Der Wikinger und die schottische Nonne
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Herbst 874 – Königreich Maerr, an der Westküste des heutigen Norwegens
Wie erklärt man seinem ältesten Bruder, den man am meisten von allen bewundert, dass man für den Tod seiner geliebten Frau verantwortlich ist?
Sandulf Sigurdsson saß da, den verletzten Schwertarm umklammernd, und beobachtete den Pfad, der nach Norden führte. Von dort musste sein Bruder jeden Moment zurückkehren. Der Antwort auf die Frage war Sandulf allerdings noch kein bisschen nähergekommen als in dem Augenblick, als der Erste Steuermann seines Vaters ihn aus der verbrannten Ruine des Langhauses gezogen hatte.
Das Letzte, was sein ältester Bruder vor seinem Aufbruch zu ihm gesagt hatte, war: Ich zähle auf dich, Sandulf. Ich vertraue darauf, dass du meine Liebste um jeden Preis beschützt.
Sandulf hatte es versucht. Als jüngster von fünf Söhnen hatte er sich sein gesamtes bisheriges Leben lang bemüht, mit seinen älteren Brüdern mitzuhalten und ihnen zu beweisen, dass er ein Mann war, der ihren Respekt verdiente. Immerhin hatte er bereits vier Jahre als Krieger hinter sich – er war nicht mehr der kleine Junge, der ungeschickt hinter ihnen herlief und dabei sein Holzschwert schwenkte. Eigentlich hatte er geglaubt, die letzten Zweifel im vergangenen Sommer ausgeräumt zu haben – damals hatte er mit seinem Verhalten den Verlauf einer Schlacht entscheidend gewendet. Bei seinem Vater schien es ihm jedenfalls gelungen zu sein. Nach dem Sieg hatte er seinen jüngsten Sohn in die strategischen Überlegungen und Diskussionen mit einbezogen, doch seine Brüder, vor allem Brandt, verhielten sich ihm gegenüber noch immer abschätzig, und sie zogen ihn nach wie vor erbarmungslos auf.
Als Ingrid ihm gestanden hatte, dass sie sich etwas unwohl fühlte und sich vor Beginn der Zeremonie noch einmal ausruhen wollte, da hatte Sandulf im Langhaus den perfekten Ort für sie gefunden. Es war eine Stelle ganz in der Nähe der Türen, sodass sie schnell rauskonnte, sollte die Luft in dem fortgeschrittenen Stadium ihrer Schwangerschaft zu stickig für sie werden. Er hatte ihr sogar ein Kissen gesucht und fürsorglich in den Rücken geschoben. Ehe sie protestieren konnte, besorgte er ihr auch noch ein paar der Honigpflaumen, die sie so gern aß. Lachend bot sie ihm eine der Pflaumen an und sagte, dass er eine Frau eines Tages sehr glücklich machen würde, denn wenn die Zeit reif war, würde er einen sehr guten Ehemann abgeben.
Und dann brach die Hölle los.
Innerhalb von wenigen Atemzügen verwandelte sich ein Ort voller Lachen und süßer Honigpflaumen in ein grausames Blutbad.
Ja, es dauerte weniger als die Zeitspanne, die ein Funke benötigte, um vom Feuer aufzustieben und zu erlöschen, um die Herrschaft seines Vaters, des großen und furchterregenden Königs von Maerr, Beschützer der Familie, jäh und brutal zu beenden. Die Kehlen der Braut seines mittleren Bruders und deren Vaters waren aufgeschlitzt worden, kaum dass sie die vermeintliche Zuflucht des Langhauses betreten hatten. Brennende Fackeln wurden auf den mit Binsen ausgelegten Boden geworfen, ehe jemand begreifen konnte, dass man gleichzeitig die Türen verriegelt hatte.
Trotz des beißenden Qualms versuchte Sandulf, sein Versprechen zu halten und seine Schutzbefohlene in Sicherheit zu bringen, ehe er seinem Instinkt folgte und sich auf die Mörder seiner Familie stürzte. Doch mit ihrem dicken, schwangeren Bauch hatte Ingrid sich nur ungelenk bewegen können. Nachdem er festgestellt hatte, dass die Tür neben ihnen verschlossen war, drängte er Ingrid zu der Geheimtür hinter der hohen Tafel, von deren Existenz nur seine Familie wusste.
Halb versteckt durch den immer stärker werdenden Rauch blockierte ihnen dort jedoch ein Meuchelmörder mit einer silbrigen Narbe in Form einer Sternschnuppe auf der Wange den Weg mit bluttriefendem Schwert. Als er Ingrids Schönheit bemerkte, verstärkte sich sein widerwärtiges Grinsen noch. Er riss sie aus Sandulfs schützendem Griff, wobei er Sandulf den Oberarm aufschlitzte. Dann verkündete er, dass diese Frau sein Preis sei. Ingrid schrie und trommelte mit den Fäusten auf den Mann ein. Sandulf zog sein Schwert und versuchte, sie zu befreien. Dabei entriss er dem Attentäter einen goldenen Armreif, doch in diesem Moment stürzte sich von hinten ein weiterer Angreifer auf ihn und zwang ihn in die Knie. Sandulf rollte sich blitzschnell herum und schlug zurück. Es handelte sich um eine Frau, mit der er eine ganze Weile rang. Schließlich gelang es ihm, sie zu entwaffnen und niederzuschlagen. Als er herumwirbelte, um das Narbengesicht zu stellen, traf ihn ein Anblick, der schrecklicher nicht hätte sein können.
Nie würde er dieses Bild vergessen – wie sich der Meuchelmörder im Licht der untergehenden Sonne über die geschändete und sterbende Frau seines Bruders beugte.
Die Angreiferin auf dem Boden rief dem Narbengesicht eine Warnung zu, worauf dieser seine Beute zurückließ und mit der Angreiferin zusammen im Rauch verschwand. Sandulf blieb bei Ingrid. Hilflos schaute er zu, wie das Leben aus ihrem Körper wich. Ihre Brust hob und senkte sich rasselnd, während sie ihre letzten Worte sprach. Sandulf jagte weder der Attentäterin noch dem Narbengesicht oder ihren zwei Mittätern hinterher. Er blieb an Ingrids Seite, bis die Flammen begannen, an ihrer beider Kleidung zu lecken, und der Erste Steuermann seines Vaters auftauchte und ihn anherrschte, dass er sich jetzt entweder bewegte oder hier starb.
Mit einem lauten Schrei kündigte sich die Rückkehr der Gruppe an, die von Sandulfs ältestem Bruder angeführt wurde. Sie trafen nicht auf die prachtvolle Hochzeitsfeier, die sie erwarteten, sondern auf das verkohlte Gerippe des Langhauses. All ihre Boote dümpelten unter der Wasserlinie, und die Toten und Sterbenden lagen in Reihen nebeneinander in der Herbstsonne.
Sandulf rannte auf seinen ältesten Bruder zu und erreichte ihn vor allen anderen. „Brandt, es gibt da etwas, das du wissen musst“, wisperte er. Er wollte gerade die Sätze aussprechen, die er sich zurechtgelegt hatte – wollte ihm die letzten Worte seiner Frau übermitteln –, doch Brandt stieß ihn unwirsch beiseite und drehte sich zu ihrer Mutter um, die in Richtung der Leichname deutete.
Ein unmenschlicher Laut entrang sich der Kehle seines Bruders, als er die Leiche seiner geschändeten Frau erblickte und auf die Knie sank.
Sandulf wollte sich schon zu ihm herunterbeugen, als ihn sein Halbbruder aufhielt. „Lass ihn.“ Rurik verzog verächtlich die Lippen und nahm Sandulfs verletzten Arm und die klaffende Wunde am Kopf in Augenschein. Leichte Verletzungen. Verletzungen, die innerhalb weniger Wochen verheilen würden, im Gegensatz zu den Wunden, die sein mittlerer Bruder davongetragen hatte. Das waren Wunden, die noch in Jahren nicht verheilen würden. „Was ist geschehen?“
„Sie kamen ins Langhaus … Ich habe versucht …“ Sandulfs Kehle schnürte sich zu. Er wusste, dass sich dieses grauenvolle Blutbad mit keinen Worten der Welt erklären ließ. „Vater ist tot, Rurik.“
Die anderen begannen, wild durcheinanderzusprechen, übertönten seine Worte. Sandulf wartete, bis sie verstummten und Rurik sich zum Gehen wandte. Rasch packte er seinen Bruder am Arm. Der Blick, den Rurik ihm zuwarf, machte deutlich, wie sehr ihn Sandulfs Versagen abstieß.
„Ich habe versucht, sie aufzuhalten. Einen von ihnen habe ich verletzt, am Rücken“, begann er von Neuem seine Erklärung. Er wollte ihnen von seinem Versuch erzählen, Brandts Frau zu retten, wollte ihnen den Armreif zeigen, den er Narbengesicht abgenommen hatte, wollte von der Angreiferin berichten, doch Rurik schnitt ihm mit einer ungeduldigen Geste das Wort ab.
„Nur verletzt? Hast du es nicht geschafft, wenigstens einen von ihnen zu töten? Du mit deinen herausragenden Fähigkeiten als Schwertkämpfer, deren du dich so rühmst?“
Sandulf schluckte. Seine Finger schlossen sich um den Armreif. „Nein.“
Sein Halbbruder marschierte auf der Suche nach seinem Zwilling davon, ohne weiter zuzuhören.
„Sandulf“, rief seine Mutter und erinnerte ihn damit an seine Pflicht gegenüber Brandt.
Sandulf schluckte, ging aber gehorsam zu seinem Bruder, um es noch einmal zu versuchen. „Brandt.“
Die Augen seines ältesten Bruders, die bei ihrem Abschied so voller Leben und Liebe für seine Frau gewesen waren, wirkten trostloser und öder als Maerr im Winter. Sein Gesicht war eine einzige harte Maske, die Sandulf an ihren Vater erinnerte, wenn der eine seiner gefürchteten Launen hatte. „Ja?“
Sandulf streckte den Rücken durch. Die Zeit war gekommen. Er wusste, was er zu sagen hatte. „Ich war bis zum Ende bei ihr. Sie ist nicht allein gestorben.“
Da schlossen sich Brandts Finger um Sandulfs Hals, drückten ihm die Luft ab – so sehr, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Er kämpfte gegen den eisernen Griff an, was jedoch nur dazu führte, dass Brandt noch fester zudrückte. „Du hättest dein Leben für sie geben sollen“, zischte er.
Die hysterischen Schreie seiner Mutter, Brandt solle aufhören, hallten in seinen Ohren. „Bitte, bitte.“
„Genug. Wenn wir uns gegenseitig bekämpfen, gewinnen unsere Feinde.“ Der harte Arm des Ersten Steuermanns ihres Vaters zwang sie auseinander. Sandulf sog hektisch Luft in seine Lungen.
„Ich werde ihn töten, Joarr. Das schwöre ich.“ Brandt wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Eine einzige Aufgabe habe ich ihm gegeben, eine einzige, und nicht mal die kann mein kleiner Bruder erledigen. So wie er die letzte Schlacht verpfuscht hat und wir plötzlich auf dieser Landspitze festsaßen.“
„Ich …“ Sandulfs Kehle zuckte heftig. Mit den Fingern tastete er nach dem Armreif in seiner Tasche. Wenn er den jetzt zeigte, würde Brandt dessen Bedeutung vielleicht gar nicht erkennen. „Ich habe es versucht. Du warst nicht da. Alles ging so schnell. Die Türen waren verriegelt.“
„Du bist erstarrt, Sandulf. Dasselbe ist dir vergangenen Sommer passiert und in dem Sommer zuvor. Du erstarrst immer wieder und erwartest dann, dass andere dir zur Hilfe eilen“, versetzte Brandt, wobei sich sein Gesicht dunkelrot färbte – es war derselbe Farbton wie bei ihrem Vater, wenn der kurz davorstand, zu explodieren. Brandt zog sein Schwert. „Du bist eine Schande für unsere Familie. Vater ist nicht mehr hier, um dich zu beschützen …“
„Genug Blutvergießen, sagte ich!“ Joarrs Stimme dröhnte über den ganzen Hof.
Selbst ein vor Zorn kochender Brandt hatte noch genug Sinn und Verstand, sich Joarr nicht zu widersetzen, der ihnen allen Navigation beigebracht hatte und zu den besten Kämpfern ihres Vaters zählte. Brandt brach neben dem Leichnam seiner Frau zusammen. Sein Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Immer wieder schrie er, dass er an ihrer Stelle hätte sterben sollen.
„Ihr müsst Sandulf hier wegschaffen“, sagte seine Tante Kolga, die bislang ihren einzigen Sohn, einen schwachen Jüngling, der mehrere Monate jünger war als Sandulf, in den Armen gehalten hatte. „Brandt ist wie sein Vater. Wenn er in dieser Stimmung ist, kann alles passieren. Hinterher tut es ihm dann vielleicht leid, aber Reue kann keinen Toten wieder zum Leben erwecken. Du und ich, wir wissen das.“
Neben Joarr stand Hilda, Sandulfs Mutter, und wurde ganz weiß im Gesicht. Seine Tante musste nicht mehr sagen. Jeder wusste, wen Kolga für den Tod ihres Ehemanns verantwortlich machte und warum.
„Ich weiß“, wisperte seine Mutter kaum hörbar. „Ich bin die letzte Person, die du daran erinnern musst, zu was Sigurd fähig war, Schwester. Ich sehe viel von ihm in Brandt.“
„Ich kann bei der Suche helfen“, protestierte Sandulf, ehe seine Mutter zustimmen konnte, ihn und seinen Vetter an irgendeinen langweiligen Ort zu verbannen, an dem sie sicher waren. Außerdem glaubte er seiner Tante nicht – Brandt wusste, wann eine Linie überschritten wurde. Er war in der Lage, seine Wut zu zügeln. „Ich kann helfen, die Attentäter zu stellen. Ich bin mehr als in der Lage, ein Schwert zu führen. Jeder Mann wird gebraucht werden, um dieses … Massaker zu rächen.“
„Überlass das mir und deinen Brüdern“, entgegnete Joarr. „Deine Tante hat recht. Brandt in diesem Zustand wird erst töten und hinterher bereuen. Du hast seit der letzten Schlacht in diesem Sommer unser aller Geduld auf eine harte Probe gestellt, Sandulf. Bei deinem Triumph hattest du Glück, aber das wird dir nicht immer vergönnt sein.“
Sandulf beobachtete seinen Bruder, der sich langsam zu seiner vollen Größe aufrichtete. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, wie sehr ihn der Tod seiner Frau vernichtete. „Gebt mir noch eine Chance!“, flehte Sandulf. „Ich habe die Angreifer gesehen. Ich weiß Dinge. Ihr werdet sehen. Ich bin für dich und unsere Brüder wertvoll.“
Brandts Lippen verzogen sich voller Verachtung. „Wie oft habe ich diese Worte von deinen Lippen gehört, und jedes Mal hast du uns enttäuscht! Wie bei unserer letzten Schlacht, als du nicht die Flanken geschützt hast, sondern stattdessen nur daran dachtest, deinen eigenen Ruhm zu suchen!“
Sein ältester Bruder wurde es nie müde, Sandulf an seine Fehler zu erinnern und darauf zu pochen, dass er noch viel lernen müsse. Ihr Vater Sigurd hatte seiner Erklärung geglaubt, dass Sandulf den Feind gesehen hatte, als der sich unbemerkt an sie heranschleichen wollte, und dass er nur losgestürmt war, um dies zu verhindern. Die anderen jedoch weigerten sich, ihm Glauben zu schenken. Verzweifelt blickte Sandulf zu Boden. Wieder schnürte sich ihm die Kehle zu. Sein Vater würde ihn niemals wieder verteidigen.
„Eines der Schiffe meines neuen Ehemanns legt mit der nächsten Flut Richtung Rus ab. Er will in Konstantinopel Handel treiben“, sagte Kolga und legte Sandulfs Mutter eine Hand auf den Arm. „Dort können wir einen Platz für Sandulf finden, dessen bin ich sicher. Bis er aus dem Fernen Osten zurückkehrt, wird Brandt ihm verziehen haben.“
Hilda schlug die Hände vors Gesicht. „Nicht das. Viele die gehen, kehren nie wieder zurück. Gibt es keinen anderen Weg?“
Seine Tante glich Hyrrokkin, der furchterregendsten der Frost-Riesinnen. „Gib ihm die Chance, zu leben, Schwester. Der Wind der Veränderung ist heraufgezogen. Das weißt du genauso gut wie ich.“
Seine Mutter blickte auf die Leichname anstatt ihre ältere Schwester anzuschauen. „Ich habe heute meinen Ehemann verloren. Ich hege ganz sicher nicht den Wunsch, auch noch meinen jüngsten Sohn zu verlieren. Mit der Zeit wird Brandt lernen, zu verzeihen.“
„Warum sollte ich ihm verzeihen, solange die Attentäter, die meiner Frau das angetan haben, noch leben?“ Brandt zog sein Schwert und richtete es auf seinen jüngsten Bruder. „Geh nach Konstantinopel, Sandulf, und lass deine großen Brüder den Saustall aufräumen, den du mit angerichtet hast. Ich bin fertig mit dir. Wir alle sind fertig mit dir und deinen ewigen Entschuldigungen. Du bist es nicht wert, mein Bruder genannt zu werden.“
Rurik und sein Zwilling stellten sich demonstrativ neben Brandt. Mit sinkendem Herzen erkannte Sandulf, dass sein mittlerer Bruder Alarr sich nur deshalb nicht ebenfalls zu ihnen gesellte, weil er so schwer verletzt war, dass er nicht stehen konnte. Seine Brüder, die großen Söhne Sigurds, die Helden seiner Kindheit, hatten sich gegen ihn gestellt. Sie verbannten ihn, ohne sich seine Geschichte anzuhören oder die Wahrheit zu erkennen.
Sandulf umklammerte den Armreif und funkelte die anderen trotzig an. Brandt hatte kein Recht, ihn herumzukommandieren, aber er würde es trotzdem tun. Er, Sandulf, würde die Attentäter finden, die Brandts Frau ermordet hatten, und er allein würde sie vernichten. Dann würden auch seine Brüder einsehen, dass er es wert war, ein Sohn Sigurds genannt zu werden. Dass er es wert war, ein Waffenbruder zu sein. Sie würden ihn nicht länger als Ärgernis betrachten, das nur wegen ihrer Blutsverbindung toleriert wurde.
„Ich nehme dein Angebot mit Freuden an, Tante.“
September 877 – in der Nähe von Dun Ollaigh, Königreich Strathclyde, Oban, Schottland
Vor langer Zeit hatte Ceanna of Dun Ollaigh im Cenél Loairn noch an gut aussehende Ritter in schimmernder Rüstung geglaubt, die in der Stunde der Not auf einem Schimmel zu ihrer Rettung herbeieilten. Sie liebte die Geschichten, die ihre alte Amme ihr erzählt hatte. An deren Wahrheitsgehalt hatte sie damals einfach glauben wollen. Mit gespitzten Ohren hatte sie gelauscht und dann sehnsüchtig aus dem schmalen Fenster des alten Turms Ausschau gehalten nach dem für sie bestimmten Helden. Dabei hätte sie sich besser auf ihre Handarbeit konzentrieren sollen.
Jetzt war sie eine erwachsene Frau, und Ceanna wusste, dass es sich bei den Geschichten ihrer Amme lediglich um den Versuch gehandelt hatte, ein unruhiges Kind zum Schlafen zu bringen.
Helden, die herbeigeritten kamen, um Jungfern in Not aus jedweder Art von Schwierigkeit zu erretten, existierten nicht. Dafür gab es viele bösartige Männer – Monster mit menschlichen Zügen. Doch sie konnte ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Ganz sicher würde sie sich nicht mit einem lüsternen Monster verheiraten lassen, nur weil ihre Stiefmutter nach der Macht strebte, während ihr Vater mit jedem Tag schwächer wurde. Zuletzt war er kaum noch in der Lage gewesen, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren.
Als sie sich am Morgen wispernd von ihm verabschiedet hatte, hatte er sie kaum erkannt. Sie fürchtete, dass er noch vor Ablauf des Monats nicht mehr am Leben sein würde. Dann würden alle in Dun Ollaigh ihren Beschützer verlieren, und die gesamte Festung sowie das Dorf, das an ihrem Fuß lag, wären der Gnade von Feradach ausgeliefert. Er war der Hauptmann der Wache ihres Vaters und der Mann, den ihre Stiefmutter zu Ceannas Ehemann bestimmt hatte. In ihren Augen war Feradach jedoch schlimmer als die heidnische Horde, die Alba im vergangenen Sommer beinahe überrannt hatte.
Deshalb hatte sie sich einen perfekt ausgearbeiteten Plan zurechtgelegt. Nach außen hin vermittelte sie den Anschein, der Vermählung zuzustimmen, sodass man irgendwann aufgehört hatte, sie zu beobachten. In diesem Moment hielten sich Feradach und ihre Stiefmutter zweifelsohne schon in der Kirche auf und warteten auf die opferbereite Braut. Doch diese Braut war stattdessen auf dem Weg nach Osten in das Doppelkloster ihrer Tante – oder zumindest würde sie auf dem Weg dorthin sein, sobald sie herausgefunden hatte, wohin der Führer, den sie angeheuert hatte, verschwunden war.
Ceanna wickelte sich fester in ihren Mantel. Sie wünschte, sie trüge nicht länger das eng anliegende dunkelrote Hochzeitskleid mit den Goldverzierungen und auch nicht die aufwendige Frisur, doch mit jeder noch so kleinen Verzögerung riskierte sie, den Gang zum Altar doch noch antreten zu müssen.
Unglücklicherweise hatte ihr Führer nicht am vereinbarten Treffpunkt auf sie gewartet, weshalb sie gezwungen gewesen war, zu der Dorftaverne zu gehen, in der er sich oft aufhielt. Auf einen Wink von ihr zog sich Ceannas einziger Schutz – ihre große Wolfshündin – in die Schatten zurück, legte den Kopf auf den Pfoten ab und beobachtete, wie ihre Herrin die Schenke betrat.
„Wo finde ich Urist ab Urist?“, fragte Ceanna den Wirt der Taverne, der gerade einen Bierkrug auffüllte. „Er reist heute nach Nrurim. Ich habe eine Botschaft für ihn.“
Der Mann hielt in seiner Tätigkeit inne. Seine Augen weiteten sich, als er sie erkannte. „Ihr ehrt uns mit Eurem Besuch, Mylady.“
Ceanna runzelte die Stirn. Bislang hatte sie ihre Flucht geheim halten können, doch jetzt war sie verzweifelt. Sie konnte nur darauf hoffen, dass die Dorfbewohner ihrem Vater und ihrer Familie noch immer treu ergeben waren.
Trotzig hob sie das Kinn und ignorierte die neugierigen Blicke, die die anderen Gäste der Schenke ihr zuwarfen.
Als der Gastwirt auf ihre Frage nur betont ahnungslos dreinschaute, versuchte sie es noch einmal. „Urist ab Urist. Er kommt regelmäßig zum Trinken hierher, also tu nicht so, als hättest du seinen Namen noch nie gehört.“
„Er ist abgereist. Wird erst in einigen Wochen wiederkommen. Von Nrurim aus will er noch nach St. Andrews, Mylady. Da steckt mehr dahinter, als ein paar Botschaften an verschiedene Mitglieder des Hofes des verstorbenen Königs zu überbringen, wenn Ihr mich fragt.“ Der Wirt schenkte ihr einen bedeutungsvollen Blick. „Bestimmt hofft er, dass sich seine Schwierigkeiten in Luft aufgelöst haben, wenn er sich entsprechend lange Zeit lässt mit der Rückkehr. Er hätte es besser wissen müssen, als sich mit mehreren Frauen gleichzeitig einzulassen. Vielleicht zeigen sie ihm in St. Fillans und St. Andrews ja seinen Irrweg auf und bringen ihn auf den Pfad der Tugend zurück.“
Die gesamte Schenke brach in zotiges Gelächter aus. Ceanna studierte währenddessen die schmutzigen Binsen, die den Boden des Gastraums bedeckten.
Es war offensichtlich, dass ihr einstmaliger Führer ein kompliziertes Privatleben führte, von dem sie nichts geahnt hatte. Er war also ein unehrenhafter Mann, der sich mit mehreren Frauen gleichzeitig einließ. Nicht gerade die ideale Person, um sie zu ihrer Tante und ihrem neuen Leben als Nonne zu geleiten, aber er war nun mal der Einzige, der überhaupt bereit gewesen war, diese Reise anzutreten …
In ihrem Inneren breitete sich eine große Leere aus. Alles Mögliche hatte sie bedacht oder in Erwägung gezogen, aber nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass er ohne sie abreisen könnte. Urist hatte ihr Gold genommen und war verschwunden. Er hatte sie allein und schutzlos der Bande mörderischer Diebe ihrer Stiefmutter überlassen. Himmel, sie hätte wissen müssen, dass er ein Gauner war, dem man nicht vertrauen durfte!
Ceanna biss die Zähne zusammen. Sie war nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. In der Theorie kannte sie den Weg. Schließlich hatte sie ihre Tante, die Äbtissin von St. Fillans am Rande der königlichen Grafschaft Nrurim, bereits dreimal besucht. Doch es war undenkbar, dass eine Frau über eine solche Entfernung allein reiste. Außerdem wollte Ceanna keine Risiken eingehen, die nicht notwendig waren. Als sie noch jünger gewesen war, hatte ihr Vater sie oft für ihre Umsicht gelobt – dafür, dass sie eine so vorbildliche piktische Lady war.
„Abgereist? Wohin? Wann?“
„Anscheinend heute mit dem ersten Morgengrauen“, ertönte eine Stimme aus den Schatten. Der Mann hatte einen fremdländischen Akzent, schien das Gälische aber flüssig zu beherrschen. „Auf Nachzügler oder solche zu warten, deren Gold er angenommen hat, scheint seine Sache nicht zu sein. Ich wünsche Euch mehr Glück, als ich es hatte, herauszufinden, wo er sich aufhält oder in welche Richtung er gereist ist.“
Ceanna verengte die Augen. Die Stimme des Mannes war tief und wohltönend. Sie erinnerte sie an flüssigen Honig. Es war, als wollte er sie mit dieser Stimme dazu bringen, alles zu tun, was er verlangte. Die Art, wie der Mann in diesem Moment aus den Schatten trat, hatte etwas Ungezähmtes. Er trug feinere Reisekleidung, als sie je gesehen hatte – mit Ausnahme des verstorbenen Königs. In dem schwachen Licht schimmerte sein Haar goldbraun. Er war größer als der durchschnittliche Pikte, größer selbst als ein Gäle.
Blinzelnd realisierte sie, dass sie ihn ungehemmt anstarrte.
„Seid Ihr einer dieser Nachzügler?“, fragte sie, während sie hastig die Falten ihres Kleids glättete und sich wieder auf die Binsen konzentrierte. Einen solchen Mann anzustarren, konnte den Tod bedeuten. Jeder hier hatte Geschichten über die Nordmänner und ihre mörderische Art gehört.
Ein dünnes Lächeln spielte um seine Lippen. „Sagen wir so: Ich habe einige dringende Geschäfte in Nrurim zu erledigen, die ich keinesfalls aufschieben will.“
Dringende Geschäfte? Das Doppelkloster, das ihre Tante leitete, beherrschte die Stadt. St. Fillans war eins der wenigen noch existierenden Klöster, in denen Mönche und Nonnen zusammen lebten – ein Privileg, das allerdings nur adeligen Frauen zustand, seit die Namensvetterin ihrer Tante, St. Abbe, vor zweihundert Jahren dieses Recht erteilt hatte. Ihre Tante sorgte jedenfalls dafür, dass niemand je ihre adelige Abstammung vergaß.
Ceanna konnte sich nicht vorstellen, welche Art Geschäfte ein Mann wie jener, der jetzt vor ihr stand, dort zu erledigen hatte. Nordmänner waren keine Christen – sie waren Heiden, die Klöster nur betraten, um zu rauben und zu plündern. Doch vielleicht waren das auch nur Geschichten. Und hatte sie davon nicht wirklich genug gehört? Ihre wahren Feinde sollte sie fürchten, nicht zufällige Bekanntschaften aus der Taverne.
Plötzlich bekam sie einen ganz trockenen Mund. War er geschickt worden, um ihr zu folgen und sie nach Dun Ollaigh zurückzubringen? War das der Grund, warum ihre Flucht bislang so reibungslos verlaufen war?
„Welche Art Geschäfte?“, fragte sie und achtete dabei darauf, dass ihr Mantel sorgfältig geschlossen blieb. „Warum sollte jemand wie Ihr dorthin reisen wollen?“
Er zuckte die Achseln. Sein edler Wollmantel öffnete sich dabei leicht und enthüllte ein breites Schwert mit fein ziseliertem Griff. Sie würde einiges darauf verwetten, dass dieser Mann noch andere Waffen am Körper trug. Er war gefährlich, dessen war sie sicher.
„Das geht nur mich etwas an. Dass es eine persönliche Angelegenheit ist, macht es nicht weniger dringlich.“ Er hob eine Augenbraue und schien seinen Blick über jeden Zoll ihrer allzu festlichen Aufmachung gleiten zu lassen. „Und Ihr? Ich nehme an, auch Ihr habt dort etwas zu erledigen, denn sonst würdet Ihr keine Botschaft mit Urist verschicken wollen.“
Ceanna hob das Kinn. Sie versuchte, ein Selbstvertrauen auszustrahlen, das sie nicht empfand. Genau genommen hatte sie ein verdammt flaues Gefühl im Magen. „Das geht auch nur mich etwas an.“
„Das heißt, es war ebenfalls Eure Absicht, dorthin zu reisen? Ganz allein, ohne Begleiter? Und in dieser Aufmachung?“
Erneut wanderte sein Blick über ihren Körper. Ihrer Mängel, wie ihre Stiefmutter sie nannte, war sie sich schmerzhaft bewusst – angefangen bei ihrer kleinen Statur und ihrer überaus üppigen Figur. Sie wünschte, sie hätte ihre Brüste abgebunden und sich als bartloser Junge verkleidet. Oder wenn sie wenigstens etwas Weites, Loses angezogen hätte! Der Mann schien in ihr das zu sehen, was sie war – eine unattraktive, teuer gewandete Frau, die in keiner Weise vorbereitet war auf das, was vor ihr lag.
„Meine Truhe mit meiner Reisekleidung ist bei Urist.“ Sie schluckte, weil ihr viel zu spät einfiel, dass niemand von ihren Plänen erfahren sollte. „In meiner Botschaft geht es um ebendiese Truhe. Sie soll zu meiner Tante gebracht werden.“
Erneut hob er eine Augenbraue. „Ist dem so? Ich befasse mich für gewöhnlich eher selten mit der persönlichen Kleidung einer Lady.“
Ceannas Wangen brannten. Niemand musste mehr erfahren als absolut notwendig. Kein Fremder sollte ihre halbe Lebensgeschichte zu hören bekommen. Innerlich schwor sie sich, sich noch stärker zu bemühen, das Versprechen einzuhalten, das sie jeden Abend vor dem Zubettgehen in ihren Gebeten abgab – sich in jeder Hinsicht zu bessern.
Sie räusperte sich und versuchte sich an einem eisigen Blick. „Ich bin davon ausgegangen, dass er warten würde, bis ich hier ankomme … mit meiner abschließenden Botschaft … und dass er sich dann erst auf den Weg macht. Offensichtlich habe ich mich getäuscht.“
„Wird von Leuten normalerweise erwartet, dass sie auf Eure Botschaften warten? So funktioniert die Welt in den allerwenigstens Fällen, selbst wenn es sich um zerbrechliche Ladys handelt.“
Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er ihr nicht zutraute, fünf Schritte zu gehen, ohne in Tränen auszubrechen oder Schlimmeres. Erneut biss Ceanna die Zähne zusammen. Ihre letzten Tränen hatte sie an den Gräbern ihrer Mutter und ihres Bruders vergossen. Sie war es leid, die fügsame Tochter zu sein, die den Wünschen ihres Vaters gehorchte – oder was ihre Stiefmutter als Wünsche äußerte. Schluss damit! Wäre ihr Vater bei klarem Verstand, würde er niemals wollen, dass sie einen brutalen Kerl wie Feradach heiratete, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte und ständig vulgäre Witze riss.
Entschlossen straffte sie die Schultern. „Zerbrechlichkeit ist Ansichtssache. Die Tatsache bleibt bestehen – meine Pläne müssen sich ändern, wenn ich … meine Geschäfte erledigen will. Es ist verdammt ärgerlich.“
Aus irgendeinem Grund wurde sein Lächeln breiter, was die harten Züge seines Gesichts schlagartig veränderte. Ceanna stockte der Atem. Rasch senkte sie den Blick wieder auf den Boden und versuchte, ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. „Ich würde ein stärkeres Wort als ärgerlich benutzen, aber ich stimme Euch zu“, entgegnete er. „Urists vorzeitiger Aufbruch hat dazu geführt, dass auch ich meine Pläne ändern muss, aber ich bin dennoch fest entschlossen, meine Geschäfte zu erledigen.“
Etwas verspätet fiel Ceanna wieder ein, dass sie beschlossen hatte, den Menschen in die Augen zu schauen, anstatt zur Seite oder auf den Boden zu blicken. Deshalb zwang sie sich, ihren Blick wieder zu heben. „Ich habe nicht nach Eurer Zustimmung verlangt.“
„Verstanden.“ Ein verschmitztes Funkeln trat in seine tiefblauen Augen. „Hattet Ihr einen besonderen Grund, ausgerechnet unseren vermissten Führer für Eure Belange auszuwählen?“
Zunächst räusperte sie sich, dann hob sie zu der Erklärung an, die sie im Kopf bereits hundertmal durchgegangen war. „Unter den Menschen, denen ich vertraue, genießt er den Ruf größter Zuverlässigkeit.“
Noch andere Gründe kamen ihr in den Sinn: Urist war der Einzige gewesen, der überhaupt plante, zu reisen, und auch der Einzige, dem sie zutraute, Stillschweigen über ihre Motive zu bewahren. Er hatte mehr als genug Grund, ihren Vater zu verehren, und keinerlei Grund, sich ihrer Stiefmutter gegenüber loyal zu verhalten – oder gegenüber Ceannas Bräutigam. Hinzu kam, dass er normalerweise keine neugierigen Fragen stellte. Gerüchte besagten außerdem, dass Urist und Feradach zu Beginn des Jahres einen Disput wegen verschimmelten Getreides ausgefochten hatten, der beinahe in eine Schlägerei ausgeartet wäre. Als sie von Urists geplanter Abreise erfahren hatte, hatte sie daher angenommen, die Sterne wären ihr endlich einmal gewogen.
Vielleicht würde sie es ja schaffen, allein zu ihrer Tante zu reisen, aber sie machte sich ganz sicher nichts vor: Es würde eine alles andere als leichte Aufgabe werden.
Sie war schon mehrfach dort gewesen, doch auf dem Weg lauerten ständige Gefahren – vor allem jetzt, wo das Land nach dem brutalen Mord an König Aed so aufgewühlt und unsicher war. Es war einer der Gründe, die ihre Stiefmutter anführte, um Ceanna schnellstmöglich zu verheiraten: um den Besitz zu schützen. Doch das waren Gründe, von denen weder ihre Tante noch der Fremde vor ihr etwas erfahren sollten.
„Sehr zuverlässig“, wiederholte sie mit lauterer Stimme, nur für den Fall, dass er sie nicht verstanden hatte. Einige der einheimischen Gäste schauten von ihrem Bier hoch.
„Ich fürchte, Ihr habt Euch getäuscht.“ Der Fremde zuckte die Achseln. „Wir beide haben uns getäuscht.“
„Er wird seine Gründe haben. Vielleicht hat er eine Nachricht hinterlassen.“ Ceanna zwang sich zu einem Lächeln. „Ich werde mich umhören. Euch empfehle ich, dasselbe zu tun.“
„Tut das. Ich schätze, Ihr werdet dieselbe Antwort erhalten wie ich. Niemand weiß etwas. Sie haben sich alle verschworen und schweigen.“
„Ich bin nicht Ihr.“
„Das stimmt.“ Er prostete ihr mit seinem Bierkrug zu. „Ich wünsche Euch mehr Glück, als ich es hatte.“
Ceanna biss die Zähne zusammen. Mittlerweile hatte bestimmt schon jemand ihr Verschwinden bemerkt. Zuerst würden sie die große Halle absuchen, dann den Wald und schließlich das Dorf und diese Schenke. Wenn das passierte, musste sie weit weg sein.
„Die Leute misstrauen Fremden, die sich nach den Angelegenheiten anderer erkundigen, aus ihren eigenen aber ein Geheimnis machen.“ Sie blickte sich in der Taverne um. Bis auf ein paar ältere Männer, die in einer Ecke Würfel spielten, starrten alle betont desinteressiert in ihre Bierkrüge und taten so, als hätten sie Ceanna nicht bemerkt.
Der Fremde zuckte die Achseln. „Wie schwierig kann es schon sein, in das berühmte Nrurim zu gelangen – das ist die Frage?“
„Sicherlich weiß jeder, wie man dorthin gelangt“, entgegnete sie und wickelte sich fester in ihren Mantel.
Ein Grübchen spielte um seinen Mundwinkel. „Ich weiß, dass es im Nordosten von Strathallan liegt, aber darüber hinaus brauche ich einen Führer. Braucht Ihr etwa auch einen?“ Nachdenklich strich er sich über das Kinn. „Ich schätze, ja. Insofern kann ich Euch leider nicht behilflich sein.“
Ceanna ignorierte seine Bemerkung und drehte sich zu dem Gastwirt um. „Wie lang ist es her, dass Urist ab Urist abgereist ist?“
„Er brach vor dem Morgengrauen auf. Seine Reisegruppe machte sich langsam auf den Weg hinauf zur Furt.“ Der Wirt senkte die Stimme, drehte sich von dem Fremden weg und achtete auch darauf, dass ihn die anderen Gäste nicht hören konnten. „Ich sollte nur mit einer Lady sprechen, für den Fall, dass sie nach ihm fragt – mit niemand sonst, vor allem nicht mit einem Krieger. Urist war gestern Abend furchtbar nervös. Die ganze Zeit faselte er von unvorhergesehenen Entwicklungen und dass alles geheim bleiben müsse. Er hat seine Zeche vollständig bezahlt, was er nur ganz selten tut.“
Ceanna nickte. Urist bewegte sich nur langsam fort, um möglichen Nachzüglern – höchstwahrscheinlich ihr – die Gelegenheit zu geben, ihn einzuholen. Sofern sie denn wusste, wohin sie sich wenden musste. Zumindest hoffte sie, seine rätselhafte Nachricht richtig gedeutet zu haben. Urist marschierte nicht Richtung Furt, sondern weg davon in Richtung des Sees.
„Dann danke ich dir sehr. Ich werde jemand anders finden, der … meine Nachricht übermittelt.“ Kurz nickte sie, dann wandte sie sich in Richtung Hintertür. Wenn sie sich beeilte, konnte sie ihn einholen.
„Nicht so schnell.“ Die harten Finger des Fremden schlossen sich um ihren Arm. „Wir haben unser Gespräch noch nicht beendet.“
„Doch, das haben wir. Ihr habt Euch um Eure Angelegenheiten zu kümmern und ich mich um meine.“ Ceanna funkelte ihn an. „Unsere kurze Bekanntschaft endet hier. Lasst mich los.“
„Ich will Euch keine Angst machen, aber ich muss so schnell wie möglich nach Nrurim gelangen.“ Langsam gab er sie frei, doch er versperrte ihr noch immer den Weg. Sie wich einen Schritt zurück und legte eine Hand auf die Stelle, an der seine Finger sie gepackt hatten. „Wenn Ihr wisst, wo Urist sich aufhält, dann sagt es mir, ich bitte Euch!“
Mit den letzten Worten sank er vor ihr auf die Knie wie ein Untergebener. Einen langen Moment starrte sie ihn an, ohne einen Ton zu sagen. Schließlich erhob er sich seufzend. „Ich habe keine Zeit, um mich mit piktischen Führern aufzuhalten, die unvorsichtige Reisende hintergehen.“
„Ich weiß genauso wenig wie Ihr, wo Urist sich aufhält“, behauptete sie und betete innerlich, er würde ihr glauben. Natürlich hatte sie damit die Wahrheit ein wenig gedehnt, doch verdiente ein Nordmann die volle Wahrheit, wenn man bedachte, was er und Seinesgleichen ihrem Land angetan hatten? Wenn man bedachte, wie er sie am Arm gepackt und verlangt hatte, dass sie ihm sagte, was sie wusste? Urist vertraute diesem Mann offensichtlich nicht. Warum also sollte sie es tun?
Da führte er sein Gesicht näher an ihres heran. „Ich habe ihm im Voraus Gold bezahlt. Haltet Ihr es für gerecht, einen Mann so zu betrügen?“
Nervös nestelte sie an den Falten ihres Kleids. „Diese Sache müsst Ihr mit Urist ausmachen. Ich kann Euch da nicht helfen.“
„Doch das müsst Ihr!“
Der Fremde war lauter geworden. Schlagartig senkte sich Schweigen über den gesamten Schankraum.
Der Gastwirt deutete mit dem Kopf zur Tür. „Raus mit Euch, Nordmann. Ihr seid hier fertig. Wir brauchen keinen von Eurer Sorte, der andere Leute belästigt. Verschwindet.“
Die anderen Gäste stampften zustimmend mit den Füßen und schlugen mit den Fäusten auf die Tische.
Der Fremde schien zu bemerken, dass sich die Stimmung der Zecher verändert hatte, jedenfalls verschwand er ohne ein weiteres Wort oder einen Blick zurück.
Ceanna zwang sich, ruhig durchzuatmen. Hier war sie sicher. Der Gastwirt war ein Lehnsmann ihres Vaters. Sie bezweifelte nicht, dass er ihr raten würde, hierzubleiben und auf den nächsten Führer zu warten. Ja, vermutlich würde er ihr sagen, dass es immer einen Führer gab. Doch wenn sie das tat, würde man sie hier entdecken und zur Ehe mit Feradach zwingen, während die Gäste der Schenke zweifellos bestraft würden. Es war besser, wenn sie nichts von ihren Plänen erfuhren.
„Mylady …“
Sie bemühte sich um ein gebieterisches Nicken, aber sie befürchtete, dass der Effekt dadurch beeinträchtigt wurde, dass einer ihrer Zöpfe genau in diesem Moment ein Eigenleben entwickelte und ihr über die Stirn fiel. „Ich wünsche dir einen guten Tag. Du hast deine Nachricht übermittelt, genau wie Urist es wollte.“
„Dieser da. Der Nordmann. Er hat schon oft getötet, dessen bin ich sicher. Man sieht es an seinen toten Augen.“ Der Gastwirt schüttelte den Kopf. „Ich hätte ihm Speis und Trank verweigern sollen. Kehrt nach Dun Ollaigh zurück, und schickt Eurer Tante stattdessen einen Brief. Hört auf mit diesem Unsinn, Urist finden zu wollen. Ich würde ihm keinen Zoll über den Weg trauen.“
Nach Dun Ollaigh zurückkehren, nur um dann bei einem unglücklichen, aber höchst gelegenen Unfall ums Leben zu kommen? Sie wusste ganz genau, was sie da vor zwei Nächten mitangehört hatte. Ja, sie kannte die Pläne ihrer Stiefmutter. Ceanna schluckte die aufwallende Empörung hinunter.
„Es ist kein Verbrechen, friedlich zu essen und zu trinken. Ich nehme an, er hat dich im Voraus bezahlt“, sagte sie, als sie ihrer Stimme wieder traute.
„Ja, das hat er. Großzügig. Wesentlich besser als diese Bande hier.“ Der Gastwirt lachte über seinen eigenen Scherz, wurde aber schnell wieder ernst. „Was ist mit Eurer Sicherheit, Mylady? Ich kann Euch eine Begleitung nach Dun Ollaigh und zu Eurem Vater mit auf den Weg geben.“
„Dein Angebot ist sehr freundlich, aber ich gehe allein.“ Kurz schätzte sie die Entfernung zur Tür ab. Wenn sie jetzt loslief, würden die Leute sofort merken, dass es ihr um ihre Freiheit ging. Deshalb würde sie gemessenen Schrittes zur Tür gehen und erst loslaufen, wenn sie draußen war.
„Was auch immer Euch bekümmert, Mylady, hier unter meinem Dach seid Ihr sicher.“
Ceanna bedeckte seine raue Hand mit ihrer. Sicher unter seinem Dach – aber wie lang? Im Grunde stellte nur die Kirche ein echtes Gegengewicht zu ihrer Stiefmutter dar. Zur Rettung herbeieilende Helden waren ja leider Mangelware. „Ich weiß, dass mein Vater dich und deine Dienste sehr schätzt.“
Der Wirt wurde rot. Verlegen fuhr er sich mit den Händen durchs Haar. „Ich weiß nicht, was aus der Welt werden wird. Euer Vater ist so schwer krank, und diese Frau …“
„Ich weiß es auch nicht, aber ich muss stark bleiben.“ Sie holte tief Luft und versuchte, sich an die Worte zu erinnern, die sie sich zurechtgelegt hatte, falls jemand sie aufhalten wollte. „Ich wurde mit einer heiligen Vision gesegnet – dass meine Zukunft bei meiner Tante im Kloster in Nrurim liegt. Eine solche Vision zu ignorieren wäre gegen den Willen Gottes, denn ich hatte die Vision, als ich zum Abendgebet niederkniete.“
In ihren eigenen Ohren klangen die Worte hohl, doch der Gastwirt schaute sie mit einer Art Ehrfurcht an. Ceanna lächelte innerlich. Vielleicht hatte ihre Idee, Nonne zu werden, ja doch etwas für sich. Wenn sie sich nur genug Mühe gab, würde sie vielleicht tatsächlich irgendwann eine Berufung fühlen.
„Mögen die Engel Eure Schritte lenken, Mylady.“ Der Wirt schlug die Hände zusammen. „Ihr müsst zu meiner lieben Ehefrau Bertana gehen. Etwas Proviant für die Reise holen. Ein leerer Magen ist zu nichts nütze.“
Tatsächlich meldete sich ihr Magen genau in diesem Moment laut und vernehmlich.
„Na also, keine Widerrede. Esst, bevor Ihr noch in Ohnmacht fallt. Ich erinnere mich noch gut an die Beerdigung Eurer Mutter, Mylady.“
Ceanna biss die Zähne zusammen. Beim Begräbnis ihrer Mutter und ihres Bruders war sie zusammengebrochen – doch das hatte an ihrer Trauer gelegen und an dem Wissen, dass ihr Vater viel zu schnell wieder zu heiraten beabsichtigte.
Die letzte Mahlzeit hatte sie am Vorabend zu sich genommen. Der Himmel allein wusste, wann sie wieder etwas zu essen bekommen würde. Sie musste pragmatisch denken. Ein paar Worte, die sie mit der stets freundlichen Bertana wechselte, würden sie nicht von der Reise abhalten. „Ganz kurz.“
Der Gastwirt tippte sich mit dem Finger gegen die Nasenspitze. „Ich weiß, Mylady. Ich weiß.“
Niemand hielt Sandulf Sigurdsson zum Narren – schon gar nicht eine winzige Frau mit hoch erhobener Nase, die eher für einen Tag bei Hofe gekleidet war als dafür, bei Nebel durch die Landschaft zu stapfen, und die zweifellos an jeden überzogene Forderungen stellen würde, sobald die Reise erst einmal begonnen hatte. Falls die Reise nach Nrurim jemals begann. Er hatte den Blick bemerkt, den sie mit dem Gastwirt getauscht hatte. Sandulf war ganz sicher, dass Urist ihr eine Nachricht hinterlassen hatte, wo sie ihn finden konnte.
Er biss die Zähne zusammen. Diese kostbar gekleidete Frau war seine beste Hoffnung, seine Mission zu erfüllen und den mörderischen Schlächter zu finden, der seine Schwägerin getötet hatte. Er wusste, dass sein ältester Bruder das Königreich ihres Vaters verloren hatte. Der neue Herrscher war der Mann seiner Tante. Natürlich wusste Sandulf, dass er nichts tun konnte, was die Toten zurückbringen würde, aber er konnte dafür sorgen, dass diejenigen, die für Ingrids Tod verantwortlich waren, bestraft wurden.
Sandulf bemühte sich sehr, seinen Zorn zu zügeln, jetzt, wo er außerhalb der Taverne war. Er begnügte sich damit, gegen einen Stock zu treten, sodass dieser die Straße entlangschlitterte.
Ein großer Wolfshund tauchte aus den Schatten auf, brachte ihm mit ernstem Gesicht den Stock zurück und legte ihn vor seinen Füßen ab. Sandulf hob den Stock auf und schleuderte ihn, so weit er konnte. Der Hund jagte hinterher, kehrte kurz darauf zurück und ließ den Stock wieder zu Boden fallen. Sandulf grinste. Wenigstens ein Lebewesen an diesem gottverlassenen Ort mochte ihn.
„Was meinst du, Hund? Weiß sie, wo mein Führer steckt?“
Der Hund setzte sich auf die Hinterpfoten und starrte so lange auf den Stock, bis Sandulf ihn noch einmal warf.
„Ich werde Ingrids Tod rächen. Ich werde meinen Schwur einlösen. Und ich werde zu meiner Familie zurückkehren“, murmelte er, als der Hund ein weiteres Mal zurückkehrte. In den Jahren, seit er Maerr verlassen hatte, hatte er auf die harte Tour gelernt, was zu tun war, wenn ein Problem eine andere Herangehensweise erforderte. Er war nicht länger der ungestüme Krieger, der den Hang hinuntergestürmt war, um sich – ohne einen Gedanken an Strategie oder Taktik zu verschwenden – dem Feind entgegenzustellen. Mittlerweile wusste er, wie sinnvoll es war, erst einmal zu beobachten und dann den richtigen Zeitpunkt abzupassen.
Eine feuchte Schnauze stieß gegen seine Hand. Sandulf griff automatisch in seine Tasche und gab dem grauen Wolfshund ein bisschen Trockenfleisch und ein Stück harten Käse. Der Hund bedankte sich mit leisem Bellen.
„Endlich ein Lebewesen, das begreift, dass ich nichts Böses will.“
Der Hund legte den Kopf leicht schräg und bellte noch einmal. Diesmal deutete er mit der Schnauze in Richtung der Schenke und wedelte mit dem Schwanz. Sandulf bemerkte das fein geschmiedete Band, das der Hund um den Hals trug. In der Taverne gab es nur eine Person, der ein solcher Hund gehören konnte.
„Steckt deine Lady irgendwie in Schwierigkeiten?“, fragte er den Hund. „Scheint sie deshalb aus Dun Ollaigh fliehen zu wollen?“
Diesmal legte der Hund den Kopf noch ein bisschen schräger und bellte erneut.
Sandulf lachte. „Als wenn du das wüsstest. Das kommt davon, wenn man zu lange allein ist – man fängt an, mit Tieren zu reden, und erwartet, dass sie einem antworten. Meine Brüder meinten immer, ich wäre ein bisschen wirr im Kopf, aber sie haben auch immer einen Vorwand gefunden, mich herabzusetzen. Das Einzige, was ich wirklich nicht vermisst habe, sind ihre ständigen Hänseleien.“
Er befingerte den Armreif, den er Narbengesicht an jenem verhängnisvollen Tag abgenommen hatte.
Nach seiner Ankunft an diesen Gestaden hatte ihm einer seiner Brüder, Rurik, verziehen. Seitdem hegte Sandulf die Hoffnung, dass seine Brüder ihn eines Tages als Ebenbürtigen anerkennen würden. Nachdem er Ruriks neuer Braut, Lady Annis of Glannoventa, sanft zugesetzt hatte, hatte sie ihm den Namen und den Aufenthaltsort des brutalen Mörders von Ingrid und ihrem ungeborenen Kind genannt. Der Mann hieß Lugh und versteckte sich in einem Kloster in der Nähe der Stadt Nrurim. Sandulf glaubte Rurik, dass er und Lady Annis die Vergangenheit hinter sich lassen und ihre gemeinsame Zukunft genießen wollten.
Es war ein Anfang, das Vertrauen eines Bruders zurückgewonnen zu haben, doch das war nur der erste Schritt auf dem Weg der Wiedergutmachung. Noch immer vermied er es, im reflektierenden Wasser oder in poliertem Glas sein Spiegelbild zu betrachten. Die Gefahr, dort den Augen seines Vaters zu begegnen, der ihn für seine vielen Fehler und Unzulänglichkeiten schalt, war zu groß.
Sandulf schüttelte den Kopf, zog sich in die Schatten zurück und konzentrierte sich auf das Gasthaus. Er wartete darauf, dass die Frau herauskam.
Als sich die Tür jedoch öffnete, tauchte ein junger Bursche auf und rannte geradewegs in ihn hinein. Sandulf ließ den Jungen von sich abprallen, während der Hund leise knurrte.
„Uff, warum habt Ihr das gemacht?“ Der Junge rieb sich die Stirn. „Warum könnt Ihr nicht schauen, wohin Ihr geht?“
„Vielleicht solltest du besser schauen, wohin du läufst“, versetzte Sandulf drohend und legte eine Hand auf sein Schwert.
Der Junge wurde leichenblass. „Der Nordmann“, wisperte er.
„Du hast es offensichtlich sehr eilig, irgendwohin zu kommen.“
„Nach Dun Ollaigh. Um ihnen zu sagen, dass … dass …“ Der Bursche zog eine Grimasse. „Ihr tut mir doch nichts, oder? Ich weiß, wie Eure Art ist.“
„Du willst ihnen sagen, dass die Frau, die sie zweifellos suchen, gefunden wurde und sich in der Schenke in Sicherheit befindet.“ Sandulf lächelte freudlos. „Eine Sicherheit, die sie mit einem hohen Preis bezahlen wird, daran habe ich keine Zweifel. Ich bin Männern wie dem Gastwirt schon häufig begegnet.“
Der Junge bekam große Augen. „Unsere Lady Ceanna sollte nicht allein unterwegs sein. Sie wird sich verlaufen und in Schwierigkeiten geraten. Mein Meister fand … angesichts des Nordmanns … ich meine …“
Seine Stimme versagte, doch Sandulf wusste bereits, dass er als Sündenbock benutzt wurde.
„Ich kann es mir denken.“ Nur mit Mühe konnte er seine Erregung verbergen. Vorausgesetzt, er schaffte es, die törichte Lady Ceanna am Leben zu halten und ihr zu helfen, ihre Reise fortzusetzen, dann bestand nach wie vor die Chance, dass er in Nrurim eintraf, ehe Lugh von ihm erfuhr. Sie wusste, wo sich ihr Führer aufhielt, und niemand, schon gar nicht der Gastwirt oder dieser Bursche hier, würde ihn davon abhalten, sein Ziel zu erreichen. Lady Ceanna würde nach Nrurim gehen – selbst wenn er sie jeden einzelnen Schritt dorthin tragen musste. „Deine Aufgabe wird warten müssen.“
Der Junge kniff ein Auge zu und betrachtete ihn misstrauisch. „Warten? Warum?“
Sandulf griff nach einem langen Strick. „Deine Lady hat zuerst noch etwas anderes zu erledigen.“
Als Ceanna endlich das Gasthaus verließ, war draußen in der späten Nachmittagssonne niemand zu sehen. Selbst der gut aussehende Fremde mit den harten Augen war verschwunden. Dankbar schloss sie kurz die Augen. Ihr Glück hielt an, auch wenn sie sich fragte, ob sie vielleicht insgeheim beobachtet wurde und nur jemand darauf wartete, dass sie einen entscheidenden Fehler beging. Rasch schüttelte sie den Kopf. Jetzt war es zu spät, um sich über solche Dinge Gedanken zu machen.
Auf ein Fingerschnippen von ihr trottete Vanora, ihr Wolfshund, aus den Schatten. Das große Tier bellte einmal, dann leckte es ihre Hand. Die Art und Weise, wie Vanora den Kopf hielt, machte Ceanna stutzig. Ihre Hündin wirkte irgendwie so selbstzufrieden … Seufzend schüttelte sie den Kopf. Sie musste endlich aufhören, mehr in Vanora zu sehen, als sie war. Ein weiterer Punkt auf ihrer Liste: Hunde waren Hunde, keine Menschen.
„Du bist mir ja ein schöner Wachhund.“ Ceanna kniete sich nieder und kraulte die Hündin hinter den Ohren. „Sieht so aus, als wärst du damit beschäftigt gewesen, dir Futter zu suchen. Aber wir müssen jetzt aufbrechen, bevor sie anfangen, mich ernsthaft zu suchen. Bertana kann einen zu Tode quatschen. Ich bin das Gefühl nicht losgeworden, dass sie auf Zeit gespielt hat, doch irgendwann fielen ihr keine Vorwände mehr ein, sodass ich mich endlich verabschieden konnte.“
Vanora schaute sehnsüchtig zurück in die Schatten. Ihre Herrin folgte ihrem Blick, konnte aber nichts erkennen.
„Ich meine es ernst, Vanora! Ich habe genug Zeit verschwendet. Noch ist uns das Glück gewogen.“ Ceanna streckte ihr eine kleine Fleischpastete entgegen. „Die hat mir Bertana für die heutige Reise mitgegeben. Du brauchst sie mehr als ich.“
Vanora verschlang die Pastete mit drei Bissen. Dann setzte sie sich auf die Hinterpfoten und hielt hoffnungsvoll nach mehr Ausschau.
„Wir gehen jetzt. Ohne Blick zurück. Und ohne auf mehr zu hoffen. Das ist alles, was wir haben, bis wir Urist einholen. Er wird auf uns warten, dessen bin ich mir sicher.“
Vanora nickte, ganz so als habe sie verstanden.