch, den Kristallkugeln und den Karten gingen. Ady hatte ihre Teetasse in der Hand. Sie trank immer den gleichen Tee: Irish Cream.

„Dann hatte diese Gaunerin Amelia also doch Verwandte!“, sagte Ady. Sie und Amelia hatten sich im Teeladen kennengelernt. Sie trugen immer ähnliche Baumwollkleider mit einem kleinen Hut und weißen Handschuhen und waren vom ersten Tag an glänzend miteinander zurechtgekommen. Als Amelia geboren wurde, war ihre Familie reich gewesen. Als sie starb, hatte sie nur ihr Haus und ein paar Schmuckstücke gehabt. Ady war ebenfalls auf einer Plantage geboren worden – in einer Hütte bei den Baumwollfeldern, auf denen ihr Vater arbeitete. Dort gab es weder fließend Wasser noch Elektrizität. Amelia hatte kein Kind, wohingegen Ady mit all dem Nachwuchs ein ganzes Footballteam produziert hatte. Doch die Frauen teilten etwas ganz Besonderes: die Liebe zu den gleichen Traditionen und Werten. Die eine war weiß gewesen, die andere war schwarz, und beide hatten sich glücklich geschätzt, die andere zur Freundin zu haben.

Tatsächlich war Ady nicht ganz schwarz. Ihre Haut hatte einen tiefdunklen Kupferton, und ihre Augen glänzten bernsteinfarben. Sie erzählte gerne, dass sie Weiße verstünde, weil sie weißes Blut in sich hätte. Und sie sagte Amelia und Kendall immer, dass sie ein bisschen schwarzes Blut hätten haben sollen, weil es sie stärker gemacht hätte. „Nichts ist so stark wie eine schwarze Frau, Liebes. Nicht mal der stärkste Kerl da draußen“, sagte sie gern.

„Ich habe die Flynns kennengelernt. Sie wirken ganz anständig“, sagte Kendall jetzt.

„Hmm. Welche anständigen Jungen würden ihre einsame Großtante nicht besuchen?“

„Sie wussten nichts von ihrer Existenz“, erklärte Kendall. „Na, das ist aber merkwürdig.“ Ady blieb argwöhnisch.

„Nun lassen Sie uns mal sehen, was die Teeblätter sagen. Vielleicht prophezeien sie mir, dass ich in der Lotterie gewinne. Natürlich spiele ich nicht in der Lotterie. Aber möglicherweise tue ich es dann. Was meinen Sie? Sollte ich das tun?“

Kendall lachte. „Nun, Sie wissen doch, dass ich solche Ratschläge nicht gebe, Miss Ady.“ Obwohl sie Witwe war, wurde Ady immer Miss Ady genannt.

„Und Sie wissen, dass ich nicht spiele, mein Kind“, lachte Ady. „Kommen Sie, sagen Sie mir, was in meinen Teeblättern steht.“

Kendall drehte die Tasse in der Hand und musterte den Grund. Die Blätter schienen sich zu einem Strudel zu formen. So hatten sie sich offenbar in der Tasse abgesetzt, sagte sie sich.

Sie starrte sie an. Irgendwie schien der Raum um sie herum dabei zu … zu verschwimmen. Natürlich tut er das, schalt sie sich. Schließlich starrte sie so angestrengt in den Tassenboden, dass ihr Blick trüb wurde.

Doch sie konnte die Augen nicht abwenden. Ihre Sicht blieb verschwommen, und dann war ihr plötzlich, als ob sie ein Bild auf dem Tassenboden sah. Nein, sie sah tatsächlich ein Bild. Eine ganze Szenerie. Sie war wieder auf der Plantage, am Todestag von Amelia. Und da lag Amelia, zerbrechlich und im Koma, in ihrem Bett. Die Krankenschwester hatte gesagt, dass sie das Bewusstsein vermutlich nicht wiedererlangen würde.

Doch das tat sie. Sie setzte sich auf, und Kendall sprang zu ihr, um ihre Hand zu nehmen. Amelia sah sie an, sagte ihr, dass sie sie liebe … und dann sah sie zum Fußende des Bettes, lächelte und verkündete, dass sie bereit sei. Sie streckte die Hand aus und …

In der Teetasse, in dem verschwommenen Bild vor ihren Augen, sah Kendall etwas. Sah jemanden. Eine in Licht gehüllte Gestalt streckte die Hand nach Amelia aus.

Kendall ließ fast die Tasse fallen, als sie eine Stimme hörte – Amelias Stimme –, die ihr ins Ohr flüsterte.

Hilf Ady. Bitte hilf ihr.

Ady sprang plötzlich auf, und die Bewegung brach den Bann. Nein, brach die Erinnerung, mahnte Kendall sich zur Vernunft.

„Miss Ady, was ist los?“

„Ich werde nicht zum Arzt gehen“, sagte Ady.

„Was?“

„Sie sagten gerade: ‚Gehen Sie zum Arzt, Ady. Gehen Sie sofort, und man wird es aufhalten können.‘“

„Nein, ich … nein. Ich habe nichts gesagt“, protestierte Kendall. Sie griff nach Adys Hand.

Als sie sie nahm, hatte sie das Gefühl, als ob ein Blitz sie durchfuhr. Es war Wissen. Eine tiefe, innere Gewissheit. Ady hatte Krebs.

Die ältere Frau starrte sie entsetzt an, und Kendall selbst zitterte innerlich. Sie hatte keine Erinnerung daran, dass sie etwas gesagt hatte. Und die Art, wie Ady sie anstarrte, machte ihr Angst.

Doch sie wusste es.

„Miss Ady, ich bringe Sie selbst hin“, erbot sie sich. „Sie müssen sofort zum Arzt.“

„Ich mag den Arzt nicht. Er sticht und stochert an mir herum.“

„Miss Ady. Sie sind krank, doch die Krankheit kann geheilt werden, wenn wir Ihnen schnell Hilfe besorgen.“

Miss Ady sah sich um und presste ihre kleine Handtasche an ihre Brust. Dann blickte sie Kendall stirnrunzelnd an. „Wird Luther junior das Footballspiel am Samstagabend gewinnen?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Kendall. „Aber ich weiß, dass Sie zum Arzt müssen. Ich begleite Sie, versprochen. Aber Sie müssen gehen.“

„Vielleicht.“

„Ich rufe sonst Ihre Tochter Rebecca an“, drohte Kendall. Adys älteste Tochter war zweiundfünfzig und arbeitete als Laborantin in der Gerichtsmedizin. Sie war eine bodenständige Frau, die ihre Mutter aufrichtig liebte. Manchmal kam sie selbst, um sich die Karten lesen zu lassen. „Nur zum Spaß“, sagte sie immer, und es war auch Spaß. Ihre Sitzungen endeten immer damit, dass sie und Kendall über die verschiedenen Auslegungen der Tarotkarten sprachen.

Miss Ady sah sie trotzig an. „Steht in den Teeblättern, dass ich geheilt werde?“, fragte sie. „Falls nicht, lasse ich den Arzt nämlich nicht an mir herumstochern und mir Nadeln in den Arm stechen. Leute wie ich, wir hatten ein gutes und gesegnetes Leben. Wir haben keine Angst vor dem Tod. Wir wollen nur zu Hause bleiben.“

„Sie werden nicht sterben, nicht wenn Sie zum Arzt gehen“, insistierte Kendall.

„Nun gut, dann ja.“

„Kommen Sie. Wir vereinbaren gleich einen Termin für

Sie“, sagte Kendall.

Sie gingen wieder in den vorderen Teil des Ladens, wo Mason einem Kunden einen besonders hübschen Kristall zeigte. Überrascht schaute er auf, als Kendall und Ady direkt auf das Telefon zusteuerten. Während sie den Arzt anriefen und einen Termin vereinbarten, kassierte Mason. Der Herr, der den Kristall gekauft hatte, hielt Ady die Tür auf, als sie ging.

„Was war denn mit euch los?“, wollte Mason wissen.

„Ich glaube, sie hat Krebs“, sagte Kendall.

„Was?“ Mason sah sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Seit wann glaubst du an deine eigene PR? Warum solltest du eine alte Dame so verängstigen?“

Was zum Teufel war hier eigentlich passiert?, fragte sich Kendall. Sie wollte die ganze Sache abschütteln, wollte sich einreden, dass sie sich nur Sorgen um Ady machte und es nicht schaden konnte, sie zu einem Arztbesuch zu überreden, um sich durchchecken zu lassen. Doch sosehr sie sich selbst zu überzeugen versuchte, sie fühlte sich doch unbehaglich. Irgendwas an dieser Sache flößte ihr wirklich Angst ein.

Ebenso viel Angst wie bei den letzten zwei Malen. Doch da waren es Tarotkarten gewesen, und es passierte leicht, dass sie müde wurde, während sie sich auf die Karten und ihre Kundin konzentrierte, und dann Dinge sah, die nicht da waren.

„Ich … vermutlich liegt es daran, dass ich so viel Zeit mit Amelia verbracht habe“, erwiderte sie rasch, weil Mason sie eindringlich musterte.

„Dann hat jetzt jeder ältere Kunde Krebs?“

„Nein, natürlich nicht. Vielleicht war es nur ein Instinkt.

Oder vielleicht irre ich mich. Du weißt, dass ich niemals etwas tun würde, das ihr schadet. Doch es schadet ihr nicht, zum Arzt zu gehen, weshalb ich am Donnerstag übrigens ein bisschen später komme. Ich begleite sie zu dem Termin.“ Kendall trat hinter den Tresen und fügte dann hinzu: „Falls irgendjemand anders heute noch eine Sitzung haben möchte, übernimmst du das, okay?“

Mason sah sie fragend an und zuckte dann die Achseln. „Sicher. Wenn du willst.“

„Ja, das will ich. Danke.“ Als er auf der Plantage ankam, stellte Aidan fest, dass der angeheuerte Bauingenieur schon früher gekommen war. Glücklicherweise war auch Jeremy früh dran gewesen. Gemeinsam begutachteten sie bereits das Haus. Aidan schüttelte dem Mann die Hand, sah, dass Jeremy die Sache unter Kontrolle hatte, und überließ die beiden sich selbst.

Aidan ging wieder zur Eingangstür hinaus und starrte zum Haus hoch, wobei er selbst nicht genau wusste, wonach er suchte. Gestern war er sicher gewesen, auf dem Balkon eine Frau in Weiß gesehen zu haben. War es Kendall gewesen? So musste es sein. Welche andere Möglichkeit gab es denn?

Doch als er Kendall an der Tür begegnet war, hatte sie nicht wie die Frau ausgesehen, die er erblickt hatte. Diese Frau war blasser gewesen und ganz in Weiß gekleidet. Die Frau in Weiß. Offenbar hatte er in seinem Leben zu viele Gespenstergeschichten gelesen. Es hatte gar keine Frau in Weiß gegeben. Vermutlich hatte ihn das Licht getäuscht, verursacht durch das merkwürdige Wetter mit dem Wind und den trüben dunklen Wolken, denen Sonne und ein blauer Himmel folgte.

Er schloss ein Auge und schaute das Haus nahezu trotzig an. Was ihn am meisten beunruhigte, war nicht die Frau, die er gesehen hatte und die wirklich eine Sinnestäuschung gewesen sein mochte. Was ihn am meisten beunruhigte, war sein Bauchgefühl. Etwas Verstörendes umgab den Ort, etwas Düsteres und Mysteriöses.

Er gab sich innerlich einen Ruck. Häuser hatten keine Persönlichkeit. Sie bestanden aus Holz und Ton und Stein, aus Nägeln und Gips.

Er ging zurück zum Haus, aber nicht hinein. Stattdessen ertappte er sich dabei, wie er um das Haus herum und zu der letzten Sklavenhütte ging, wo er die Suppendosen und den Knochen gefunden hatte. Der Ort machte den Eindruck, als wäre eine Invasion von Maulwürfen darüber hergefallen, so viele Löcher hatten die Polizisten auf der Suche nach weiteren Knochen oder etwas Verdächtigem gegraben. Er bückte sich, um zu sehen, was die Suche zutage gefördert hatte. Es hatte andere Knochen gegeben: Hühnerknochen. Sie passten gut zu einer weggeworfenen Verpackung aus einem Fast-Food-Restaurant.

Nichts Verblüffendes daran. Irgendein Obdachloser hatte hier sein Lager aufgeschlagen. Bei all den Menschen, die aufgrund des Sturms noch immer heimatlos waren, konnte das nicht überraschen.

Dennoch wäre es gut, herauszubekommen, wer hier gehaust hatte.

Lichter. Amelia hatte Lichter gesehen. Sie war überzeugt gewesen, dass ihre Vorfahren das Haus heimsuchten, dass sie sie holen wollten. Diese Lichter konnten nun erklärt werden, ebenso die Geräusche. Jemand, der hier hinten herumschlich, verursachte zweifellos ab und an Lärm.

Aber dann war da noch der Knochen.

Das Grundstück lag eigentlich relativ hoch – am Fluss, ja, aber über dem Wasserspiegel. Wie hoch war das Wasser damals gestiegen? Hoch genug, um Knochen aus alten Särgen zu spülen?

Er erhob sich und betrachtete das Anwesen, das nun das Erbe der Flynn-Brüder war. Zumindest äußerlich befand es sich in traurigem Zustand, doch eigentlich hatte es die Jahrhunderte relativ gut überdauert. Das Haus und die Ställe waren intakt, die Sklavenquartiere verfielen und mussten restauriert werden, doch immerhin standen sie noch.

So wie sie seit fast zwei Jahrhunderten standen.

Vielleicht hatten seine Brüder recht, vielleicht war dieser Ort wichtig und gab ihnen die Chance, etwas Gutes zu tun, etwas zu bewirken.

Er blickte über den wuchernden Rasen und das ungepflegte Dickicht hinüber zum Familienfriedhof, dessen weißes Mausoleum und Grabmäler durch die Bäume schimmerten. Es handelte sich um eine Reihe gekrümmter, verwachsener alter Eichen, die mehr oder weniger die Begrenzung des Friedhofs markierten.

Er steuerte darauf zu.

Eine mit Flechten überwachsene kleine Steinmauer, die stellenweise fast zusammenfiel, zog sich an den Bäumen entlang und bildete eine klarere Grenze, wo der Friedhof begann und wo er endete.

Ein Engel saß auf einem Sarkophag, der sich mindestens einen Meter fünfzig hoch erhob. Nur ein Name stand darauf: Fiona MacFarlane. Die Inschrift unter ihrem Namen war nur noch schwer zu entziffern: Geliebt in diesem Haus.

Eine anrührende Gefühlsbekundung. Er fragte sich, wie sie mit seiner Familie verbunden war. Er sollte sich wirklich einige der alten Familienunterlagen und den Stammbaum ansehen.

Es gab eine Reihe von unterirdischen Gräbern mit einfachen Gedenktafeln, auf denen jeweils nur der Vorname stand. Aidan nahm an, dass es sich um die Gräber der Familiensklaven handelte und von jenen, die nach dem Krieg als freie Männer weiter auf der Plantage gearbeitet hatten, denn einige der Gräber datierten aus den 70er- und 80er-Jahren.

Alles schien unangetastet.

Als Nächstes zog das große Familienmausoleum, das er schon am Tag zuvor bemerkt hatte, seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein imposantes steinernes Gebilde mit Marmorfassade. Offenbar war es vor langer Zeit errichtet worden, als die Familie noch im Geld schwamm. Vor dem Bürgerkrieg. Er ging den halb zerfallenen Steinpfad entlang zu der schweren Eisentür. Er hatte erwartet, sie verschlossen zu finden, doch dem war nicht so.

Er schob die Tür auf und trat ein. Es war kühl und dunkel, sodass er die kleine LED-Lampe an seinem Schlüsselbund anknipste, um sich umzusehen.

Er hätte mehr Spinnenweben erwartet. Und hier und dort lagen verwelkte Blumen – offenbar gedachte irgendjemand ab und an der Toten.

Amelia war an Krebs gestorben. Zum Ende hin war sie mit einiger Sicherheit bettlägerig gewesen. Wer war also hier gewesen? Kendall?

Er hielt es für unmöglich, dass der Knochen aus einem der Gräber seiner Vorfahren stammte, die an den Wänden aufgereiht waren. Und auch nicht aus den zwei Sarkophagen, die in der Mitte des Mausoleums standen, gegenüber von einem kleinen Marmoraltar, hinter dem sich ein großes goldenes Kreuz erhob. Ein Kirchenglasfenster dahinter zeigte St. Georg im Kampf gegen den Drachen. Das Fenster ging zu den Bäumen hinaus und erfüllte seinen Zweck nur theoretisch, da die schweren Äste der Eichen keine Sonne hereinließen, die seine Schönheit zur Geltung hätte bringen können.

Er verließ das Mausoleum wieder und fragte sich, wonach er suchte, was er zu finden hoffte. Es gab eine einfache und vernünftige Erklärung für alles, was ihn beunruhigte. Rutschende Erdmassen und steigendes Wasser hatten dazu geführt, dass an allen möglichen seltsamen Orten Knochen auftauchten. Amelia hatte unter Morphium gestanden, insofern war es nicht verwunderlich, dass sie merkwürdige Dinge gesehen und gehört und zu Geistern gesprochen hatte. Irgendein abgerissener Pechvogel hatte auf dem Grundstück sein Lager aufgeschlagen, Hühnchen gegessen und sich Suppe gemacht.

Was auch immer ihn störte, er musste es abschütteln, und zwar am besten, indem er den Friedhof gleich verließ. Er und seine Brüder schwammen zwar nicht im Geld, doch sie konnten sich dieses Projekt leisten. Er befand sich gerade in einer Pause zwischen seinen Fällen und hatte daher genug Zeit, sich in die Restaurierung des Hauses zu stürzen. Vielleicht war es für sie alle gut.

Er ging zurück in Richtung Haus und wäre fast über einen zerbrochenen Grabstein gefallen.

Leise fluchend fing er sich wieder und sah nach, worüber er gestolpert war.

Er runzelte die Stirn, als er einen verdächtig vertrauten Fleck auf dem Stein bemerkte.

Er bückte sich und musterte ihn eingehend. Es sah so aus, als ob etwas auf den Stein gespritzt oder … getropft wäre. Es war bräunlich und aus der Nähe gut zu identifizieren.

Getrocknetes Blut.

6. KAPITEL

Kendall stöhnte. „Mason, nein. Ich kann heute Abend nicht ausgehen.“

„Du musst.“

„Nein, muss ich nicht. Wie sagt das Sprichwort? Man muss nur zwei Dinge im Leben: sterben und Steuern zahlen. Und wir müssen nicht einmal Steuern zahlen, wenn wir nicht wollen. Wir können auch direkt ins Gefängnis gehen und dann sterben. Ich muss heute Abend nicht ausgehen.“ Sie war müde, auch wenn sie nicht wusste, warum. Und sie befürchtete, dass sie wieder Aidan Flynn über den Weg laufen könnte, was sie definitiv vermeiden wollte, auch wenn sie nicht genau wusste, warum eigentlich. Wenn der Kerl bald in der Stadt wohnte, würden sie sich sicher häufiger begegnen, also sollte sie einfach lernen, damit umzugehen. Schließlich würde sie nicht seinetwegen ihr Leben ändern, ihre Freunde oder ihre Gewohnheiten.

Nicht dass sie dauernd in der Bourbon Street ausging. Unter den Einheimischen hieß es, dass die Bourbon Street nur was für Touristen sei. Wer den richtigen Blues hören oder eine echte Southern-Style-Bar sehen wollte, ging in die Frenchman Street.

Aber Vinnie spielte nun einmal in der Bourbon Street. Und viele ihrer Freunde gingen dorthin, um ihn spielen zu hören. Jeder Musiker, der nach Auftrittmöglichkeiten für seinen Lebensunterhalt suchte, konnte sich glücklich schätzen, wenn er einen Job in der Bourbon Street bekam.

Mason zeigte mit dem Finger auf sie. „Gut. Wenn du Vinnie das Herz brechen möchtest, dann bleib eben fort. Er war gestern Abend am Boden zerstört, dass du seinen neuen Song nicht gehört hast.“

„Ach komm schon. Er weiß, dass ich sein größter Fan bin“, protestierte Kendall.

Insgeheim allerdings gab sie zu, dass Mason vermutlich recht hatte. Vinnie war empfindlich, wenn es um seine Musik ging. Künstler! Sie kannte genug von ihnen. Früher einmal hatte sie selbst Künstlerin werden wollen. Doch ihren Lebensunterhalt zu bestreiten hatte bestimmte Träume verdrängt, und sie mochte ihren Laden. Sie mochte sogar die Möglichkeit, mit ihren „Kräften“ Menschen zu helfen, die verletzt oder angsterfüllt waren oder einfach nur eine freundliche Hand brauchten.

Sie kannte die Enttäuschungen der Zurückweisung nur zu gut. Das war ein weiterer Grund, warum sie Amelia so sehr geliebt hatte.

„Junge Dame“, hatte Amelia ihr immer gesagt. „Lass dich von niemandem heruntersetzen. Du bist stark und talentiert, vergiss das niemals, egal, was irgendjemand anders sagt oder tut. Das Leben ist ein Kampf. Du musst wissen, wann die Zeit für einen Rückzug und wann die Zeit für einen Angriff gekommen ist. Du musst dich selbst und deinen eigenen Wert kennen.“

Amelia hatte ihr also geraten, den anderen niemals ihre Tränen zu zeigen.

Amelia hatte ihr so viel gegeben.

„Mason, Vinnie ist mein bester Freund. Aber …“

Sie beendete den Satz nicht. Warum sollte sie die Gefühle eines Freundes verletzen und damit noch mehr zu dem Schmerz beitragen, den das Leben so oft austeilte?

Mason warf ihr einen Blick zu. Den Blick. Darin war er gut. Der Blick gab ihr das Gefühl, als wäre sie keinen Cent wert, als würde sie ihren besten Freund grausam verraten, als wäre sie nichts weiter als ein wehleidiger Feigling.

Resignierend hob sie die Hände. „Okay.“

Unter der Woche tat sich die Bourbon Street noch immer schwer. Nur an den Wochenenden waren die Bars garantiert immer voll. Es wurde langsam besser, doch der Zustand vor Katrina war noch nicht erreicht. Die meisten Bewohner wussten, dass das noch Jahre dauern würde. Dennoch gaben sich die Lockvögel alle Mühe, sie zum Eintritt zu bewegen, als sie die Iberville in Richtung Bourbon Street hinuntergingen.

„Drei Drinks zum Preis von einem!“ Ein Typ mit einer umgehängten Reklametafel wollte ihnen einen Flyer aufdrängen. „Ach herrje, du bist’s, Mason“, sagte er.

Mason lachte. „Tut mir leid, Brad. Wir sind auf dem Weg, um Vinnie zu hören.“

Kendall erkannte Brad Humphries. Er hatte eine Kneipe, in der es unter der Woche nur noch Musik aus der Konserve gab. Er tat sein Bestes, um zu überleben: Er führte die Geschäfte, gab den Barmann, den DJ – und trug eine Reklametafel durch die Straße.

Sie legte Mason die Hand auf den Arm und lächelte Brad an. „Wir kommen kurz rein.“

Mason blickte sie mit erhobenen Brauen an. „Tun wir das?“ Sie nickte. „Danke“, sagte Brad und meinte es ganz offensichtlich auch so.

Drinnen saßen ein paar Leute an der Bar. An den Wochenenden wurde hier live Countrymusik gespielt. Außerdem gab es einen mechanischen Bullen, doch selbst der wirkte heute Abend verloren.

„Ich schätze, Brad hat viele der Einheimischen angehauen“, sagte Mason, als sie ihre Drinks von der Bar geholt und sich an einen Tisch gesetzt hatten.

„Was meinst du damit?“, fragte Kendall und blickte sich in dem größtenteils leeren Raum um.

„Cops“, erwiderte Mason. „Cops außer Dienst.“

Kendall sah in die gezeigte Richtung und erkannte ein paar Polizisten, die tagsüber im French Quarter arbeiteten. Sam Stuart war dabei, ein netter Typ um die dreißig mit einer kleinen Wampe, dann Tim Yates, ebenso alt, aber dunkelhaarig und durchtrainiert, der örtliche Don Juan. Kendall hatte sich immer von ihm ferngehalten. Er hatte eine schlüpfrige Art, und sie brauchte nicht in die Tarotkarten zu schauen, um zu wissen, dass er ein Macho war und nur weitere Kerben in seinen Gürtel schnitzen wollte. Dennoch war er ein guter Cop. Während der Feuerprobe von Katrina und dem anschließenden gesetzlosen Chaos hatte er nicht aufgegeben.

Ein dritter Mann gesellte sich zu ihnen, der nicht zu verwechseln war. Hal Vincent war groß und sein kurz geschorenes Haar verblüffend weiß. Er war dünn und hielt sich so aufrecht wie ein Zollstock. Er hatte einige der rücksichtslosesten Kriminellen der Stadt zur Strecke gebracht und genoss sowohl den Respekt seiner Kollegen als auch den der Öffentlichkeit. Kendall hatte gehört, dass er inzwischen bei der Mordkommission arbeitete.

Mit einem großen Bier in der Hand setzte er sich zu seinen Kollegen. Er machte einen Witz und sah dann auf, wobei er Kendall und Mason erblickte.

Er runzelte die Stirn, als sähe er etwas, das er nicht sehen sollte, sagte etwas zu den anderen beiden Cops und kam zu ihnen herüber.

„Hallo. Kendall, ich habe Sie lange nicht mehr gesehen. Wie geht’s Ihnen?“

„Gut, Hal, danke. Und Ihnen?“

Er nickte. „Alles in Ordnung.“

„Ich habe Sie lange nicht mehr in der Gegend gesehen“,

sagte Mason.

„Gott sei Dank. Wir brauchen keinen Mord im French Quarter. Wir haben in bestimmten Gegenden schon genug Probleme mit der Gewalt.“

„Sind Sie nur hier, um Brad beim Wiederaufbau zu helfen?“, fragte Mason.

„Ja, schätze schon. Ich habe nichts Besseres zu tun. Meine Frau ist eine Zeit verreist, um sich um ihre Mutter drüben in Crowley zu kümmern. Hat sich die Hüfte gebrochen. Mir ist irgendwie langweilig, wenn sie mich abends nicht rumkommandiert.“

„Wir gehen in ein paar Minuten die Straße weiter runter, um Vinnies Band zu hören“, bot Kendall an.

„Ja. Kendall hat nur eben entschieden, dass wir vorher drei Bier für den Preis von einem brauchen“, erklärte Mason.

Kendall betrachtete die Gläser auf dem Tisch vor sich. Sie hatte dem Barkeeper gesagt, dass sie wirklich keine drei Biere brauchte, dass sie sie in der kurzen Zeit gar nicht trinken könne.

Doch sie hatte eines rasch hinuntergestürzt und ihr zweites schon zur Hälfte getrunken.

„Ich kannte Sie bislang gar nicht als Trinkerin“, lachte Hal. „Ich war wohl durstig.“

„Vermutlich wollte sie die Stimmen in ihrem Kopf ertränken, wo sie jetzt doch entschieden hat, dass sie ein echtes Medium ist“, sagte Mason neckend.

„Ach ja?“, hakte Hal nach.

„Hören Sie nicht auf Mason“, warnte Kendall. „Er will mich nur schikanieren.“

„Sie geht mit der alten Ady Murphy am Donnerstag zum Arzt. Sie ist überzeugt, dass die Frau Krebs hat.“

„Du bekommst ein Gefühl für diese Dinge, wenn du dich lange um einen kranken Menschen gekümmert hast“, sagte Kendall und versuchte, völlig ruhig und vernünftig zu klingen – und nur leicht gereizt.

Hal sah sie an und nickte. „Ich vermute, Sie haben die meiste Zeit da oben auf der Flynn-Plantage verbracht, nicht?“

„Ziemlich viel Zeit, ja“, erwiderte sie.

Zu Kendalls Überraschung sagte Hal nachdenklich: „Vielleicht hat dieser Ort tatsächlich eine irgendwie merkwürdige Atmosphäre.“

„Was?“, fragte Kendall verblüfft.

„Ich habe den Kerl kennengelernt, der die Plantage übernimmt“, sagte Hal.

„Es sind drei Kerle, die sie übernehmen“, verbesserte sie. „Ich spreche von dem ältesten Bruder“, sagte Hal. „Ich bekam einen Anruf, dass ich ihn am Fluss treffen sollte und dann später noch mal am Haus. Der Typ scheint ein Händchen dafür zu haben, menschliche Knochen zu finden. Er findet sie nicht nur, er ist auch besessen davon.“

„Nun“, sagte Kendall, die zu ihrer eigenen Überraschung Aidan Flynn verteidigen wollte, „Sie müssen zugeben, dass die meisten Menschen betroffen wären, wenn sie nur einen menschlichen Knochen finden, geschweige denn zwei.“

Hal nahm einen großen Schluck Bier. „Nicht hier in der Gegend“, sagte er bedrückt. „Nicht hier. Herrje, wir hatten überall Leichen …“ Er schüttelte den Kopf. „Alle haben uns im Stich gelassen – die Stadt, die Gemeinde, der Staat, das Land.“

Kendall berührte ihn sanft am Arm. „Ich weiß, aber das heißt nicht, dass wir den Kampf gegen das Verbrechen nun einfach aufgeben dürfen.“

Hal straffte die Schultern. „Natürlich nicht. Ich bin ein guter Cop, das wissen Sie.“

„Und ob ich das weiß“, stimmte Kendall zu. „Sie sind einer der besten, Hal.“

„Na ja, ich hoffe, dieser Kerl begreift, dass ich im Moment zu viel zu tun habe, um mich wegen ein paar Knochen verrückt zu machen.“

„Er ist hartnäckig“, gab Kendall zu.

Sie leerte ihr zweites Bier und nahm einen Schluck von dem dritten.

„Also, Hal“, schaltete sich Mason ein, „wollen Sie mitkommen, um mit uns Vinnie spielen zu sehen?“

„Ich komme später nach“, sagte Hal und wandte sich dann an Kendall. „Ich möchte nicht, dass es wie eine Massenflucht aussieht. Könnte Brads Gefühle verletzen.“

„Gut mitgedacht“, lobte sie.

Überrascht bemerkte sie, dass sie auch das letzte ihrer Drei-zum-Preis-von-einem-Biere geleert hatte. Der Alkohol schien heute lindernd zu wirken.

Sie ließ sich von ihrem Stuhl gleiten und stellte fest, dass die Welt ein bisschen zu schwanken schien. Verdammt, sie war tatsächlich beschwipst.

Sofort versuchte sie, ihren Rausch zu verbergen. Sie hielt sich sehr gerade, perfekt ausbalanciert. „Okay, Mason. Lass uns einen Tisch besetzen, solange es noch früh ist, falls es in der Bar später voll werden sollte. Hal, wir sehen Sie dann dort.“

Allerdings war sie nicht sicher, ob Hal wirklich kommen würde, denn Brad hatte die weise Entscheidung getroffen, die Musik in der Bar nicht allzu laut aufzudrehen. Vielleicht war dies der einzige Ort in der Bourbon Street, wo man sich tatsächlich unterhalten konnte.

Im Hideaway waren eine Menge Menschen, die Vinnie heute Abend spielen hören wollten, dennoch erspähte Mason ziemlich weit vorn einen leeren Tisch. Als sie sich durch die Tänzer und die anderen Tische schlängelten, sah sie kurz auf und bemerkte, dass Vinnie sie beobachtete. Er strahlte bis über beide Ohren, und sie war froh, dass Mason sie gedrängt hatte, mitzukommen. Trotz der merkwürdigen Ereignisse des Tages.

Aber vermutlich bildete sie sich die Sachen nur ein. Sie war übermüdet und hatte Sinnestäuschungen erlebt.

Genau so war es gewesen, entschied sie.

Sie winkte Vinnie lächelnd zu und setzte sich dann an den Tisch, um die Band zu genießen. Einen Moment später kam Mason – mit drei weiteren Bieren. Am frühen Abend schienen alle Kneipen dieses Angebot zu haben.

„Ich kann nicht noch drei Bier trinken“, sagte sie zu Mason. Er hob die Stimme, damit sie ihn trotz der Musik überhaupt hörte.

„Das hast du bei den ersten drei auch schon gesagt.“

Wohl wahr. Sie prostete ihm mit einer der Flaschen zu.

„Danke, dass du mich heute Abend überredet hast.“

„War mir eine Freude. Ich hänge hier gerne herum und bin oft hier.“

„Zu viel Alkohol“, sagte sie streng.

„Ja, Frau Lehrerin. Auch wenn ich dafür bekannt bin, dass ich drei Soda zum Preis von einer trinke, wissen Sie“, sagte er in gespielter Empörung.

„Heute nicht.“

„Nee, heute nicht. Heute versuche ich, mit dir mitzuhalten.“

Sie zog eine Grimasse. In dem Moment kam eine Kellnerin vorbei, und Mason verfiel auf die Idee, einen großen Teller Chicken Wings mit einer großen Portion Pommes frites zu bestellen. Das Essen könnte gegen den Rausch helfen, entschied sie, als die Bestellung kam.

Während sie an einem Hähnchenflügel nagte, bemerkte sie einen älteren farbigen Mann, der zu den Stammgästen gehörte. Er bemerkte sie ebenfalls, hob lächelnd die Hand und wandte sich dann wieder der Band zu.

Eines Tages, nahm sie sich vor, wenn sie nicht so viel getrunken hatte, würde sie sich dem Typ vorstellen, wo sie ihn doch so oft hier traf. Sie liebte New Orleans, weil es so vielen verschiedenen Menschen Heimat bot, und er war ein Teil dieser Mischung. Schwarz, weiß und vielleicht noch ein anderer Einschlag. Asiatisch? Indianisch? Sie war nicht sicher.

Als die Band eine Pause machte, kam Vinnie und setzte sich zu ihnen an den Tisch. „Hey du – du hast mich gestern Abend sitzen lassen“, sagte er, doch sein Lächeln nahm dem Vorwurf die Schärfe.

„Es tut mir leid, Vinnie. Aber jetzt bin ich hier.“ Sie grinste ihn an.

Vinnie blickte zu Mason. „Sie ist beschwipst“, sagte er erstaunt.

„Ich weiß“, lachte Mason.

„‚Sie‘ ist nicht beschwipst“, protestierte Kendall.

„Die Bar scheint wirklich gut zu laufen“, sagte Mason. „Vor allem so früh in der Woche.“

„Ja“, stimmte Vinnie zu. „Wir haben Schwein gehabt und kostenlose PR bekommen. Dieser Jeremy Flynn – einer dieser Typen, die deine Plantage geerbt haben, Kendall – hat Werbung für uns gemacht, als er diese Wohltätigkeitsveranstaltung ankündigte, die er plant.“

„Es war niemals meine Plantage, Vinnie“, stellte Kendall klar.

„Wie auch immer.“ Mit einer Handbewegung wedelte er ihren Einwurf fort. „Er spielt mit uns nach der Pause.“

„Wie soll ich deinen neuen Song hören, wenn er spielt?“, fragte Kendall. Ihre gute Laune verpuffte. Sie wusste nicht, warum. Jeremy Flynn hatte ihr nichts getan. Sein älterer Bruder war es, den sie nicht mochte. Den du nicht mögen willst, flüsterte eine Stimme in ihr.

Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich. Sie blickte um sich, um herauszubekommen, was sie beunruhigte, doch die Besucher waren nicht viel anders als am Abend zuvor. Zur äußersten Rechten stand eine Gruppe Geschäftsmänner mit gelockerten Krawatten. Sie war ziemlich sicher, dass sie einen oder zwei von ihnen auch gestern schon hier gesehen hatte. Hal war wie versprochen nachgekommen und stand hinten mit den anderen beiden Cops, die er mitgebracht hatte. Am Tisch zu ihrer Linken saß ein einzelner Mann, den sie vage von anderen Kneipenabenden wiedererkannte.

Und dann kamen die Flynn-Brüder herein.

Vinnie erblickte sie ebenfalls. „Da sind sie“, sagte er fröhlich und winkte ihnen zu.

„Wir haben nur einen freien Stuhl“, betonte Kendall und war selbst verblüfft, wie sehr sie versuchte, Aidan Flynn fernzuhalten.

„Das geht schon in Ordnung“, sagte Vinnie. „Ich stehe auf, und Jeremy spielt mit uns.“

Er erhob sich und zwängte sich durch die Menge, um die Flynns zu begrüßen. Dann führte er Jeremy zur Bühne, nachdem er den anderen gezeigt hatte, wo Mason und Kendall saßen.

„Oh nein“, stöhnte sie auf und sank tiefer in ihren Stuhl. „Was ist los mit dir?“, fragte Mason erstaunt.

„Nichts.“

Zachary und Aidan setzten sich zu ihnen, und die Kellnerin – ein hübsches Mädchen in einem knappen Outfit, das ihre beträchtliche Oberweite zur Geltung brachte – eilte an ihren Tisch. Die Neuankömmlinge bestellten Bier, und im Nu standen sechs Flaschen vor ihnen.

Da sie ihr erstes Bier ausgetrunken hatte, griff Kendall nach dem zweiten.

Aidan Flynn, dessen Augen sie wieder zu durchbohren schienen, beugte sich zu ihr. „Ich hörte, dass wir heute Ihretwegen hier sind“, sagte er.

„Meinetwegen?“

„Ihr Freund Vinnie bat Jeremy, für ihn zu spielen, damit er sich auf den Gesang konzentrieren kann. Soweit ich das mitbekam, möchte er Ihnen einen neuen Song vorspielen.“

Lag da ein Anflug von Eifersucht in seiner Stimme?, fragte sie sich. Nein, das konnte nicht sein.

Die Bandmitglieder auf der Bühne sprachen miteinander, während sie ihre Instrumente aufnahmen. Vinnie gab seine kostbare Fender ohne Zögern an Jeremy Flynn. Kendall durfte sie normalerweise nicht einmal anfassen. Andererseits war sie auch keine Gitarristin.

„Vinnie ist ein sehr guter Freund“, sagte sie Aidan.

„Wie ich hörte, sind Sie auch ein guter Musiker“, sagte Mason zu Zachary.

Zachary wehrte das Kompliment mit einem Schulterzucken ab. „Ich spiele gerne. Aber Jeremy ist der mit dem Talent.“

Mason stellte Zachary eine Frage zu Gitarren, was Aidan unglücklicherweise die Gelegenheit gab, sich noch weiter zu ihr zu beugen und das Gespräch fortzusetzen. „Ich würde Sie gern einmal zum Essen einladen“, sagte er. „Sie könnten mir mehr über Amelia erzählen.“

„Wirklich?“ Sie bemerkte, dass sie noch immer nüchtern genug war, um skeptisch zu sein. „Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß.“ Zu ihrer eigenen Überraschung beugte sie sich zu ihm. „Und Sie sollten vorsichtig sein. Sie gehen den Einheimischen auf die Nerven.“

„Das tut mir leid. Aber ich muss tun, was ich für richtig halte“, erwiderte er tonlos, ohne ihrem Blick auszuweichen.

„Sie müssen verstehen, wo Sie hier sind. Wir haben derzeit viele Probleme. Niemand hat die Zeit, in der Vergangenheit herumzustochern.“

„Ich weiß, dass Sie mir helfen können. Wenn Sie einfach nur reden, helfen Sie mir sehr.“

„Helfe Ihnen wobei?“, fragte sie genervt.

„Alles zusammenzufügen.“

Sie nahm einen weiteren langen Schluck von ihrem Bier. Er war wie ein Hund mit einem Knochen.

Knochen.

Fast hätte sie gelacht.

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