Das Geheimnis des Sizilianers

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Zärtlich, leidenschaftlich, vermögend, treu: Vittorio d'Severano ist Jills Traummann - bis sie zufällig das dunkle Geheimnis ihres Geliebten entdeckt! Entsetzt flieht sie. Aber wenn einem ein mächtiger Sizilianer auf der Spur ist, kommt man nicht weit ...


  • Erscheinungstag 14.08.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774455
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Frieden.

Endlich.

Jill Smith atmete tief, während sie an der zerklüfteten Steilküste mit Blick auf den stürmischen Pazifik entlanglief. Sie genoss die frische Luft, die überwältigende Landschaft und einen seltenen Moment der Freiheit.

Seit über neun Monaten hatte sie Vittorios Männer nicht mehr gesehen. Und sie würden sie in diesem kleinen Ort ein paar Meilen außerhalb von Carmel, Kalifornien, niemals aufspüren, wenn sie vorsichtig war.

Den Namen Jill Smith benutzte sie nicht mehr. Sie hatte sich eine neue Identität und ein neues Aussehen gegeben. April Holliday war blond und sonnengebräunt, als wäre sie eine gebürtige Kalifornierin statt einer Brünetten aus Detroit. Nicht, dass Vittorio wusste, aus welcher Stadt sie stammte.

Und er durfte es auch nicht erfahren. Sie musste ihn, den Vater ihres Kindes, so weit wie möglich von sich fernhalten.

Er war zu gefährlich. Eine Bedrohung für sie, für Joe und alles, was ihr wichtig war. Jill hatte Vittorio geliebt und sich sogar schon eine Zukunft mit ihm ausgemalt. Nur um zu entdecken, dass er kein Held war, sondern ein Mann wie ihr Vater. Ein Mann, der sein Vermögen im organisierten Verbrechen verdient hatte.

Jill spürte, wie sich ihre Schultern verkrampften. Beruhige dich! befahl sie sich. Sie hatte keinen Grund, sich zu fürchten. Die Gefahr lag hinter ihr. Vittorio wusste nicht, wo sie wohnte. Er konnte ihr das Baby nicht wegnehmen. Alles war in Ordnung.

Oben auf der Klippe blieb Jill stehen und blickte auf die Schaumkronen im dunkelblauen Wasser. Die Wellen waren hoch heute und krachten mit ungestümer Wucht an die Felsen unter ihr. Das Meer schien wütend und untröstlich zu sein, und einen Augenblick lang empfand Jill genauso.

Sie hatte Vittorio geliebt. Zwar waren sie nur zwei Wochen zusammen gewesen, aber in dieser Zeit hatte sie von einem Leben mit ihm geträumt.

Dann kam die Wahrheit ans Licht. Er war kein Märchenprinz, sondern ein furchterregender Schurke.

Energisch verdrängte Jill jeden Gedanken an Vittorio. Sie wollte die Vergangenheit hinter sich lassen und sich auf die Gegenwart und Joes Zukunft konzentrieren. Ihr Sohn sollte all das haben, was ihr in der Kindheit genommen worden war: Stabilität, Sicherheit, ein glückliches Zuhause.

Schon hatte Jill ein entzückendes Miethaus eine Viertelmeile die Straße hinunter in einer ruhigen Sackgasse gefunden. Sie hatte einen tollen Job im „Highlands Inn“ bekommen, einem der besten Hotels an der kalifornischen Küste. Und, am schönsten von allem, sie hatte auch ein sehr gutes Kindermädchen gefunden. Tatsächlich passte die reizende Hannah jetzt gerade auf Joe auf.

Es begann zu regnen, und der Wind riss an ihrem Haar und dem schwarzen Pullover, doch Jill mochte das raue Wetter.

„Denkst du daran zu springen, Jill?“

Als sie die tiefe, weiche Männerstimme erkannte, wurde sie vor Schreck ganz starr.

Vittorio.

Seit fast einem Jahr hatte sie seine Stimme nicht mehr gehört, aber sie zu vergessen war unmöglich. Der völlig ruhige Ton konnte Menschen beherrschen. Vittorio konnte es.

Aber andererseits war Vittorio Marcello d’Severano ja auch eine Naturgewalt, ein Mann, der so gut wie jedem Ehrfurcht oder Angst einflößte.

„Lösungen lassen sich immer finden“, fügte er sanft hinzu.

So sanft, dass sich Jill nervös einen Schritt von ihm entfernte. Was sie näher an den Rand der Klippe brachte, wo sie lose Steine lostrat. Ihr kam es vor, als würden die in die Bucht hinabstürzenden Steine klingen wie ihr zerspringendes Herz.

Gerade, als sie sich so sicher gefühlt hatte.

Es war unglaublich. Unerträglich.

„Keine, die ich annehmbar finden würde“, antwortete Jill ausdruckslos. Sie drehte sich um, vermied es jedoch, ihm ins Gesicht zu schauen. Vittorio war ein Zauberer. Allein indem er lächelte, konnte er jeden dazu bringen, alles zu tun.

So gut aussehend war er.

So viel Macht hatte er.

„Mehr hast du mir nach einem monatelangen Katz-und-Maus-Spiel nicht zu sagen?“

Es regnete jetzt stärker, und Jills dicker Strickpullover triefte vor Nässe. „Alles ist gesagt. Mir fällt nichts weiter ein.“ Herausfordernd hob sie das Kinn, obwohl ihr die Knie zitterten. Sie war hin- und hergerissen zwischen Wut und heller Panik. Vittorio konnte ihr Leben zerstören, und er würde es tun, wenn er Gelegenheit dazu bekam.

„Mir schon. Ich schlage vor, dass du dich entschuldigst“, erwiderte er fast freundlich. „Das wäre ein Anfang.“

Jill wappnete sich gegen Vittorios tiefe, heisere Stimme und richtete den Blick auf seinen kräftigen sonnengebräunten Hals und die breiten Schultern. Und selbst jetzt, da sie sich auf diesen kleinen Bereich seines Körpers beschränkte, fand sie Vittorio einfach überwältigend. Unglaublich sinnlich und männlich, war er ein echter Alphamann. Keiner war stärker. Keiner mächtiger.

Nur Stunden, nachdem sie ihn kennengelernt hatte, war sie mit ihm ins Bett gegangen. So etwas hatte sie nie zuvor getan. Um Himmels willen, sie war vor Vittorio nicht einmal in Versuchung gekommen, mit einem Mann zu schlafen. Aber bei Vittorio war sie unvorsichtig geworden. In seiner Nähe hatte sie sich sicher gefühlt.

„Du bist ja wohl derjenige, der sich entschuldigen sollte.“

„Ich?“

„Du hast mir ein völlig falsches Bild von dir präsentiert, Vittorio …“

„Nein.“

„… und du hast mich in den letzten elf Monaten gejagt wie ein Tier“, fügte Jill scharf hinzu. Sie würde nicht auf die Knie fallen und bitten. Sie würde bis zum bitteren Ende gegen ihn kämpfen.

Er zuckte die Schultern. „Du bist davongelaufen. Und du hast meinen Sohn mitgenommen. Was hast du denn erwartet?“

„Eine derartige Macht über hilflose Frauen und Kinder zu besitzen, muss dich begeistern!“ Jill wurde lauter, um den Wind und die tosende Brandung zu übertönen.

„Du bist alles andere als hilflos, Jill. Tatsächlich bist du eine der stärksten, klügsten Frauen, die ich kenne, mit dem Können einer professionellen Hochstaplerin.“

„Ich bin keine Hochstaplerin.“

„Wozu dann der falsche Name April Holliday? Wie hast du es überhaupt geschafft, diese Person zu werden? Es erfordert Geld und Beziehungen, das durchzuziehen, was du beinahe geschafft hast …“

„Beinahe. Das ist das entscheidende Wort, stimmt’s?“

Er zuckte wieder die Schultern. „Darüber reden wir noch. Im Moment möchte ich erst einmal ins Trockene.“

„Du kannst gern gehen.“

„Ohne dich gehe ich nirgendwohin. Und es gefällt mir nicht, wie dicht du am Rand der Klippe stehst. Komm da weg. Du machst mich nervös“, sagte Vittorio und streckte die Hand aus.

Jill ignorierte sie und sah stattdessen in sein Gesicht, studierte sein energisches Kinn, die sinnlichen Lippen, die hohen Wangenknochen. Dieser eine Blick war alles, was es brauchte, damit ihr heiß wurde.

„Und du machst mir Angst“, erwiderte Jill verbittert und sah schnell weg. Sie musste daran denken, wie Vittorio sie überall geküsst und ihren Körper umwerfend gründlich erforscht hatte. Mit seinem Mund und seiner Zunge hatte er sie zu ihrem ersten Höhepunkt gebracht, und niemals hätte Jill sich Lust so intensiv vorgestellt. Aber andererseits war Vittorio ja auch ein Mann, der alle ihre Vorstellungen übertraf.

In Wahrheit hatte sie keine Angst, vor ihm. Wenn sie mit ihm zusammen war, bekam sie Angst allerdings vor sich selbst. Weil er mit nur einem einzigen Kuss ihre Entschlossenheit schwächen und ihre Unabhängigkeit zerstören konnte. Seit sie sich zum ersten Mal geliebt hatten, begehrte Jill ihn viel zu sehr.

„Das ist lächerlich“, erwiderte er verärgert. „Habe ich dir jemals wehgetan?“

Ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben. In den zwei Wochen, die sie zusammen gewesen waren, hatte Vittorio ihr nur Freundlichkeit, Zärtlichkeit und Leidenschaft erwiesen. Ja, es gab Geheimnisse. Aber Jill hatte ihre Bedenken verdrängt und war ihrem Herzen gefolgt.

„Nein.“

„Trotzdem bist du davongelaufen. Und schlimmer noch, du hast mir mein Kind vorenthalten. Ist das etwa fair?“

Sie brachte kein Wort heraus. Denn schon löste seine Stimme dieses seltsame Gefühl der Verführung in ihr aus, bei der Vittorio sie ihrer strengen Selbstbeherrschung und ihrer Abwehrmechanismen beraubte. Ebenso wie es an jenem allerersten Tag geschehen war, als Jill ihm in der Hotelhalle in Istanbul begegnet war. Sie stellten sich einander vor, es folgte ein kurzes Gespräch, eine Einladung zum Abendessen, und dann verlor Jill völlig den Kopf. Sie nahm Urlaub und zog in seine Villa am Comer See, bildete sich ein, verliebt zu sein …

Und dabei glaubte sie nicht einmal an die Liebe. Romantische Liebe war albern, töricht und zerstörerisch, etwas für Leute, die es nicht besser wussten. Jill hatte gedacht, sie würde über diesen Dingen stehen.

Aber dann kam Vittorio, und ihr gesunder Menschenverstand, ihre Vernunft und ihr Selbsterhaltungstrieb verabschiedeten sich.

Oh, Vittorio war unsagbar gefährlich.

Er würde sie zugrunde richten. Ebenso wie Joe.

Nein. Sie würde nicht zulassen, dass er ihr Kind großzog und aus ihm einen Mann machte, der nicht besser war als sein Vater.

„Joe ist kein Sizilianer. Er ist Amerikaner, und er ist mein Sohn, Vittorio.“

„In den vergangenen Monaten bin ich dir gegenüber nachsichtig gewesen und habe dir Zeit mit ihm allein gegeben. Jetzt bin ich an der Reihe.“

„Nein! Du kannst ihn mir nicht nehmen.“ Jill schwankte am Rand der Klippe. Ihr war durchaus bewusst, dass der Regen die Erde aufweichte und sie in dem Matsch keinen Halt finden würde. Aber sie würde niemals zu Vittorio gehen. Niemals würde sie vor ihm kapitulieren. Rückwärts ins Leere zu stürzen wäre besser, als ihm Joe zu überlassen. Bei seinem Kindermädchen wäre er zumindest in Sicherheit. Falls ihr etwas zustieß, sollte Hannah ihn zu Jills Studienfreundin Cynthia nach Bellevue, Washington, bringen.

Cynthia hatte sich bereit erklärt, im Notfall die Vormundschaft für Joe zu übernehmen, und die Dokumente für eine Adoption waren bereits von einem Anwalt aufgesetzt worden. Es war einfach Jills sehnlichster Wunsch, dass Joe in einer liebevollen Familie aufwuchs. Einer normalen, ohne Verbindung zum organisierten Verbrechen.

Anders als ihre eigene Familie.

Anders als Vittorios.

„Jill, gib mir jetzt die Hand. Die vorstehende Kante kann jeden Moment abbrechen.“

„Das ist mir egal, wenn es bedeutet, meinen Sohn zu schützen.“

„Vor wem? Wovor?“

Sein besorgter Ton brachte sie den Tränen nahe. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, sich gegen Vittorio aufzulehnen. Ein Mal hatte er sie bereits getäuscht, doch das passierte ihr nicht wieder. Sie war klüger geworden. Älter. Und sie war jetzt Mutter. Freundliche Gesten, Zärtlichkeiten, Verführungskünste oder Lust würden sie nicht mehr beeinflussen. Hier ging es um Joes Sicherheit. Sein Überleben. Seine Zukunft.

Es wäre nicht so weit gekommen, wenn sie nur gewusst hätte, mit wem sie es zu tun hatte, als sie vor zwanzig Monaten Vittorios Einladung zum Abendessen gefolgt war.

Leider war Jill damals völlig ahnungslos gewesen. Und so wies sie Vittorio die Rolle des Märchenprinzen zu und glaubte, er würde sie retten. Oder sie wenigstens bei einem verschwenderischen, romantischen Dinner wie eine Prinzessin behandeln.

Das verschwenderische Abendessen führte zu einer traumhaften Liebesaffäre. Vittorio ließ sie sich so schön und begehrenswert fühlen, dass Jill spontan mit ihm ins Bett ging. Er enttäuschte sie nicht.

Er war ein fantastischer Liebhaber. Vittorio weckte unvergessliche Empfindungen in Jill. Er verstand es, seinen herrlichen Körper einzusetzen, und er verstand den Körper einer Frau. Schnell beherrschte er Jills.

Zwei glückselige Wochen lang bildete sie sich ein, dass sie sich in ihn verliebte, und träumte davon, mit ihm zusammenzuleben. Ja, manchmal wurde Vittorio mitten in der Nacht gerufen, um ein Telefongespräch entgegenzunehmen. Aber Jill sagte sich, dass er Vorstandsvorsitzender eines großen internationalen Unternehmens war und rund um die Uhr erreichbar sein musste.

Er erzählte ihr auch von seinem Unternehmen. Gerade hatte er drei ehrwürdige Fünfsternehotels in Osteuropa gekauft, und Jill dachte daran, den Job in der Türkei aufzugeben und für Vittorio zu arbeiten, ihm dabei zu helfen, die Neuerwerbungen zu renovieren. Schließlich war Hotelmanagement ihr Fachgebiet, und sie stellte sich vor, wie sie gemeinsam um die Welt reisten, zusammenarbeiteten und sich liebten.

Und dann, am vierzehnten Tag, zerstörte Vittorios junges Hausmädchen Jills Illusionen.

„Haben Sie keine Angst vor dem Mafioso?“, flüsterte es.

Mafioso.

Bei dem Wort gefror ihr das Blut in den Adern. „Vor wem?“, fragte sie gespielt gleichgültig.

Nervös blickte das Hausmädchen zur Badezimmertür. Vittorio duschte gerade. Die junge Angestellte sollte nur frische Handtücher bringen, aber anscheinend hatte ihre Neugier die Oberhand über sie gewonnen.

„Ihr Mann. Signor d’Severano.“

„Er ist kein …“

„Doch. Alle wissen es.“ Und damit eilte das Hausmädchen erschrocken davon.

Plötzlich fügten sich die Puzzleteile zusammen. Natürlich. Vittorios enormer Reichtum. Sein luxuriöser Lebensstil. Die seltsamen, geheimnisvollen Telefongespräche. Jill benutzte ihr Smartphone für eine schnelle Internetrecherche.

Das Hausmädchen hatte recht. Vittorio d’Severano aus Catania, Sizilien, war ein sehr berühmter Mann. Aber berühmt aus falschen Gründen.

Noch am selben Nachmittag flüchtete Jill. Sie nahm nur ihre Handtasche mit. Kleider, Schuhe, Mäntel ließen sich ersetzen, aber Freiheit und Sicherheit nicht.

Jill kündigte in dem Hotel in Istanbul, gab ihre Wohnung auf, verließ Europa und sämtliche Freunde, verschwand einfach, als hätte sie nie existiert.

Wie man das machte, wusste sie. Denn sie hatte es mit zwölf Jahren gelernt, als ihre Familie in das Zeugenschutzprogramm der amerikanischen Regierung aufgenommen wurde.

Aus Jill Smith war Heather Purcell in Banff, Kanada, geworden. Vier Monate hatte sie als Telefonistin im „Fairmont Hotel“ am Lake Louise in den kanadischen Rocky Mountains gearbeitet. Dort, in Alberta, hatte sie festgestellt, dass sie schwanger war.

„Dir muss doch klar gewesen sein, dass ich dich irgendwann erwischen würde“, sagte Vittorio freundlich. „Dass ich gewinnen würde.“

In die Falle gegangen, dachte Jill. Aber sie war eine Kämpfernatur und würde nicht resignieren. Sie war durch schlimme Erfahrungen hart im Nehmen geworden und kämpfte wie verrückt, seit sie entdeckt hatte, dass sie schwanger war. Um ihren Sohn vor einem Leben zu schützen, das ihn zerstören würde. Sie kannte dieses Leben nämlich. Ihr Vater hatte dieses Leben früher einmal geführt und die ganze Familie mit in die Hölle hineingezogen.

Jetzt goss es in Strömen, und Jill war nass bis auf die Haut und völlig durchgefroren. Wie immer wirkte Vittorio gepflegt, elegant und gelassen. Genau das hatte sie am Anfang so attraktiv gefunden. Sein Auftreten und sein schönes Gesicht.

„Aber du hast nicht gewonnen“, erwiderte Jill zitternd vor Kälte. „Weil du ihn nicht bekommen wirst, du kannst mich entführen oder foltern – oder was du sonst mit Leuten machst –, ich werde dir niemals verraten, wo er ist.“

„Warum sollte ich dir wehtun wollen? Du bist die Mutter meines Sohnes, meines einzigen Kindes, und mir deshalb lieb und teuer.“

„Ich weiß, was ich für dich bin. Entbehrlich. Das hast du vor elf Monaten deutlich zu verstehen gegeben, als du mir deinen Schlägertrupp auf den Hals geschickt hast.“

„Meine Männer sind keine Schlägertypen, und du hast mich zu deinem Gegner gemacht, indem du meinen Sohn von mir ferngehalten hast“, konterte Vittorio hart, bevor seine Stimme wieder sanfter wurde. „Trotzdem bin ich bereit, unserem Sohn zuliebe unsere Meinungsverschiedenheiten zu vergessen. Also bitte, komm. Mir gefällt nicht, dass du so nah am Rand stehst. Es ist gefährlich.“

„Und du bist es nicht?“

„Das hängt wohl von deiner Definition ab. Ich bin an Wortbedeutungen nicht interessiert. Es wird Zeit, aus der Kälte herauszukommen.“ Entschlossen tat Vittorio einen Schritt nach vorn und griff nach ihrer Hand.

Nur dass sich Jill nicht von ihm anfassen lassen wollte. Nicht jetzt. Nie wieder. Sie wich so ruckartig zurück, dass sie ausrutschte und abstürzte.

Mit schnellen Reflexen gesegnet, packte Vittorio sie am Handgelenk.

Für den Bruchteil einer Sekunde hing Jill in der Luft, unter ihr nichts als der Strand und die Brandung.

Dann zog Vittorio sie zurück über die Kante und in seine Arme.

Er war groß, stark und überwältigend. So überwältigend. Und weil sie sich nach Wärme, Geborgenheit und Sicherheit sehnte, sank Jill gegen ihn.

Während er sie fest an sich gedrückt hielt, bildete sie sich einen Augenblick lang ein, dass er noch Gefühle für sie hatte. Dass sie einen Weg finden würden, Joe gemeinsam aufzuziehen …

Hatte sie völlig den Verstand verloren?

Keinesfalls konnten sie gemeinsam für Joe sorgen. Sie durfte nicht erlauben, dass er in die Welt der d’Severanos hineingeriet.

„Ich kann das nicht, Vittorio“, sagte sie von Kummer gequält. „Ich kann nicht zu deinem Leben gehören.“

Er streichelte ihr die Wange und schob ihr das nasse blonde Haar aus dem Gesicht. Seine Hand war herrlich warm, und die Liebkosung ließ Jill erschauern.

„Und was ist so falsch an meinem Leben?“, fragte er.

Ihr fiel nichts ein. Was sollte denn falsch sein, wenn Vittorio sie doch so sicher in seinen Armen hielt und sie sich gut dabei fühlte?

Im nächsten Moment dachte sie an ihren Vater, an seine Verbindung zur Detroiter Mafia und die schrecklichen Folgen für sie alle, obwohl niemand so teuer dafür bezahlt hatte wie ihre Schwester.

„Du weißt schon“, flüsterte Jill.

„Erklär es mir.“

Sie registrierte jede Stelle, an der sein Körper an ihren gepresst war. Seine Brust an ihren Brüsten. Seine Hüften an ihren. Seine Oberschenkel an ihren. Die Berührung war ebenso wundervoll wie unerträglich. Ihr Körper liebte es, liebte Vittorio. Und wollte so viel mehr. Doch ihr Verstand lehnte sich dagegen auf.

„Du weißt, wer du bist“, flüsterte sie. „Du weißt, was du machst.“

„Anscheinend hast du mich schuldig gesprochen, ohne mir eine Gelegenheit zu geben, meine Unschuld zu beweisen. Weil ich unschuldig bin. Ich bin nicht der Mann, für den du mich hältst.“

„Bestreitest du, dass du Vittorio d’Severano bist, Oberhaupt der Familie d’Severano aus Catania, Sizilien?“

„Selbstverständlich verleugne ich meine Familie nicht. Ich liebe meine Familie und bin für sie verantwortlich. Wieso ist es ein Verbrechen, ein d’Severano zu sein?“

Jill erwiderte seinen Blick fest. „Die d’Severanos füllen in Geschichtsbüchern viele Seiten. Erpressung, dunkle Geschäfte, Schutzgelder … und das sind nur die kleineren Delikte.“

„Jede Familie hat einen dunklen Punkt in ihrer Vergangenheit.“

„Deine hat mindestens hundert!“

Vittorios braune Augen funkelten. „Mach sie nicht schlecht. Und ja, wir sind eine sehr alte sizilianische Familie. Wir können unsere Vorfahren eintausend Jahre zurückverfolgen. Ich glaube nicht, dass du das kannst, Jill Smith.“

Die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ sie zusammenzucken. Vittorio gab ihr das Gefühl, gewöhnlich und billig zu sein: Er war Vittorio d’Severano und sie ein Nichts.

Natürlich hatte er recht. Sie war unwichtig. An wen sollte sie sich wenden? Niemand war stark und mächtig genug, um sie zu schützen. Wer würde denn für sie gegen die Mafia kämpfen? Wer würde es mit Vittorio aufnehmen, wenn ihn doch nicht einmal die amerikanische und die italienische Regierung zu Fall bringen konnten?

Also musste sie allein gegen Vittorio kämpfen. Wie sah die Alternative aus? Sollte sie ihm etwa Joe ausliefern? Niemals.

Bei dem Gedanken an ihren Sohn kam Jill zur Vernunft. Was hatte sie in Vittorios Armen zu suchen? Das war ja verrückt. „Du vergisst dich“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Wir sind hier in Amerika, nicht in Sizilien, und ich gehöre dir nicht. Lass mich los.“

Er gab sie frei, und sie ging davon, in die andere Richtung, weil sie Vittorio keinesfalls zu ihrem Haus führen würde.

„Wohin willst du?“, rief er ihr nach.

„Ich setze meinen Spaziergang fort.“

„Ich komme mit.“

„Bitte nicht.“

Vittorio folgte ihr trotzdem.

Während Jill durch Pfützen lief, überlegte sie fieberhaft, wie sie ihn loswerden und verhindern konnte, dass er herausfand, wo Joe sich aufhielt. Sie hatte ihr Handy nicht dabei, sonst hätte sie Hannah angerufen und gewarnt.

„Wie weit willst du eigentlich noch laufen, Jill?“, fragte Vittorio, als der Pfad endete und sie sich auf dem Bürgersteig einer Kreuzung näherten.

„Bis ich müde bin.“ Besorgt sah Jill, dass die Ampel rot blieb und nur Meter entfernt mit laufendem Motor eine Limousine stand.

Langsam fuhr der Fahrer weiter bis zur Ecke, wendete und blockierte die Kreuzung. Die Türen gingen auf, und zwei von Vittorios Bodyguards stiegen aus.

Unter anderen Umständen hätte Jill vielleicht gelacht. Wer außer Vittorio hatte Leibwächter, die wie Models gekleidet waren? Seine Männer trugen elegante Anzüge, feine Lederschuhe und – gürtel, die neuesten Designersonnenbrillen, waren gepflegt und weltmännisch … und fielen auf. Aber Vittorio musste das wissen. Vittorio Marcello d’Severano überließ nichts dem Zufall.

Die Leibwächter beobachteten sie mit beruflichem Interesse. Offensichtlich warteten sie auf ein Zeichen ihres Chefs. Jill drehte sich zu Vittorio um.

„Sag ihnen, sie sollen wegfahren.“

„Ich habe ihnen gerade befohlen, dort zu halten.“

„Das Auto versperrt mir den Weg über die Straße.“

„Ja, ich weiß. Wir können nicht den ganzen Tag spazieren gehen. Wir haben Dinge zu besprechen und Entscheidungen zu treffen.“

„Zum Beispiel?“

„Wie wir das gemeinsame Sorgerecht für unseren Sohn handhaben wollen.“

„Tun wir nicht. Er gehört mir.“

„Und in welchem Land er eingeschult werden soll.“

„In den Staaten. Er ist Amerikaner.“

„Sizilianer ist er auch“, entgegnete Vittorio sanft. „Mir gehört er auch. Rechtmäßig kannst du ihn nicht von mir fernhalten.“

„Und du kannst ihn mir nicht rechtmäßig wegnehmen.“

Vittorio klopfte sich auf die Brust. „Zum Glück habe ich hervorragende juristische Berater. In den vergangenen Monaten habe ich mit den besten amerikanischen und italienischen Anwälten alles geregelt. Ich habe die Dokumente in der Mantelinnentasche. Du hast unseren Sohn die ersten elf Monate seines Lebens gehabt. Die nächsten stehen mir zu.“

„Wie bitte?“

„Wir teilen ihn uns, oder du verlierst ihn ganz.“

„Niemals!“

„Man wird dich für ungeeignet befinden, Mutter zu sein, wenn du noch einmal versuchst, mit ihm davonzulaufen. Du willst doch sicher nicht wegen Missachtung des Gerichts verurteilt werden. Es würde deinen Aussichten ernsthaft schaden, das Sorgerecht jemals zurückzubekommen.“

Entsetzt starrte Jill ihn an. „Das denkst du dir aus, Vittorio.“

„Ich würde dich nicht anlügen. Wir setzen uns ins Auto, und ich zeige dir die Papiere.“

Er ließ es so einfach klingen. Einsteigen und sich die Dokumente ansehen … Sie fürchtete, dass dieser eine kleine Schritt dazu führte, nie wieder ein sicheres oder normales Leben führen zu können.

Jill holte tief Atem. Schon waren ihre Sinne überlastet. Groß und breitschultrig, war Vittorio unbestreitbar attraktiv. Aber vor zwanzig Monaten hatte sie sich nicht nur in seinen Körper verliebt. Sondern auch in seinen Verstand. Wahrscheinlich war er der intelligenteste Mensch, dem sie jemals begegnet war, und sie hatte die Gespräche mit ihm genossen.

Autor

Jane Porter
Bereits in der Grundschule schrieb Jane ihr erstes Manuskript: Es war 98 Seiten lang und wurde von einem Jungen in ihrer Klasse zerrissen. Jane weinte, der Junge musste die zerrissenen Seiten zusammenkleben und kam mit einer Verwarnung davon, während Jane fürs Schreiben im Unterricht bestraft wurde und so lernte, dass...
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