Damals und für immer

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Wieder daheim! Maggie spürt, wie ihr das Herz in der Weite Montanas aufgeht. Die endlosen Weiden, die rauschenden Flüsse, der Geruch nach frisch gemähtem Gras - all das zeigt ihr, dass es richtig war, hierher zu ziehen. Mit Feuereifer stürzt sie sich in den Umbau der alten Postkutschen-Station zu einem kuschligen Bed & Breakfast. Und sie genießt es, endlich Zeit mit ihrer Familie und Freunden aus Kindertagen zu verbringen. Nur um einen macht sie einen großen Bogen: J.T. Wainwright, ihre erste Liebe. Damals hatte sie gedacht, dass sie füreinander bestimmt wären. Doch J.T. ließ sie einfach sitzen! Aber ist es wirklich Zufall, dass sie gleichzeitig an den Ort ihrer gemeinsamen Vergangenheit zurückgekehrt sind? Oder ist es Schicksal?

Pures Lesevergnügen vom Anfang bis zum Ende … Meisterhaft gelingt es Miller, originelle Geschichten zu entwickeln und zauberhafte Figuren zu erschaffen."

Rendezvous


  • Erscheinungstag 18.07.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495649
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Maggie stopfte die Stiele eines dicken weißen Fliederstraußes in den großen Krug, der eine ganze Gallone fasste. Er stand auf dem Küchentresen des Gästehauses ihrer Eltern. Sie war so energisch dabei, dass etwas von dem Blumenwasser überschwappte.

„J.T. Wainwright“, sagte sie und fuhr mit jener Bestimmtheit fort, die der Familie McCaffrey eigen war, zu der sie sich aber auch dank reichlich eigener Erfahrung berechtigt fühlte, „J.T. Wainwright ist ein Fall für eine Selbsthilfegruppe, die es noch nicht gibt. Ich versuche gerade, mir eine neue Existenz aufzubauen und mein eigenes Leben zu leben. Da kann ich solchen Stress nicht gebrauchen.“

Daphne Hargreaves Evanston hörte ihr verschmitzt lächelnd zu und beobachtete, wie Maggie das verschüttete Wasser mit einem Schwamm aufwischte. Sie war Maggies beste Freundin, seit sie beide in Miss Filberts Vorschulklasse die Schulbank gedrückt hatten. Daphne war frisch verheiratet, schwebte auf Wolke sieben und würde am liebsten auch all ihre Freundinnen in diesem Zustand der Seligkeit sehen.

„Ach, komm schon, Mags!“, widersprach sie gut gelaunt, „J.T. war vielleicht als Kind ein bisschen wild. Aber er ist ein Cop geworden, also hat er sich wohl zusammengerissen.“

Maggie weigerte sich, darauf etwas zu erwidern. Doch Daphne konnte genauso stur sein und forderte sie mit einem spöttischen Lächeln heraus.

Beinahe widerwillig ließ sich Maggie doch zu einer Antwort bewegen. „Er war ein Cop.“ Sie gab sich einen leichten Ruck. „Und überhaupt: Seit wann ist es ein Zeichen dafür, dass man sich weiterentwickelt hat, bloß weil man Detective in einer Großstadt ist?“

„Tss, tss.“ Daphne schüttelte den Kopf. „Je heftiger du dich wehrst, desto mehr verrätst du dich, werte Freundin“, meinte sie und verschränkte die Arme. „J.T. wurde im Dienst von einer Kugel getroffen. Er muss folglich in seinem Job aufgegangen sein, wenn er sich dem ausgesetzt hat.“

Maggie überlief ein Schaudern. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie J.T. angeschossen wurde – oder sonst irgendjemand, fügte sie rasch in Gedanken hinzu. Sich dieses tödliche Szenario auszumalen, hatte ihr in den letzten sechs Monaten, seit sich der Vorfall weit weg in einem New Yorker Lagerhaus ereignet hatte, oft genug den Schlaf geraubt. Und das, obwohl ihr Kontakt zu J.T. schon viel länger abgebrochen war.

„Es muss schrecklich gewesen sein“, sagte Daphne nachdenklich, als hätte sie wie so oft die Gedanken ihrer Freundin gelesen. Maggie glaubte manchmal, zwischen ihnen bestände eine Art telepathische Verbindung. Sie waren bekannt dafür, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Städten shoppen gehen konnten und dann mit dem identischen Paar Schuhe nach Hause kamen. „Diese Schmerzen und all das Blut! Und dann ist noch sein Partner dabei gestorben. Erschossen, so wie sein Vater. Wie soll jemand das aushalten? Da ist es kein Wunder, dass er seine Dienstmarke abgegeben hat.“

Maggie stellte den Flieder in die Mitte des runden Eichentischs, der einst ihrer Großmutter gehört hatte. Ein Spitzendeckchen dämpfte das Geräusch, mit dem sie den Krug absetzte. J.T. fing fast an, ihr leidzutun, doch das durfte sie nicht zulassen.

„Ja, das ist die offizielle Version der Geschichte“, erwiderte sie leichthin. „Ich meine davon, dass er seine Marke abgegeben hat. Doch einige behaupten auch, dass J.T. den Dienst quittiert hätte, um seiner Entlassung zuvorzukommen. Das weißt du so gut wie ich.“

Daphne seufzte und sagte beinahe schon ein wenig unwirsch: „Das glaubst du doch selbst nicht.“

„J.T. hat so eine Art …“ Maggie merkte, dass sie in die Defensive geriet, was sie allerdings um nichts in der Welt einräumen wollte. „Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie er seinen Onkel mit bloßen Fäusten fast totgeschlagen hätte? Dafür wäre er um ein Haar im Gefängnis gelandet.“

Daphne verzog das Gesicht. „Na klar weiß ich das noch. Aber“, wandte sie sogleich ein, „du erinnerst dich vielleicht, dass Clive Jenson unmittelbar davor seine Frau, J.T.s Tante, verprügelt und die Kellertreppe hinuntergestoßen und dabei schwer verletzt hatte.“

Maggie rückte die Fliederzweige zurecht. „Gewalt ist keine Rechtfertigung für noch mehr Gewalt. Das hast du vorhin selbst gesagt.“

Einen kurzen Moment herrschte Schweigen. „Du bist immer noch interessiert“, sagte Daphne ihrer Freundin auf den Kopf zu. Ihre silbergrauen Augen blitzten dabei vor Vergnügen. Dann nahm ihr Blick einen verträumten Ausdruck an, und sie seufzte erneut. „Das war so romantisch, wie er damals plötzlich bei deiner Hochzeit aufgetaucht ist!“

Noch immer zupfte Maggie am Flieder herum. „Du hast doch einen Knall! Das war nicht romantisch, das war schlichtweg grauenhaft.“ Sie senkte für einen Moment die Lider, und die Erinnerung an jenen Tag im Spätfrühling tauchte höchstlebendig vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah sich selbst in einem schlichten weißen Kleid neben Connor, der gleich ihr Ehemann werden sollte, auf den Stufen des Gartenpavillons stehen. Fast konnte sie sogar den lieblichen Duft der rosafarbenen Rosen ihres Brautstraußes riechen, und sie vernahm wieder die Stimme des Geistlichen, so deutlich, als würde er jetzt mit ihr und Daphne reden …

„Hat jemand unter den Anwesenden einen berechtigten Einwand gegen diese Verbindung vorzubringen? So möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen …“

Wie aufs Stichwort hörte man in dieser Sekunde einen klapprigen Pick-up mit quietschenden Reifen die Auffahrt hinaufkommen, sodass Braut, Bräutigam und sämtliche Gäste aufgeschreckt wurden. Ohne den röhrenden Motor abzustellen, sprang J.T. aus seiner Rostlaube, ließ die Fahrertür offen, aus der irgendein sentimentaler Countrysong plärrte, sprang über den Lattenzaun und rannte den mit Blütenblättern bestreuten Mittelgang hinauf. Er trug eine Jeans, abgewetzte Stiefel und ein altes schwarzes T-Shirt. Sein rabenschwarzes Haar glänzte in der Sonne. Maggie, in ihrem Brautkleid aus Spitze und Seide, sah J.T. auf sich zukommen, unfähig, ein Wort herauszubringen, während Connor die Fäuste ballte.

Angesichts dessen, dass J.T. derjenige gewesen war, der ein Jahr zuvor während der Weihnachtsferien ihre stürmische Beziehung beendet hatte, war er nun wirklich der Letzte, den Maggie hier erwartet hätte. Schon gar nicht an ihrem Hochzeitstag.

Über ein Jahr zuvor hatte sie ihm zu Weihnachten einen blauen Pullover geschenkt, und was sie zurückbekam, war ein gebrochenes Herz. Fassungslos und verletzt hatte sie angefangen, sich mit Connor zu treffen, kaum dass sie wider am College war. Sie hatten eine Menge gemeinsam, einen ähnlichen Musik- und Kunstgeschmack, dieselben politischen und religiösen Anschauungen. Und: Connor war intelligent und attraktiv und hatte eine brillante Karriere vor sich. J.T. hingegen war hitzköpfig und oftmals mit sich selbst beschäftigt; alles deutete darauf hin, dass er sein Leben lang ein Einzelgänger bleiben würde. Mehr als einmal war er mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und ein Teil von ihm, ein dunkler Teil, blieb allen anderen verschlossen – Maggie inklusive. Sie vermutete, dass es allein die Leidenschaft war, die sie wirklich miteinander verband, großartiger, wilder Sex, gefolgt von lautstarkem Streit oder mürrischem Schweigen.

Nach der ersten Schockstarre erhoben sich die Hochzeitsgäste von ihren Klappstühlen, und es entstand ein allgemeines Gemurmel. Maggies Brüder Simon und Wes näherten sich J.T. von beiden Seiten. Simon, dunkelhaarig und kräftig gebaut, machte gerade seine Facharztausbildung in derselben Chicagoer Klinik, in der Connor seine Stelle als Assistenzarzt antreten würde, während der blonde Wes gerade mit seinem Studium, Hauptfach Grundschulpädagogik, an der Montana State angefangen hatte. Beide machten in ihren Smokings eine blendende Figur. Auch Reece McCaffrey, das Familienoberhaupt des Clans, war aufgestanden. Allerdings drückte der Blick, mit dem er J.T. anschaute, mehr Mitleid als Verärgerung aus.

„Das kannst du nicht tun, Maggie“, stieß J.T. mit rauer Stimme hervor, nachdem Simon und Wes schon auf ihn zumarschiert waren. Von beiden Seiten packten sie ihn am Arm, aber mit einer heftigen Bewegung schüttelte er sie ab. Seine dunklen Augen funkelten, als ob ein Feuer darin brannte, das Maggie das Herz zu versengen schien. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. „Du weißt verdammt genau, dass das falsch ist.“

Maggie hatte es komplett die Sprache verschlagen. In ihrem Innern tobte förmlich ein Orkan, ihr Blick war von Tränen getrübt.

„J.T., Kumpel, komm“, sagte Wes ruhig. Wie immer war er es, der einen kühlen Kopf bewahrte und versuchte zu vermitteln. „Das willst du doch nun wirklich nicht.“

„Ist er betrunken?“, presste Connor gereizt hervor. Er war ein paar Jahre älter als Maggie, hatte braune Augen und hellbraunes Haar, das schon begann, ein wenig schütter zu werden. Und er hatte nicht die leiseste Spur von Humor, was Maggie allerdings erst später richtig bewusst wurde.

Doch J.T. war stocknüchtern. Maggie brauchte ihm nur in die Augen zu schauen, um sich davon zu überzeugen. Er hatte sich also eines anderen besonnen, was sie betraf – was sie beide betraf. Ein bisschen spät, oder? Wieder überkam Maggie der Schmerz mit voller Wucht. Was hatte sie diesem Mann nachgeweint! Ihr Liebeskummer hatte dermaßen in ihr gewütet, dass sie schon fürchtete, nie über ihn hinwegzukommen. Und jetzt kreuzte er auf, einfach so, aus dem Nichts. Wo war er gewesen, als sie ihn so dringend brauchte?

Nun, zu guter Letzt war sie doch wieder zur Vernunft gekommen. Sie war darüber hinweg – größtenteils jedenfalls. Sie hatte sich ein neues Gerüst für ihre Träume gebaut. Ihr Kurs stand fest, ihre Zukunft war ausgeschildert. Fertig. Als Mrs. Connor Bartholomew würde sie nach Chicago zurückkehren. Sie hatte vor, ihr Diplom an der Northwestern University zu machen, nach dem Abschluss einen interessanten Job an Land zu ziehen und ein neues Leben zu beginnen. Wenn Connor dann seine Facharztausbildung fertig hatte, könnten sie sich ein kleines Haus irgendwo am Stadtrand kaufen und eine Familie gründen.

Ja, sie hatte wunderbare Pläne …

Fassungslos starrte sie J.T. an und schüttelte ganz langsam den Kopf, noch immer unfähig, ein Wort zu sagen.

J.T. strich mit der Hand durch sein leicht zerzaustes Haar. „Ich habe einen Fehler begangen, Maggie“, erklärte er. Seine Stimme war plötzlich leise geworden, und man hörte ihr an, wie bewegt er war. „Einen schlimmen Fehler. Mach es nicht noch schlimmer, indem du davor davonläufst, was wir einst waren und was wir hatten.“

„Verschwinde!“, stieß Connor hervor; es schien, als wollte er sich auf J.T. stürzen. Aus gutem Hause, wohlbehütet aufgewachsen und immer peinlichst darauf bedacht, sich nie die Hände schmutzig zu machen, hatte Connor allerdings nicht die Spur einer Chance gegen den Bad Boy von Springwater. Maggie hielt ihn am Arm fest.

Dabei blickte sie J.T. scharf an. „Es ist vorbei“, brachte sie endlich heraus. Damit kehrte sie ihm den Rücken, ein für alle Mal, um sich der Zukunft zuzuwenden, die, davon war sie überzeugt, der richtige Weg für sie war.

Wie man sich doch irren kann.

Daphne schnipste mit dem Finger, um Maggie wieder in die Gegenwart zurückzuholen. „Mags?“

Maggie schnitt eine Grimasse, doch ihre Mundwinkel umspielte ein Lächeln. Sie hatte Daphne vermisst. Sie hatte auch Springwater vermisst. Und, auch wenn sie es um keinen Preis zugeben würde, selbst ihrer besten Freundin gegenüber nicht, ja, nicht einmal sich selbst, hatte sie auch J.T. Wainwright vermisst. Es haben eben auch die stärksten Charaktere ihre Schwächen.

„Früher oder später wirst du dich ihm doch stellen müssen“, bemerkte Daphne, während sie einen Blick in den Kühlschrank warf. Sie holte eine Karaffe mit Eistee heraus, in der frische Eiswürfel leise klirrten, und suchte anschließend im Küchenschrank nach Gläsern. „Springwater ist nun mal eine Kleinstadt. Du wirst es nicht schaffen, J.T. für alle Zeiten aus dem Weg zu gehen.“

Maggie schob einen Stuhl vom Tisch weg und setzte sich. „Warum musste er nur zurückkommen?“ Das war keine Frage, auf die sie eine Antwort erwartete. J.T. war Detective beim NYPD gewesen, jüngst aber wieder nach Montana gezogen, um die Ranch zu übernehmen, die seit Generationen im Familienbesitz der Wainwrights war. Die Rindfleischpreise waren zwar im Keller, das Elternhaus war im schlechten Zustand, und überdies wurden die Rancher des ganzen Bezirks immer häufiger von Viehdieben und mutwilligen Sachbeschädigungen geplagt. Aber J.T. ließ sich davon nicht abschrecken. Auch das sah ihm ähnlich. Er plante nicht groß im Voraus oder holte Expertenmeinungen ein. Er wagte einfach den Sprung ins kalte Wasser, arbeitete hart, improvisierte, wo es nicht anders ging, und nahm ansonsten die Dinge, wie sie kamen. Für die bis zur Detailversessenheit zielgerichtete Maggie glich solch ein Konzept der Fahrt auf einer außer Kontrolle geratenen Achterbahn.

Daphne schenkte sich einen Eistee ein und füllte auf Maggies Nicken hin auch das andere Glas. Danach antwortete sie doch auf Maggies rhetorisch gemeinte Frage. „Ich denke, J.T. ist aus demselben Grund zurückgekommen wie du. Springwater ist sein Zuhause. Hier hat er seine Wurzeln.“

„Zuhause“, wiederholte Maggie ein wenig wehmütig. Für sie bedeutete dieser Begriff weit mehr als nur das wunderbare alte Haus am anderen Ende des langen Kieswegs, in dem sie und ihre Brüder aufgewachsen waren. Für sie gehörten auch Reece und Kathleen McCaffrey, ihre Mom und ihr Dad, dazu. Aber nach annähernd vierzig Jahren Ehe, nach drei Kindern und fünf Enkelkindern – das nächste war schon unterwegs –, schliefen die beiden nun in getrennten Schlafzimmern, und wenn sie überhaupt miteinander sprachen, dann nur noch, um zu streiten.

Maggie war geschockt über den Graben, der sich zwischen ihren Eltern aufgetan hatte. Und obwohl ihr klar war, dass es nicht nur unmöglich, sondern auch völlig unangebracht wäre einzugreifen, spürte sie den verzweifelten Wunsch, das Problem aus der Welt zu schaffen.

Daphne nahm ebenfalls Platz und fasste über den Tisch, um die Hand ihrer Freundin liebevoll zu drücken. Ihre Finger waren kühl und feucht von dem Glas, das sie vorher gehalten hatte. „Zuhause“, nahm sie das Stichwort in warmem Ton wieder auf. „Dein Zuhause ist dir doch geblieben, also guck nicht so unglücklich. Du wirst sehen, alles wird gut.“

Maggie versuchte zu lächeln, griff nach ihrem Glas und stieß mit Daphne an. „Danke“, sagte sie, bevor sie am Eistee nippte.

„J.T. sieht gut aus“, bemerkte Daphne kurz darauf. Sie gehörte nicht zu denen, die sich mit weitschweifigen Überleitungen aufhielten. „Richtig gut. Verdammt, was für ein scharfer Typ!“

Maggie verdrehte die Augen. „Ist das die Art, in der eine treu ergebene Ehefrau über fremde Männer sprechen sollte?“, tadelte sie scherzhaft. „Was würde Ben wohl dazu sagen?“ Ben Evanston, Daphnes attraktiver Gatte, war Bergbauingenieur. Daphne hatte ihn kennengelernt, als Bens Firma den Auftrag übernommen hatte, die alte Silbermine Jupiter and Zeus wieder in Betrieb zu nehmen, die zu Daphnes Erbe gehörte. Wenig später hatten sie geheiratet und setzten seitdem alles daran, ihr erstes Kind zu kriegen, bisher allerdings ohne Erfolg.

Mit einem perfekt manikürten Finger strich Daphne über den Rand ihres Glases und senkte den Blick. In diesem Moment ähnelte sie mit ihrem dunklen, hochgesteckten Haar dem Porträt ihrer Vorfahrin Rachel English Hargreaves noch mehr als sonst. Maggie blickte in ihr eigenes jungenhaftes Spiegelbild in den blank geputzten Glasscheiben der Vitrine an der gegenüberliegenden Wand. Sie war dreißig Jahre alt, trug ihr braunes Haar kurz geschnitten und hatte große blaue Augen. Außerhalb von Springwater wurde sie selbst jetzt noch nach ihrem Ausweis gefragt, wenn sie sich ein Glas Wein zum Essen bestellte. Seufzend dachte Maggie daran.

Lächelnd sah Daphne hoch. „Ein edles Exemplar von Mann erkenne ich noch immer auf den ersten Blick. Und ich weiß es auch zu schätzen, wenn ich eines sehe.“

Maggie lachte. „Du bist unmöglich!“ Es war gut, wieder zu Hause zu sein und mit der besten Freundin zusammenzusitzen und Eistee zu trinken. Es war noch keinen Monat her, dass Maggie nach Springwater zurückgekehrt war, nachdem sie ihre Wohnung in Chicago verkauft und ihren einträglichen Job als Hotelmanagerin aufgegeben hatte. Sie hatte sich für ein anderes Leben entschieden: Sie wollte ihren alten Traum verwirklichen und die alte Postkutschenstation ihrer Heimatstadt, die Springwater Station, in ein Bed and Breakfast verwandeln. Der Schritt war längst überfällig; nach dem Scheitern ihrer Ehe war sie auf der Stelle getreten. Trotzdem musste sie sich erst einmal an den Umbruch gewöhnen. Die plötzliche Ankunft von J.T. in Springwater hatte sie vollkommen überrumpelt.

Daphne musterte den Brillantring, den sie trug, und zog die Stirn ein wenig kraus, als sich das Licht der Nachmittagssonne darin brach.

„Was ist los, Süße?“, erkundigte sich Maggie besorgt, weil Daphne so ein bekümmertes Gesicht machte.

„Nichts. Ich … Ach, eigentlich wollte ich um diese Zeit schon längst schwanger sein.“

Maggie wusste längst, dass sich ihre Freundin ein Haus voller Kinder wünschte. Schon als kleines Mädchen hatte Daphne nur mit Puppen gespielt. „Lass dir Zeit, Daph! So lange bist du ja noch nicht verheiratet.“

Daphne blickte auf, nickte und lächelte tapfer. „Stimmt.“ Trotzdem trübte der Kummer noch ihren Blick.

„Mit dir und Ben ist doch alles in Ordnung, oder?“ Nach ihrer gescheiterten Ehe fühlte Maggie sich nicht gerade zur Expertin in Liebesdingen berufen, aber die Sorge um ihre Freundin ließ sie dennoch nachfragen. Daphne hatte beide Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren, als Maggie und sie noch das College besuchten. Ben war also die einzige Familie, die sie hatte.

„Es ist alles in Ordnung“, versuchte Daphne, Maggies Besorgnis zu zerstreuen, schaute dabei aber an ihr vorbei. Unmittelbar darauf fügte sie hinzu: „Hast du dir eigentlich jemals ein Kind von Connor gewünscht?“ Vielleicht fragte sie das auch nur, damit kein angespanntes Schweigen zwischen ihnen herrschte.

Maggie stupste die Blüten mit dem Finger an und entlockte dem Flieder so seinen herrlichen Duft. Connor und seine neue Frau Janice hatten gerade ein Baby bekommen, einen kleinen Jungen. Und obwohl Maggie ihrer Ehe nicht hinterhertrauerte, konnte sie das Gefühl, betrogen worden zu sein, nicht loswerden. Sie war acht Jahre lang mit Connor zusammen gewesen, doch ihr Wunsch, eine Familie zu gründen, war immer wieder auf die lange Bank geschoben worden – angeblich hatten sie nicht genug Zeit, nicht genug Geld, nicht genug weiß Gott noch was gehabt. Janice hingegen musste schon in den Flitterwochen schwanger geworden sein.

„Es ist sicherlich ganz gut, dass es nicht dazu gekommen ist“, murmelte Maggie.

„Das hab ich nicht gefragt“, wandte Daphne ein.

Maggie fühlte sich in die Enge getrieben und zuckte mit den Achseln. „Schon gut, schon gut! Ja, ich hätte liebend gern ein Kind gehabt. Aber heute bin ich froh, dass ich keines zusammen mit Connor habe.“

Im dunkelsten, verborgensten Winkel ihres Herzens, den sie niemandem, nicht einmal ihrer besten Freundin offenbarte, hegte sie noch einen ganz anderen Wunsch: dass sie nämlich an jenem lange zurückliegenden, sonnigen Tag Connor vor dem Altar hätte stehen lassen, um mit J.T. in den klapprigen Pick-up zu steigen und mit ihm davonzubrausen. Sie wusste natürlich nicht, wie J.T. darauf reagiert hätte, aber es bestand kein Zweifel daran, dass Connor und sie damit wesentlich besser gefahren wären. Ihre Ehe war vom ersten Augenblick an ein Fehler gewesen, auch wenn sie sich beide redlich Mühe gegeben hatten, das Beste daraus zu machen.

„Ist dir eigentlich klar, dass jede aus unserer Abschlussklasse – aber auch wirklich jede mit Ausnahme von uns beiden – inzwischen Mutter geworden ist?“ Daphnes vermeintlich scherzhafter Ton klang ein wenig angestrengt. „Selbst Virginia Abbott.“

„Wir waren ja auch nur zu sechst“, wehrte Maggie ab, konnte jedoch trotz ihres einleuchtenden Einwandes nicht verhindern, dass Daphnes Hinweis ihr einen leichten Stich versetzte. Okay, sie hatte den falschen Mann geheiratet. Und anstelle von Kindern lag nebenan im Wohnzimmer Sadie, eine verwöhnte Beagle-Dame, die in diesem Moment auf einem Läufer alle viere nach oben streckte und schnarchte. Im Großen und Ganzen hatte Maggie ihr Leben aber doch ganz ordentlich gemeistert: gute College-Abschlüsse, danach anständige Jobs mit Gewinnbeteiligung und einer mehr als üppig bemessenen Betriebsrente. Sie war intelligent, begeisterungsfähig und selbstbewusst, erfreute sich guter Gesundheit und hatte Familie und zahlreiche Freunde. Kurz gesagt: Eigentlich fehlte ihr nichts zum Glück. Und dennoch gab es Nächte, in denen sie wach lag, an die Decke starrte und sich fühlte, als hätte sie die letzte Fähre verpasst, die sie hätte ins Paradies bringen können.

„Virginia Abbott!“, wiederholte Daphne mit einer Mischung aus Verwunderung und Abscheu. „Gütiger Gott! Kam aus einer Besserungsanstalt und hatte den schlimmsten Fall von Akne, den die Welt je gesehen hatte. Und trotzdem hat sie heute einen liebevollen Ehemann und kutschiert ihre vier Kinder in einem Minivan herum.“

Maggie richtete sich auf eine längere Tirade ein. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und trank noch einen Schluck Eistee.

„Dann haben wir noch Polly Herrick“, fuhr Daphne fort. „Stell dir vor: Heute ist sie Vorsitzende der Elternvertretung.“

Maggie musste ein Schmunzeln unterdrücken.

Aber urplötzlich schien Daphne die Puste auszugehen. Sie machte eine etwas ratlose Geste, blickte auf ihre Uhr und stand auf. „Ich muss ja noch einkaufen! Ben will heute Abend grillen.“ Sie stellte ihr Glas in die Spüle. „Es gibt Steaks, und wir wollen uns Die besten Jahre unseres Lebens auf DVD ansehen. Willst du nicht rüberkommen?“

„Oha, das klingt ja kuschelig!“, spottete Maggie gutmütig. „Das junge Paar und die Nachbarin von der anderen Straßenseite. Darf ich auch meinen Hund mitbringen?“

Daphne lachte. Sie hatte darauf bestanden, Maggie in den Sommerferien bei der Renovierung der alten Postkutschenstation zu helfen. Mittlerweile hatte das Haus die Grundreinigung hinter sich – es war jahrelang leer gestanden –, und die beiden Freundinnen beschäftigten sich seit Tagen damit, all die Koffer, Kisten und Schachteln nach altem Leinenzeug und Antiquitäten durchzusehen, die dem Bed and Breakfast ein noch authentischeres Ambiente verleihen würden. „Dann bis morgen“, meinte Daphne. „Es bleibt dabei? Wir fahren zu dieser Nachlassversteigerung nach Maple Creek, nicht?“

Maggie nickte. „Ich hole dich um punkt sechs ab. Wir frühstücken dann unterwegs.“

Daphne verzog das Gesicht. Sie war definitiv keine Frühaufsteherin. „Punkt sechs?“, stieß sie stöhnend und wenig begeistert hervor. Wenn sie nicht unterrichten musste, liebte sie es, etwas länger zu schlafen. „Okay, bis dann.“

Nachdem sie gegangen war, erhob sich Sadie von ihrem Platz, streckte eine Pfote nach der anderen von sich, bevor sie in die Küche trottete, um einen Blick in ihren Futternapf zu werfen. Als sie von ihrem Frühstück nichts weiter vorfand als einen halben Hundekuchen, blickte sie aus ihren braunen Augen mit wehmütigem Blick zu ihrem Frauchen auf und gab ein verzagtes Winseln von sich.

Maggie war schon auf dem Weg zur winzigen Wäschekammer hinten im Cottage, wo das Trockenfutter lagerte. „Ist dir klar“, bemerkte sie, nachdem sie zurück war, „dass dieser Hundeblick zu Übergewicht führt und für einen Beagle sehr ungesund sein kann?“

Sadie hechelte und wedelte mit dem Schwanz. Ist mir doch egal, schien sie zu denken, Hauptsache, er funktioniert.

Leise lachend schüttelte Maggie den Kopf und servierte dem Hund ein frühes Abendessen. Während Sadie fraß, schlüpfte sie zur Hintertür hinaus und betrachtete von der Treppenstufe aus den Sonnenuntergang. Sie versank hinter dem Gartenpavillon, der fast vollständig von einer Kletterrose überwuchert war, bei der gerade die ersten Knospen sprossen. In dem leichten Abenddunst war es ein wunderschönes Bild, fast wie ein Thomas-Kinkade-Gemälde.

In den zehn Jahren seit ihrer Hochzeit war Maggie etliche Male zu den Feiertagen oder auf Kurzurlaub nach Springwater gekommen. Den Pavillon hatte sie dabei selten, wenn überhaupt, mit unangenehmen Erinnerungen verbunden. Aber jetzt, da Daphne auf dem Weg zu ihrem Heim und Ehemann war, musste sie immerzu an J.T. denken und bekam das Bild nicht aus dem Kopf, wie er an jenem Frühlingsnachmittag vor langer Zeit dort gestanden und sie und Connor angestarrt hatte. Er hatte eigentlich nicht wütend ausgesehen, eher ernst, bestürzt und – was das Schlimmste von allem war – verletzt.

„Es tut mir leid“, murmelte sie.

Dann drehte sie sich um und ging ins Haus zurück.

Die Ranch war in einem erbärmlichen Zustand. Scully und Evangeline Wainwright, die erste Generation seiner Familie, die sich in Springwater niedergelassen hatte, hatten sich vermutlich schon mehr als einmal im Grabe herumgedreht. Denn bestimmt hießen sie es nicht gut, dass J.T. dem Land seiner Vorfahren den Rücken gekehrt hatte, damit er im Big Apple Cop spielen konnte. J.T.s Tante Janeen war zu krank gewesen, um einen solch anspruchsvollen Betrieb zu unterhalten, und Clive Jenson, ihr Mann, taugte zu gar nichts. Er war einfach abgehauen und hatte Janeen, vom Krebs zerfressen, allein sterben lassen. J.T. hatte manchmal das Gefühl, dass auf den Wainwrights und ihrem Besitz ein Fluch lastete.

Im Vorübergehen zeigte J.T. auf die Scheune mit dem eingesunkenen Dach und den windschiefen Mauern. „Schau dir das an, Purvis!“, sagte er zu dem älteren Mann, der neben ihm herstapfte. „Ich würde dir ja gern helfen, wirklich. Aber ich habe einfach nicht die Zeit, noch einen anderen Job zu übernehmen.“

Purvis Digg war Jack Wainwrights bester Freund gewesen. Er hatte in Vietnam gedient. Anders als viele Veteranen hatte er keine posttraumatischen Schäden davongetragen, dafür war er optisch irgendwie in den Sechzigerjahren hängen geblieben. Er trug sein grau meliertes Haar lang und hielt es im Nacken mit einem Lederbändel zusammen; manchmal trug er auch ein Stirnband. Das Bild wurde abgerundet von seiner heiß geliebten Fransenjacke aus Wildleder, die er während Lyndon B. Johnsons Präsidentschaft im Secondhandladen gekauft hatte, Kampfstiefeln und einer Jeans, die auch schon bessere Tage gesehen hatte.

„Doch, du bist ein Cop“, widersprach er.

J.T. blieb stehen und legte die Hand auf den rostigen Riegel eines Gatters, das schief in den Angeln hing. „Ich war ein Cop“, korrigierte er.

„Einmal Cop, immer Cop“, konterte Purvis.

Langsam strich sich J.T. mit der Hand durch das dunkle Haar. Er hatte seinen Partner durch einen Dreckskerl verloren, der vermutlich in anderthalb Jahren wieder frei herumlief. J.T. hatte sich bei der Schießerei selbst eine Kugel eingefangen. Sicher, er hatte sich körperlich davon erholt – aber ob er je darüber hinwegkommen würde, dass Murphy neben ihm gestorben war, war eine andere Frage. Er hatte sich ja nicht mal anständig von ihm verabschieden können! Die Beerdigung hatte ein Kollege auf Video aufgezeichnet und ihm in seinem Krankenzimmer gezeigt – all die Ehrenbezeugungen, das tapfere, fassungslose Gesicht der Witwe und das hemmungslose Schluchzen der halbwüchsigen Tochter.

„Hör zu, Purvis …“

„Du vergehst vor Selbstmitleid, stimmt’s?“, unterbrach der ihn. Vom Hals herauf stieg ihm ein wenig die Röte ins Gesicht. Er wusste ebenso gut wie fast jeder sonst in und um Springwater, was vor sechs Monaten in jenem New Yorker Lagerhaus passiert war. „Nur zu deiner Erinnerung, mein Junge: Du bist nicht der Erste, der jemanden verloren hat, der ihm nahestand. Dein Dad war mein bester Freund. Wir haben zusammen Seite an Seite in Vietnam gekämpft, und er hat mir das Leben gerettet. Und eines schönen Tages schießt ihn irgendwer aus dem Sattel …“

Das war bitter. „Verdammt, Purvis!“, stieß J.T. hervor. „Das war unter der Gürtellinie. Selbstverständlich weiß ich das noch!“ Er ballte die Faust. „Ich erinnere mich sogar sehr gut daran. Ich habe deshalb noch immer Albträume.“ Abwechselnd mit denen, die ich wegen Murphy habe, fügte er in Gedanken hinzu.

Mitfühlend klopfte Purvis ihm auf die Schulter. „Geht mir genauso. Wie alt warst du, als Jack erschossen wurde? Vierzehn?“

„Dreizehn“, antwortete J.T. und wandte sich ab.

Sein Vater war an jenem Nachmittag von einem Ausritt zurückgekehrt, als die ersten Böen eines Sommergewitters aufkamen. Blut strömte an Reiter und Pferd nur so herunter; man konnte kaum unterscheiden, wo der Mann aufhörte und der Sattel begann. J.T., der gerade dabei war, mit einem Zweijährigen an der Longe zu arbeiten, kletterte über die Umzäunung und rannte zu seinem Vater. Der sank von seinem Hengst in derselben seltsam zeitlupenartigen Bewegung, in der Murphy im Lagerhaus niedergesunken war. Und wie Murphy schien Jack Wainwright sein Leben schon ausgehaucht zu haben, bevor er am Boden aufschlug. J.T. kniete neben ihm im Dreck und hielt ihn in den Armen, als Purvis im Streifenwagen anhielt und die Ambulanz rief; jemand aus der Nachbarschaft hatte einen Schuss gemeldet. Für J.T.s Dad kam jede Hilfe zu spät. Und irgendwie auch für J.T. selbst.

„Mag sein, dass das unter der Gürtellinie war“, räumte Purvis ein. „Doch ich habe das nicht bloß aus Jux und Tollerei aufgebracht. Fakt ist, dass es sich hier nicht um eine einmalige Sache gehandelt hat, J.T. Sicher hatten wir ein paar entspannte Jahre hier in der Gegend, aber das hat sich in den letzten beiden Monaten geändert. Der ganze Mist geht wieder los: Ranchern wird Vieh geklaut oder vergiftet, und erst letzten Monat hat jemand auf Dave Knox geschossen, während der draußen war, um seine versprengte Herde zu suchen. Ich werde das komische Gefühl nicht los, dass wir es mit demselben Mob zu tun haben wie damals.“

J.T.s erster Impuls war, Purvis an seiner kitschigen Jacke zu packen und ihn durchzuschütteln, aber er riss sich zusammen. Zu Beginn seiner Karriere war sein Temperament gelegentlich mit ihm durchgegangen; das Department hatte ihn daraufhin zum Konfliktmanagement-Training verdonnert und so einigermaßen auf Kurs gebracht. Trotzdem musste er sich in emotional besonders aufgeladenen Situationen gelegentlich immer noch vorsehen.

J.T. holte tief Luft. „Willst du damit sagen, dass das dieselben Leute sind, die meinen Vater umgebracht haben?“, fragte er dann.

Purvis zögerte, bevor er nickte.

„Hast du dafür irgendwelche Beweise?“

„Nein“, erwiderte Purvis. „Es ist nur so ein Bauchgefühl, dass sich die Geschichte wiederholt.“ Wieder machte er eine Pause. „J.T., diese Sache erledigt sich nicht von allein. Ich bin nicht mehr der Jüngste, und ohne Hilfe kann ich diese Bastarde nicht zur Strecke bringen. Aber wenn ich das nicht schaffe, werden die Rancher mir die Dienstmarke abknöpfen, und du weißt so gut wie ich, dass sie sich, wenn ich nicht mehr da bin, bewaffnen werden und losziehen wie eine Horde Wildgewordener aus irgendeinem Schwarz-Weiß-Western. Dann haben wir hier im Tal über kurz oder lang das FBI am Hals. Aber die kommen auch erst, wenn das alles noch mehr Opfer, vielleicht sogar Todesopfer gekostet hat.“

„Aber es muss doch noch jemand anderen geben!“, brachte J.T. seufzend hervor. Er wurde allmählich schwach, was Purvis sicher nicht entging, er war schließlich kein Trottel. Dem Gesetz Geltung zu verschaffen, betrachtete er als mehr als nur seinen Job.

„Es gibt niemand anderen“, erklärte der mit Nachdruck. „Du bist der einzige Profi außer mir. Du bist ein Cop, du kannst reiten und schießen, dazu bist du auch ein Rancher und vertrittst damit die gleichen Interessen wie sie. Und schließlich bist du Jack Wainwrights Sohn.“

Purvis mochte der unbedeutende Polizeichef eines unbedeutenden Kaffs in der Pampa sein, aber er hatte die Zähigkeit und Ausdauer eines Pitbulls und konnte, wenn er es für nötig hielt, so zwingend argumentieren wie ein gewiefter Anwalt.

J.T. schwieg, und Purvis holte zum entscheidenden Schlag aus. „Was, glaubst du, würde Jack an deiner Stelle tun?“

J.T. schloss kurz die Augen. Erste Anzeichen von Kopfschmerzen machten sich bemerkbar. Er brauchte nicht lange zu überlegen, was sein Vater getan hätte. Dasselbe wie Murphy: Sie hätten die Ärmel hochgekrempelt und sich an die Arbeit gemacht. „Also gut“, sagte er, „meinetwegen.“

Purvis grinste. „Judge Calloway kann dir morgen den Amtseid abnehmen.“

„Ich gehe morgen früh zu einer Versteigerung“, antwortete J.T. Ein älterer, verwitweter Rancher drüben in Maple Creek war gestorben. Jetzt wurde sein Besitz liquidiert. J.T. hatte vor, für zwei Quarter Horses mitzubieten, vielleicht auch für ein oder zwei Rinder. Dann konnte er seinen eigenen armseligen Besitz wenigstens mit Fug und Recht wieder eine Ranch nennen.

Der Polizeichef von Springwater konnte es sich erlauben, großzügig zu sein. Er hatte schließlich erreicht, was er wollte. „Geht in Ordnung. Lass uns zusammen im Stagecoach Café zu Abend essen, du, der Richter und ich. Sei um sechs da.“

J.T. schüttelte den Kopf und lachte leise. „Alles klar.“

Purvis grinste und klopfte ihm noch einmal auf die Schulter. Danach wandte er sich seinem uralten, schlammbespritzten Polizeiwagen zu, drehte sich jedoch, bevor er ging, noch einmal zu J.T. um. „Hast du’s schon gehört?“, meinte er, als sei es ihm eben in den Sinn gekommen. „Maggie McCaffrey ist wieder in der Stadt. Sie will die alte Springwater Station auf Zack bringen und daraus eines dieser schicken kleinen Hotels machen.“

J.T. wusste über Maggies Rückkehr nach Springwater bestens Bescheid; sie war ja mit seiner eigenen quasi zusammengefallen. Fast schon unheimlich. Dennoch war es ihnen bisher gelungen, sich aus dem Weg zu gehen. J.T. hatte sie nicht mehr gesehen, seitdem er vergeblich versucht hatte, sie davon abzuhalten, Connor Bartholomew zu heiraten. Er hatte sich auf mehr als eine Weise zum Narren gemacht, und trotz der langen Zeit, die nun dazwischenlag, war er nicht sonderlich erpicht darauf, Maggie gegenüberzustehen – und das nicht bloß, weil es ihm generell nicht leichtfiel, sich zu entschuldigen. Er war selbst verheiratet gewesen, hatte einen Sohn bekommen und war wieder geschieden worden. Er hatte sich mit Dutzenden von Frauen getroffen, vor und nach seiner Ehe mit Annie, und doch hatte Maggie ihn nie ganz losgelassen. Irgendwie war ihm das immer klar gewesen. Und leider auch Annie.

Murphy hatte ihn immer gewarnt. „Du wirst dir noch alles versauen, wenn du nicht aufpasst“, hatte er gesagt. „Du hast so eine nette Frau und einen tollen Sohn, und trotzdem tust du so, als gäbe es für dich nichts auf der Welt als diesen beschissenen Job. Worauf wartest du noch? Auf eine zweite Chance mit deiner Jugendliebe? Wach auf, Cowboy! Es geht nicht um das, was hätte sein können. Was zählt, ist das Hier und Jetzt.“

J.T. riss sich von diesen Gedanken los. „Ich werde mal vorbeischauen und Hallo sagen“, meinte er und bemühte sich, das so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. „Die alte Postkutschenstation hat so lange leer gestanden. Es ist gut, dass sich mal wieder jemand darum kümmert.“

Purvis nickte. „Und dann noch eine McCaffrey“, meinte er sichtlich erfreut. „Das wird ja fast wieder wie in den alten Zeiten bei Jacob und June-bug.“

J.T. hätte sicher gelacht, wäre er nicht eben auf nicht absehbare Zeit als Hilfspolizist verhaftet worden. Purvis klang, als hätten Jacob und June-bug McCaffrey die Stadt gerade erst verlassen und lägen nicht schon seit über einem Jahrhundert auf dem Friedhof. „Ja, fast wie in alten Zeiten“, stimmte er ihm trotzdem zu.

Purvis hob die Hand zum Abschied, stieg in seinen Wagen und ließ den Motor an. J.T. schaute ihm nach, wie er wendete und die staubige Auffahrt hinunterfuhr, die zum Highway führte.

„Mist“, sagte er laut zu sich selbst. Er gab dem Gatter, das er immer noch in der Hand hielt, einen Stoß, und die ganze Konstruktion brach haltlos in sich zusammen. J.T. konnte nur hoffen, dass das kein böses Omen war.

Der Himmel färbte sich golden und rosa, aber auch das erste Blau war schon zu sehen, als Maggie und Sadie vor der alten Villa der Hargreaves vorfuhren, die gegenüber der Springwater Station lag.

Maggie drückte einmal zart auf die Hupe, während Sadie ihren geliebten Platz auf dem Beifahrersitz aufgab und nach hinten sprang, und Daphne erschien augenblicklich in der Haustür. Wie Maggie trug sie eine Jeans, Sneakers und eine leichte Bluse. Ihr Haar hatte sie hastig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sodass sie – bar jeden Make-ups – fast aussah wie ein Teenager.

„Kaffee“, stieß sie hervor, nachdem sie das Auto erreicht hatte. „Sofort!“

Maggie lächelte. „Immer mit der Ruhe, meine Liebe! McDonald’s hat sicherlich schon offen.“

Daphne legte umständlich den Sicherheitsgurt an, begrüßte Sadie und meinte dann: „Sogar Ben schläft noch.“ Dabei war der eingeschworene Workaholic ein notorischer Frühaufsteher. In Kürze würde er draußen bei der Mine sein und sich um die Ausrüstung und die Arbeiter kümmern.

Kaum hatte Daphne von ihrem Kaffee getrunken, nachdem die Frauen das Drive-In-Restaurant hinter sich gelassen hatten, wurde sie gesprächiger. „Vergiss nicht, dass du uns Frühstück versprochen hast.“ Sie drehte sich nach hinten zu dem Hund. „Hat sie doch, Sadie, nicht?“

Sadie lag mit der Schnauze auf den Vorderpfoten auf dem Rücksitz und antwortete mit einem kurzen Winseln.

„Ich stehe zu meinem Wort“, versicherte Maggie den beiden grinsend.

Eine halbe Stunde später erreichten sie Maple Creek. Sie betraten geradewegs Flo’s Diner, wo sie auf einen Tisch warten mussten; da die Auktion nur ein paar Meilen weiter stattfand, drängten sich die Menschen in dem Lokal. Flo, die Inhaberin, hatte alle Hände voll zu tun.

Daphne stupste Maggie an. „Guck mal! Da ist J.T.“

Maggie folgte Daphnes Blick zu einem Mann mit dunklem Haar und dunklen Augen, breiten Schultern und markanten Gesichtszügen, der hinten in der letzten Nische saß. Er hatte sich in den letzten zehn Jahren verändert, aber, fand Maggie, zum Positiven.

Daphne winkte wie eine Wilde, und als er sie entdeckte, lächelte er dabei auf eine entspannte, aber ein wenig schiefe Weise, die Maggie nie hatte vergessen können. Dann stand J.T. von seinem Platz auf und zeigte mit einladender Geste auf die Plätze ihm gegenüber.

„Los, komm!“, sagte Daphne, und bevor Maggie sich weigern konnte, hatte sie sie untergehakt und schob sie in J.T.s Richtung.

Maggie spürte, wie sie rot wurde. Man konnte meinen, sie sei sechzehn und nicht dreißig! Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Es war genau wie früher.

„Hi, J.T.! Welche Freude, dich zu sehen“, begrüßte Daphne ihn überschwänglich.

„Hi.“ J.T.s Blick ruhte auf Maggie – ein allzu wissender Blick. Sein Lächeln wirkte ein bisschen gequält. Ziemlich sicher durchschaute er, dass sie in diesem Moment an jedem beliebigen anderen Ort lieber wäre als vis-à-vis dem einzigen Mann, den sie je wirklich geliebt hatte.

„Hallo, Maggie“, sagte er.

Maggie nickte zurück. „J.T.“

„Na also“, meinte Daphne vergnügt, „geht doch.“ Sie rutschte auf der Bank nach innen und griff nach der Speisekarte.

J.T. wiederholte seine einladende Geste, dann nahm auch Maggie Platz, bevor sich J.T. ihnen gegenüber hinsetzte.

„Wir sind wegen der Versteigerung gekommen“, erklärte Daphne. „Und du, J.T.?“

„Genau dasselbe“, antwortete er, ohne Maggie aus den Augen zu lassen. „Ich dachte, ich ersteigere mir vielleicht ein, zwei Pferde. Vielleicht auch ein bisschen Vieh.“

Vielleicht auch ein bisschen Vieh, wiederholte Maggie in Gedanken. Das war immer noch der alte J.T. Entweder war ihm nicht klar oder es kümmerte ihn nicht, welch ein riskantes Unterfangen dieser Tage die Viehwirtschaft war.

Ohne von der Speisekarte aufzusehen, stieß Daphne Maggie mit dem Ellenbogen in die Seite. „Sag doch auch mal was.“

„Ich … äh … ich suche nach alten Sachen. Quilts, alter Tischwäsche, Häkeldecken, etwas in der Art“, erklärte Maggie widerstrebend. „Ich eröffne ein Bed and Breakfast in der alten Postkutschenstation.“

J.T. schaute ihr tief in die Augen. „Ich wundere mich“, sagte er, „dass du nach Springwater zurückkommst. Ich meine – dass du heimkommst, um hier zu leben. Ich hab dich immer für ein Großstadtmädchen gehalten.“ Sein Ton klang neutral, aber Maggie bemerkte doch den kleinen Seitenhieb. Schon vor ihrer Trennung hatte es grundlegende Differenzen zwischen ihnen gegeben. Sie hielt ihn für impulsiv und ungestüm, er fand sie übervorsichtig und unnachgiebig.

Wenn sie sich weiter so zum Lächeln zwang, würde ihr bald das Gesicht davon wehtun. Verdammt! Sie sollte ihm nicht erlauben, ihr gleich auf Anhieb auf die Schliche zu kommen. „Menschen können sich ändern.“

„Tun sie meistens allerdings nicht“, entgegnete er trocken.

„Hast du das in New York gelernt?“

„Nein. Das habe ich in Springwater gelernt.“

Daphne klappte die Speisekarte zu. „Was kann man hier essen?“, fragte sie im selben Moment, in dem Flo in ihrer rosa Uniform eintrudelte. J.T. hatte schon bestellt, und deshalb brachte die rundliche, rothaarige Chefin des Hauses einen Teller mit Eiern, Bacon und knusprigen Röstis. Dazu schenkte sie ihm ein Lächeln.

„Was darf’s denn sein, Süße?“, erkundigte sich Flo freundlich bei Maggie.

„Ich nehme Haferbrei“, antwortete Maggie, mehr um die Form zu wahren. Vor ein paar Minuten hatte sie noch Hunger gehabt. Aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt einen Bissen herunterkriegen würde.

Daphne warf einen sehnsüchtigen Blick auf J.T.s Teller. „Für mich auch“, stimmte sie dann resigniert ein.

„Lass dein Essen nicht kalt werden“, sagte Maggie, als J.T. zögerte, nach seiner Gabel zu greifen.

„Ja, um Gottes willen, fang schon an“, bekräftigte Daphne.

„Also zwei Mal Haferbrei. Sonst noch etwas? Toast? Kaffee?“

Maggie nickte. „Kaffee, bitte.“

Flo notierte die Bestellung auf ihrem Block und eilte davon. Ihr Laden brummte.

„Und was ist mit Sadie?“, fragte Daphne.

„Sadie?“ J.T., der nach seinem höflichen Abwarten dann doch begonnen hatte zu essen, horchte auf.

„Mein Hund“, erklärte Maggie.

„Aha“, sagte er, als sei es eine große Erkenntnis, dass sie einen Hund hatte. „Kein Mann? Keine Kinder?“

Musste er unbedingt Salz in die Wunde streuen? Es wusste doch ohnehin jeder in Springwater darüber Bescheid, was jeder andere aus Springwater tat, egal ob der- oder diejenige noch hier lebte oder nicht. J.T. hatte also ganz sicher von ihrer Scheidung gehört – wie auch, dass sie keine Kinder hatte. Dennoch antwortete Maggie süß lächelnd: „Nur Sadie. Und was ist mit dir?“

Man sah deutlich, wie sich sein Blick trübte, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. „Ein Sohn. Quinn. Er ist sechs.“

Natürlich hatte Maggie von dem Jungen erfahren, aber das aus seinem eigenen Munde zu hören, berührte sie umso mehr. Sie fühlte sich auf eine merkwürdige Weise davon getroffen, sodass sie danach kaum noch imstande war, etwas zur Unterhaltung beizutragen, weshalb sie Daphne den weiteren Smalltalk überließ.

Der Kaffee kam, wenig später der Haferbrei. Maggie bestellte noch zwei Würstchen zum Mitnehmen für Sadie, dann bezahlten sie ihre Rechnungen.

Sie hatte eigentlich geplant, sich zu verabschieden und rasch zu verschwinden, aber da Daphne noch einmal auf die Toilette musste, begleitete J.T. sie aus dem Diner und stand dabei, als sie die gierige Sadie mit den Würstchen fütterte.

„Maggie“, sagte er leise.

Eigentlich wollte sie so tun, als beachtete sie ihn gar nicht. Sie sah ihn fragend an.

„Ich glaube, da gibt es ein paar Dinge, die wir einander zu sagen haben, meinst du nicht?“

2. KAPITEL

Da standen sie nun, auf dem Parkplatz vor Flo’s Diner, und Maggie sah J.T. lange an und versuchte, den Sinn dieses einfachen Satzes zu erfassen. Ich glaube, da gibt es ein paar Dinge, die wir einander zu sagen haben.

Es konnte im Grunde nicht besonders schwierig sein, darauf eine Antwort zu finden. Aber sie fühlte sich, als sei sie eben kopfüber in einen Wirbelsturm geraten und hätte dabei vor Schreck die Sprache verloren. Umständlich suchte sie nach der Leine und befestigte den Karabiner am Halsband. Sadie, die ihr Frühstück schon längst heruntergeschlungen hatte, sprang ungeduldig aus dem Wagen, um ihr Geschäft zu erledigen.

J.T. übernahm die Leine. „Maggie“, wiederholte er mit tiefer Stimme eindringlich.

Maggie griff nach einem Päckchen mit Reinigungstüchern und einem kleinen blauen Plastikbeutel. „Für Sadies Du-du“, erklärte sie albernerweise und wünschte im nächsten Augenblick, sie könnte sich ebenso in die kühle Morgenluft verflüchtigen wie die dünnen weißen Fahnen ihres Atems.

J.T. grinste. „Bleib locker, McCaffrey! So eine große Sache ist das nun auch nicht. Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen, das ist alles.“

Sie streifte ihn mit einem verwunderten Blick. Sie kannte J.T. Wainwright nun schon fast ihr ganzes Leben, obwohl er nach der Scheidung seiner Eltern – damals ging er in die fünfte Klasse – zwischen der Wainwright-Ranch in Springwater und Las Vegas, dem neuen Wohnsitz seiner Mutter, hin- und hergependelt war. Aber solange sie ihn kannte, hatte er sich immer schwer damit getan, um Verzeihung zu bitten – wofür auch immer. „Entschuldigen?“

„Entschuldigen, ja.“ Dann beugte er sich dicht zu ihr und flüsterte: „Ich erkläre dir gern, was das bedeutet. Nur fürchte ich, musst du mir dann im Gegenzug erläutern, was Du-du ist.“

Trotz ihres angespannten Zustands musste Maggie lachen und stieß ihn leicht mit der rechten Faust vor die Brust, wie sie es gemacht hatte, als sie noch Kinder waren, wenn sie sich beim Softball gestritten hatten oder darüber, wer welche Angelrute bekam. „Das würde dir ganz recht geschehen, wenn ich dir das in aller Ausführlichkeit erkläre.“

Sadie zerrte J.T. über den Parkplatz auf ein Gebüsch zu, und Maggie folgte ihnen. „Vermutlich“, meinte J.T. „Es tut mir leid. Ich entschuldige mich – für alles.“

Maggie griff nach der blauen Tüte und tat, was jeder verantwortungsbewusste Hundehalter tun sollte. „Du meinst, weil du mir die Hochzeit versaut hast?“ Ganz zu schweigen von der Abfuhr, die du mir zu Weihnachten erteilt und mir damit das Herz herausgerissen hast.

„Hab ich sie versaut?“

„Ja“, sagte Maggie, wagte dabei aber nicht, ihm in die Augen zu sehen. Es folgte eine unbehagliche Pause. „Aber diese Hochzeit hätte ohnehin nie stattfinden sollen“, sprach sie dann weiter. „Wenn es das Richtige gewesen wäre, hättest du jetzt allerdings eine Menge, wofür du dich entschuldigen müsstest, Freundchen.“

J.T. lachte, aber ganz unbeschwert klang es nicht. Derweil hatte Maggie Sadies Hinterlassenschaften aufgesammelt, den Beutel sorgfältig verknotet und machte sich auf den Weg zum nächsten Mülleimer, gefolgt von Mann und Hund. Als sie fertig war, wischte sie sich die Finger mit dem bereitgehaltenen Reinigungstuch ab und warf es hinterher.

„Ich hab mich wie ein Idiot verhalten“, gestand J.T. ein.

„Richtig. Mindestens zwei Mal.“

„Zwei Mal?“

„Hast du die bewussten Weihnachtsferien etwa vergessen, J.T.?“ Selbst nach so langer Zeit tat die Erinnerung daran noch immer weh. Sie hatten so viele Träume miteinander geträumt, und er hatte all das im Handstreich zunichtegemacht. „Du sagtest damals, wir hätten uns auseinandergelebt und sollten mal andere Leute treffen. Ich glaube, du hast damals mit einer Cocktailkellnerin in Vegas rumgemacht – oder war sie ein Showgirl?“

J.T. stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich habe mir damals eingebildet, etwas sehr Nobles zu tun. Ich war der Überzeugung, du hättest etwas Besseres verdient als mich, und damit lag ich vermutlich sogar richtig. Das Schlimme war, dass ich dich nicht vergessen konnte. Selbst dann nicht, als wir beide schon mit jemand anderem verheiratet waren.“

„Na ja, das hat ja jetzt sowieso alles keine Bedeutung mehr.“ Maggie versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen.

J.T.s Miene verfinsterte sich, aber nur für einen kurzen Moment. „Keine Bedeutung? Quatsch. Da war etwas zwischen uns, etwas sehr Bedeutendes.“

Sie waren wieder bei Maggies SUV angekommen. Der Hund sprang durch die Klappe hinten und nahm brav den Platz hinter den Rücksitzen ein. J.T. kraulte den Beagle hinter seinen samtweichen Ohren, bevor er die Klappe schloss. Sadie kläffte und drückte ihre Schnauze gegen die Scheibe, wobei sie feuchte Abdrücke hinterließ.

Daphne ließ sich reichlich Zeit, und so kam Maggie auch um eine Antwort auf J.T.s Bemerkung nicht herum. „Sex“, sagte sie leise, aber mit Bestimmtheit. „Das war es, was wir hatten, J.T., Sex. Und nichts weiter.“ Lügnerin, sagte eine Stimme in ihr. Du hast ihn geliebt. Wahrscheinlich ist das dein Problem: Du hast niemals aufgehört, ihn zu lieben.

J.T. stemmte eine Hand in die Seite. „Wir haben mit dem Sex erst im Sommer nach unserem Highschool-Abschluss angefangen“, widersprach er in ruhigem Ton. „Unsere Geschichte reicht wesentlich weiter zurück.“

Maggie konnte das nicht leugnen. Sie hatte sich schon in dem Augenblick in J.T. verknallt, als ihr der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen bewusst geworden war. In gewisser Weise hatte sie ihn schon immer geliebt. Jedes Mal, wenn sie dachte, sie wäre über ihn hinweg, tauchte er wieder in Springwater auf, und wie bei einem Würfelspiel hieß es dann für sie: Zurück an den Start, und alles ging wieder von vorne los.

Dass sein Vater ermordet worden war, hatte ihn verändert – wen hätte das nicht verändert? Er war damals gerade dreizehn gewesen. Maggies Gefühle für ihn waren in der Folge eher stärker als schwächer geworden. Ihre Bedenken aber hatten zugenommen, besonders nachdem er eines schwülen Sommerabends seinen Onkel ins Krankenhaus befördert hatte.

Jenson war vollkommen betrunken gewesen an jenem Abend. Er hatte seine Frau, J.T.s Tante Janeen, die Schwester von J.T.s Vater Jack, in seinem Rausch schwer verletzt. Aber das rechtfertigte natürlich nicht, dass J.T. ihn daraufhin krankenhausreif geschlagen hatte.

Zu jedermanns Erstaunen war Janeen bei ihrem Mann geblieben. Die beiden hatten nach Jack Wainwrights Tod die Ranch übernommen, und J.T. hatte es sich trotz seiner Vorgeschichte mit Clive Jenson nicht nehmen lassen, die Ranch zu besuchen, wann immer er Gelegenheit dazu fand. Natürlich blieb das Verhältnis zu Jenson immer äußerst gespannt.

Nachdem Maggie Connor geheiratet hatte, ging J.T. nach Las Vegas zurück und schrieb sich am Junior College ein. In seiner Heimatstadt wunderte man sich nicht schlecht, als bekannt wurde, dass ausgerechnet er im Hauptfach Strafrecht belegt hatte. Dieses Erstaunen schlug noch höhere Wellen, als bekannt wurde, dass er seine Ausbildung nach einem erfolgreichen Studium an der Police Academy fortsetzte und im NYPD als Detective anfing.

Letztes Jahr war seine Tante Janeen ihrem langen Krebsleiden erlegen. Clive hatte sich, so erzählte man sich, seit der ersten Diagnose kaum noch blicken lassen.

„Okay“, nahm Maggie das Gespräch wieder auf, „du hast recht. Sie reicht wirklich weiter zurück.“

„Du bist dran“, erwiderte er ruhig.

Maggie schluckte. „Ich hatte Angst. Zufrieden? Du warst wild und hitzköpfig und immer in irgendwas verwickelt. Eine Menge Leute sahen dich entweder tot oder hinter Gittern.“

Er sah sie entgeistert an. „Du hast doch nicht angenommen, dass ich dich jemals schlagen könnte?“, murmelte er.

Maggie entfuhr ein tiefer Seufzer. „Natürlich nicht.“ Wie hätte sie ihn je lieben können, wenn sie das nur für einen Moment für möglich gehalten hätte. Sie setzte von Neuem an. „Connor hatte, wie du dich erinnern wirst, gerade seinen Abschluss in Medizin gemacht. Er hatte eine Zukunft vor sich, einen Plan, verstehst du?“

J.T.s Augen funkelten sie an. Sein Lächeln war fast verflogen. „Deshalb also hast du ihn geheiratet?“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, gewürzt mit einer Prise Spott. „Weil er vorhersehbar war. Weil er – langweilig war.“

„Es gibt schlimmere Dinge, als langweilig zu sein“, gab Maggie gereizt zurück, während sie Daphne über den Parkplatz kommen sah, die sich buchstäblich im Schneckentempo vorwärtsbewegte.

J.T. verschränkte die Arme vor der Brust. „Viele fallen mir da nicht ein.“ Als sie auf seine Provokation nicht einging, fügte er in freundlichem Ton hinzu: „Na ja, es hat ja auch nicht gehalten.“

„Nein, hat es nicht“, antwortete sie seufzend. Wer wüsste das besser als sie selbst? Sie empfand es nach wie vor als enorme Enttäuschung, dass sie es nicht geschafft hatte, eine funktionierende Ehe zu führen. Seit der Scheidung fühlte sie sich emotional immer noch einigermaßen unter Wasser.

„Das tut mir leid für dich, Maggie“, erwiderte er mitfühlend und seufzte ebenfalls. „Ich weiß, wie sehr du dir immer ein Zuhause mit einer Familie wie deiner gewünscht hast.“

Für einen Moment verstummte Maggie. Sie musste die Tränen herunterschlucken, die in ihren Augen brannten. Dann schaffte sie es, tapfer zu lächeln, und meinte achselzuckend: „Na ja, davon ist die Welt ja nicht untergegangen.“

Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Wirklich nicht?“

Sie stutzte. Hatte sie das wirklich gehört oder sich nur eingebildet?

Daphne konnte ihr Eintreffen nun nicht länger hinauszögern. Abwartend stand sie vor der Beifahrertür.

Das war typisch J.T.! Er hatte wirklich ein Händchen für peinliche Momente. Er lächelte ihr zu und verabschiedete sich mit einem flüchtigen Tippen an die Hutkrempe. Dann wandte er sich noch einmal an Maggie und sagte leichthin, als hätte das Gespräch davor nicht stattgefunden: „Ich finde es toll, dass du die alte Postkutschenstation wieder auf Vordermann bringst. Ich komme bald mal vorbei und schau sie mir an.“

Maggie war noch immer aufgewühlt. Mehr als ein lahmes „Okay“ brachte sie nicht heraus.

„Also, bis dann“, verabschiedete sich J.T., drehte sich um und ging. Ein Stück weiter stieg er in einen blauen Pick-up jüngeren Zulassungsdatums und fuhr davon.

Maggie brauchte ein paar Augenblicke, um sich zu sammeln, dann stieg sie zu Daphne ins Auto. Sie zitterte, als sie den Zündschlüssel ins Schloss steckte.

„Mags?“

„Was ist?“

„Soll ich lieber fahren? Du kommst mir ein bisschen … nun … durcheinander vor.“

Wäre Maggie für sich gewesen, hätte sie die Stirn aufs Lenkrad sinken lassen und erst ein paar Mal tief durchgeatmet, um sich einigermaßen zu sammeln. J.T.s pure Anwesenheit warf sie ganz schön aus der Bahn. Gefühle, die sie längst hinter sich gelassen geglaubt hatte, waren plötzlich wieder an die Oberfläche gespült worden. „Mit mir ist alles in Ordnung“, schwindelte sie.

„Okay.“ Daphne schüttelte leicht verwundert den Kopf.

Während der Versteigerung, die auf einer heruntergekommenen Ranch ein paar Meilen außerhalb der Stadt stattfand, versuchte Maggie, sich auf die Haushaltsartikel zu konzentrieren; ihre Blicke wanderten aber immer wieder zu J.T., der ein Stück weiter lässig an einem Weidezaun lehnte, offenbar ohne ihre Anwesenheit zu bemerken. Als die Viehversteigerung zu Ende war, hatte er eine kleine Herde von fünf Rindern beisammen.

„Dein Vater“, erklärte Kathleen McCaffrey lebhaft am nächsten Tag, während sie einen Strauß Pfingstrosen in einem Keramikkrug ordnete, „hat den Verstand verloren. Ich fürchte, er hat das, was man heutzutage Midlife-Crisis nennt.“

Maggie war gerade dabei, zur Springwater Station zurückzufahren. Die sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagene Bett- und Tischwäsche, die sie tags zuvor auf der Auktion erstanden hatte, hatte sie bereits im Kofferraum verstaut. Sie war vorbeigekommen, um ihrer Mutter die Sachen zu zeigen – sie hatten beide eine Schwäche für Antiquitäten jeder Art, besonders solche, die aus der Gründungszeit von Springwater stammten – und sie zu fragen, ob sie nicht zusammen bei ihr zu Mittag essen wollten. Es sollte Sandwiches und Salat geben.

Maggie sah ihre Mutter zweifelnd an. „Mom, Dad mag ja manches sein, aber verrückt ist er nicht.“

„So, findest du?“, erwiderte Kathleen spitz. Sie war eine schöne Frau, hochgewachsen mit ebenmäßigen Zügen und leuchtend rotbraunem Haar. Ihre lebhaften grünen Augen zeugten von ihrem irischen Temperament. „Er hat angedroht, sich so ein Wohnmobil zu kaufen und sich damit auf die Reise zu machen.“

Maggie hörte das nicht gern. Dass sich ihre Eltern seit einiger Zeit auf dem Kriegspfad befanden, war nichts Neues, aber wenn jetzt einer von ihnen begann, die Zelte abzubrechen, würden sie ihre Differenzen nie ausräumen. In dieser Richtung hatten beide bisher ohnehin wenig unternommen. „Wann hat er das denn beschlossen?“

Kathleen zupfte weiter an den Blumen herum, obwohl die so perfekt in der Vase standen wie in einem Martha-Stewart-Magazin. „Ich glaube, er brütet über dieser Idee schon, seit er das Sägewerk verkauft hat“, murmelte sie und schniefte leicht. Ganz offensichtlich hatte es Reece McCaffrey erst vor Kurzem für nötig befunden, seine Frau in seine lang gehegten Pläne einzuweihen. „Er hat mir einen Flyer von diesem Gefährt gezeigt. Maggie, das Ding ist länger als ein Güterwagen und komfortabler ausgestattet als diese Tourbusse, mit denen irgendwelche Rockbands herumreisen.“ Sie schürzte verächtlich die vollen Lippen, aber sie konnte ihren Kummer doch nicht verbergen. „Er war nie ein besonders guter Autofahrer, das weißt du ja. Der Verkehr auf dem Highway wird ihn umbringen.“

Also sorgt sie sich noch um ihn, stellte Maggie mit einer gewissen Erleichterung fest. Dennoch behagte auch ihr der Gedanke nicht, dass ihr Vater mit so einem Schiff gleich nach der Auffahrt über alle drei Spuren des Highways kreuzte. „Verstehe“, sagte sie.

„Der alte Dummkopf.“

Es schien zwecklos, ihre Mutter daran zu erinnern, dass Reece sein Leben lang hart gearbeitet, drei Kinder durchs College gebracht und Simon sogar ein Medizinstudium ermöglicht hatte. Er hatte immer schon ein Faible fürs Reisen gehabt. Das wusste nicht nur Maggie, das wusste jeder in der Familie. Nur die Zeit, die Mittel und die Gelegenheit dafür waren früher nie da gewesen. „Warum begleitest du ihn nicht einfach?“, wagte Maggie zu fragen. „Ein Tapetenwechsel würde euch beiden guttun.“

Kathleen sah sie an, als hätte ihre Tochter ihr vorgeschlagen, barfuß eine Pilgerreise durch die Wüste zu unternehmen. „Ich kann jetzt nicht weg“, erklärte sie. „Ich habe gerade mein letztes Bild bei eBay verkauft.“

Kathleen hatte sich der naiven Malerei verschrieben und malte sehr farbenfrohe Acrylbilder auf Leinwand wie auf Holz oder grundiertem Karton. Im Format reichten ihre Werke von Briefmarkengröße bis zu Ausmaßen, die im Lieferwagen transportiert werden mussten. Dabei war das Motiv unfehlbar immer das gleiche: Birnen.

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