Das Herz des griechischen Herzogs
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Willow Hall hatte noch nie einen nackten Mann gesehen. Zumindest keinen außerhalb ihres Computerbildschirms, wenn sie einmal versehentlich im Internet falsch geklickt hatte. Und ganz bestimmt keinen, der gerade aus einem See stieg, in dem er Augenblicke zuvor noch geschwommen war – ganz so, als wäre es ihm völlig egal, dass ihn jemand sehen könnte.
Dieser nackte Mann vor Willows Augen allerdings rechnete vermutlich nicht damit, dass irgendjemand hinter den Bäumen am Ufer lauern und ihn beobachten könnte. Schließlich befand sich der See auf dem Gelände des Thornhaven-Anwesens und somit in Privatbesitz.
Thornhaven war seit dem Tod seines Besitzers vor einigen Monaten verlassen. Es war also sonnenklar, dass der Fremde sich hier unbefugt aufhielt.
Nun ja. Genau genommen war sie, Willow, ebenso ein Eindringling wie er – auch wenn sie direkt nebenan wohnte. Schon als Kind hatte sie in diesen Wäldern gespielt. Sie war hier praktisch zu Hause.
Als sie heute an diesen Ort gekommen war, um Brombeeren zu pflücken, hatte sie im Leben nicht erwartet, dass jemand im See schwimmen würde. Nackt schwimmen!
Sie sollte das Richtige tun und gehen. Sie sollte dem Hausmeister Bescheid geben, dass ein Fremder im See schwamm. Auf gar keinen Fall sollte sie hier stehen bleiben und wie eine Spannerin durch die Bäume spähen.
Doch sie rührte sich nicht.
Irgendetwas ließ sie wie angewurzelt auf der Stelle verharren. Denn als der Fremde aus dem See trat, rann das Wasser in glitzernden Kaskaden über seinen Körper. Die Sommersonne tauchte seine warm schimmernde Haut in goldenes Licht und machte aus jedem definierten Muskel ein Kunstwerk.
Er war groß, besaß breite Schultern und schmale Hüften. Lange kräftige Beine. Brust und Bauch wie aus Marmor gemeißelt – die Verkörperung der perfekten männlichen Form aus harten Flächen und perfekten Vertiefungen.
Sein Haar glänzte schwarz und glatt. Und während er langsam aus dem Wasser stieg, hob er die Hände und schob es aus seiner Stirn zurück, wobei sich sein Bizeps überaus reizvoll spannte.
Mit einem Mal fühlte sich Willows Mund ganz trocken an. Unerklärliche Hitze wallte in ihr auf und ließ ihre Wangen brennen. Das hier war falsch, ganz falsch. Normalerweise tat sie so etwas nicht. Vielleicht hätte sie früher, als Teenager, nicht zweimal darüber nachgedacht, aber heute war sie fünfundzwanzig …
Trotzdem konnte sie sich nicht bewegen. Unvermittelt wurde ihr bewusst, dass sie den Korb voller Brombeeren fest umklammert hielt. Es juckte ihr in den Fingern, den Unbekannten zu berühren und die Linien seiner faszinierenden Muskeln nachzufahren – nur um sicherzugehen, dass er wirklich existierte. Denn jemand, der so atemberaubend aussah, konnte gar nicht real sein. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen solchen Mann gesehen oder getroffen – nicht in dem Café, in dem sie in dem Dorf Thornhaven arbeitete, oder anderswo.
Sie bewegte sich nicht, schaute atemlos zu, wie das Sonnenlicht fast liebevoll jedes Anspannen und Entspannen seiner Muskeln zu verfolgen schien, als er sich über den kleinen Haufen mit seiner Kleidung beugte, der auf dem steinigen Ufer lag. Er griff nach einem dunkelblauen Shirt, richtete sich auf und begann, sich rasch abzutrocknen. Willows Herzschlag setzte aus.
Ihr Blick wanderte tiefer, über seine schlanken Hüften und muskulösen Oberschenkel zu dem männlichsten Teil von ihm …
Ihre Wangen fühlten sich an, als würden sie glühen.
Sie sollte definitiv nicht hinschauen.
Was sie stattdessen tun sollte, war, zum Cottage zurückzugehen, in dem sie mit ihrem Vater lebte, weil sie ihn nicht lange allein lassen wollte. Vor neun Jahren hatte er einen Schlaganfall erlitten, der ihn körperlich sehr eingeschränkt und von ihr abhängig gemacht hatte – was ihm überhaupt nicht gefiel. Niemand sonst konnte sich um ihn kümmern, Willow war seine einzige Angehörige, und sie nahm ihre Pflichten sehr ernst.
Deshalb musste sie aufhören, den Unbekannten anzustarren und endlich umkehren.
Unterdessen hatte er mit gesenktem Kopf begonnen, seine beeindruckende Brust abzureiben. Sein Profil war ebenso perfekt wie der Rest von ihm. Hohe Stirn und gerade Nase, atemberaubende Wangenknochen, markantes Kinn. Sein Mund war wunderschön geformt, und auf seinen sinnlichen Lippen lag ein Ausdruck, als wisse er um etwas sehr Sündiges und Verführerisches …
Auf einmal wollte sie unbedingt wissen, was genau dieses Etwas war.
Wolltest du nicht von hier verschwinden?
Ja, genau das hatte sie vor. Und deshalb würde sie nun gehen. Jetzt sofort.
„Von dort drüben haben Sie einen besseren Blick“, sagte der Mann beiläufig und deutete mit einem Nicken auf die Bank unmittelbar vor sich.
Willow erstarrte beim Klang seiner tiefen, samtigen Stimme. Flüchtig schoss es ihr durch den Kopf, dass sein Akzent auf einen Aristokraten hindeutete. Doch sein Tonfall ließ vermuten, dass er viel Zeit außerhalb von England verbracht hatte. Diese Stimme berührte etwas in ihrem Inneren, von dem sie nicht genau wusste, was es war.
Sie ignorierte das Gefühl und blieb ganz still. Es war nicht wirklich möglich, dass er sie angesprochen hatte, oder? Die Büsche und Bäume verbargen sie doch, es war unmöglich, dass er sie entdeckt hatte! Außerdem hatte er nicht einmal in ihre Richtung geschaut.
Vielleicht redete er mit jemand anderem. Jemand, den sie nicht gesehen hatte. Oder er telefonierte. Aber nein, das konnte nicht sein. Er war gerade aus dem See gekommen, und angesichts seiner Nacktheit war es offensichtlich, dass er kein Handy bei sich trug.
„Es sind übrigens Ihre Haare“, fuhr er fort, beugte sich wieder über seinem Kleiderstapel und hob eine schlichte schwarze Boxershorts auf. „Falls Sie sich gefragt haben, was Sie verraten hat. Ihr Haar ist sehr hell. Ich schlage vor, es das nächste Mal mit einem Schal oder einer Mütze zu bedecken, wenn Sie sich im Gebüsch verstecken und jemanden ausspionieren wollen.“
Oh, oh. Er sprach tatsächlich mit ihr …
Verlegenheit und Scham stiegen in ihr auf, auf einmal war ihr so heiß wie seit Jahren nicht mehr. Sie fühlte sich wie ein Kind, wenn ihr Vater mit dieser unheimlich ruhigen Stimme mit ihr sprach, die er immer dann benutzte, wenn sie etwas falsch gemacht hatte.
Du hast etwas falsch gemacht. Du hast die Privatsphäre dieses Mannes verletzt.
Wut über sich selbst wallte in ihr auf. Nein! Sie würde nicht wütend werden. Ihre Gefühle glichen gefährlichen Gebieten, von denen sie sich fernhalten musste.
Was sie jetzt tun musste, war, sich ihren Fehler einzugestehen, sich bei dem Fremden zu entschuldigen und zu versprechen, dass es nicht wieder passieren würde.
Willow holte tief Luft, schluckte den Kloß im Hals hinunter und trat hinter dem Busch hervor.
Der gut aussehende Mann richtete sich auf. Er war immer noch nackt. In einer Hand hielt er sein T-Shirt, in der anderen seine Unterwäsche. Er schien nicht im Geringsten verlegen zu sein. Andererseits gab es auch nichts, dessen er sich schämen müsste.
Seine Augen schimmerten in einem tiefen, dunklen Mitternachtsblau. In dem Moment, als ihre Blicke sich trafen, spürte sie etwas wie einen kurzen elektrischen Schlag. Alle Luft wich aus ihren Lungen, ihr Kopf war völlig leer.
Dann lächelte er, und sie vergaß, wo sie sich befand. Sie vergaß, wer sie war. Denn dieses Lächeln war warm und sinnlich zugleich. Auf einmal fühlte sie sich seltsam fiebrig. Sie hatte keine Ahnung, warum ein kleines Lächeln all diese Dinge mit ihr anstellte.
Er ist gefährlich.
Der Gedanke kam aus dem Nichts – instinktiv, obwohl er keinen Sinn ergab. Denn der Fremde wirkte nicht bedrohlich. Und merkwürdige Schwingungen gingen auch nicht von ihm aus. Er stand einfach nur da und lächelte.
„Möchten Sie weiter zuschauen?“ Belustigung funkelte in seinen Augen. „Oder darf ich mich anziehen?“
Es kostete sie einige Mühe, ihr Gehirn wieder in Gang zu setzen. „Ich entschuldige mich“, brachte sie krächzend hervor. „Ich habe ein Plätschern gehört und wollte nachsehen, was das ist.“ Dann fügte sie hinzu: „Wissen Sie, dass dies hier ein Privatgrundstück ist?“
Der amüsierte Ausdruck in seinen Augen intensivierte sich. „Oh ja, das weiß ich. Das ist doch der Sinn von Hausfriedensbruch, oder?“
Das ergab doch keinen Sinn. Warum sollte jemand absichtlich das Gesetz brechen wollen? Hatte er keine Angst, dass sie ihn anzeigen würde? Aber er wirkte überhaupt nicht besorgt. Tatsächlich schien er vor rein gar nichts Angst zu haben, was ihr irgendwie nicht fair vorkam. Seine Haltung war ziemlich provozierend, und Willow begann, sich zu ärgern.
Sie richtete sich zu ihrer nicht unbeträchtlichen Körpergröße auf. Im selben Moment wurde ihr bewusst, dass er noch sehr viel größer war als sie, was sie zusätzlich ärgerte. Und noch immer unternahm er nichts, um sich zu bedecken.
„Nun“, sagte sie kühl, „ich schlage vor, dass Sie sich anziehen und das Grundstück verlassen. Der Hausmeister hier ist nicht sonderlich freundlich, er könnte auf die Idee kommen, die Polizei zu rufen.“
„Zur Kenntnis genommen“, erwiderte er trocken. „Sind Sie vielleicht die Eigentümerin?“
„Nein, die Nachbarin. Ich habe die Erlaubnis, hier zu sein.“ Was durchaus stimmte. Ihr Vater und der vorherige Besitzer von Thornhaven – der verstorbene Herzog von Audley – waren gute Freunde gewesen, bevor der Herzog zu einem etwas verschrobenen Einsiedler geworden war. Damals hatte er großes Verständnis für Willows Streifzüge über sein Grundstück gezeigt. Und ihrem Vater hatte es gut gepasst, sie aus dem Haus zu haben.
„Ich verstehe.“ Der Mann neigte den Kopf. In seinen Augen lag ein schelmisches Funkeln. „Dann sind Sie fertig mit Ihren Betrachtungen?“
Das Blut schoss Willow in die Wangen, was sie tapfer ignorierte. Wenn er angesichts der ganzen Situation völlig ruhig bleiben konnte, dann würde ihr das auch gelingen.
„Ja, ich denke schon.“ Sie bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. „Schließlich gibt es da nicht viel zu sehen.“
Insgeheim erwartete sie, dass er verärgert oder zumindest genervt reagierte. Stattdessen lachte er. Und der Klang seines Lachens traf sie wie ein Schock, hüllte sie ein wie ein Kokon aus dunkler, geschmolzener Schokolade. Alles, woran sie denken konnte, war, dass sie noch nie jemanden so lachen gehört hatte.
„Es liegt mir fern, Ihnen zu widersprechen“, entgegnete er. „Aber die Röte auf Ihren Wangen scheint auf das Gegenteil hinzudeuten.“
Oh, er war sehr gefährlich.
„Mein Erröten ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass ich plötzlich von einem nackten Fremden angesprochen wurde, sonst nichts“, sagte sie. „Sie könnten sich jetzt wirklich anziehen.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Und Sie könnten sich umdrehen.“
Willow ignorierte das Brennen in ihren Wangen. „Dafür ist es nun ein bisschen spät, oder?“
„Stimmt.“ Die Belustigung in seinen Augen verwandelte sich in etwas anderes. „In diesem Fall wird es Ihnen nichts ausmachen, wenn ich mir Zeit lasse.“ Wieder neigte er den Kopf. Und obwohl sein Blick nicht von ihrem Gesicht wich, beschlich sie das Gefühl, jeder Zentimeter ihres Körpers würde abgetastet. „Bleiben Sie und schauen Sie mir beim Anziehen zu, oder pflücken Sie weiter Beeren. Ihre Entscheidung. Beides ist kein Problem für mich.“
Sie öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie sicher nicht bleiben würde, doch er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. Stattdessen drehte er sich um und schlenderte zu dem Kleiderstapel hinüber, auf dem sie schwarze Laufshorts und teuer aussehende Laufschuhe ausmachte. Dann begann er, sich in aller Seelenruhe anzuziehen.
Seine Bewegungen besaßen eine athletische Anmut, die sie seltsam in ihren Bann zog. Erst nach etlichen Augenblicken wurde ihr klar, dass sie mitnichten wieder Brombeeren pflückte, sondern einfach stehen geblieben war.
„Ich gehe jetzt“, verkündete sie – sowohl zu sich selbst als auch zu dem Unbekannten.
Er reagierte nicht, sondern beugte sich vor, um seine Laufschuhe zu binden. Sein schwarzes Haar glänzte in der Sonne.
Doch noch immer rührte sie sich nicht. Es war, als besäße ihr Körper einen eigenen Willen und wollte, dass sie in seiner Nähe blieb … was überhaupt keinen Sinn ergab.
In der High-School hatte sie sich ein paar Mal in Jungs verknallt, aber seither nicht mehr. Sie hatte weder Zeit noch Lust für solche Dinge – nicht, wenn sie sich vor allem um ihren Vater kümmern und genug Geld verdienen musste, um ihre Ausgaben zu decken. Das waren weitaus wichtigere Dinge. Genau aus diesen Gründen hatte sie keine Ahnung, warum sie jetzt immer noch hier stand und von diesem Mann so fasziniert war.
Sein T-Shirt in der Hand, erhob er sich wieder. Er machte keine Anstalten, es anzuziehen. Als er sich diesmal zu ihr umdrehte und seinen sonnengebräunten Körper präsentierte, lächelte er nicht.
Auf einmal war Willow sicher, dass die Gefahr, die sie vorhin gespürt hatte, gleich sehr real werden würde. Doch seltsamerweise durchströmte sie statt Angst ein Gefühl von Aufregung.
Du weißt, dass das falsch ist. Geh endlich.
Plötzlich schien eine seltsame Spannung zwischen ihnen zu liegen, die Luft fühlte sich heiß und elektrisch aufgeladen an, wie kurz vor einem Sommergewitter.
Sie musste endlich fort von hier – fort von seiner verwirrenden Gegenwart. Fort von dem trügerischen Gefühl der Aufregung und dem Kribbeln in ihrem Magen, die von tausend Schmetterlingsflügeln zu rühren schien. Fort von all diesen körperlichen Reaktionen, von denen Willow genau wusste, dass sie falsch und schlecht für sie waren.
Wie ein großer Panther, der sich an seine Beute heranpirscht, kam er auf sie zu. Er bewegte sich zielstrebig und ohne zu zögern. Schon stand er so nahe vor ihr, dass sie die Wassertropfen auf seiner Haut glitzern sah. Sie atmete den frischen Duft des Sees ein, unter dem sich etwas Wärmeres, Erdiges und zutiefst Männliches verbarg.
Ihr stockte der Atem. Dufteten alle Männer so gut – oder nur er?
„Sieh dich an.“ Seine tiefe Stimme klang weich und warm. Die Vertrautheit darin ließ sie erstarren. „Du hast Blätter im Haar.“ Völlig machtlos ließ sie es zu, dass er über sie griff und etwas aus ihrem Zopf zog. „Du siehst wie die Jägerin Diana aus … wusstest du das?“ Er zupfte ein weiteres Blatt aus ihrem Haar. „Was hast du gejagt, Diana? Vielleicht mich, hmm? Nun, deine Jagd ist beendet. Du hast mich gefangen.“ Dann ließ er seine Hand über ihr Haar gleiten, umfasste den Zopf mit seiner Faust, fest und zart zugleich. Mit leichtem Druck zwang er Willow, den Kopf nach hinten zu neigen.
Wie gebannt ließ Willow es geschehen. Noch nie war sie so berührt worden. Noch nie hatte ein Mann so dicht vor ihr gestanden, dass sie die Hitze, die von ihm ausging, spüren und seinen Duft einatmen konnte. Noch nie war sie von so starken Händen so vorsichtig festgehalten worden.
Hunger stieg in ihr auf – verboten und heiß. Nur worauf, das wusste sie nicht.
Er hingegen schien es ganz genau zu wissen. „Zeit, deinen Preis einzufordern, meine Jägerin.“ Dann beugte er sich vor und presste seine Lippen auf ihre.
Alexios Templeton, siebter Herzog von Audley und in den Klatschspalten der Welt als Temple bekannt, war es gewohnt, Frauen zu küssen, die er nicht kannte.
Er hatte es schon viele Male getan, und es war ihm stets ein Vergnügen. Frauen im Allgemeinen empfand er als Vergnügen – und er achtete sehr darauf, dass sie dasselbe über ihn dachten. Im Allgemeinen jedoch beschränkte er seine Aufmerksamkeit auf Prominente und Sternchen – erfahrene Frauen, die genau wussten, wer er war und worauf sie sich mit ihm einließen.
Keine völlig fremden jungen Frauen, die mit Blättern in den Haaren über sein Anwesen spazierten, nachdem sie ihn beim Schwimmen erwischt hatten.
Tatsächlich war er sich nicht sicher, was ihn dazu gebracht hatte, diese Unbekannte zu küssen.
Hätte sie ihn beim Laufen erwischt, hätte er es vielleicht auf das Adrenalin geschoben. Aber als er aus dem Wasser gekommen war, war er eiskalt gewesen. Es war sein normaler Zustand: beherrscht und kühl. Seit seiner Ankunft heute Morgen in Thornhaven, wo er die Angelegenheiten seines Vaters regeln musste, hatte er alles unter Kontrolle.
In dem alten Herrenhaus gab es eine Menge alter Geister, weshalb er sich für ein bisschen Bewegung entschieden hatte, um sie loszuwerden. Schon kurz nach seinem Eintreffen war er zu einem Lauf aufgebrochen, doch selbst zwanzig Meilen und ein Bad in Thornhavens eisigem See hatten nicht das Geringste dazu beigetragen, das Grauen in ihm zu vertreiben – das Grauen, das ihn in dem Moment gepackt hatte, als er die Schwelle des Hauses überschritten hatte.
Erst diese Frau hatte ihm die ersehnte Ablenkung verschafft.
Als er aus dem Wasser kam, hatte er nur einen kurzen Blick auf ihr helles Haar erhaschen können. Es amüsierte ihn, wie sie versuchte, sich zu verstecken. Denn diesen leuchtenden Goldton konnte man nicht verstecken, nicht inmitten all des Grüns.
Seine Belustigung verflog, als sie hinter den Bäumen hervortrat.
Groß und von klassischer Schönheit, mit langen Haaren in allen Nuancen von Blond und Braun, Toffee und Gold. Sogar ein paar silberne Strähnen glaubte er ausmachen zu können. Ihre Züge bildeten eine faszinierende Mischung aus sinnlich und mädchenhaft, und ihre Augen schimmerten in dem intensiven Goldbraun eines edlen Topases. Nur an ihre Kleidung konnte er sich im Nachhinein nicht mehr erinnern.
Sie sah aus wie eine goldene Göttin, die ihn auf eine Weise betrachtete, als habe sie so etwas wie ihn in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen. Als stürbe sie vor Durst und Hitze – und er sei kühles, erfrischendes Wasser.
Ständig musterten ihn Frauen mit einem unterschiedlichen Grad an Begierde, aber mit so einer Verwunderung war er noch nie angestarrt worden.
Alexios wollte nur die Blätter aus ihren Haaren zupfen. Zumindest redete er sich das ein, als er auf sie zuging. Die Atmosphäre zwischen ihnen knisterte wie elektrisch aufgeladen.
Er hatte nicht geplant, seine Finger durch ihr weiches Haar gleiten zu lassen. Er hatte nicht vorgehabt, seinen Kopf über ihren zu beugen und diesen wunderschönen Mund zu küssen.
Sie rührte sich nicht einmal. In ihren Augen brannte ein Hunger und eine Frage, um die sie vermutlich nicht einmal wusste.
Also gab er ihr eine Antwort. Ohne lange zu überlegen.
Ihre Lippen fühlten sich warm an, doch er spürte die Anspannung, die von der Fremden ausging. Er ahnte ihren Schock. Deshalb verharrte er, wie er war, seinen Mund auf ihren gedrückt, die Finger in ihrem seidigen Haar. Er wartete darauf, dass sie ihn entweder wegstieß oder den nächsten Schritt tat.
Ein Schauer durchlief sie, als habe sie ihren inneren Kampf ausgefochten und ein Teil von ihr hätte kapituliert. Ihre Lippen wurden weicher, sie öffnete den Mund und gewährte ihm Einlass.
Unwillkürlich verstärkte er seinen Griff um ihren Zopf, als der säuerliche Geschmack von Brombeeren etwas Süßerem wich, das nach Honig schmeckte. Verlangen stieg in ihm auf. Bevor er wusste, was er tat, hatte er den Kuss intensiviert.
Ein leises Stöhnen entwich ihrer Kehle. Er spürte, wie sie mit den Fingern zögernd und leicht über seine Brust streichelte. Es fühlte sich an, als sei ein Stern vom Himmel gefallen und auf seiner Haut zur Ruhe gekommen.
Theos, wie es brannte! Die Berührung riss ihn unsanft aus seinen Fantasien und befreite ihn von dem schleichenden Gefühl der Unwirklichkeit, das ihn seit seiner Rückkehr nach Thornhaven in Besitz genommen hatte. Das Gefühl, im Nichts zu verschwinden und ein Geist zu werden …
Plötzlich veränderte sich die zarte Berührung ihrer Hand, es war kein Streicheln mehr, sondern ein festes Drücken. Die Unbekannte stieß ihn weg.
Aber er wollte sie nicht gehen lassen! Denn sobald er das tat, das wusste er, würde dieses schreckliche Gefühl in ihm zurückkehren. Andererseits: Er hatte sich noch nie jemandem aufgedrängt, der ihn nicht wollte. Also zwang er sich, seine Hand zu öffnen und ließ sich von ihr nach hinten schieben.
Ihre Augen schimmerten wie flüssiges Gold im Sonnenlicht. Ihre Lippen sahen voll und rot aus. Und er sah, wie an ihrem Hals eine Ader pulsierte.
„Ich …“, setzte sie in einer tiefen, rauchigen Stimme an. „Ich … weiß nicht … ich kann nicht …“ Sie verstummte. Schwer atmend starrte sie ihn an.
Bevor er etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und flüchtete den Pfad entlang, der um den See führte.
Ganz still stand Alexios da und kämpfte mit dem Wunsch, ihr nachzulaufen und sie zu fangen. Dann würde er sie sanft auf den Waldboden betten und sich ablenken, indem er in ihrem Körper zur Ruhe kam.
Doch seine Triebe hatte er schon immer mit eiserner Kontrolle beherrscht. Es gefiel ihm nicht, wie ungezügelt sie auf einmal aus ihm hervorzubrechen drohten. Er war kein Mann, der Frauen hinterherjagte. Auf keinen Fall würde er jetzt damit anfangen, ganz gleich, wie sehr ihn die Vorstellung reizte.
Tief ein- und ausatmend wartete er, bis der Hunger verflogen war. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie so zu küssen? Offenbar hatte ihn die Rückkehr auf das Anwesen seiner Familie mehr mitgenommen, als er geahnt hatte.
Es würde nicht noch einmal passieren, so viel war sicher.
Er mochte für seinen erotischen Appetit berühmt sein, aber er hatte diesen Hunger unter Kontrolle. Vielleicht würde er eine seiner liebsten Gespielinnen anrufen und sie einladen, das Wochenende mit ihm in der wilden Landschaft Yorkshires zu verbringen.
Immerhin war er im Bett sehr, sehr gut.
Alexios hatte das Haus fast erreicht, als sein Handy klingelte. Er telefonierte nicht gerne, wenn er unterwegs war, aber sein sechster Sinn für Ärger, der sich im Geschäftsleben als überaus nützlich erwiesen hatte, meldete sich. Also blieb er stehen, zog das Gerät aus der Tasche und schaute auf das Display.
Es war Jane, seine effiziente Assistentin. Und ihr Anruf bedeutete, dass es etwas gab, um das er sich kümmern musste.
Er drückte auf eine Taste. „Was ist los?“
„Es gibt ein Problem mit dem Testament.“ Wie immer kam sie direkt auf den Punkt – eine Eigenschaft, die er an ihr schätzte.
Natürlich gab es ein Problem mit dem Testament. Wann hatte sein Vater ihm jemals keine Probleme bereitet? Alexios ließ seinen Blick über die Wälder und Moore schweifen, die das Herrenhaus umgaben. „Erklärung, bitte.“
„Die Anwälte haben mich gerade angerufen. Anscheinend betrifft es das Haus … es gibt Klauseln in dem Testament, die bisher übersehen wurden.“
Auch das war keine Überraschung. Selbst nach seinem Tod gelang es Andrew Templeton, seinem Sohn Steine in den Weg zu legen.
„Was für Klauseln?“, fragte er, obwohl ein Teil von ihm ahnte, was es damit auf sich haben würde.
„Sie müssen verheiratet sein“, erwiderte Jane und zögerte dann, was völlig untypisch für sie war.
Alles in Alexios verkrampfte sich. „Und?“, drängte er.
Janes Stimme klang leise, als sie weitersprach. „Und Sie müssen einen Sohn haben.“
Eine Woche später machte Willow das Arbeitszimmer ihres Vaters im ersten Stock gründlich sauber. Es war ein kleiner gemütlicher Raum auf der Rückseite des Hauses mit einem wunderbaren Blick auf den Rosengarten, den sie selbst zu pflegen versuchte, seitdem ihr Vater nicht mehr dazu in der Lage war. Er wirkte etwas verwildert, weil sie so gut wie nichts über die Pflege von Rosen wusste. Aber sie konnte es sich nicht leisten, einen Gärtner einzustellen.
An diesem Tag machte ihr der Anblick des ungepflegten Gartens wieder zu schaffen. Er beleidigte ihren Sinn für Ordnung, also hörte sie auf, aus dem Fenster zu schauen und widmete sich stattdessen den Regalen. Weil ihr Vater keine Treppen mehr steigen konnte, war er so gut wie nie hier. Eigentlich war das Staubwischen demnach sinnlos, aber es gefiel ihr nicht, wenn sein Büro unbenutzt aussah.
Außerdem sah sie sich gerne seine Büchersammlung an – nicht so sehr die medizinischen Lehrbücher, sondern die über Botanik. Ihre Faszination für den Wald war der Grund, weshalb sie gerne alles las, was mit Pflanzen oder Natur zu tun hatte. Manchmal träumte sie davon, an der Universität ein naturwissenschaftliches Studium zu beginnen … aber das war natürlich unmöglich.
Sie verdiente kaum genug, um die laufenden Kosten für sich, ihren Vater und den Unterhalt für das Cottage zu decken. Allein die Studiengebühren würden ihr Budget übersteigen. Und schließlich brauchte sie Zeit, um sich um ihn zu kümmern.
Ein Fernstudium wäre eine Option, aber dann bliebe immer noch die Frage nach den Gebühren.
Sie konnte ihn nicht allein lassen. Er war ihr Vater, sie war es ihm schuldig. Seine Karriere als Chirurg hatte er ihr geopfert, weil er sie nach dem Tod ihrer Mutter allein großgezogen hatte. Was nicht immer einfach gewesen war. Willow war ein schwieriges Kind gewesen. Selbst die früher angestellten Kindermädchen hatten Probleme mit ihr gehabt.
Es war nicht seine Schuld, dass sie nur wenig Geld besaßen und das Cottage an allen Ecken und Enden reparaturbedürftig war. Es war nicht seine Schuld, dass sie ihm nicht so helfen konnte, wie es eigentlich nötig gewesen wäre.
Es war nicht seine Schuld, dass sie praktisch sein Leben ruiniert hatte.
Das alles wusste Willow. Genauso wie sie wusste, dass es ihre Aufgabe war, es wieder in Ordnung zu bringen.
Stirnrunzelnd musterte sie das Staubtuch, während sie in ihrem Kopf verschiedene Szenarien durchspielte, wie sich Geld verdienen ließe.
Die zusätzlichen Schichten, die sie im Café übernommen hatte, würden das Schlimmste überbrücken, aber sie boten keine langfristige Lösung. Nein, sie würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen.
Das Handy in ihrer Hosentasche summte.
Sie zog es heraus und warf einen Blick auf das Display. Ihr Vater hatte eine SMS geschickt.
Komm runter ins Wohnzimmer.
Seit er nicht mehr laufen konnte, schickte er immer eine Nachricht, wenn er etwas brauchte. Prinzipiell funktionierte das System gut, außer wenn sie gerade beschäftigt war und er ungeduldig wurde. Zum Glück kam das nur selten vor.