Broken Hearts: Flammendes Begehren

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Sie sind reich, sie sind sexy - und ihre Vergangenheit verfolgt sie: Die Heartbreaker

Dieser arrogante Mistkerl! Nach jedem Wortgefecht mit Lincoln West schäumt Jessie Kay vor Wut, Lust und Frust. Leider kann sie ihm nicht aus dem Weg gehen, denn der sexy Millionär ist eng mit ihrer Clique verbandelt. Wenn er bloß nicht so verboten heiß wäre und diesen absurden Schwur abgelegt hätte: nicht mehr als eine Affäre pro Jahr, und niemals länger als zwei Monate! Aber spontan wie sie ist, geht Jessie Kay das Risiko ein. Egal, wie gefährlich es für ihr Herz werden kann.

"Showalter begeistert mich jedes Mal wieder!"

Sylvia Day


  • Erscheinungstag 06.03.2017
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499760
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Gena Showalter

Broken Hearts –
Flammendes Begehren

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Christiane Meyer

 

 

 

 

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MIRA® TASCHENBUCH

 

 

 

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Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Harder You Fall
Copyright © 2015 by Gena Showalter
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Umschlaggestaltung: any.way, Barbara Hanke / Cordula Schmidt
Umschlagabbildung: Shutterstock
Redaktion: Eva Wallbaum

ISBN eBook 978-3-95649-976-0

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. Kapitel

Liebe Schwester,

Meine liebe Brook Lynn,

Yo!

Akzeptiere es. Ich bin in dein altes Zimmer gezogen, um in den Garten gucken und sehen zu können, wie der Schnee fällt. (Füge noch ein paar Minuten – oder auch eine Stunde! – lauten Jammerns ein, weil deine Fensternische viel besser ist als meine.) ABER: Trotz dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit grinse ich so breit, dass mir schon das Gesicht wehtut. Ich erinnere mich daran, wie wir zusammen unseren ersten Schneemann gebaut haben. Ich glaube ja nach wie vor, dass er wie ein Kugelfisch aussah. Wie auch immer. Du hast geschrien: „Er stirbt!“, als die Sonne herauskam, und ich habe das Schneemann-Blut (Wasser) in einem Marmeladenglas aufgefangen, um ihm wenigstens eine anständige Beerdigung im Badezimmer bieten zu können. Wir waren ziemlich coole Kids, oder? Jetzt sind wir allerdings erwachsen (theoretisch). Pah! Du bist meine beste Freundin – Yeah! Glückwunsch! –, aber du bist mit Jase verlobt. Du bist Teil seiner Familie, wirst von seinen Freunden geliebt, und das bedeutet, dass ich dich teilen muss. Ich habe riesige Angst, dich zu verlieren.

Andererseits habe ich es nicht anders verdient. Jahrelang hast du dich um mich gekümmert, wie eine Mutter sich um ihr Kind kümmert. Du hast Opfer für mich gebracht. Du hast mich geliebt, wenn ich unausstehlich war, und mir geholfen, obwohl ich undankbar war und dich schlecht behandelt habe. Dir tausendmal Danke zu sagen, würde niemals ausreichen. Dir zu sagen, dass es mir leidtut, wäre zumindest schon mal ein Anfang. Du, meine liebe Schwester, bist ein Schatz. Ein Geschenk. Und ich werde es beweisen. Aber nicht, indem ich dir diesen Brief gebe.

Nein, dieser Brief wird sich selbst zerstören, nachdem ich ihn beendet habe. Denn ich will dir nicht sagen, wie viel du mir bedeutest – ich will es dir zeigen. Und das werde ich auch.

In Liebe

Jessie Kay

An einem eiskalten Dezembermorgen forderte das größte Schneechaos, das Strawberry Valley, Oklahoma, je erlebt hatte, sein erstes Opfer. Jessica Kay Dillons Stolz. Stöhnend hob die ehemalige Schönheitskönigin ihren schmerzenden Hintern vom eisglatten Gehweg und kam auf die Beine. Sie richtete den Korb, den sie dabeihatte, und blickte, während eine bitterkalte Brise an ihren Haaren zerrte, in die Schaufenster, die sich in der Nähe befanden. Keine neugierigen Blicke. Gott sei Dank!

Wenn niemand ihren unglaublichen Sturz bezeugen konnte, hatte er dann wirklich stattgefunden?

Jessie Kay schlich weiter. Stück für Stück. Vorsichtig. Langsam. Doch als sie um die Ecke bog, rutschte sie wieder aus und riss die Arme hoch, um Halt zu finden. Vergeblich. Sie fiel und landete erneut auf dem Boden. Verflucht noch mal! Sie schlug mit der Faust auf den mit einer dünnen Eisschicht bedeckten Beton. Sie würde hier draußen sterben, und es war allein seine Schuld. Lincoln West. Einer der drei Besitzer von WOH Industries.

Der blöde West und seine blöde Sandwich-Bestellung!

Sie würde nicht sagen, dass sie ihn hasste, doch im Augenblick würde sie, ohne zu zögern, den Stecker seiner lebenserhaltenden Geräte ziehen, um an der Steckdose ihr Handy zu laden. In nur sechs Monaten hatte er sich zu ihrem persönlichen Fluch gemausert.

Sie hätte auf ihre Schwester hören und die heutigen Auslieferungen absagen sollen. Brook Lynn, die Besitzerin des Cateringservice „Sie haben es sich verdient“ (Haben Sie einen stressigen Alltag? Wir speisen Sie!), glaubte daran, dass Sicherheit über finanziellen Gewinn ging. Aber nein, oh nein. Jessie Kay hatte darauf bestanden, dass sie es schaffte, auch wenn ein Sprung ohne Fallschirm aus einem Flugzeug wahrscheinlich klüger gewesen wäre als dieser Liefertrip. Und ja, gut, es gab eine Entschädigung für den Mut, sich hinauszuwagen: die atemberaubende Winterlandschaft. Das Sammelsurium unterschiedlich gestalteter Geschäfte – Gebäude im Landhausstil, Lagerhallen aus Metall, weiß getünchte Bungalows – sah aus, als wäre es mit Diamantenstaub gepudert. Aber ehrlich? „Atemberaubend“ war ihr im Moment scheißegal.

Mit den Zähnen klappernd kam sie wieder auf die Beine und stakste weiter wie ein halb erfrorener Soldat. Mittlerweile würden ein Rückzieher ihrerseits und die Rückkehr zu ihrem Wagen dem makellosen Ruf von Sie haben es sich verdient schaden. Toller Start, erbärmliches Ende. Nein danke. Und aufwärmen würde sie sich auch nicht. Die Heizung in ihrem Wagen funktionierte schon seit Jahren nicht mehr, und der Eiskratzer war ein unerlässliches Überlebensutensil. Nach Hause zu fahren, brachte auch nicht viel. Die Heizung dort gab nur Qualm von sich, und es erforderte Stoßgebete, sie in Gang zu setzen.

In einer perfekten Welt würde sie diese beiden Mängel noch heute beheben. Doch dies war alles andere als eine perfekte Welt. Und die üblichen Tränen, das Gejammer und Gefluche brachten sie auch nicht weiter. Sie brauchte Kohle. Cash. Ein weiterer Grund, weshalb sie beschlossen hatte, dem Wetter zu trotzen.

Brook Lynn, die gute Seele, bezahlte ihr einhundert Dollar die Woche, damit sie ihr half, die Bestellungen vorzubereiten und auszuliefern. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, das Geld anzunehmen. Ich schulde ihr etwas und nicht umgekehrt. Doch sie nahm es trotzdem. Es ging nicht anders. Mit Stolz ließen sich keine Rechnungen bezahlen.

Die Mittel reichten gerade aus, um die Nebenkosten und die Rückzahlung der Hypothek zu decken, die sie kurz nach dem Tod ihrer Mom auf das Haus aufgenommen hatte. Mit dem Trinkgeld konnte sie lebensnotwendige Dinge wie drei anständige Mahlzeiten pro Tag bezahlen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie erwartet, dass die Leute angesichts ihrer Anstrengungen heute mehr als nur die üblichen ein oder zwei Dollar geben würden. Aber taten sie das? Nein! Sie bekam nur das normale Trinkgeld – und eindeutige Angebote von ein paar schmierigen Männern.

Möchtest du eine kleine Pause machen, Jessie Kay? Meine Frau ist gerade bei ihrer Schwester, und meine Couch ist echt bequem …

Komm doch rein und trink ein Bier mit mir, Jessie Kay. Ich heize dich ein bisschen auf …

Einmal böses Mädchen, immer böses Mädchen.

Würden ihre Eltern noch leben – Gott sei ihrer Seele gnädig –, hätten sie bestimmt dicke Tränen der Enttäuschung wegen ihres einschlägigen Rufs vergossen. Sie hatten sie geliebt und nur das Beste für sie gewollt, auch wenn sie beide vor ihrem Tod guten Grund gehabt hatten, sie zu hassen.

Sie wäre die Erste, die zugab, dass sie manchmal auf nicht ganz so gesunde Art und Weise versuchte, diese Gründe zu vergessen.

Na ja, zumindest hatte sie bisher auf nicht ganz gesunde Art und Weise versucht, zu vergessen.

Vor ein paar Monaten wäre Brook Lynn – die Allerbeste – beinahe gestorben, und sie, Jessie Kay – die Allerschlechteste –, war zu beschäftigt damit gewesen, das Leben eines Rockstars zu führen und zu feiern, statt ihr beizustehen. Das nannte man wohl einen Weckruf. Von dem Tag an hatte sie geschworen, den Pfad der Tugend zu beschreiten. Falls ihre Schwester sie wieder einmal brauchen sollte, wäre sie da. Ohne Wenn und Aber. Amen.

Ihre Momma hatte einmal gesagt: Jeder Sturm beginnt mit einem einzelnen Regentropfen. Man sollte auch einen noch so bescheidenen Anfang wertschätzen.

Die Sache mit dem Bravsein … Garantiert hatte niemand nirgendwo jemals einen so bescheidenen Anfang erlebt.

Langsam ging sie um die nächste Ecke und war erleichtert, dass sie sich auf den Beinen hielt. Endlich erreichte sie das Bürogebäude von WOH Industries. Trotz der Kälte blieb sie vor der Tür stehen, um sich innerlich auf den zu erwartenden Kampf vorzubereiten. Er war unvermeidlich. Das war er immer.

Im Foyer wachte die ehemalige Grundschullehrerin und jetzige Empfangsdame Cora Higal mit militärischer Präzision über den Empfangstresen. Von West war nichts zu sehen. Vom umwerfenden, erfolgreichen, viel zu klugen West.

Er hatte Charme und Witz und ein freundliches Lächeln. Jedenfalls hatte er das für alle anderen übrig außer für sie.

Im Juli hatten er und seine beiden Freunde und Geschäftspartner die große böse Stadt verlassen, um in ihre Heimatstadt zu ziehen. Jessie Kay hatte vom ersten Moment an ein Auge auf den anziehenden West geworfen. Aber als er kein Interesse an ihr zeigte, hatte sie sich dem charmanten Beck Ockley zugewandt, der weitaus zugänglicher war.

Was sie zu dem Zeitpunkt noch nicht geahnt hatte? Beck war der König des One-Night-Stands. Tja, zumindest war er das gewesen, bis er Harlow Glass kennenlernte. Inzwischen war er der König der festen Beziehung. Egal. Die „Beziehung“ des Königs mit ihr, Jessie Kay, war nach einer einzigen gemeinsamen Nacht zu Ende gewesen.

Es war schön, Süße. Wir sehen uns.

Die Zurückweisung hatte geschmerzt, und sie hatte eine gute alte Selbstmitleidsorgie gefeiert, sich hoffnungslos betrunken und mit Jase geschlafen. Jase war der Hulk des Trios. Die „Beziehung“ zwischen Jase und ihr hatte jedoch auch zu nichts geführt. Genau genommen hatte Jase nicht einmal bis zum nächsten Morgen gewartet, um sie wieder loszuwerden. Er hatte eine Stunde danach quasi das sinkende Schiff verlassen.

Später hatte er sich dann mit Brook Lynn verlobt. Anscheinend musste ein Mann nur mit ihr schlafen, um seine Seelenverwandte zu finden.

West hielt sie vermutlich für eine Schlampe. Einen männermordenden Vamp. Eine Partymaus. Eine Frucht vom verbotenen Baum.

Tja, er konnte sie mal! Hatte sie immer die klügsten Entscheidungen getroffen? Nein. Sie war ständig einer Idee von Glück hinterhergejagt, das sie bei Männern zu finden hoffte und nicht in sich selbst. Wie zum Teufel sollte sie denn auch mit sich selbst glücklich und zufrieden sein? Sie hatte so furchtbare Fehler begangen, dass sie damit eigentlich im Guinnessbuch der Rekorde stehen sollte. Man musste ja nur ihre toten Eltern fragen! Doch welches Recht hatte West, sie zu verurteilen?

Laut Brook Lynn, die es aus erster Hand wissen musste, hatte West es mit Selbstmedikation versucht, hatte getrunken und Drogen konsumiert. Und seine Erfolgsbilanz bei Frauen? Jämmerlich. Er datete einmal im Jahr für zwei Monate – nicht mehr und nicht weniger – eine Frau, um sie aus irgendeinem fadenscheinigen Grund wieder abzuservieren, sobald die Zeit abgelaufen war …

Verdammt, es war zu kalt hier, um es noch länger hinauszuzögern.

Ein Glöckchen bimmelte, als sie das Gebäude betrat. Die ersehnte Wärme umhüllte sie.

Cora blickte von den Papieren auf, die sie gerade stapelte. Ihr schulterlanges schwarzes Haar wackelte hin und her. „Miss Dillon.“

„Miss Higal.“ Jessie Kay stampfte auf, um die Schneeklumpen von ihren Stiefeln zu lösen, während sie sich in der Lobby umsah und die Mischung aus „langweilig“ und „spektakulär“ in sich aufnahm. Die beigefarbenen Wände waren mit erstaunlich detaillierten Bildern von Figuren aus diversen Videospielen dekoriert, die West programmiert hatte. Auf Tischen, die sie auf jedem Garagenflohmarkt für weniger als fünf Dollar bekommen hätte, lagen glänzende Computerteile und Dinge, die aussahen, als gehörten sie zu einem Roboter.

Wie cool war das denn? Ihr inneres Kind, wahrscheinlich der reifste Teil von ihr, wollte mit einem Mal spielen.

Cora räusperte sich. „Mr. West ist …“

„… nicht überrascht, dass du zu spät kommst.“ Die Männerstimme kam aus dem hinteren Teil der Lobby, wo West am Türrahmen zu seinem Büro lehnte. „Sagen Sie mir, Miss Dillon, macht es Ihnen Spaß, andere Menschen in Sorge zu versetzen?“

Ihre Blicke trafen sich, und ein verhasstes Kribbeln erfasste Jessie Kays Körper. Für einen Moment, einen einzigen Herzschlag lang, herrschte eine solche Spannung zwischen ihnen, dass sie das Gefühl hatte, nicht richtig atmen zu können. Er war die Sonne, um die sie kreiste, ein Strudel, dem sie nicht entkommen konnte. Dann drehte er sich um, wandte ihr den Rücken zu, und sie konnte endlich wieder Luft holen. Sein Anblick war ihr jedoch ins Gedächtnis gebrannt.

Er war weit über eins achtzig groß und hatte die schlanke, durchtrainierte Figur eines Mannes, der gern Zeit im Fitnessstudio verbrachte. Einen Gegensatz dazu bildete der Nadelstreifenanzug, den er trug. Er hatte dunkles Haar und noch dunklere Augen, deren Tiefen unergründlich, mysteriös und so sinnlich wirkten, dass sie manchmal ihren Vorsatz vergaß, sich von ABBs fernzuhalten – von attraktiven Bad Boys.

Sie wünschte sich das, was ihre Eltern gehabt hatten. Das, was Brook Lynn und Jase, Harlow und Beck hatten. Sie wollte mehr. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie bereit, darauf zu warten. Sie gab sich nicht länger mit Resten zufrieden.

Manchmal vergessen die Leute, dass es nicht reicht, sich nur zu verlieben. Momma, die immer so weise gewesen war. Du musst den anderen auch mögen. Dein Dad … Er findet mich absolut wundervoll.

Jessie Kay hatte keinen Zweifel daran. Als sie ihrer Schwester geholfen hatte, ihre Sachen zu packen, weil sie mit Jase zusammenzog, hatten sie im Schrank ein Geheimfach gefunden. Darin waren Briefe gewesen, die ihr Vater ihrer Mutter schrieb, als sie sich kennengelernt hatten.

Wenn du lächelst, meine süße Anna Grace, sehe ich meine Zukunft in deinen Augen.

Niemand hatte bei ihrem Lächeln je so etwas erlebt, und auf keinen Fall würde West als Erster so reagieren. Was einer der vielen Gründe war, nicht mit ihm auszugehen, auch wenn sie für ihn schwärmte. Na ja, nicht für ihn, sondern vielmehr für sein Äußeres. Ja, da gab es einen gewaltigen Unterschied. Während sie liebend gern einmal mit der Zunge sein Gesicht und seinen Körper erkundet hätte, wollte sie seinem Verstand nur den Mittelfinger zeigen.

„Nun stehen Sie doch nicht einfach da und starren, Miss Dillon. Gehen Sie“, sagte Cora und riss sie damit unsanft aus ihrer Grübelei.

„Danke.“ Für nichts. Sie umklammerte den Weidenkorb ein bisschen fester und ging los.

In dem Moment, als sie die Türschwelle zu Wests Büro überschritt, schien die Temperatur um einige Grad zu steigen. In der Luft lag der Duft von Karamell. Wieder kribbelte ihre Haut, diesmal sogar noch stärker.

Er hatte das Jackett ausgezogen, saß an seinem Schreibtisch und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Jessie Kays Blick fiel auf seine starken Unterarme mit den dunklen Härchen.

„Tun Sie nicht so, als hätten Sie sich Sorgen um mich gemacht, Mr. West.

Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, faltete die Hände vor dem Bauch und sah sie an wie eine Schlange eine Maus anstarren musste – entschlossen, angriffslustig, gierig.

Jessie Kay spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Womöglich steckte ja etwas Sexuelles hinter diesem Blick. Ab und zu hatte sie sich gefragt, ob sie ihm rein äußerlich genauso gut gefiel wie er ihr. Vielleicht war er auch gerade gekommen und total befriedigt, weil er einen Konkurrenten ausgeschaltet hatte.

Ja. Das muss es sein.

„Bist du hier, um mir mein Essen zu bringen oder um mich anzuglotzen?“ Sein Tonfall klang belustigt.

Idiot. „Ich bin hier, um dich zu korrigieren. Du hast gesagt, ich wäre zu spät, aber da irrst du dich. Die Frühstücksbestellungen werden zwischen sieben und neun geliefert.“

„Es ist zehn Uhr sechsunddreißig.“

Ups. War es tatsächlich schon so spät? „Du hast mich nicht aussprechen lassen. Die Frühstücksbestellungen werden zwischen sieben und neun geliefert – außer an Tagen, an denen Schnee liegt. Mir steht ein zeitlicher Spielraum von einer Stunde oder so zu.“

„Noch einmal: Es ist zehn Uhr sechsunddreißig.“

„Und ich sagte: oder so.“ Als sie in seine undurchdringliche Miene blickte, fügte sie hinzu: „Hätte ich mich beeilen können, um schneller hier zu sein? Ja, bestimmt. Allerdings ist es deine Wunschvorstellung und nicht meine, dass ich hinfalle und mir das Genick breche.“

Er zeigte keine Gnade. „Da sich die Nachrichten der vergangenen Woche ständig um diesen Wintersturm gedreht haben, wusste ich, dass er über uns hereinbrechen würde, und habe etwas Revolutionäres getan: Ich habe vorausgeplant.“

Sie warf ihm ein schwaches Lächeln zu. Der Kunde hat immer recht, sagte Brook Lynn dauernd. Und sie stimmte ihr zu … Außer, der Kunde war ein Idiot. „Hätte ich vorausgeplant, dann hätte ich deine Bestellung storniert.“

„Hast du aber nicht. Also. Ich nehme an, deine Unpünktlichkeit bedeutet, dass ich das Essen umsonst bekomme.“

Sie atmete tief durch und erinnerte sich an einen weiteren weisen Rat, den ihre Mutter ihr gegeben hatte: Du kannst nicht kontrollieren, ob ein Vogel über deinen Kopf fliegt, aber du kannst sehr wohl kontrollieren, ob er in deinem Haar ein Nest baut.

Mit anderen Worten: Sie konnte nicht verhindern, dass sich bestimmte Gefühle bei ihr breitmachten. Sie konnte sich jedoch zurückhalten und nicht darauf reagieren.

Und sie musste sich auf jeden Fall zusammenreißen. Brook Lynn hatte erst kürzlich eine Wette mit ihr abgeschlossen: Die Erste von ihnen, die bei einem Wutanfall zu schreien anfing oder Dinge durch die Gegend warf, musste eine Woche lang die Kleider anziehen, die ihre Schwester ihr rauslegte.

Wie sie Brook Lynn kannte, würde sie vermutlich eine Nonnentracht tragen müssen. Furchtbar! Viel lieber würde sie ihre Schwester in einem Bikini sehen, den sie aus zwei Brustwarzen-Pasties und Schleifenband gebastelt hatte.

Im Laufe der Jahre war es zu einem Spielchen zwischen ihnen geworden, sich gegenseitig zu quälen.

„Du täuschst dich. Wie immer“, sagte sie mit einem zuckersüßen Lächeln zu West. „Außerdem ist deine Art zu denken äußerst beschränkt. Zeit ist nicht linear, sondern zirkulär.“

Das erregte seine Aufmerksamkeit. Neugierde lag in seinem Blick, als er sich aufsetzte, die Ellbogen auf dem Schreibtisch abstützte und die Finger unter seinem Kinn verschränkte.

„Erklär das bitte genauer.“

Mit Vergnügen. „Zeit hat keinen Anfang und kein Ende. Sie war immer da, wird immer da sein und niemals aufhören. Das heißt, dass Zeit ein immerwährender Kreis neuer Anfänge und neuer Enden ist.“

Seine Neugierde nahm zu und mischte sich mit … Bewunderung?

„Du willst damit sagen, dass das Konzept des Zuspätkommens …“

„… Quatsch ist.“

„… falsch ist, weil das, was jetzt ist, bald vergangen sein wird, und weil das, was vergangen ist, die Zukunft wird. Deshalb bist du – egal, was die Uhr sagt – eigentlich immer pünktlich.“

„Mir gefällt meine Erklärung zwar besser, aber ja. Und bei diesem Wetter pünktlich zu sein bedeutet, dass ich mir einen Bonus verdient habe. Heute kostet dein Sandwich fünfzig Dollar mehr als sonst.“

Schweigend betrachtete er sie. „Das ist so ziemlich die beste Ausrede, die ich je gehört habe. Ich werde dir die fünfzig Dollar geben.“

Sie verspürte Stolz, drängte diese Empfindung jedoch zurück. „Sollen wir daraus vielleicht hundert machen?“

„Warum? Hast du in dem Sandwich Crack gebunkert?“

„Nein. Aber ich habe meine seelischen Qualen dazugerechnet.“

Seine Mundwinkel zuckten verdächtig, als würde er gleich – nein, auf keinen Fall – lächeln. Doch natürlich wurde sein Blick nur noch finsterer, und er wandte seine Aufmerksamkeit der Computertastatur zu.

„Lass das Sandwich hier. Hol dir dein Geld von Cora und geh. Ich habe zu tun.“

Heiß und kalt. Süß und sauer.

Er hatte wirklich, wirklich Glück, dass sie der dunklen Seite den Rücken gekehrt hatte, sonst hätte er auf seiner nächsten Bestellung ein paar ganz spezielle Garnierungen vorgefunden.

„Ich hoffe …“ Würg! „… es schmeckt dir.“ Jessie Kay legte das mit Bacon und Marshmallows belegte Sandwich auf die Ecke des Schreibtisches, ohne ihm zu sagen, dass es dort gefährlich wackelig lag. Es war zwar in Papier eingeschlagen und geschützt, aber der Boden war der Boden, und für einen Menschen, der so pingelig war wie West, wäre das Brot in dem Moment, in dem es mit dem Boden in Kontakt käme, auf jeden Fall verdorben.

Möglicherweise reckte sie hier und da doch einmal einen Zeh hinüber auf die dunkle Seite.

„Es gibt übrigens noch ein Leben neben dem Computer“, sagte sie brummig, nur um irgendetwas Unfreundliches von sich zu geben. Er wollte, dass sie ging, also würde sie ein bisschen bleiben. „Du solltest es dir beizeiten mal ansehen.“

Er sah nicht in ihre Richtung. „Schick mir einen Link, dann schaue ich es mir an.“

Haha.

Während sie zusah, wie er auf der Tastatur herumhämmerte, dachte sie, dass es … wow, es war schwer, es zuzugeben … dass es vielleicht schön wäre, seine Freundin zu sein. Bis auf seinen merkwürdigen Spleen, die Dates zeitlich zu begrenzen, schien er sein Leben ganz gut auf die Reihe zu bekommen. Etwas, von dem sie nur träumen konnte. Er hätte ihr zum Beispiel sein Erfolgsgeheimnis verraten können.

„Du solltest etwas netter zu mir sein. Ich bin Brook Lynns Trauzeugin, und du bist Jases Trauzeuge. Ich kann es dir ganz leicht machen, den Mittelgang entlangzuschreiten, oder ich kann dafür sorgen, dass du dir wünschst, du wärst tot.“

„Das Risiko gehe ich ein.“

Dieser Kerl! Warum hasste er sie nur so?

Sie erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung beim Grillfest, das die Gemeinde in jedem Jahr anlässlich des 4. Juli veranstaltete. Ihr waren die drei heißen Typen, die neben dem Stand mit dem Erdbeereis gestanden hatten, natürlich sofort aufgefallen. West hatte ihr Interesse zuerst geweckt, und als er zu ihr geblickt hatte, hatte sie gleich dieses Kribbeln am ganzen Körper verspürt. Dann hatte er sie mit seinen dunklen Augen von Kopf bis Fuß gemustert und angewidert die Lippen verzogen. Voller Verachtung! Eine Empfindung, die sie nur allzu gut kannte, weil sie sie jeden Morgen spürte, wenn sie in den Spiegel blickte.

Weil sie erwachsen war, hatte sie versucht, mit ihm darüber zu reden. Es gibt ein Problem? Lass uns eine Lösung finden. Doch er hatte sich zu Beck gewandt und gemurmelt: „Ich halt’s hier nicht länger aus.“ Als hätte ihre Anwesenheit ihm die Petersilie verhagelt und ihn runtergezogen.

Ihr sowieso schon zerbrechliches Selbstbewusstsein hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, und sie hatte Becks Angebot, sie ein bisschen zu trösten, nur zu gern angenommen. Er hatte sie behandelt, als wäre sie der Mittelpunkt seiner Welt.

Bis am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen war.

Toll. Jetzt wünschte sie sich nichts mehr, als aus diesem Büro zu verschwinden. Augenblicklich. „In der Lotterie geht es um einhundertdreiundachtzig Millionen Dollar. Ich muss mir ein Los kaufen.“ Sie bemühte sich, locker zu klingen, aber es kam eher verzweifelt rüber. „Wir sehen uns, West.“

„Die Lotterie ist eine Steuer für Leute, die scheiße in Mathe sind. Das ist dir klar, oder?“

„Irgendjemand muss ja gewinnen, und ich bin gut darin, die Glückliche zu sein.“

Ein Muskel zuckte unter seinem Auge. Ein Zeichen für seine zunehmende Wut. Wieso war er wütend?

„Hinter welchem Kerl bist du jetzt her?“

Wollte er damit sagen, dass sie eine Schlampe war? „Ich sage dir, hinter welchem Kerl ich her bin“, zischte sie – bis ihr wieder die Wette mit Brook Lynn einfiel.

Ach ja. Zeig ihm nicht, dass er dich getroffen hat.

Ben und Jerry. Ich hoffe, dir schmeckt dein Sandwich“, wiederholte sie. „Oder auch nicht. Ja. Oder auch nicht.“ Ohne zu lächeln, stieß sie mit der Hüfte gegen seinen Schreibtisch. Die Computerteile und die Papiere, die darauf verstreut lagen, verrutschten, und als sie zur Tür ging, hörte sie das verräterische Geräusch, das das Sandwich verursachte, als es auf den Boden fiel.

Ein Fluch hallte von den Wänden wider.

Ohne sich umzudrehen, hob sie eine Hand und winkte West noch einmal zu.

„Ich erwarte ein neues Sandwich, Jessie Kay.“

„Mal sehen, was dir deine Erwartung bringt …“

Sie musste der Gastronomie dringend den Rücken kehren. Doch vorher musste sie herausfinden, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen wollte. Abgesehen davon, West irgendwann einmal in den Magen zu boxen.

Es gab nur ein klitzekleines Problem. So klitzeklein, dass es vermutlich nicht einmal erwähnenswert war. Sie hatte die Highschool nur mit Ach und Krach abgeschlossen, war zu beschäftigt damit gewesen, Spaß zu haben, um zu studieren, und hatte keine nennenswerten Fähigkeiten, außer mit der Zunge einen Knoten in einen Kirschstängel zu machen. Wow! Als angehende Millionärin kam sie mit diesem Mangel an Talent wohl nicht sehr weit.

Cora schnalzte mit der Zunge, als sie ihr einen Zwanziger und einen Fünfziger gab. Zehn für das Sandwich, fünf für die Lieferung und weitere fünf Dollar als Trinkgeld. Außerdem die zusätzlichen fünfzig Dollar für die heutigen erschwerten Umstände.

„Sie haben uns über die Gegensprechanlage belauscht, oder?“, stellte Jessie Kay trocken fest.

„Eine gute Assistentin muss die Wünsche des Chefs vorausahnen können. Da wir gerade davon sprechen, Miss Dillon – Sie sollten etwas nachsichtiger mit ihm sein. Er hatte es in letzter Zeit nicht leicht.“

„Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie gesagt, dass er es in letzter Zeit nicht leicht hatte?“ Ach, bitte! „Ich bin eine Vollwaise, die einem undankbaren Millionär im tiefsten Schneesturm ein Sandwich bringt. Er sollte etwas nachsichtiger mit mir sein.“

Die alte Dame rollte mit den Augen. „Seine beiden Freunde sind jetzt verlobt.“

„Und? Meine Schwester und meine beste Freundin sind verlobt. Das ist ein Grund zu feiern.“ Auch wenn sie manchmal wie ein Baby weinen wollte. Sie liebte Brook Lynn und Harlow von ganzem Herzen, aber früher oder später änderte sich alles. Die Mädchen würden sich ihren Familien widmen – zu Recht natürlich –, während sie, der einzige Single, völlig in den Hintergrund trat.

Ein Teil von ihr wollte sich jetzt schon von ihnen lösen und sich zurückziehen, damit es später nicht so wehtat, doch tatsächlich wollte sie die gemeinsame Zeit bis zur letzten Sekunde auskosten. Um endlich ihre Liebe zu beweisen. „Wissen Sie …“ Kümmern Sie sich doch einfach um Ihre eigenen Angelegenheiten. „Haben Sie noch einen schönen Tag, Miss Higal.“

Sie stürmte zur Tür hinaus. Die eiskalte Luft wirkte wie eine Ohrfeige. Wie sie sich nach der nächsten Jahreszeit sehnte – der Tornadosaison –, nach der ihre Lieblingsjahreszeit kam, in der es heißer ist als in der Hölle.

Vielleicht würde sie ihrer Freundin Sunny Day eine Nachricht schreiben und irgendwo mit ihr hingehen, um etwas Dampf abzulassen … Augenblick mal. Was zur Hölle machte sie da? Wollte sie in alte Muster zurückfallen? Nein, nein und tausendmal nein.

Daniel Porter tauchte wie aus dem Nichts auf und zwang sie dazu, stehen zu bleiben.

„Jessie Kay.“

„Verschwinde. Sofort.“ Sie würde keine Beleidigungen von einem weiteren Mann erdulden. Und dieser Mann würde sie ganz sicher beleidigen. Sie waren einmal kurz zusammen gewesen, und die Trennung war nicht gerade freundschaftlich verlaufen.

„Tut mir leid, aber ich bin genau dort, wo ich sein will.“

Er war ein echter Sturkopf. Allerdings war er ein Army Ranger, also musste er das wohl auch sein.

Vor ein paar Monaten war er aus dem Ausland zurückgekehrt und hatte sie ziemlich schnell um ein Date gebeten. Sie hatte sofort Ja gesagt. Er war ein gutaussehender Mann mit dunklen Haaren und smaragdgrünen Augen. Er hatte den Körper eines Kämpfers und die distanzierte Haltung, bei der eine (verrückte) Frau sich wünschte, diejenige zu sein, die ihn zähmte.

Recht bald hatte sie erkannt, dass er direkt mit ihr ins Bett wollte – kein Dinner, kein Kino, nichts dergleichen. Und sie hatte den Eindruck gehabt, dass er so schnell wie möglich verschwunden sein würde, wenn sie miteinander geschlafen hätten. Also hatte sie Abend für Abend auf einem gemeinsamen Essen oder einem Kinobesuch bestanden und ihn zum Abschied nur geküsst. Irgendwann hatte er die Sache beendet. Doch statt ehrlich zu seinen Gründen für die Trennung zu stehen, hatte er ihr die Schuld gegeben, weil sie noch immer Zeit mit Jase und Beck verbrachte, mit denen sie einmal geschlafen hatte. Als würde sie darauf warten, dass Brook Lynn und Harlow sich von ihnen trennten, damit sie einen weiteren Versuch bei den Männern starten konnte.

„Gut. Dann gehe ich eben aus dem Weg.“ Sie machte einen Schritt zur Seite, aber er war es gewohnt, sich mit Feinden auseinanderzusetzen, und machte den Schritt einfach mit.

„Ich möchte mich dafür entschuldigen, wie ich dich behandelt habe“, sagte er.

Sie blieb erschrocken stehen.

„Dafür, wie die Sache zwischen uns geendet hat.“

War das etwa tatsächlich eine Entschuldigung? Das hatte es noch nie gegeben. Nach ihrer kleinen Begegnung mit West war das Balsam für ihre geschundene Seele. Außer …

„Ist das ein Trick, um mich ins Bett zu locken?“

„Nur zum Teil.“

Sie verzog den Mund zu einem Grinsen, und etwas von ihrer Starre löste sich. „Deine Ehrlichkeit verdient eine Belohnung. Ich verzeihe dir. Zum Teil.“

„Gut. Willst du mit mir essen gehen?“

„Was?“

„Dinner. Mit mir. Danach bringe ich dich nach Hause, wo wir uns mit einem Handschlag voneinander verabschieden.“

Hatte er sie gerade … um ein Date gebeten? Ein richtiges Date? Und er wollte tatsächlich nur essen gehen? „Ich will nicht … Ich kann nicht …“

„Ich vermisse dich. Ich hatte viel Spaß mit dir, und Spaß ist etwas, das ich schon sehr lange nicht mehr hatte. Mich von dir zu trennen, war ein dummer Fehler.“

Das waren Worte, die wohl jedes Mädchen gern gehört hätte. Und ein Teil von ihr wollte seine Einladung sofort annehmen. Jedes Zusammentreffen mit West verletzte ihren Stolz. Sie fühlte sich danach immer angeschlagen und glaubte, kein Happy End zu verdienen. Mit diesem Gefühl kämpfte sie schon seit dem Tod ihres Vaters. Und es war noch schlimmer geworden, seit ihre Mutter gestorben war … und sie Fehler um Fehler begangen hatte. Inzwischen waren es so viele Verwerfungen, dass sie dem San Andreas-Graben Konkurrenz machen konnte.

„Ich werde ganz ehrlich sein, Daniel. Ich habe kein Interesse an dir als Mann.“ Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie zu jedem Mann, der mit ihr ausgehen wollte, Ja gesagt hatte. Er will mich, also muss ich ihm etwas bedeuten. In seinen Augen bin ich wertvoll. Es war ein Hochgefühl gewesen. Doch dieses Hochgefühl war nie von Dauer, und es hatte immer damit geendet, dass sie sich auf die Jagd nach einem neuen Hochgefühl begeben hatte.

Bessere Entscheidungen, besseres Leben.

„Aber“, fügte sie hinzu, „ich könnte mir vorstellen, einfach mit dir befreundet zu sein.“

„Ich hatte noch nie einen weiblichen Kumpel. Vor allem keinen, der so heiß war wie du.“

„Tja, ich hatte auch noch nie einen Kumpel, der so heiß war wie du. Wir könnten uns gemeinsam an diese Vorstellung gewöhnen.“

Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Also gut. Für dich, Jessie Kay Dillon, bin ich bereit, es auszuprobieren.“

Für sie. Als wäre sie etwas Besonderes.

Mann. Vorhin hatte sie noch mit dem Gedanken gespielt, auszugehen und alles zu vergessen, und jetzt schwebte sie einen Meter über dem Boden, weil ein Typ ihr ein Kompliment gemacht hatte. Nein, mein Selbstwertgefühl ist überhaupt nicht abhängig von anderen Menschen.

Sie hob ihr Kinn. „Großartig. Aber tu uns beiden einen Gefallen und vergiss nicht, dass wir das hier nur zur Probe machen. Wenn du es vermasselst, bist du raus. Und zwar endgültig.“

2. Kapitel

Lincoln West hätte beinahe mit der Faust durch die Wand geschlagen. Als er aus dem Fenster im Foyer sah und beobachtete, wie Jessie Kay sich mit Daniel Porter unterhielt, war der Zorn in ihm wie ein feuerspeiender Drache, der ihn rastlos umtrieb. Jessie Kay und Daniel Porter hatten schon einmal etwas miteinander gehabt. Der Mann war jünger als er und sogar jünger als Jessie Kay. Was zur Hölle hatten die zwei nur zu besprechen? Mussten bei Daniel die Windeln gewechselt werden? Oder diskutierten sie die neueste Entwicklung in der Schnuller-Technologie?

Trafen die beiden sich wieder? So, wie Daniel sie angrinste …

Ein Laut wie von einem Tier kam West über die Lippen und überraschte ihn. Es war ihm doch eigentlich vollkommen egal, mit wem Jessie Kay sich traf. Ja, sie war die fleischgewordene Versuchung, eine Südstaatenschönheit mit der Zunge einer Schlange, einem messerscharfen Verstand und einem Mut, der seinem glatt Konkurrenz machte. Ja, mit ihrem brillanten Konzept der Zeit hatte sie ihn umgehauen. Aber es spielte keine Rolle. Sie war tabu – und das machte sein Verhalten nur noch unlogischer.

Er hatte gewusst, dass sie sich vom Wetter nicht davon abhalten lassen würde, die Sandwich-Bestellungen auszuliefern. Also war er am Morgen mit seinem Wagen zu ihrem Haus gefahren und hatte dort, versteckt hinter einer Schneewehe, auf sie gewartet. Dann war er ihr in die Stadt gefolgt, um sicherzugehen, dass sie in einem Stück ankam, und während sie die Leckereien in ihrem Korb verteilte, hatte er in seinem schönen warmen Büro gesessen, auf die Uhr gestarrt und beinahe eine Panikattacke bekommen, als sie nicht zu einer vernünftigen Zeit aufgetaucht war.

Er hatte eigentlich geplant, ihr nach Hause zu folgen, sobald sie das Büro verlassen würde. Jetzt hatte Daniel die Ehre.

„Ich kenne das Mädchen, seit es die dritte Klasse aufgemischt hat.“ Cora stapelte einige Papiere. „Jessie Kay hatte immer Schwierigkeiten, weil sie im Unterricht geredet hat, war immer unpünktlich, aber sie war auch immer gutherzig. Wenn irgendjemand einen schlechten Tag hatte, war sie die Erste, die ihren Trost anbot und die Süßigkeiten, die ihre Mutter ihr in die Lunchbox gepackt hatte.“

Er wünschte, er hätte Jessie Kay schon damals gekannt, er wäre das Kind gewesen, das sie getröstet hätte, das Kind, das die Süßigkeiten von ihr bekommen hätte. Vielleicht wären sie Freunde geworden. Im Laufe der Jahre hatte er nur wenige Freunde gehabt. Verdammt, abgesehen von Jase und Beck, die er in der Pflege kennengelernt hatte, war er allein gewesen.

Buhu. Armes Baby.

„Kein Wort mehr über sie“, knurrte er und kehrte zurück in sein Büro.

Er konnte es sich nicht leisten, Jessie Kay zu mögen. Er … es ging nicht. Es waren zu viele Gefühle im Spiel. Einige von ihnen gut – zu gut – und viele von ihnen schlecht.

An dem Tag, als er sie kennengelernt hatte, hatte er an Tessa gedacht. Tessa war die einzige Frau gewesen, die er je geliebt hatte. Die Frau, die er verloren hatte. Er hatte ihr versprochen, eine Abschlussparty für sie zu organisieren, eine „Herzlichen Glückwunsch zum Abschluss!“-Party. Doch er hatte es vergessen. Statt ihre Freunde im mit Ballons geschmückten Haus zu treffen und Blumen zu bekommen, hatte sie ihn vorgefunden, zugedröhnt, schales Dosenbier, Reste einer kalten Pizza.

Sie war in Tränen ausgebrochen und mit dem Auto geflüchtet. Ein paar Stunden später hatte er erfahren, dass sie einen Unfall gehabt hatte und sofort tot gewesen war.

Der Flashback hatte ihn durcheinandergebracht. Es hatte keinen Grund gegeben, an die tragische Geschichte zu denken.

Jessie Kay hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Tessa. Die beiden waren genau genommen so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Tessa war klein und schlank gewesen und hatte dunkle Haare und dunkle, mandelförmige Augen gehabt, die ein Hinweis auf ihren multikulturellen Hintergrund gewesen waren. Jessie Kay dagegen war großgewachsen und kurvig, hatte blondes Haar und blaue Augen, in denen immer ein so hitziger Ausdruck lag, dass man das Gefühl hatte, jeden Moment in Flammen aufzugehen.

Jessie Kay war Tessa nur in einem Punkt ähnlich: Sie war sehr hübsch. Und, ehrlich gesagt, war sie die einzige Frau auf der Welt, die es mit einem einzigen Blick schaffte, seinen Blutdruck in die Höhe zu treiben, so wie es Tessa immer gelungen war.

Wenn er nüchtern gewesen war, hatte er Tessa wie eine Königin behandelt. Inzwischen war er immer nüchtern, Jessie Kay behandelte er jedoch so, als wäre sie der Zugang zur Hölle. Nicht absichtlich. Oder vielleicht doch absichtlich. Als er sie zum ersten Mal sah, wollte er sie mit einer Intensität, dass es ihm Angst gemacht hatte, aber sie hatte mit Beck und dann auch noch mit Jase geschlafen.

Jetzt bin ich dran.

Dieser Gedanke – ein Gedanke, den er schon oft gehabt hatte – machte ihn wütend. Es gab keinen Grund, der so überzeugend gewesen wäre, dass er böses Blut zwischen sich und seinen Freunden riskiert hätte. Nicht, dass es einen seiner Freunde interessieren würde, ob er etwas mit Jessie Kay anfinge oder nicht. Eigentlich ermunterten sie ihn sogar täglich, endlich einmal die Initiative zu ergreifen. Sie mochten Jessie Kay. Das Problem war er. Wenn er sie bekommen würde – diese Frau, die ihn manchmal in seinen Träumen verfolgte –, würde er es seinen Freunden dann übelnehmen, dass sie ihm zuvorgekommen waren?

Allein diese Möglichkeit hielt ihn schon davon ab, etwas zu unternehmen. Es machte ihn noch wütender als der Gedanke, dass nun er „dran war“. Er würde nicht zulassen, dass irgendetwas zwischen ihn und seine Jungs trat.

West warf das kontaminierte Sandwich in den Mülleimer, ließ sich mit einem Knurren in seinen Schreibtischsessel fallen und lockerte die Krawatte, die ihm die Luft zum Atmen abschnürte. Wenn ein Nahrungsmittel auf dem Boden gelegen hatte, konnte er es nicht mehr essen. In einer der Pflegefamilien, in denen er gelebt hatte, hatte der Vater es urkomisch gefunden, die Kinder, die er in Pflege genommen hatte, mit auf dem Rücken gefesselten Händen vom dreckigen Linoleumfußboden essen zu lassen.

Gewöhn dich daran, Junge. Einige Menschen haben nichts Besseres verdient.

Nicht alle Pflegefamilien waren schlimm gewesen. Die meisten Familien waren ziemlich anständig gewesen und hatten ihm ein besseres Leben geboten, als er es bei seiner Mom gehabt hätte. Della hatte ihn nie schlecht behandelt und hatte ihn vielleicht sogar geliebt, doch ihr Heroin hatte sie noch mehr geliebt.

Es klopfte. Er blickte auf und sah Beck in der offenen Tür stehen.

Der über einen Meter achtzig große selbst ernannte Sexgott kam ins Büro und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Er hatte Schneeflocken im Haar. Das Weiß der Flocken verlieh seinen goldblonden und braunen Strähnen zusätzliche Tiefe.

Beck nahm seinen Kaschmirschal ab und schlüpfte aus seinem Mantel. „Ich habe auf dem Weg ins Büro Jessie Kay und Daniel Porter gesehen. Geht es dir gut?“

Er wünschte, seine Freunde wüssten nichts über seinen innerlichen Kampf – dass er Jessie Kay zwar wollte, aber nicht wollte, dass es so war. „Mir geht es gut.“

„Tja, könntest du mir einen Gefallen tun und das auch deinem Gesicht mitteilen? Du siehst aus, als hättest du eine schlimme Verstopfung.“

„Hast du es noch nicht gehört? Verstopfung ist das neue Schwarz. Alle coolen Kids machen das heutzutage – oder machen es eben nicht.“

Beck prustete los. Seine braunen Augen funkelten. Leider hielt die Belustigung nicht lange an.

„Ernsthaft, Mann. Geht es dir gut?“

Der Typ machte sich wirklich Sorgen um ihn. Das war nichts Neues. Wenn er ehrlich war, musste West einräumen, dass er sich selbst Sorgen um sich machte.

Als Kind hatte er geschworen, nicht so zu werden wie seine Mutter. Und den Großteil seiner Jugend über war ihm das auch gelungen. Er hatte Drogen und Alkohol wie seine schlimmsten Feinde behandelt. Dann war Jase für ein Verbrechen ins Gefängnis gesteckt worden, das er und Beck mit ihm zusammen begangen hatten, und er hatte der Realität entfliehen wollen. Nur für eine Weile. Kokain ist kein Heroin. Das hatte er sich zumindest eingeredet. Immer und immer wieder …

Nach Tessas Tod hatte der Höhepunkt seines Tages darin bestanden, von jeder glatten Oberfläche, die er finden konnte, eine Line zu ziehen – um dann am nächsten Morgen in seiner eigenen Kotze aufzuwachen.

Irgendwann hatte er auch sein Stipendium am Massachusetts Institute of Technology verloren. Noch ein Grund, high zu werden. Er hatte sich selbst enttäuscht. Doch was viel schlimmer war: Er hatte seine Freunde enttäuscht. Jase hatte die Verantwortung für das Verbrechen übernommen, sodass er zur Schule gehen, einen Abschluss schaffen und etwas aus seinem Leben machen konnte. Beck hatte Jahre damit zugebracht, ihn dazu zu bringen, die Finger von den Drogen zu lassen und clean zu werden.

Selbst jetzt waren die Schuldgefühle zu groß, um sie abzuschütteln.

Am schlimmsten hatte er Tessa im Stich gelassen und enttäuscht. Und er hatte sogar seine Mom enttäuscht. Als er endlich clean und in der Lage gewesen war, ihr bei ihren Schwierigkeiten helfen zu können, war es zu spät. Sie war schon tot gewesen. Eine Überdosis zu viel.

„Keine Sorge. Ich werde keinen Rückfall bekommen. Ich fühle mich zu Jessie Kay hingezogen, aber ich bin nicht verliebt in sie.“ Er würde sich nie wieder erlauben, so viel für jemanden zu empfinden.

„Warum nicht? Sie hat alles, ist eine Dame in der Küche und eine Wildkatze …“

„Halt den Mund“, presste West zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„… in allen anderen Bereichen.“

Beck hatte in angespannten Situationen schon immer auf zwei Arten reagiert: Entweder hatte er gestichelt oder er hatte gespöttelt.

„Warum? Was, dachtest du, würde ich sagen?“

Nimm es ihm nicht übel. „Wenn sie so supertoll ist, wieso hast du dich dann nicht in sie verliebt?“

„Das ist eine Gefahr dabei, zu früh mit jemandem ins Bett zu gehen.“ Beck zuckte die Achseln. „Man findet später heraus, dass es besser ist, nur befreundet zu sein. Ansonsten ist sie nicht Harlow.“

Sie war auch nicht Tessa. Und diese Unterhaltung war jetzt beendet. „Also gut. Falls ich den heutigen Alkoholtest bestanden habe, würde ich dann jetzt weiterarbeiten.“

„Es freut mich, dir verkünden zu können, dass du den Alkoholtest bestanden hast. Beim Arschlochtest bist du allerdings durchgefallen.“

„Nicht das. Alles, nur das nicht!“ West hob mit übertrieben verzweifelter Miene eine Faust gen Decke. „Warum? Warum ich?“

„Und jetzt bist du auch noch durch den Idiotentest gerasselt. Wo ist mein Dankeschön dafür, dass ich trotz des Wetters hier aufgetaucht bin, weil ich weiß, dass mein bester Freund ein Workaholic ist und ausgerastet wäre, wenn ich vorgeschlagen hätte, heute wegen Eis und Schnee einen freien Tag einzuschieben?“

„Hier.“ West zeigte ihm den Mittelfinger. „Hier ist dein Dankeschön.“

Grinsend erhob Beck sich und sammelte seine Sachen ein. „Herzerwärmend. Ich bin dann in meinem Büro, falls du mich brauchst.“

Wieder allein musste West sich eingestehen, dass er trotz seiner scheinbaren Unbeschwertheit in keiner guten Verfassung war. Könnte er einen echten Drogentest bestehen? Könnte er der Versuchung widerstehen?

Mal sehen.

Er schloss die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und zog sie auf. Sein Blick fiel auf die Flasche Whiskey. Er strich mit einer Fingerspitze über das kühle Glas.

Trink mich. Der Whiskey schien mit ihm zu sprechen. Nur einen Schluck. Ich werde dir helfen, dich zu entspannen.

Wie wahr diese Worte doch waren. Aber West wusste, dass die Entspannung nur für einen kleinen Moment anhalten würde. Danach würde er wieder in seine schlechte Laune zurückfallen und noch einen Drink brauchen … Und später würde er sich dem Kokain zuwenden. Das war sein Fluch. Der Dämon in ihm.

In den Zeiten seiner Abhängigkeit hatte es viele Morgen gegeben, an denen er auf der Suche nach Geld durch die Wohnung getigert war. Er hatte in den Ritzen zwischen den Couchkissen, in der Waschmaschine oder im Trockner nach Geldscheinen gesucht. Wenn er nichts gefunden hatte, war er in Becks Zimmer geschlichen, um dort die Schubladen der Kommode zu durchwühlen. Seine Verzweiflung war stärker gewesen als seine Scham.

Er hatte Stoff gebraucht, und zwar dringend, aber ohne Geld hätte er von seinem Dealer nur ein müdes Lächeln bekommen. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, das zu tun, was seine Mutter getan hatte, um sich ihre Drogen zu finanzieren …

Er strich sich übers Gesicht und versuchte zu vergessen … Das werde ich niemals vergessen. Seine Mutter hatte ihren ebenfalls drogenabhängigen Freunden damals erlaubt, alles mit ihrem Körper anzustellen, was sie wollten, solange sie dafür ihre Drogen mit ihr teilten. Manchmal hatte sie ihren Körper sogar an Fremde verkauft. An jeden, der ein paar Dollar übrig gehabt hatte.

Ein Kerl …

Du kannst mich Onkel Sam nennen.

West erschauderte. Wenn Sam mit Della fertig gewesen war, hatte er nach ihm gesucht. West hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als sich in Schränken, unter seinem Bett oder sogar im Mülleimer zu verstecken. Manchmal war es ihm gelungen, nicht entdeckt zu werden. Doch hin und wieder war er gefunden worden.

Die Tatsache, dass er je mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, seinen Körper zu verkaufen …

Er schüttelte den Kopf, um die quälenden Erinnerungen zu vertreiben. Seine Selbstverachtung blieb.

„Trinken steht nicht auf meinem Terminplan.“ Mit Nachdruck machte er die Schublade zu, schloss sie ab und atmete bewusst ein paar Mal tief durch. Er hielt sich immer an seinen Zeitplan. Eine Angewohnheit, die er in der Entzugsklinik angenommen hatte. Eine feste Struktur hielt das Chaos – einen Auslöser – in Schach. Jede Aufgabe auf dem Plan war ein winziger Schritt, der Zeit und Aufmerksamkeit erforderte und der ihm dadurch Stück für Stück half, einen weiteren Tag als nüchterner, cleaner Mann zu überstehen.

Zu viele dunkle Flecken auf meiner Seele.

Da er gerade an seinen Terminplan dachte … fünf kleine Worte starrten ihn vom Display seines Handys aus an: Jessie Kay nach Hause folgen.

Warum hatte er eine so undankbare Aufgabe eingetragen?

Weil es ihm gefiel, wie zartes Rot ihre sonnengebräunte Haut überzog, wenn sie wütend wurde? Weil es ihm gefiel, was für bissige Worte ihr über die Lippen kamen? Lippen, die er gern einmal schmecken würde. Weil es ihm gefiel, wie sein Herz jedes Mal schneller schlug, wenn sie einen Raum betrat? Weil ihm jeder Schlagabtausch mit ihr gefiel?

Weil er nicht wollte, dass dieser Wahnsinn aufhörte?

Idiot! Trottel! Ein Mann konnte süchtig nach einer Frau wie ihr werden. Vor allem ein Mann wie er. Dennoch nahm er das Telefon in die Hand und drückte die Kurzwahltaste, die ihn mit Beck verband.

„Ich bin mal kurz unterwegs.“

Am Samstagmorgen zog West seine Laufshorts und ein T-Shirt an, auf dem Goal Scouts stand. Während der Fußballsaison – von März bis Oktober – trainierte er ein Team von unterprivilegierten Kids. In der Nebensaison spielte er mit den großen Jungs in der Halle. Eine großartige Form der Therapie.

Er legte seine Schienbeinschoner an, schnürte seine Schuhe und warf einen Blick auf die Uhr. Es war 8:59 Uhr. Pünktlich. Er strich die Bettdecke glatt, sah noch einmal nach, ob der Deckel des Wäschekorbes geschlossen war, und rauschte dann in die Küche, um drei Proteinshakes zu mixen.

„Hey, Mann.“ Jase kam herein. Er war angezogen und bereit für das Spiel.

Jase und Beck hatten beschlossen, ebenfalls mitzuspielen, statt sich die Action nur von der Tribüne aus anzusehen.

Jase war der Torwart des Teams. Er war gebaut wie ein Schrank, und kein Ball kam an ihm vorbei. Außerdem neigten gegnerische Mannschaften dazu, sich in die Hose zu machen, wenn sie ihn erblickten. Alles an ihm – von den aufgestellten dunklen Haaren bis hin zum wilden Ausdruck in seinen grünen Augen – sagte: Wenn du dich mit mir anlegst, kannst du was erleben.

Keine leere Drohung. Nachdem er fast zehn Jahre hinter Gittern verbracht hatte, hatte er ein paar Probleme und jede Menge aufgestauter Wut.

Und schon spürte West wieder das schlechte Gewissen. „Hey.“ Er konnte seinem Freund nicht in die Augen blicken, als er ihm einen Proteinshake zuschob. „Trink das.“

„Jetzt ernsthaft?“ Jase zwang ihn dazu, ihn anzusehen. „So willst du den Morgen beginnen?“

„Seit wann hast du ein Problem mit Proteinen?“

„Die Proteine sind mir vollkommen egal, und das weißt du auch. Mir geht es darum, wie du mich gerade ansiehst. Oder vielmehr krampfhaft versuchst, mich nicht anzusehen.“

Genau. Jase erwartete von ihm, dass er sich selbst verzieh, welche Rolle er bei der Gefängnisstrafe gespielt hatte. Eine Weile hatte West es sogar versucht. Doch das schlechte Gewissen war ein Monster, das in seinem Innern lebte, immer da war, immer lauerte und nur auf den richtigen Moment wartete, um zuzuschlagen. Sein Freund hatte Unvorstellbares erdulden müssen, und wofür? Damit er, West, sein Leben vergeudete?

Also, nein, er würde sich in nächster Zukunft wohl nicht verzeihen.

„Du bist der Grund dafür, dass Brook Lynn mich für den Traum einer jeden Leserin von Liebesromanen hält. Geläutert und reich“, sagte Jase. „Ich bin dir dankbar.“

West hatte WOH Industries nur ins Leben gerufen, um sich während der Zeit seiner Genesung abzulenken. Aus dem Hobby war schnell eine lukrative Einnahmequelle geworden. „Du wärst überhaupt nicht ins Gefängnis gekommen, wenn ich anders auf Tessas …“

Er konnte das Wort nicht aussprechen.

In der Nacht, als es passiert war, war er achtzehn Jahre alt gewesen und dem Pflegesystem gerade entkommen. Er hatte mit seinen Freunden zusammengelebt und seinen Blick auf ein Ziel gerichtet: ein Happy End. Tessa hatte ihn zu einer Party eingeladen, aber in letzter Minute hatte er sich dazu entschieden, zu Hause zu bleiben und an einer Hauptplatine für einen Rechner zu arbeiten. Er wollte ihn anschließend verkaufen, Geld verdienen und seinem Mädchen die Welt zu Füßen legen. Sie war stattdessen mit ihrer Cousine zu der Party gegangen. Beck hatte ein Date mit einem Mädchen gehabt, das er kurz vorher kennengelernt hatte, und Jase, ein Tischler, war noch bei der Arbeit gewesen.

Mitten in der Nacht war Tessa in Tränen aufgelöst nach Hause gekommen. Sie war immer sehr emotional, also hatte er es erst nicht ernst genommen. Dann hatte sie sich ihm in die Arme geworfen und hervorgestoßen: „Er … er … West, er hat mich vergewaltigt.“ Damit hatte sich alles verändert.

Finsterer Zorn hatte ihn erfüllt. Er hatte alle nötigen Informationen aus Tessa herausbekommen, hatte Jase und Beck geweckt und zusammen mit ihnen das Stück Scheiße gesucht, das für diesen Albtraum verantwortlich gewesen war. Der Kerl hatte friedlich schlafend in seinem Bett gelegen.

Ja. Sie waren in seine Wohnung eingebrochen.

Er hatte als Erster zugeschlagen. Als er gespürt hatte, wie die Nase des Kerls brach, und gesehen hatte, wie das Blut ihm über die Lippen gequollen war, die Tessa missbraucht hatten, hatte er freudlos gelächelt. Er hatte noch mehr Blut sehen wollen, noch mehr Zerstörung – er hatte dem Typen noch mehr Schmerz zufügen wollen.

Der junge Mann war zu Boden gegangen und hatte geweint. „Sie wollte es auch!“

Zwar hatte der Kerl versucht, wegzukriechen, doch er hatte ihm in die Rippen getreten. Das war ein Startschuss gewesen. Jase und Beck hatten ebenfalls zugetreten. Es war brutal. Wild. Entfesselter Zorn. Unvorstellbare Gewalt. Sie drei hatten weitergemacht, bis der Mistkerl aufgehört hatte, sich zu bewegen … bis er aufgehört hatte, zu stöhnen … bis er aufgehört hatte, zu atmen.

„West.“ Jases Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart.

„Du hättest uns nicht bitten sollen, zu verheimlichen, dass wir an der Tat beteiligt waren.“ Damals hatten sie einen strikten Code befolgt: Was der eine wollte, taten die anderen. Punktum. Aber er hatte sich schon bald in einem Gefängnis der ganz anderen Art wiedergefunden, einem Gefängnis, dessen Mauern aus Schuldgefühlen errichtet und dessen Gitter aus Scham geschmiedet waren. „Vor allem mich nicht. Du hast von mir erwartet, nach Massachusetts zu ziehen, die Schule zu beenden und dann mit Tessa eine Familie zu gründen.“ Er atmete scharf aus. „Ich habe Oklahoma nie verlassen. Und du weißt, was mit meiner Freundin passiert ist.“

„Ich bereue meine Entscheidung nicht. Das habe ich nie getan.“

Nein. Das war nicht wahr. „Du musst es bereut haben.“ Emotionen schnürten West die Kehle zu. „Beck und ich haben dich jede Woche besucht. Ich habe deine Verletzungen gesehen … Ich weiß, was hinter Gittern mit jungen, schlanken Männern geschieht …“ Mit achtzehn war Jase sehr schlank gewesen.

Im Kiefer seines Freundes zuckte ein Muskel. „Das ist längst vergangen. Aus. Vorbei.“

„Ist es das?“ Manchmal wachte er nachts auf, weil Jase schrie.

Ich hätte das Thema nicht ansprechen sollen. Es ist für uns beide zu schmerzhaft.

Ich kann das. Er setzte ein Lächeln auf und nahm es so hin. „Du hast recht. Natürlich. Es ist aus und vorbei. Jetzt sei ein braver Junge und trink dein Frühstück.“

Jase sah ihn eine ganze Weile schweigend an, bevor er schließlich seufzte. Er nahm einen Schluck vom Shake und verzog das Gesicht. „Was hast du da reingemixt? Arsen?“

„So schlimm kann es gar nicht sein.“ West nahm ebenfalls einen Schluck und erschauderte. Doch. Es war tatsächlich so schlimm. „Arsen hätte vermutlich besser geschmeckt. Ist Brook Lynn schon wach?“ Das Mädchen war eine Zauberin in der Küche. Sie könnte ein paar Zutaten zusammenwerfen …

„Sie ist heute ganz früh aus dem Haus, um ihr Kleid noch einmal anzuprobieren. Sie meinte, sie hätte ein Pfund zugenommen und würde aus allen Nähten platzen.“

Frauen und ihr Gewicht. Wann würde ihnen klar werden, dass Haut und Knochen nur auf andere Frauen Eindruck machten? Männer bevorzugten es üppig und weich … Wie zum Beispiel bei Frauen wie Jessie Kay, die an den richtigen Stellen Rundungen hatten.

Ruhig, Junge. „Vielleicht kann Harlow …“

„Nein.“ Jase schüttelte den Kopf. „Sie hilft Jessie Kay bei der Auslieferung der Frühstücksbestellungen.“

Erst hatte er den Namen nur gedacht. Nun hatte er ihn gehört. Ich kann ihr anscheinend nicht entkommen.

„Ach, und bevor ich es vergesse“, sagte Jase und wechselte dankenswerterweise das Thema, „ich habe mich für ein Bauunternehmen entschieden.“

„Gut.“ Vor ein paar Wochen hatten sie beschlossen, zwei weitere Häuser auf ihrem Grundstück errichten zu lassen. Eins für Jase und Brook Lynn und das andere für ihn und sein Selbstmitleid. Beck und Harlow würden im Farmhaus bleiben, da sie dort aufgewachsen war und das Haus fast genauso sehr liebte wie ihren Verlobten. „Was soll ich tun?“

„Ruf Montag mal bei dem Bauunternehmer an und sag ihm, was du dir vorstellst. Ich schicke dir seine Nummer.“

Beck kam in die Küche gestolpert. Er war angezogen und bereit, loszugehen, aber sein Haar war ungekämmt und seine Augen waren rot gerändert. „Worüber redet ihr?“

„Über deinen Junggesellenabschied“, entgegnete Jase trocken. „Willst du eine Stripperin oder lieber vier?“

„Mann.“ Beck kratzte sich die Brust. „Mein Leben war ein einziger Junggesellenabschied. Ich brauche keinen weiteren.“

Jase lachte. „Hast du Angst, dass deine kleine Frau protestieren könnte?“

Als wäre er nicht genauso geschlagen.

„Genau genommen habe ich Angst davor, dass meine kleine Frau die Stripperin nach Tipps fragt und ich einen Herzanfall bekomme und sterbe, bevor ich mein Eheversprechen geben darf.“

West reichte ihm einen Proteindrink. „Hör auf, mit deinem Liebesleben anzugeben, und trink dein Frühstück, Becky. Du wirst es brauchen.“ Der Mann war offensiver Mittelfeldspieler und sein Talent am Ball war unübertroffen. Er blieb auch unter Druck ruhig und konnte ganz schön austeilen. „Wenn du im Halbschlaf auf den Platz schleichst, wird man dir deinen Arsch auf dem Silbertablett präsentieren.“

„Also, ich würde mich darüber freuen.“ Beck trank den Shake zur Hälfte aus, ohne sich am bitteren Geschmack zu stören. „Es ist nämlich ein ziemlich hübscher Arsch.“

„Deine Bescheidenheit ist echt legendär.“ West war schnell und beweglich, daher war er Mittelstürmer. Er holte sich den Ball – seinen Ball –, wann immer es nötig war. Und es war sein Ball. Immer. Wenn er den Platz betrat, erfasste ihn ein Gefühl der Raffgier. Meins. Das war wahrscheinlich der Grund dafür, dass er nach jedem Spiel als Torschützenkönig vom Platz ging.

Das und sein Talent, seine Beharrlichkeit und seine Kraft. Er verbrachte einen Großteil des Tages im Fitnessraum. Er wollte nie wieder schwach sein. Er hasste Hilflosigkeit fast genauso sehr wie Chaos.

„Meine Bescheidenheit ist nur einer von vielen tollen Charakterzügen an mir.“ Beck trank den Shake aus. „Gutes Zeug. Danke.“

West warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 9:28 Uhr. Sehr gut. „Zeit, zu gehen.“

Er packte seine Tasche, in der Klamotten zum Wechseln waren, und nahm auf dem Fahrersitz seines Mercedes Platz. Jase hatte für alle Zeiten Anspruch auf den Beifahrersitz, und Beck machte es sich auf der Rückbank gemütlich. Keiner beklagte sich. Die beiden respektierten ihn und seine Terminpläne.

Meine Seelenverwandten.

Er fuhr über den Marktplatz, wo einige Familien auf den Gehwegen unterwegs waren. Alle hatten sich warm angezogen und alle blieben stehen, lächelten und winkten ihnen zu.

West kam es vor wie eine Szene aus einem Film – fast zu perfekt, um wahr zu sein –, doch er lächelte und winkte zurück.

„Gegen wen spielen wir heute?“, fragte Jase, als sie den Highway entlangkrochen. Es war Sand und Salz gestreut worden, aber stellenweise war es noch immer gefährlich glatt. Wenn es in diesem Tempo weiterginge, würden sie die Innenstadt von Oklahoma City in ungefähr fünfzig Jahren erreichen.

„Gegen die Ball Busters.“

„Sie waren im letzten Jahr die Erstplatzierten der Liga.“ Beck grinste. Es wirkte ein bisschen gefährlich, als er die Zähne dabei leicht bleckte. „Das wird unseren Sieg heute noch viel süßer machen.“

„Genau. Zeigt keine Gnade.“ West richtete das Lüftungsgebläse aus, damit Beck auf der Rückbank auch etwas von der warmen Luft abbekam. „Nachdem wir den Platz mit ihnen aufgewischt haben, werden sie aus dem diesjährigen Endspiel ausscheiden.“

„Ihr lästert schon ganz passabel ab.“ Jase nickte beifällig. „Ich habe euch gut erzogen.“ Sein Handy piepste. Er sah auf das Display und fluchte.

„Was ist?“, fragten West und Beck wie aus einem Munde.

Jase rieb sich den Nacken. „Brook Lynn kommt zu spät zum Spiel.“

Eine so heftige Reaktion wegen einer solchen Kleinigkeit? Als könnte der Mann es nicht ertragen, einen halben Tag lang von seinem Mädchen getrennt zu sein.

Falls er jemals mit Jessie Kay zusammenkommen würde …

Soll das ein Witz sein? West unterdrückte einen Seufzer. War es nicht möglich, einfach mal einen Tag, eine Stunde lang nicht an sie zu denken? Sie nicht zu hassen und sich nicht nach ihr zu sehnen? Nicht fast den Verstand zu verlieren, weil er sie berühren wollte? Weil er sie schütteln, sie erkunden wollte … Und weil er noch viel, viel mehr mit ihr anstellen wollte?

„Jase, mein Lieber, ich mag dich. Wirklich.“ West betätigte den Blinker, ehe er die Spur wechselte. „Aber Abhängigkeit ist echt scheiße.“

Beck streckte einen Arm aus und klopfte Jase auf die Schulter. „Was er sagt, stimmt. Aber mach dir nichts draus. Miststücke stehen auf uns.“

Das war allerdings die Wahrheit. Ob jung, ob alt, ob Single oder verheiratet – die Frauen konnten einfach nicht genug bekommen, Bad Boys wie Beck und Jase waren ihr Kryptonit. Er bekam selbst reichlich Aufmerksamkeit vom anderen Geschlecht, aber nicht in dem Ausmaß wie seine beiden Freunde. Die meisten Frauen ahnten wohl, dass er nicht nur ein Bad Boy, sondern dass er innerlich zerrissen und verletzt war.

Als sie die Fußballhalle erreichten, parkte er den Wagen dahinter, packte seine Tasche und rannte hinein. Die eisige Luft war wie unzählige Nadelstiche auf der Haut und roch nach Autoabgasen und verbranntem Holz statt nach Walderdbeeren. Irgendwie duftete es in Strawberry Valley sogar im Winter nach Erdbeeren. Und dieser Duft stand für ihn für sein Zuhause.

Als Jase verkündet hatte, einen Neuanfang in einer Kleinstadt wagen zu wollen, in der es viel Platz und ein Gemeinschaftsgefühl gab, das sie in der Obhut verschiedener Pflegefamilien nie erlebt hatten, hatte er Panik bekommen. Der Gedanke, sein Penthouse-Apartment zu verlassen, der Gedanke, seine alltägliche Routine hinter sich zu lassen, war für ihn unvorstellbar gewesen. Niemals! Es sei denn, die Bitte kam von seinen Freunden. Für sie tat er alles. Er verdankte Jase und Beck sein Leben, und bei allem, was ihm heilig war, er würde seine Schuld begleichen.

Es ist immer besser, der Kreditgeber als der Schuldner zu sein.

Anfangs hatte er Strawberry Valley gehasst. Für die Bewohner war sein Privatleben oder auch sein Kontostand ganz klar Thema des öffentlichen Interesses. Doch ebendiese Bewohner hatten Jase den Rücken gestärkt und zu ihm gehalten, während der Rest der Welt ihn am liebsten mit Mistgabeln und Fackeln aus dem Dorf gejagt hätte.

Inzwischen gab es keinen Ort mehr, an dem er lieber leben würde.

Ein paar Schritte hinter der Tür blieb er wie angewurzelt stehen. Er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt.

Nein. Bitte, nein.

Jessie Kay war hier.

Sie und Harlow warteten am Imbissstand. Sie waren sich der Horde sabbernder Männer, die sie anstarrte, offensichtlich nicht bewusst. Einige der Kerle scharrten schon mit den Hufen, um sich bei nächster Gelegenheit auf die Frauen zu stürzen.

Kein Wunder. Harlows Haar war so schwarz, dass es einen blauen Schimmer hatte, und ihre Augen hatten die Farbe des Morgenhimmels. Sie war die fleischgewordene Disney-Prinzessin. Angesichts ihrer Schwäche für Liebesromane passte die Beschreibung perfekt. Jessie Kay hingegen war in diesem Märchen die Böse. Die gnadenlos bösartige Königin – so wunderschön, so makellos, die Bewegungen und Worte voll schwarzer Magie – zog alle in ihren Bann.

Das lag nicht nur an ihrer Haut, die zart wie Seide war, oder an den blonden Haaren, die ihr über den Rücken fielen und in die man die Hände schieben wollte. Es lag nicht an ihren Augen, die so tief und so blau waren, dass man darin ertrank. Es lag auch nicht an den vollen roten Lippen, die dazu geschaffen zu sein schienen, zu küssen – und geküsst zu werden. Es lag an ihrem Wesen: die pure, sinnliche Verführung.

Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, während sie mit Harlow sprach. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Es war ein üppiger Busen, der in einem zu engen T-Shirt steckte, auf dem stand: Goal Scout Lieferungen heute gratis. Ihre Jeans schien nur aufgemalt zu sein, und auf den Cowgirl-Boots, die sie trug, waren genug Strasssteine verarbeitet, um die Sonne in den Schatten zu stellen.

Sie raubte ihm schier den Atem.

Jase blieb neben ihm stehen und schlug ihm mit solcher Wucht auf die Schulter, dass jeder andere eingeknickt wäre.

„Jetzt weißt du es. Brook Lynn hat an ihrer Stelle Jessie Kay geschickt. Ich habe gehofft, wir wären schneller hier, dann hättest du nicht mal mitbekommen, dass sie da ist. Tut mir leid.“

Tja. Jetzt ergab der kleine Ausbruch nach Brook Lynns Textnachricht natürlich einen Sinn.

Beck ging zielstrebig an ihnen vorbei. Wie immer, wenn seine Verlobte in der Nähe war, verwandelte er sich in eine extrem besitzergreifende Mischung aus Mann und Tier. Jedem Kerl in Harlows Nähe warf er mörderische Blicke zu. Sie gehört mir, und ich töte lieber, als zu teilen.

Harlow stieß einen Jubelschrei aus, so freute sie sich, ihn zu sehen. Jessie Kay erstarrte und drehte sich langsam zur Tür um, als bräuchte sie noch einen Moment, um sich innerlich auf das unweigerlich Folgende vorzubereiten. Ihr Blick traf seinen und … Von einer Sekunde auf die andere schien die Welt um ihn herum nicht mehr zu existieren. Verlangen breitete sich in ihm aus. Die Spannung zwischen ihnen war fast mit Händen greifbar, die Luft sprühte förmlich Funken. Das Atmen fiel ihm schwer – als es ihm endlich gelang, wieder Luft zu holen.

Wie schaffte sie das? Wie konnte sie ihn so leicht verführen und um den Finger wickeln? Und das mit nur einem einzigen Blick?

Eine Droge. Sie ist eine Droge.

Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Nur Kokain hatte sonst diese Wirkung auf ihn.

In diesem Moment war es ihm egal, was genau sie war. Verwandeln …

Meins. Ich will.

Eine Gruppe von Leuten kam durch die Tür herein, und jemand rempelte ihn an. Als er ins Taumeln geriet und sich gerade noch auf den Beinen halten konnte, hörte das, was auch immer zwischen ihm und Jessie Kay gewesen war, abrupt auf.

Wut verdrängte die Faszination, und er stieß einen Fluch in Richtung des Typs aus, der ihn angestoßen hatte. Einen Fluch, den er dann gegen sich selbst richtete.

„Tut mir leid, tut mir leid“, rief der Kerl und ging weiter.

West sah wieder zu Jessie Kay. Er konnte nicht anders, auch wenn er sich dafür hasste. Inzwischen war sie jedoch am Imbissstand angekommen und wandte ihre schwarze Magie nun bei dem pickeligen Teenager hinter dem Tresen an.

West biss die Zähne zusammen und ging in die Umkleidekabine, um seine Tasche zu verstauen.

„… hast du die Blonde gesehen?“, fragte ein Mann gerade.

Es war der Typ, der ihn angerempelt hatte. Nachdem der Kerl seinen Mantel ausgezogen hatte, konnte West das schwarzrot gestreifte Shirt sehen, auf dessen Rückseite Ball Busters stand.

„Die mit den Cowboystiefeln? Mann. Wie hätte ich die übersehen sollen?“, erwiderte ein anderes Mitglied der Ball Busters. „Die Titten sind einmalig.“

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte West die Umkleidekabine durchquert, stand nun vor dem Typ und hatte die Hand an den Hals des Kerls gelegt. Er kochte vor Zorn und seine Worte wirkten wie Peitschenhiebe. „Du Arschloch.“ Er drängte den Mann gegen die Spindreihe. „Sprich nie wieder so über sie. Nie mehr.“

Die braunen Augen des Mannes traten hervor, als West ihm die Luft abdrückte.

„Tut ihm leid, Mann. Uns tut es leid“, beeilte sich sein Freund zu sagen. „Wir wussten nicht, dass sie deine Freundin ist. Lass ihn los, ja?“

„Lass ihn los“, wiederholte Jase, der jetzt neben ihm stand. „Einem Idioten das Leben zu nehmen, steht heute nicht auf deinem Terminplan.“

West wurde bewusst, dass er keuchte, als hätte er ein paar Stunden lang den Ball übers Feld gedribbelt. Jeden Augenblick würde er die Beherrschung verlieren, dann gäbe es kein Halten mehr, bis es zu spät wäre.

Ich darf das nicht zulassen. Nicht, wenn Jase dabei ist.

West drückte den Hals des Mannes noch einmal zu, bevor er die Hand löste und einen Schritt zurücktrat. Die beiden Männer rannten aus der Umkleidekabine, als würden sie in Flammen stehen. Raubtierinstinkte kamen in ihm hoch, der Wunsch, ihnen hinterherzujagen, war beinahe überwältigend.

„Ich weiß, dass du Jessie Kay willst“, sagte Jase leise. „Ich weiß, dass du dir wünschst, es wäre nicht so. Du musst mit ihr ausgehen oder sie vergessen, denn so kannst du nicht weitermachen. Das habe ich inzwischen begriffen.“

Er selbst hatte es auch begriffen, doch er konnte weder mit ihr ausgehen noch würde er sie jemals einfach vergessen können.

Trotzdem sagte er: „Ich reiße mich zusammen und komme darüber hinweg.“ Worte der Besserung. In diesem Fall einhundertprozentig wahr. „Du hast mein Wort.“

Dieses Verhalten war nicht gut für ihn, und es sah ihm gar nicht ähnlich. Er war derjenige, der immer alles genau durchdachte, der vom Anfang bis zum Ende alles plante, bevor er handelte. Doch es lag an ihr – an Jessie Kay. Sie war für diesen ungewöhnlichen Ausbruch verantwortlich. Nachdem er sie monatelang angeschaut hatte, sich mit ihr gestritten hatte und von ihr geträumt hatte, ohne sie tatsächlich zu berühren, war die äußerlich ruhige Schale, die er sich zugelegt hatte, als er bei seiner Mom lebte, zerbrochen.

Er erinnerte sich genau an den Tag, als er lernte, dass es besser war, seine Gefühle zu verbergen, statt sie mit jemandem zu teilen. Er hatte den entsetzlichen Fehler begangen, seiner Mom von Sam zu erzählen, und sie hatte daraufhin tagelang geweint und noch mehr Drogen konsumiert als sonst, bis sie sich irgendwann die Überdosis injizierte. Damals war er fünf Jahre alt gewesen, und er hatte versucht, eine Herz-Lungen-Reanimation durchzuführen. Er hatte es im Fernsehen gesehen – leider hatte er es nicht richtig verstanden, wie sich herausstellte. Als die Wiederbelebung misslang, hatte er an die Tür des Nachbarn geklopft und um Hilfe gebeten.

Der Nachbar hatte ihm geholfen. Er hatte den Notruf gewählt und das Jugendamt informiert. West war zum ersten Mal weggebracht worden.

„Wir können uns keinen Ärger mit dem Gesetz erlauben“, ermahnte Jase ihn. „Vor allem nicht solchen Ärger.“

„Ich weiß. Mach dir keine Sorgen um mich. Ernsthaft.“ West ballte die Hände zu Fäusten. „Ich bin nur voller Adrenalin wegen des Spiels.“

Man konnte an Jases Gesicht ablesen, dass er ihm nicht glaubte, doch er sagte: „Vielleicht solltest du eine kleine Auszeit nehmen und die erste Halbzeit auf der Bank verbringen.“

„Eher würde ich eine Handvoll Nägel schlucken. Der Platz ist der einzige Ort, an dem ich legal Dampf ablassen kann.“

„Achte nur darauf, dass diejenigen, an denen du Dampf ablässt, nicht auf der Bahre vom Platz getragen werden müssen.“

Die Titten sind einmalig.

West lachte freudlos. „Das kann ich nicht versprechen.“

3. Kapitel

Jessie Kay saß auf der Tribüne und war peinlicherweise tief beeindruckt. West war ein Krieger, und der Platz war sein Schlachtfeld, sein Körper seine Waffe. Und was für eine Waffe das war.

Er besaß den Ball. Wenn jemand anders ihn hatte, holte er ihn sich. Wenn er ihn hatte und jemand versuchte, ihm den Ball abzunehmen, stieß er denjenigen mit voller Wucht um. Er verteilte Beleidigungen und zusätzlich Stöße mit den Ellbogen und den Knien im Überfluss.

Morgen würden sich die Mitglieder von Team Ball Busters fühlen, als wären sie in einen Tornado der Stärke F5 geraten und wieder ausgespuckt worden. Garantiert.

Es war … sexy. West war sexy.

Jessie Kays Blick blieb auf ihn gerichtet. Schweißperlen glitzerten auf seiner bronzefarbenen Haut, und Blut quoll aus einigen Platzwunden, die er sich zugezogen hatte. Die Verletzungen machten ihn nur noch anziehender. Sie wollte ihm die Schmerzen fortküssen. Mit Zunge.

Verflucht. Für ihre Zukunft als „gutes Mädchen“ sah es düster aus.

Er stieß wieder jemanden gegen die Hallenwand. Es gab ein hässliches Geräusch. Jessie Kay seufzte verträumt.

Harlow keuchte erschrocken. „Da brat mir doch einer einen Storch. Dieser Sport ist brutal. Da zieht sich mir innerlich alles zusammen.“

„Vor Freude, oder?“ Brutal war toll.

„Würde ich in dem Fall eine Kotztüte brauchen?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Tja, dann wohl nicht vor Freude. Beck hat eine gewalttätige Vergangenheit. Ich mache mir Sorgen, dass diese Aggression zu Flashbacks und Albträumen führt.“

Jessie Kay wusste, dass Beck genau wie West und Jase in verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen war und dass nicht alle Pflegefamilien für die drei Jungen eine sichere Zuflucht gewesen waren. „Beck sieht auf dem Platz nicht aus, als würde er leiden, Süße. Er sieht vielmehr aus, als wäre er glücklich und aufgeregt – wie ein Bulle mit Euter.“

Harlow verdrehte die Augen. „Ein Bulle würde sich nicht über ein Euter freuen.“

„Woher willst du das wissen? Ein Typ mit Brüsten wäre außer sich vor Freude. Wie auch immer. Du hast Becks Vergangenheit angesprochen. Was weißt du über Wests Vergangenheit?“ Unauffällig, Jessie Kay, unauffällig.

„Genauso viel wie du, würde ich meinen. Und das heißt, nicht besonders viel.“

Mist.

Ihr Handy vibrierte, und sie sah aufs Display.

Sunny: Hab gerade gehört, dass heute die Party des Jahrhunderts stattfindet. Bock??

Sie musste nicht lange über die Antwort nachdenken.

Sie: Nein danke, aber erzähl mir morgen früh davon.

Sunny: Mann, du weißt, dass ich mich da wahrscheinlich an nichts mehr erinnern kann, oder??

Ja. Und das war eins der größeren Probleme für Jessie Kay. Sie hasste es, sich an die Dinge zu erinnern, die sie getan hatte, doch sie hasste es noch mehr, sich nicht daran erinnern zu können.

„Also, was hältst du von ihm?“, fragte sie Harlow. „Von West, meine ich.“

Harlow blickte sie eindringlich an. „Na ja, er ist ein charmanter Kerl, oder? Warum?“

Jessie Kay ging nicht auf die Frage ein. „Natürlich hältst du ihn für charmant. Zu dir ist er ja auch nett.“

„Das ist er. Deshalb glaube ich wahrscheinlich auch, dass er klug, ehrgeizig und geistreich ist. Und gut aussehend. Und stark. Ich liebe seine Hingabe an Beck und Jase.“

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