Historical Saison Band 115

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

SKANDALÖSES PORTRÄT DER LEIDENSCHAFT von BRONWYN SCOTT

Als Porträtmalerin kennt Lady Guinevere Schönheit in all ihren Schattierungen. Aber noch nie hat sie einen so gut aussehenden Mann gesehen wie Dev Bythesea, den neuen Duke of Creighton! Die sinnliche Atmosphäre zwischen ihnen ist magisch, und er macht ihr einen skandalösen Vorschlag: Sie soll ihn nackt malen …


EIN HERZ LÄSST SICH NICHT TÄUSCHEN von VIRGINIA HEATH

Hart hat Ned Parker gearbeitet, um das Vermögen seiner Familie in Essex wieder zu mehren. Zeit für eine Ehe blieb für ihn da nicht. Seine Jugendfreundin Isobel will helfen und hält jetzt nach geeigneten Heiratskandidatinnen Ausschau. Weiß sie nicht, dass er seit Jahren nur sie begehrt?


  • Erscheinungstag 08.03.2025
  • Bandnummer 115
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531948
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

BRONWYN SCOTT

1. KAPITEL

London – ENDE April, 1825

Die politische Hautevolee von London pflegte Lady Sheldons Nachmittagssalons wegen der intellektuell geprägten Konversation zu besuchen. Hingegen erschien Gwen Norton, um die Männer und manchmal die Frauen zu erforschen. An diesem Tag wollte sie ihren nächsten Klienten aussuchen, und sie setzten sich alle in Szene, absichtlich oder auch nicht. Das offizielle Wohnzimmer der Shelfords war mit Möbeln für Gesprächsgruppen eingerichtet.

Voneinander unabhängig, konnten sieben oder acht Gruppen verschiedene aktuelle Themen erörtern. In dieser Atmosphäre fand Gwen Norton eine wunderbare Gelegenheit, ihr einzigartiges Talent zu nutzen: Männer oder Frauen mit den Augen auszuziehen.

Auch jetzt wandte sie diese eher unmanierliche Begabung an, indem sie ihre Augen kaum merklich über dem Rand der zierlichen Sèvres-Teetasse erhob. Diesen Blick mochten manche Beobachter für unschuldig halten, andere für einen höchst unschicklichen Zeitvertreib.

Und am allerbesten – das derzeitige Ziel ihres Bestrebens, Lord Bilsham, nahm keine Notiz von ihr. Während er eine genauere Überwachung der Londoner Waisenhäuser forderte, nahm sie ihm in ihrer Fantasie den Mantel ab, missbilligte das grüne Paisley-Muster seiner Weste und entfernte das Hemd mit dem hohen Kragen. Der verhüllte teilweise die Kinnkonturen, die langsam, jedoch unvermeidlich den Kampf gegen das nahende mittlere Alter verloren. Bevor das passierte – bevor die letzten Spuren jugendlicher Strahlkraft entschwanden –, wollte Gwen diesen Lord porträtieren. Dieses Bild würde er im Alter wie ein kostbares Andenken schätzen.

Schon jetzt neigte er zur Körperfülle. In ein bis zwei Jahren – in zwei, wenn er Glück hatte – würde er dick sein. Das zusätzliche Gewicht begann sich um das Kinn und die Taille herum zu zeigen. Das konnte Gwen mit ihrem Pinsel kaschieren, für einen entsprechenden Preis.

Unter seiner Kleidung mochte Bilsham kein griechischer Gott sein. Um ehrlich zu sein, das waren nur ganz wenige Männer. Aber seine Geldbörse würde dem mythischen König Midas, der vergoldete, was immer er berührte, die Schamröte ins Gesicht treiben. Einzig und allein aus diesem Grund juckte es Gwen in den Fingern, ihn zu malen. Was es ihr einbringen würde, hatte sie bereits errechnet; zuerst dank des öffentlich präsentierten Porträts, später im privaten Bereich.

Bilsham war genau der Typ, der sie in Lady Shelfords Salon gelockt hatte – in frühen mittleren Jahren, vermögend und felsenfest von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt. Hier trafen sich regelmäßig solche Gentlemen. Ohne jeden Zweifel würde Gwen mit einigen Aufträgen für elegante Porträts heimkehren.

Sobald er seinen Vortrag unterbrach, um Atem zu holen, ging sie zum Angriff über. Die porzellanblauen Augen weit geöffnet, lächelte sie sanft, stellte ihre Tasse ab und beugte sich vor. Ihre Hand unternahm eine teils kühne, teils ein bisschen zögernde Reise über den Tisch und sank auf den Ärmel Seiner Lordschaft. Mit dieser Geste erzielte sie einen Effekt zwischen wagemutig und ladylike, was ihrem Wesen entsprach. „Lord Bilsham, Ihre Sorge um arme Londoner Kinder ist wirklich rührend. Wie man mir erzählt hat, leiten Sie den Vorstand eines Heims für Findelkinder in Chelsea.“

„O ja!“, bestätigte er, sichtlich erfreut über die Aufmerksamkeit, die er erregte. „In diesem Heim sind vierzig Kinder untergebracht, und wir arbeiten an einem Lehrlingsprojekt für Jungen und Mädchen.“

Gwens Lächeln vertiefte sich. „Wundervoll! Gewiss wird man den absehbaren Erfolg des Projekts den genialen Visionen des Vorstandsvorsitzenden zuschreiben – also Ihren Plänen.“ Seine Brust schien sich auszudehnen, und sie fuhr unbeirrt fort: „Welch ein grandioses Vermächtnis werden Sie Ihren Nachfolgern hinterlassen!“

Nun sah sie über seinem hohen Hemdkragen die erste Röte einer wachsenden Befangenheit.

„Haben Sie schon einmal überlegt, ob Ihr Porträt die Eingangshalle des Waisenhauses zieren sollte, Lord Bilsham?“

Offenbar verunsichert, räusperte er sich. „Eine überflüssige Extravaganz – und ich fürchte, es würde arrogant wirken.“

Das war der schwierigste Aspekt ihres Geschäfts – den Leuten etwas zu verkaufen, das sie für unnötigen Luxus hielten. Doch darauf war sie vorbereitet.

„Das Porträt würde keineswegs Ihrer Person huldigen, sondern einfach nur die Arbeit dokumentieren, die Sie für das Chelsea House leisten, Lord Bilsham, die Verdienste eines Wohltäters. Und es würde so manche Menschen veranlassen, Ihnen nachzueifern.“

Damit traf sie exakt den richtigen Nerv ihres Opfers und las in seinen Augen, wie sich die Ablehnung arroganter Eitelkeit in eine moralische Pflicht verwandelte.

„Wenn man es so betrachtet … Welch eine ausgezeichnete Idee, Mrs. Norton!“

„Deshalb male ich, Lord Bilsham.“ Verschwörerisch hob sie die Brauen, senkte die Stimme, die einen vertraulichen Klang annahm. „Um die Gegenwart für die Zukunft festzuhalten. Also stellen Porträts keinen Luxus dar, sie drücken die wesentlichen Erinnerungen an die gemalten Persönlichkeiten aus.“ Gwen nahm eine Visitenkarte, auf der in schnörkellosen schwarzen Buchstaben ihr Name und die Adresse ihres Hauses standen, aus ihrem Retikül. „Zwischen zehn und vier Uhr nachmittags finden Sie mich fast täglich in meinem Atelier, und es wäre mir eine Ehre, Sie für die Nachwelt abzubilden“, beteuerte sie und reichte ihm die Karte.

Um diese Tageszeit herrschte das günstigste Licht in ihrem Arbeitsraum. Das verhalf ihr zu einer glaubhaften Begründung, warum sie keine Besuche abstattete und allen anderen langweiligen Beschäftigungen auswich, die tagsüber in jeder Saison zum Zeitvertreib vornehmer Damen zählten.

Wenn die Ladys einander ohne Gentlemen besuchten oder sich in Teesalons trafen, fehlte sie, ersparte ihnen und sich selber peinliche Begegnungen. Infolge ihrer Herkunft und ihrer früheren Ehe war sie eine Lady, wegen ihrer Lebensweise nicht. Seit vier Jahren debattierte man in London, ob man Guinevere Norton, geborene Parkhurst – die Enkelin eines Earls und Witwe des zweiten Sohnes von einem Earl – aus der Hautevolee ausschließen durfte. Oder sollte man ihren Status berücksichtigen und ihre Extravaganz akzeptieren? Immerhin wohnte sie außerhalb eines Stadtteils, den die höhere Aristokratie vorzog. Sie verdiente ihr Auskommen mit einer künstlerischen Tätigkeit. Zudem hatte sie mit ihrem Gemahl einige Jahre in Italien verbracht und einen Lebensstil gepflegt, der dem der englischen Oberschicht nicht entsprach.

„Oh, die Ehre wäre ganz auf meiner Seite.“ Bilsham nahm die Karte entgegen und steckte sie in seine Westentasche – mit einer Geste, die einen gewissen Respekt bekundete. Offenbar verstand er das Privileg des Angebots. Gwen akzeptierte nicht viele Kunden an. Dadurch wirkte sie exklusiv.

An die umstrittene, schwer einzuschätzende Kunstmalerin Guinevere Norton trat man nicht heran, sie wählte ihre Klientel aus. Das gehörte zu ihrer Mystik, die sie sorgsam kultivierte und die ihr die gesellschaftliche Toleranz sicherte.

Bevor sie aufstand, berührte sie wieder seinen Ärmel, „Lord Eden und Mr. Marley waren sehr zufrieden mit den Porträts von ihren Bräuten, die ich neulich gestaltet habe.“ Insbesondere, weil diese Gemälde niemals in den Familiengalerien hängen würden ... Edens Braut hatte nur ihren Schleier getragen, strategisch drapiert, um die Vorzüge des Lichts einzufangen. Wahrscheinlich Gwens bisher bestes Werk – das Bilsham allerdings nie sehen würde.

Aber Eden und Marley gehörten seinem Chelsea House-Vorstand an. Vielleicht würden ihre Empfehlungen ihn in dem Entschluss bestärken, ihr einen Auftrag zu erteilen.

Zum Abschied schenkte sie Bilsham noch ein Lächeln und ging zur Tür. Was sie für Lady Shelfords Party geplant hatte, war erledigt. Nun wollte sie den Schreibwarenladen aufsuchen und ihre neuen Pinsel holen, die an diesem Morgen geliefert worden waren. Helle Vorfreude beschwingte ihre Schritte. Mit neuen Pinseln zu arbeiten – eine unvergleichliche Wonne! Seidiges Zobelhaar zu berühren, robuste Schweineborsten …

Wäre sie nicht in Gedanken an die Pinsel und kreative Inspirationen vertieft gewesen, hätte sie ihn auf der langen Eingangstreppe des Shelford-Stadthauses heraufkommen sehen. So schnell, wie sie die Stufen hinabstieg, eilte er ihr entgegen.

Prompt stießen sie zusammen. Das tat weh. Kein Wunder, wenn man mit voller Wucht gegen einen Hüftknochen prallte … Als sie auf einer Stufe saß, kreischte sie erbost: „Passen Sie auf, wohin Sie gehen!“ Vielleicht ein bisschen ungerecht. Darauf hätte sie auch achten müssen, aber normalerweise ging man schnell hinab, herauf etwas langsamer, nicht wahr? Und er war die Treppe heraufgestiegen. Und er war kaum aus dem Gleichgewicht geraten, hatte sich nur grinsend am Geländer festgehalten.

„Das würde ich tun, wenn alle meine Ziele so reizvoll wären wie Sie.“ Diese Worte bekundeten die Nonchalance eines geübten, erfolgreichen Verführers, unterstrichen von einem samtigen Bariton. Dieser Stimme würde Gwen in einer anderen Situation sehr gern zuhören.

Er streckte eine Hand aus, half ihr auf die Beine, und ihr Blick wurde von grünen Augen voller Goldpunkte gefesselt. In ihrem Bauch begannen Schmetterlinge zu tanzen – ein unerwünschtes feminines Gefühl, vom Anblick eines extrem attraktiven Mannes geweckt. Betörende grüne Augen, rabenschwarzes Haar, markante Gesichtszüge, von der Sonne geküsst ...

In London gab es nur einen einzigen Mann, auf den diese Beschreibung passte. Gwen war ihm noch nicht begegnet, hatte nur Gerüchte gehört, die sich um ihn rankten. Die pflegte sie nicht ernst zu nehmen, wegen zumeist maßloser Übertreibungen. Aber in diesem Fall könnten sie zutreffen. War er es?

„Erlauben Sie mir, mich vorzustellen – wenn das nötig ist.“ In den grünen Augen glitzerten milde Bosheit und Humor – und gigantisches maskulines Selbstvertrauen. „Ich bin Dev Bythesea.“

Also tatsächlich, der Erbe des Duke of Creighton, angeblich eben erst aus Indien zurückgekehrt! Genau genommen hieß er auch Viscount Everham – ein vom Duke verliehener Ehrentitel, falls das Gerücht zutraf. Doch er bevorzugte den anderen Namen, nur eine der vielen Extravaganzen, die man über ihn verbreitete. Seit Creighton ihn nach England beordert hatte, kannte die Hautevolee kaum ein anderes Gesprächsthema.

Gwen reichte ihm ihre Hand, die er schüttelte. „Und ich bin Guinevere Norton.“

Die Guinevere Norton? Die Kunstmalerin?“ Sein Blick verriet echtes Interesse. „Oh, dann ist diese Begegnung wahrlich ein glücklicher Zufall. Nur Ihretwegen bin ich hier, Madam, weil Rafe mir gesagt hat, ich würde Sie bei den Sheldon-Salons sehen.“

Rafe – Lord Eden. Die beiden waren befreundet, zumindest dieses Gerücht stimmte. Wem hat Eden sonst noch von mir erzählt?

„Mylady, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus“, fügte Bythesea hinzu.

„So wie Ihrer zweifellos Ihnen“, antwortete sie mit einem warnenden Unterton. Sie hatte schon genug Erfahrungen mit Gentlemen gesammelt, die viel zu raffiniert flirteten. Deshalb wusste sie, dass sie Vertraulichkeiten meiden musste. Und so fragte sie distanziert, fast kühl: „Kann ich irgendetwas für Sie tun, Mr. Bythesea?“

Welch ein prägnant englischer Name, der den Viscount als ein Produkt des Empires klassifizierte, als Sohn eines Mannes, der sein Vermögen in den fernen Außenzonen des Reiches erworben hatte und zudem der Neffe eines Dukes war … Und jetzt war er daheim, um seinen Platz inmitten der ranghöchsten britischen Aristokraten einzunehmen. Da er nicht antwortete, räusperte sie sich,

„Obwohl ich nicht unfreundlich sein möchte – ich muss eine bestellte Ware abholen“, erklärte Gwen höflich, aber reserviert, um keine Annäherungsversuche herauszufordern. Keinesfalls wollte sie den Anschein erwecken, sie würde Aufträge auf der Straße annehmen. Ihren sorgsam erworbenen Leumund musste sie immer wieder schützen. Und sie würde ihn gewiss nicht mit einem Mann riskieren, den man dekadent nannte und der sich erst seit einem Monat in England aufhielt.

So leicht ließ er sich nicht abservieren. Sein leises Gelächter begann in der Tiefe seiner Brust, ein intimer Klang nur zwischen ihm und ihr, der in ein charmantes Lächeln überging. „Jetzt ist es mir klar geworden, ich war zu aufdringlich. Rafe hat mich ermahnt, Mylady – Sie sind keine Frau, die man mühelos mit banalen Schmeicheleien beeindrucken kann.“

Die grünen Augen funkelten, und es fiel ihr schwer, ihnen auszuweichen.

„Wie ich sehe, hat er recht, Mrs. Norton. Lassen Sie mich zur Sache kommen, ich möchte Ihnen einen Auftrag geben.“ Bythesea zeigte auf eine elegante, dunkel lackierte Kutsche, die am Straßenrand wartete, mit zwei identischen Rappen angespannt. „Vielleicht können wir auf dem Weg zu Ihrem Ziel über alles reden, was mir vorschwebt? Mein Wagen steht Ihnen zur Verfügung – das Mindeste, was ich für Sie tun kann, nachdem ich Sie zu Boden gestoßen habe.“

„Nein.“ Eine Braue hochgezogen, erkannte sie den Hintersinn des Angebots. „Um etwas klarzustellen, Mr. Bythesea – ich würde Ihnen einen Gefallen tun, nicht Sie mir. Sie nehmen die Position ein, in der Sie mir zuhören müssten.“

„Ist das eine Zustimmung?“ Er bot ihr seinen Arm, den sie nahm.

Warum nicht? Es begann zu regnen, und es war vernünftig, eine Kutschfahrt anzunehmen, statt klatschnass zu werden. Zudem fand sie die Kombination von einem Auftrag und einem attraktiven Mann unterhaltsam – selbst wenn sie sein Angebot nicht akzeptieren würde.

Innen wirkte der Wagen genauso elegant wie außen, die Sitze waren mit grauem Plüsch bezogen, die Vorhänge an den blitzblank geputzten Fenstern zeigten ein etwas dunkleres Grau. Bythesea sank auf die Bank entgegen der Fahrtrichtung und streckte die langen Beine aus – zweifellos ein Blickfang. Wusste er das?

Für die Stadt gekleidet, trug er eine dunkle Hose und Halbschuhe. Gwen musterte die Beine mit den objektiven Augen einer Malerin und stellte sie sich in engen Breeches und Stiefeln vor. Das würde die schiere, imposante Männlichkeit stärker betonen. Am allerbesten gar nichts. Ihre Fantasie entfernte die Krawatte, gaukelte ihr glatte, gebräunte Haut vor.

„Wohin, Mrs. Norton?“, unterbrach er ihren Tagtraum. Durchschaute er sie? Weil seine eigenen Gedanken in viel kühnere Regionen schweiften?

„Zum Strand, bitte“, erwiderte sie möglichst ausdruckslos.

„Rafe – Lord Eden – hat erwähnt, Sie würden die Leute mit diesen hinreißenden blauen Augen ausziehen. Keine Bange, bei mir ist Ihr Geheimnis sicher.“ Ungeniert lachte er. „Erfülle ich Ihre Ansprüche? Hoffentlich.“

Jetzt zog er die Beine an und beugte sich zu ihr vor, eine Geste, die der Konversation eine gewisse Intimität verlieh. Mit seinen breiten Schultern schien er den Kutschenraum auszufüllen. Er roch nach Patschuli, ein sehr maskuliner und viel zu sinnlicher Duft, der einen unerwünschten Effekt auf Gwen ausübte.

„Kurz gesagt, meine Tante, die Duchess of Creighton, wird Verbindung mit Ihnen aufnehmen und mich porträtieren lassen. Vielleicht liegt der Brief bereits bei Ihrer Post, Mrs. Norton. Sie glaubt, so ein Bild wird meine Heiratschancen verbessern.“

„Sind die gefährdet?“, fragte sie skeptisch. „Soviel ich weiß, mangelt es herzoglichen Erben nicht an bereitwilligen Bräuten.“

Er grinste wölfisch. „Nun, die sind nicht so dicht gesät, wie es mir gefiele.“

„Was meinen Sie? Ich verstehe nicht …“

„Leider stehe ich in keinem guten Ruf, Mrs. Norton, was Sie sicher schon gehört haben. Mein Vater war ein Bruder des Duke of Creighton und durfte nicht erwarten, eines seiner Kinder würde den Titel erben. In dieser Hinsicht war das Schicksal unbarmherzig.“

Allerdings. Der derzeitige Duke hatte nur Töchter gezeugt – aber zwei Brüder. Vor drei Jahren war der ältere mit seiner jungen Gemahlin kinderlos gestorben, der jüngere, Bytheseas Vater, ein Jahr später einer Fieberkrankheit zum Opfer gefallen.

Diese Tragödien gehörten zum Allgemeinwissen der Oberschicht. Und seit der bisher unbekannte Creighton-Erbe, der Neffe des Dukes, von Bord eines Schiffes gegangen war, genoss die Familie eine größere Popularität als je zuvor.

„Ohne Aussicht auf das Erbe konnte mein Vater heiraten, wen er wollte“, fuhr Bythesea fort, „und so wählte er die Tochter eines Radschas. Ein leitender Angestellter der East India Company, hatte er eine erfolgreiche Karriere gemacht. Etwas später teilte er die Interessen der Firma nicht mehr, kündigte und gründete ein eigenes Unternehmen. Sobald ich alt genug war, arbeitete ich mit ihm zusammen. Nach seinem Tod verkaufte ich meine Anteile, verließ Kalkutta und reiste nach England. An meinem Namen heften zwei Makel. Ich habe meine Hände mit Geschäften beschmutzt, und ich bin nur ein halber Brite – eine unbestreitbare Tatsache, die mein Gesicht deutlich genug bekundet. Außerdem ist meine Mutter eine indische Fürstin in ihren eigenen Rechten. In meinem Land.

In seinem Land. Die besondere Betonung fiel Gwen sofort auf. Also hielt er sich nicht für einen Engländer, abgesehen von seinem Nachnamen, und das nahm er anscheinend nicht allzu wichtig.

„Meine Tante wünscht sich ein Porträt, das diese beiden Makel verringert und mich englischer darstellt“, ergänzte er.

„Und was wollen Sie, Mr. Bythesea?“ Noch immer wusste Gwen nicht, was genau von ihr erwartet wurde. Inzwischen hatten sie den Schreibwarenladen fast erreicht, und die Kutsche bog in eine schmale Straße.

„Keinesfalls eine Gemahlin, die meine Tante aussucht. Denn das Mädchen würde einer der Familien entstammen, die alles verachten, was ich bin und was mir sehr viel bedeutet. Niemals werden diese Menschen mich respektieren.“ Geringschätzig winkte er ab, um seine Meinung über die englische Aristokratie auszudrücken. „Gegen die Ehe an sich habe ich nichts. In meiner Kultur wäre ich kein richtiger Mann, solange ich ledig bin. Aber ich will meine Braut selber aussuchen, zu meinen Bedingungen heiraten, und zwar erst dann, wenn ich es für richtig halte.“

Die Augen verengt, inspizierte er Gwen, und in ihrem Bauch entstand eine gewisse Wärme. Schon lange war ihr kein Mann mehr begegnet, den ihr Körper mit leichter Erregung gewürdigt hätte.

Wie Bytheseas eindringlicher Blick ankündigte, kamen sie jetzt zum Kernpunkt seines Angebots. „Bitte, nehmen Sie den Auftrag meiner Tante an, Mrs. Norton. Doch Sie sollen nicht das Porträt malen, das sie sich vorstellt, sondern eines, das meinen Ruf ruinieren würde – wenn es ins Licht der Öffentlichkeit gelangt. Rafe hat behauptet, Sie wüssten, was zu tun wäre.“ Nun lehnte er sich in die graue Plüschpolsterung zurück, gab ihr Zeit, Atem zu holen und nachzudenken.

Also hatte Eden ihm von seiner Braut erzählt. Die beiden mussten sehr gute Freunde sein, nicht nur, laut der Hautevolee-Gerüchte, alte Kumpel in Indien. Was Eden ausgeplaudert hatte, ärgerte Gwen, denn er hatte ihr Verschwiegenheit bezüglich des erotischen Gemäldes gelobt. Und nun wurde ihr verwehrt, Ahnungslosigkeit zu heucheln.

„Ja, das weiß ich tatsächlich. Aber so etwas würde Ihnen nichts nützen. Diese Porträts sind nur für die Augen der Käufer bestimmt, das gehört zum Vertrag und ist nicht verhandelbar.“ Darauf hatte sie bestanden, um ihren Ruf zu schützen.

Ungerührt zuckte Bythesea die Achseln. „So ein Bild brauche ich nur, damit meine Tante begreift, dass ich meine Braut selber suchen werde.“

„Und wenn sie Ihnen droht, das Porträt öffentlich auszustellen?“

„Das wird sie nicht, weil die Familie des Dukes ohnehin schon von üblen Gerüchten geplagt wird.“ Vielsagend hob er eine Braue. „Sicher haben Sie davon gehört, da sie unausgesetzt kursieren, seit ich einen Fuß auf englischen Boden gesetzt habe.“

Gwen nickte. In diesen Gerüchten ging es nicht nur um einen Teil seiner Vorfahren, sondern auch um seine ziemlich freizügige Erziehung. Wozu mochte die führen, spekulierte man. Würde er in seinem exotischen Stadthaus an der Evans Row einen Harem gründen? Nahe dem Berkeley Square, mitten im hochanständigen Mayfair? Seit seiner Ankunft vor einem Monat hatte er niemanden in dieses Haus eingeladen, was die Gerüchte zusätzlich befeuerte.

Was mochte er dort verbergen? Dekadente Amüsements hinter verschlossenen Türen? Schlenderte er in Seidenhosen, mit Turban, in indischem Dekor umher? Aus Erfahrung wusste Gwen, wie ungerecht und falsch solche Spekulationen sein konnten. Als sie nach Christophes Tod in ihre englische Heimat zurückgekehrt war, hatten die Leute unentwegt über ihre Lebensweise getratscht – keineswegs zu ihrem Vorteil.

„Das Risiko betrifft nicht nur Ihre Tante, Mr. Bythesea, sondern auch mich“, erklärte sie. „Ich habe meine Karriere auf absoluter Diskretion aufgebaut.“ Wenn er das fragwürdige Gemälde der Öffentlichkeit präsentierte, wäre ihr Leumund für immer ruiniert.

„Natürlich werde ich Sie nicht verraten“, beteuerte er, während die Kutsche vor dem Schreibwarenladen hielt, und legte seine Hand auf Gwens Unterarm.

Auch diese Berührung weckte Gefühle, die sie lange nicht mehr empfunden hatte. Immerhin wirkte seine Miene ernst. „Wenn Sie mein Angebot annehmen, riskieren Sie gar nichts. Mein Vater und ich haben unsere Handelsfirma nicht auf unlauteren Finten und mangelnder Vertrauenswürdigkeit aufgebaut. Und ich schwöre Ihnen beim Himmel – ich würde Sie niemals betrügen.“ Als der Lakai den Wagenschlag öffnete, entfernte Bythesea seine Hand von ihrem Arm. Doch seine Augen tauchten immer noch in ihre. „Nehmen Sie sich Zeit, Mrs. Norton, es eilt mir nicht.“

Der Lakai half ihr auszusteigen, und sein Herr folgte ihr auf den Gehsteig. Womit sollte sie sich Zeit nehmen? Bei ihren Einkäufen? Mit ihrer Entscheidung hinsichtlich des Porträts? Oder meinte er beides? Offenbar gehörte es zu einer Taktik, seine Mitmenschen im Ungewissen zu lassen.

Galt das besonders für Frauen? Wussten sie nie, woran sie mit ihm waren?

Jedenfalls würde dem so ungemein attraktiven Dev Bythesea ein kleiner Dämpfer guttun. Arrogant war er nicht, aber er nutzte seinen Charme viel zu ungeniert aus.

Höflich hielt er ihr die Tür des kleinen Ladens auf und folgte ihr. Sie wandte sich zu ihm, die Blicke trafen sich. Welch ein Genuss wäre es, dieses Gesicht zu malen, diesen Körper, ohne improvisieren zu müssen … Lächelnd ging sie weiter. „Ich glaube, ich werde Ihr Angebot annehmen, Mr. Bythesea.“

Prickelnde Vorfreude wärmte Gwens Brust, und sie verdrängte die warnende Stimme ihres besseren Wissens. So lange war es her, seit sie zum letzten Mal alle Vorsicht in den Wind geschlagen und sich ungehindert ihrem Vergnügen hingegeben hatte. Warum sollte sie diese Gelegenheit nicht ergreifen? Ja, sie wollte Dev Bythesea malen. In ein paar Wochen würde er verschwinden, und in der Zwischenzeit würde sie sich endlich wieder lebendig fühlen. Welchen Schaden konnte das schon anrichten?

2. KAPITEL

Wie eine Einladung zur Erotik duftete sie, als sie an ihm vorbeiging und sein Angebot lächelnd annahm. Süßer Jasmin mit einer Zitrusnuance. Dann verflog das lockende Aroma, von Papier-, Terpentin- und Ölfarbengerüchen überdeckt.

In einigem Abstand folgte er Guinevere Norton und musterte sie. Frauen interessierten ihn nur ganz selten für längere Zeit. Aber jetzt wollte er diese korrekt gekleidete Person, die sich völlig korrekt benahm und einen skandalösen Beruf ausübte, näher kennenlernen.

Vor einem Tisch, mit verschiedenen Waren überhäuft, blieb sie stehen und schnupperte an einem Tuschfläschchen. Solche Gerüche schienen aphrodisisch auf sie zu wirken. Träumerisch, das Gesicht entrückt, wanderte sie durch das Gedränge in dem kleinen Geschäft, inspizierte mit leuchtenden Augen Paletten, strich verzückt über Pinselborsten wie andere Frauen über teure Seide.

Eigentlich war der unordentliche, vollgestopfte Laden keine richtige Schreibwarenhandlung. In den Regalen nahmen die Utensilien für Kunstmaler mindestens so viel Platz ein wie Skizzenbücher und Papierwaren.

Zu Devs Erleichterung schien Mrs. Norton sich in diesem Sammelsurium auszukennen und zu wissen, was sie wollte. Nirgendwo zeigte sich ein Verkäufer.

Schließlich tauchte ein kleiner Mann aus einem Hinterzimmer auf. Mit schiefer Krawatte und staubigem Jackett passte er gut zur Atmosphäre des Geschäfts. Sichtlich erfreut lächelte er seine Kundin an. „Drüben auf der Theke liegen Ihre Bestellungen, Mrs. Norton. Nun müssen Sie mir sagen, ob Ihnen die neue Ware gefällt.“

Zu Devs Verblüffung erwiderte sie die Begrüßung mit einem strahlenden Lächeln.

Die beiden gingen zu einem langen Tisch und begannen über Pinsel, Linienzieher, Borstendichte und Bürstenstriche zu diskutieren – für Dev eine Fremdsprache. In vollen Zügen schien Guinevere Norton diese Konversation zu genießen. In der Gesellschaft dieses zerzausten Ladenbetreibers fühlte sie sich offenbar wohler als bei einer Kutschenfahrt mit dem Erbe eines Dukes. Gewiss – da hatte sie den eventuellen Auftraggeber taxiert. War er ihres Talentes würdig? Insbesondere ihres Vertrauens?

Hier, im Durcheinander dieses kleinen Geschäfts, sah er sie gleichsam in ihrem „natürlichen Habitat“ und entdeckte etwas, das er in einer eher gekünstelten Umgebung wie Lady Sheldons politischem Salon nie beobachten würde.

Dort hätte er die typische Angehörige der englischen Oberschicht betrachtet – mittelgroß, mit dem viel gepriesenen Perlenteint eines behütet aufgewachsenen Mädchens, meerblauen Augen und flachsblondem Haar, zu einem adretten Nackenknoten geschlungen.

Sie trug ein schlichtes, aber fashionables, maßgeschneidertes blaues Kleid, zweifellos passend zur Augenfarbe. Auch das gehörte zu ihrem sorgfältig demonstrierten Erscheinungsbild einer respektablen, gut situierten, akzeptablen Frau – einer untadeligen Lady, die alles unter Kontrolle hatte.

Plötzlich verspürte Dev das bezwingende Bedürfnis, diese Perfektion zu stören und mit allen Fingern durch den makellosen blonden Chignon zu fahren, die kultivierte Oberfläche aufzuwühlen – herauszufinden, was sich darunter verbarg. Irgendetwas musste es sein. In der Kutsche hatte er ihren zielsicheren Scharfsinn bemerkt, auch jene Sinnlichkeit, die sich in Edens privatem Porträt von seiner Braut zeigte. Solche Emotionen drückte das Gemälde eindeutig aus. Guinevere Nortons Kunst verkündete, dass sie die Welt kannte. Kein scheuer, unschuldiger Veilchentyp – Jasmin mit Zitrusnote …

Der kleine Mann sagte etwas, und sie lachte. Was könnte sie zu einem so herzhaften Gelächter animieren, überlegte Dev. Welch eine interessante Herausforderung! Vielleicht würde das den Ärger über das Porträt, das seine Tante verlangte, und die bevorstehende Saison vermindern.

„Haben Sie unsere neueste Errungenschaft schon gesehen?“, fragte der Mann. „Gerade aus Italien gekommen, und Sie wissen ja, wie sehr ich italienische Meisterwerke liebe.“ Enthusiastisch führte er Mrs. Norton zu einem anderen vollgehäuften Tisch. Zwischen Dosen voller Pinseln und verstreuten Farbtuben stand ein furniertes Eichenholzkästchen, die Seitenwände mit Tusche und Gold bemalt. In der Mitte des Deckels mit üppigen Einlegearbeiten prangte ein Bild von Vögeln und Zweigen in subtilen Braunschattierungen.

Als er den Deckel hob, stockte ihr der Atem. „Oh – wie wunderschön, Mr. Witty! Da drin ist Platz für alles!“ Mit einer zärtlichen Hand strich sie über den Inhalt des Kästchens – Farbtuben, Pinsel und dergleichen.

„Und jetzt schauen Sie sich das an!“ Mit melodramatischen Gebärden zog Mr. Witty zwei Schubfächer aus den Seitenwänden des Kästchens, drückte auf irgendetwas und enthüllte ein Geheimfach.

„Für Skizzenbücher!“, jubelte sie. „Fantastisch!“

„Sobald das Kästchen hier ankam, dachte ich an Sie, Mrs. Norton. Soll ich es Ihren Pinseln hinzufügen?“

„O nein, Mr. Witty …“, protestierte sie zu Devs Überraschung und lächelte wehmütig. „Für einen solchen Luxus muss ich erst mal ein paar Aufträge sammeln. Vielleicht, wenn es zu Weihnachten noch da ist, werde ich mich selber verwöhnen.“

Hat sie finanzielle Schwierigkeiten?

Sie suchte noch ein paar Kleinigkeiten aus. Nachdem sie ihre Einkäufe bezahlt hatte, trat Dev vor, ergriff die Päckchen und wurde mit einem erstaunten Blick belohnt. „Oh, danke, Mr. Bythesea.“

War sie an so galante Gesten nicht gewöhnt? Gab es keine Männer in ihrem Leben? Das würde zu dieser rätselhaften Frau passen, und sein Interesse wuchs.

Auf dem Gehsteig wandte er sich zu seiner Kutsche. Guinevere Norton blieb jedoch stehen. Einladend streckte er seine freie Hand aus. „Soll ich Sie nach Hause bringen?“

„Nicht nötig, ich werde eine Droschke nehmen. Sie waren schon großzügig genug, Sir.“ Den letzten Satz hatte sie wohl nur aus Höflichkeit hinzugefügt. Vorhin hatte sie betont, er brauche ihr keinen Gefallen zu erweisen, und jetzt war er entlassen.

„Für mich wäre das keine Unannehmlichkeit“, erwiderte er trotzdem. An diesem Nachmittag hatte er sonst nichts vor. Erst abends würde er Rafe im Club treffen. Und er wollte sich noch nicht von der mysteriösen Guinevere Norton trennen, die kühl und sachlich über Porträts verhandelte, aber angesichts eines italienischen Eichenholzkästchens in helles Entzücken geriet.

„Für mich schon.“ Sie schenkte ihm wieder ihr kontrolliertes Lächeln, verwandelte sich in die Frau zurück, mit der er auf den Eingangsstufen der Sheldons zusammengestoßen war. „Ich habe einige Verabredungen, Mr. Bythesea.“

Also gab es Männer in ihrem Leben. Wollte sie ihm das bedeuten? Würde es peinlich wirken, wenn sie daheim in Begleitung eines Mannes ankam und einen anderen erwartete? Resignierend winkte er eine Droschke heran, half Guinevere Norton einzusteigen und legte die Päckchen vor ihre Füße.

„Bis zum nächsten Mal, Mrs. Norton.“ Er verbeugte sich und wartete, bis die Droschke davongefahren war, bevor er zu seiner Kutsche ging. Leer und öde erstreckte sich der Nachmittag vor ihm, der ihm eben noch so spannend erschienen war.

Nahe der Evans Row nahm der Nachmittag eine unvorhersehbare Wendung, allerdings von der unerfreulichen Sorte. „Was ist los, Oscar?“, rief Dev dem Fahrer zu, den Onkel Alistair ihm geliehen hatte, bis er einen eigenen finden würde.

„Ein Verkehrsstau, Sir. Weiter vorn scheinen ein oder zwei Wagen die Straße zu versperren.“

„Verdammt, warum fahren die Lieferanten nicht in die hinteren Gassen?“, seufzte Dev.

„Anscheinend stehen die Lastwagen vor Ihrem Haus, Sir.“

Da meldete sich Devs Gewissen. War er womöglich schuld an diesem Stau? Aber er erwartete keine besondere Lieferung, obwohl das Haus noch nicht vollständig eingerichtet war und fast täglich irgendetwas eintraf. Allerdings wären seine Lieferer zu den Stallungen an der Rückfront gefahren. Oder hatte jemand anderer etwas für ihn bestellt?

Beunruhigt stieg er aus der Kutsche. „Oscar, ich gehe zu Fuß heim!“

Mit langen Schritten eilte er zu seinem Stadthaus. Tatsächlich – zwei große Lastkarren standen vor seiner offenen Tür, mehrere Männer gingen ein und aus, schleppten Bilder und Sofas und offene Kisten voller Nippes hinein.

„Was geht hier vor?“, wandte er sich an den nächstbesten Lastenträger und packte ihn am Kragen. Doch er wusste es bereits, denn diese Männer und auch die Fahrzeuge gehörten zum Haushalt des Dukes.

„Mylord, wir befolgen die Anweisungen Ihrer Gnaden“, antwortete der Mann nervös, von der strengen Miene und unverhohlenen Wut des Viscounts eingeschüchtert.

Weil er nichts dafür konnte, ließ Dev ihn los und mäßigte seinen Tonfall. „Wir müssen die Straße räumen. Bringen Sie die Lastwagen hinter das Haus“, ordnete er an, stieg die Eingangsstufen hinauf und betrat die schwarz-weiß geflieste Halle. Inmitten der Aktivitäten stand die Duchess of Creighton und erteilte Befehle wie ein General auf dem Schlachtfeld.

„Was hat das zu bedeuten, Tante?“ Dev hob einen seidenen Banyan vom Boden auf. Sorgfältig schüttelte er den Staub heraus – zutiefst entrüstet, weil man einen seiner Lieblingsmorgenmäntel so achtlos beiseitegeworfen hatte. „Ich dachte, wir hätten vereinbart, ich würde mein Stadthaus selber einrichten.“

Sie hatte versucht, ihn im Creighton House einzuquartieren. Da hatte er erklärt, Engländer in seinem Alter – also mit dreiunddreißig – und Erben würden ihren eigenen Hausstand vorziehen. Der müsse sich erst ändern, wenn es neue familiäre Umstände erfordern würden. Wenn die Tante schon mit aller Macht darauf bestand, ihn zu anglisieren, wollte er ihr die Wahl der Rituale keinesfalls überlassen.

„Jetzt geht es nicht um dein Haus, Everham, sondern um dein Porträt“, entgegnete die Duchess kategorisch.

Muss ich das akzeptieren?

Dev überlegte, ob andere Sachen inzwischen ebenso gelitten hatten wie sein Banyan. Welch eine Schande wäre es, wenn andere Gegenstände, für die Schiffsreise sorgfältig in Stroh gepackt, in den Banausenhänden seiner Tante ihr Dasein beenden würden.

Entschlossen versperrte er zwei Männern, die ein Sofa durch die Halle schleppten, den Weg. „So etwas brauche ich nicht, Tante, ich besitze Möbel, die mir gefallen.“ Eine Einrichtung im Takhat-Stil, kunstvoll geschnitzte Teakholztische und Sessel – auch Sandooks, Truhen aus Eben- und Rosenholz, lauter edle Kunstwerke aus dem Palast seines Großvaters.

Während seine Tante die Sofaträger mit einer gebieterischen Geste weiterschickte, verengten sich ihre grauen Augen. „Deine Sachen passen nicht in ein korrektes englisches Wohnzimmer. Welcher Duke oder Marquess will seine Tochter mit einem Mann vermählen, der seine Dekadenz mit jedem Möbelstück demonstriert?“

„Also darum geht es!“ Dev ging ins Wohnzimmer, auf ein Chaos vorbereitet, und wurde nicht enttäuscht. Seine Charpai-Bank mit den geschnitzten Beinen und leuchtend bunten Kissen hatte man an eine Wand gerückt und Platz für eine wuchtige englische Sitzgruppe geschaffen. Die gruppierte sich vor dem Marmorkamin um einen niedrigen Tisch herum. Dem türkisfarbenen Teppich hatte die Tante erlaubt, liegen zu bleiben. Vielleicht, weil ihre Möbel ihn fast verdeckten.

„Hier ist das Licht großartig. Deshalb dachte ich, in diesem Zimmer könnte Mrs. Norton dich malen.“ Die Duchess rauschte an ihm vorbei und hinterließ den Duft von Gardenien – einer Blume, die angenehm, aber neutral roch, sobald man sich von ihren hübschen Blütenblättern entfernte. Nicht aphrodisisch wie Jasmin. „Morgen wird sie hierherkommen. Ich habe sie eingeladen, damit sie sich umsehen und vielleicht schon einige Skizzen anfertigen kann. Allmählich läuft uns die Zeit davon.“

Auch das gehörte zu ihrer Strategie – einfach vorzupreschen, als hätte man ihren Entscheidungen gar nicht widersprochen. Nur wenige Leute wagten es, wie Dev auf ihren Standpunkten zu beharren.

Herausfordernd hob er eine Braue. „Hat sie deinen Auftrag schon angenommen?“ Nein, das wusste er nur zu gut. „Angeblich ist sie sehr wählerisch und sucht sich ihre Kunden sorgfältig aus – statt umgekehrt.“

„Heute Nachmittag habe ich ihr ein Angebot geschickt, das sie akzeptieren müsste. Sie wird dich in dem majestätischen Stil malen, der dem Erben eines Dukes gebührt. Für sie ist das sehr wichtig. Falls die Klatschgeschichten stimmen, möchte sie von ihrer Verwandtschaft finanziell unabhängig werden. Also kann sie sich gar nicht leisten, meinen Auftrag abzulehnen, da er ihr viele neue Kunden verschaffen wird.“

Deshalb wollte sie das italienische Kästchen nicht kaufen … Dev stellte sich vor, wie Guinevere Norton am Abend ihre Post durchsah, die Nachricht seiner Tante las. Würde sie ihren Stolz vergessen, wegen schnöden Geldes auf ihr Prinzip verzichten, ihre Kundschaft selbst zu wählen?

Eine interessante Frage … Jedenfalls hielt er sie für eine überaus kluge Frau, die Vor- und Nachteile genau abzuwägen wusste. Und sie würde sich gewiss niemals in eine Situation bringen, aus der es – notfalls – kein Entrinnen gab.

Zwei Männer näherten sich der Charpai-Bank, um sie zu entfernen.

„Nein, lassen Sie das stehen!“, befahl er in scharfem Ton. „Bringen Sie das da weg!“ Er zeigte auf die Möbel seiner Tante und wandte sich zu ihr.

„Diese Sachen will ich hier nicht haben, Porträt hin oder her. Das ist mein Haus, und ich richte es so ein, wie es mir gefällt.

Nun hatte er mit etwas sanfterer Stimme gesprochen. Obgleich er Creighton nicht beerben wollte und die Order, nach England zu reisen, nur widerstrebend befolgt hatte – der Duke und die Duchess gehörten genauso zu seiner Familie wie der Großvater und die zahlreichen Verwandten, die er in Indien zurückgelassen hatte. Darum verdienten sie seinen Respekt. Familie ist Familie, das Allerwichtigste. Das hatte man ihm während seiner Kindheit im großväterlichen Palast ebenso eingetrichtert wie im Haus seines Vaters. In dieser Hinsicht stimmten beide Welten überein.

Das akzeptierte Dev. Trotzdem würde er sich weder seinem Großvater noch seinem Onkel wie eine Marionette unterordnen. Wenn es unbedingt sein musste, würde er ein Duke werden, aber ein eigenständiger Mann bleiben.

„Wie es hier zugeht, verstehst du einfach nicht, Everham“, seufzte seine Tante, die grauen Augen voller Ungeduld. „Vertrau deinem Onkel Alistair und mir, wir werden dich lenken und leiten. Meinen fünf Töchtern habe ich spektakuläre Partien verschafft. Und ich werde genau die richtige Braut für dich finden. Allerdings darfst du nicht wie ein Maharadscha in einem seidenen Banyan auf einem dekadenten Tagesbett liegen …“ Mit einer ausdrucksvollen Geste zeigte sie auf Möbel, die in einer Ecke standen. „Anständige aristokratische Familien wollen ihre Töchter mit Engländern verheiraten. Pferde, Hunde, große Landsitze, lange Stammbäume – das ist es, was hier zählt.“

Keine halben Ausländer, Söhne von dritten Söhnen.

Fast bedauerte er die Duchess, weil sie mit einem Neffen von seiner Sorte belastet wurde. Ihre Gesundheit hatte sie fünf Schwangerschaften geopfert und nur Töchter geboren, die nicht erben durften. Jahrelang hatte sie zusammen mit seinem Onkel das Herzogtum durch schwierige Zeiten gesteuert, seine politischen Ambitionen als hervorragende Gastgeberin unterstützt, und nun betreute sie ihn fürsorglich in seinen letzten Tagen. Zweifellos eine eindrucksvolle Lebensleistung.

„Natürlich weiß ich die Ehre zu schätzen, liebe Tante, die du mir so freundlich erweist wie dein Gemahl“, beteuerte er aufrichtig.

Dennoch wollte er seine Frau selber aussuchen. Die Situation wäre anders, würde er seinen Großvater beerben, der sechzehn Ehefrauen und dreiundzwanzig Konkubinen hatte. Aber zügellose Polygamie war ein Mythos. Vor allem Fürsten und niedrigere Hoheiten hielten sich mehrere Frauen, weil sie männliche Nachfolger zeugen mussten. Darauf verzichteten die meisten Hindus. Devs Vater, ein Engländer, hatte nur eine Gattin geliebt und seinen Sohn zwanglos erzogen, um ihm die Entscheidung zu ermöglichen, welcher der beiden Welten er angehören wollte.

„Veranlassen Sie, dass die Truhen mit der Garderobe hereingeschafft werden!“, herrschte die Tante einen Lakaien in der Creighton-Livree an. „Ich habe die herzoglichen Hausgewänder mitgebracht, Everham. Auf dieser Ausstattung muss ich bestehen.“

Dev nickte lächelnd. Immerhin eine Übereinkunft. Er würde diese Sachen tragen, und die Duchess duldete seine Möbel. Aus solchen Kompromissen würde seine Zukunft bestehen. Ein ständiges Tauziehen zwischen Geben und Nehmen, die Hoffnung, er würde sich selbst treu bleiben und gleichzeitig die Menschen zufriedenstellen, die auf ihn zählten.

Während seine Tante eine Truhe öffnen ließ, um Samt- und Satinroben zu sichten, überlegte er, ob Guinevere Norton Kompromisse schließen würde. Oder sparte sie für künstlerisch wertvolle italienische Kästchen? Auch sein Vater hatte vor der Gründung seiner Handelsfirma jeden Penny umgedreht. Diese Lebensweise war sein zielsicherer Weg zur Freiheit gewesen. Würde sie Mrs. Norton zur Unabhängigkeit führen?

Sortierte sie gerade daheim ihre Post? Fand sie den Brief von seiner Tante? Dachte sie an ihn? Lächelte sie vielleicht, wenn sie sich an den gemeinsamen Nachmittag erinnerte? In seiner Fantasie sah er ihre vollen Lippen in den Mundwinkeln zucken, bevor sie richtig lächelten.

Obwohl er nicht sonderlich lange mit ihr zusammen gewesen war, kannte er bereits die verschiedenen Botschaften ihres Lächelns. Zunächst hatte sie ihn höflich, später nachdenklich angelächelt, bei der Abwägung seiner Worte. Dann rätselhaft, bei der Erklärung, eventuell würde sie sein Angebot annehmen. Mr. Witty, dem Ladenbesitzer, hatte sie ein freundschaftliches, offenherziges Lächeln geschenkt, um die Liebe zur Kunst auszudrücken, die sie mit ihm teilte. Wie würde sie Dev anlächeln, wenn sie ihm am nächsten Tag wieder begegnete?

Für ein Porträt zu sitzen, darauf freute er sich kein bisschen – umso mehr auf die Gelegenheit, Guinevere Norton mehrmals zu treffen. Schon lange hatte ihn keine Frau so nachhaltig fasziniert.

Würden sich reizvolle Chancen bieten? Womöglich eine letzte leidenschaftliche Affäre, bevor er mit einer scheuen englischen Rose im Ehebett landete? Würde Mrs. Norton sich darauf einlassen? Wenn ja, zu welchen Bedingungen? Eine provokante Herausforderung, die er in vollen Zügen genießen würde.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen, um Punkt elf Uhr, stand Gwen vor dem Haus an der Evans Row. Bevor sie den Türklopfer ergriff, gestand sie sich eine gewisse Neugier ein. Nun würde sie das Domizil des Gentleman betreten, der zu Beginn der Saison die meisten Klatschgeschichten verursacht hatte. Mochte auch maßlos übertrieben sein, was sich die Ladys hinter Fächern zuflüsterten – meisten enthielt jedes solcher Gerüchte ein Körnchen Wahrheit.

Welche Tatsachen würde Gwen im Haus Nummer fünf an der Evans Row entdecken?

Die dreistöckige Fassade wies alle traditionellen Merkmale eines vornehmen englischen Stadthauses auf: eine rote Ziegelmauer, hohe Fenster mit weißen Läden und symmetrisch auseinandergezogenen weißen Gardinen. Eigentlich nicht, was man sich unter der Residenz eines herzoglichen Erben vorstellte – viel zu diskret, wohl kaum der Stoff für aufregende Gerüchte …

Ein korrekt livrierter Butler öffnete ihr die Tür und führte sie durch eine traditionelle schwarz-weiß geflieste Halle, die nur durch ihre spärliche Möblierung auffiel, zu einem kleinen Salon.

In diesem Raum, dessen Fenster zur Straße hinausgingen, dominierte eindeutig englisches Dekor. Zu einer hellblau-weiß gestreiften, mit dunkelrosa Wildröschen gemusterten Tapete zwischen weiß gestrichenen Wandtäfelungen passten stuckierte Deckenleisten und ein weißer Marmorkamin. Die Einrichtung wirkte elegant und ladylike, Sessel und Sofas waren in harmonischem Hellblau gepolstert.

Gwen setzte sich auf ein blaues Sofa und inspizierte ihre Umgebung. Hier gab es nichts zu bemängeln. Nur das moderne London wäre enttäuscht. Alles ordentlich und sauber. Langsam ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen, suchte nach Hinweisen auf den Mann, den sie malen sollte. Die meisten Zimmer erzählten etwas über ihre Bewohner, mochte es beabsichtigt sein oder auch nicht. Hier betrachtete sie den gemeißelten Kamin, die blank polierten Fensterbretter, die Beistelltische, und sie entdeckte überall dasselbe. Nichts. Keine Bilder an den Wänden. Kein Nippes auf den kleinen Wandtischen, nicht einmal eine Blumenvase auf dem Kaminsims.

Eine solche Leere deutete auf ungepflanzte Wurzeln hin, auf die unvollendete Entwicklung einer Person. Vielleicht war das zu erwarten. Bythesea hielt sich noch nicht lange in London auf, und es dauerte einige Zeit, bis man einem neuen Wohnsitz seinen Stempel aufdrücken konnte.

Ungeduldig klopfte sie mit einer Fußspitze auf den Boden. Wollte sie den Rest des Hauses erforschen? Was würde sie sehen? Schließlich gestand sie sich ein, dass sie vor allem Bythesea sehen wollte. Wird er mich heute ebenfalls enttäuschen? Darauf war sie vorbereitet. Oft unterschied sich ein zweiter Eindruck vom ersten.

Am Vortag hatte sie das Prickeln einer ersten Begegnung gespürt. Würde er jetzt ein Mann wie jeder andere sein? So gewöhnlich wie dieser kleine Salon? Oder würden wieder Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen, alle Pulse fast rasen? Wollte sie das? Was wäre unangenehmer? Kein Prickeln? Oder ein noch stärkeres?

Die Tür schwang auf, und Dev Bythesea trat ein, mit einer dunklen Hose und einem geöffneten grauen Jackett bekleidet. Dazu trug er eine grau-grüne, von Silberfäden durchwirkte Paisley-Musterweste und eine waldgrüne Krawatte, die den Blick sofort auf die leuchtend grünen Augen lenkte. Die schwarzen Locken waren gerade lang genug, um eine Frau zu animieren, mit allen Fingern hindurchzustreichen, sinnliche Emotionen zu genießen. Noch immer dieses Prickeln, das an Gwens Nerven zerrte …

„Guten Morgen, Mrs. Norton“, grüßte er. „Verzeihen Sie, dass ich Sie warten ließ. Meine Tante und ich mussten einige – Einzelheiten besprechen.“

Gwen vermutete, statt etwas zu besprechen, hätten sie eher gestritten. Über mich? Das Porträt? Bei den Gesprächen am Vortag hatte sie den Eindruck eines Konflikts mit seiner Tante gewonnen. Gewiss hatte er sein Land nicht bedenkenlos verlassen, vielleicht sogar überlegt, ob er auf den Titel verzichten sollte. Ein gezwungener Erbe des Duke of Creighton?

„Würden Sie mich zu meiner Tante begleiten, Mrs. Norton? Jetzt sind wir bereit, Sie zu empfangen.“

Der Viscount und die Duchess erwarteten die Kunstmalerin. Während sie Dev Bythesea durch die leeren Korridore seines Domizils folgte, unterdrückte sie ein Lächeln. Hatte sie’s nicht ziemlich weit gebracht, wenn sie eine solche Begegnung alltäglich fand?

Als Enkelin eines Earls war sie von Geburt an ein Mitglied der Hautevolee, ihr Vater der dritte Sohn eines Earls. Ihr Ehemann, der zweite Sohn eines Earls, ein Bohemien, hatte die Kunst und Gwen geliebt. Die Londoner Oberschicht wusste nicht so recht, was sie mit ihm machen sollte. Ihn schätzen, weil er so liebenswert war – oder ächten, weil er in keine der gesellschaftlich anerkannten Normen passte? Bald nach der Hochzeit reiste das junge Paar nach Italien. Und Mrs. Norton hatte kein einziges Mal zurückgeblickt, bis sie dazu gezwungen worden war.

Nach Christophes Tod hatte sie gelernt, ihr Talent für die Kunstmalerei zu nutzen, um finanzielle Unabhängigkeit zu erzielen. Und jetzt würde sie sich im Haus eines Viscounts mit dem Auftrag einer Duchess beschäftigen.

Die Londoner Aristokratie könnte feststellen, dieser Höhepunkt in Guinevere Nortons Karriere gestattete ihr die Ankunft in gehobenen Kreisen. Natürlich nur, weil die so großzügig waren. Und dank der stillschweigenden Übereinkunft, ein einziges Gerücht würde eine endgültige Verbannung bewirken. Weil das nie passieren durfte, ermahnte sie sich stets zu äußerster Vorsicht.

Im großen, offiziellen Wohnzimmer präsentierte sich die Duchess, als würde sie statt ihres Neffen für ein Porträt sitzen. Effektvoll hob sich ihr dunkelviolettes Seidenkleid von der hellgrauen Sofapolsterung ab. Elegant arrangierte Möbel standen ringsum. Gwens Kennerblick wanderte über niedrige Sessel mit geschnitzten Beinen, geschwungenen Armstützen und Lehnen, verschiedenen farbenfrohen Überwürfen.

„Mrs. Norton, erlauben Sie mir, Sie mit Ihrer Gnaden, der Duchess of Creighton, bekannt zu machen.“ Einladend wies Bythesea auf einen Fauteuil, und Gwen nahm gegenüber seiner Tante Platz.

In diesem Raum wurde ein deutlich erkennbarer Kampf ausgefochten. Auf einer Seite gruppierte sich konventioneller englischer Einrichtungsstil, von der Duchess personifiziert, auf der anderen Seite, vor dem Kamin, die Ansammlung indischer Möbel und eines passenden Dekors.

„So erfreut bin ich über Ihren Entschluss, den Auftrag anzunehmen, Mrs. Norton“, begann die Duchess in höflichem, aber entschiedenem Ton. „Die Zeit drängt nicht. Erst Ende Mai soll das Porträt enthüllt werden. Dafür habe ich eine kleine Zeremonie geplant.“

Gwen zog eine Braue hoch, übte subtile Kritik an dieser Wortwahl. Denn sie hatte nichts beschlossen, sondern einen Befehl befolgt.

„Wie und wo mein Neffe gemalt werden soll, habe ich mir bereits überlegt.“ Gebieterisch nickte die Duchess zwei Lakaien zu, die stoisch zwischen hohen Fenstern Wache hielten. Nun schleppten sie eine geöffnete Truhe heran. „Ich war so frei, die herzoglichen Hausroben hierherzubringen. Natürlich soll das Porträt alle Betrachter an Everhams Erbe erinnern.“

Gwen nickte geduldig. So verhielten sich fast alle Klienten. Egal, ob sie der Aristokratie angehörten oder auch nicht – plötzlich wussten sie ganz genau, wie ihr Porträt aussehen musste. Hinter ihrem Rücken glaubte sie Bytheseas Zorn zu spüren. Also darum war es bei dieser „Besprechung“ gegangen. Diese „Roben“ wollte er nicht anziehen.

„Nun, ich dachte, wir malen ihn neben dieser Büste des ersten Duke of Creighton“, fuhr die Duchess fort und zeigte auf ein Podest. „Dadurch wird man an unseren glanzvollen Stammbaum erinnert. Immerhin geht die Viscountcy auf William den Eroberer zurück.“

Wir? Wir malen ihn? Gwen lächelte höflich. „Natürlich, sehr imposant.“ Und sehr englisch, ergänzte sie in Gedanken, Roben und eine distinguierte Abstammung. Das musste offensichtlich sein, subtile Anspielungen lagen der Duchess nicht. „Selbstverständlich werde ich Ihre Ideen erwägen, Euer Gnaden.“ Um die Kontrolle über das Gespräch zu behalten, stand sie auf. „Jetzt möchte ich den Rest des Hauses sehen, um den Bewohner besser zu verstehen, seine Vorlieben und Abneigungen zu ergründen.“

Auch die Duchess erhob sich, und Bythesea ergriff rasch die Initiative. „Ich würde Sie sehr gern durch alle Räume führen. Mrs. Norton. Bleib hier und bestell Tee, liebe Tante. So hart hast du in letzter Zeit gearbeitet.“

Ein heftiger Protest lag der Duchess sichtlich auf der Zunge. Doch ihre Manieren verboten ihr, ihn in Worte zu fassen. Sie nickte und sank wieder auf das Sofa.

Eine Hand auf Gwens Rücken, führte er sie durch die Korridore, öffnete alle geschlossenen Türen und ließ ihr jedes Mal Zeit, damit sie Eindrücke sammeln konnte.

Im Erdgeschoss inspizierte sie die offiziellen Räume, dann stiegen sie die breite Treppe zu den Privatgemächern hinauf. Ein Musiksalon, mehrere Wohnzimmer, ein Speiseraum mit einem langen Tisch für zwanzig Personen. Ein Ballsaal mit einem Lüster, den ein Tuch umhüllte, einige Schlafzimmer an der Gartenfront.

Alles makellos englisch, mit genau den richtigen Tapeten, Vorhängen und Möbeln. Nirgendwo irgendwas Einzigartiges. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn Bythesea nach dem Tod seines Onkels dessen herrschaftliche Londoner Residenz bewohnte. Spätestens in ein paar Monaten.

„Wollen Sie auch die Bibliothek sehen, Mrs. Norton?“, erkundigte er sich, als sie in einem Gästezimmer standen. „Oder haben Sie genug besichtigt?“ In dieser Frage schwang eine gewisse Herausforderung mit.

„Je nachdem.“ Gwen wandte sich vom Fenster ab. „Gleicht die Bibliothek den anderen Räumen? Oder werden Sie mir etwas Nützliches zeigen, Mr. Bythesea?“

„Vermutlich meinen Sie etwas Privates …“, betonte er gedehnt und verschränkte seine Arme.

Dafür bestrafte sie ihn mit einem harten, professionellen Blick. „Bei dieser Besichtigungstour müsste ich Sie besser kennenlernen, damit ich Sie so porträtiere, wie es Ihrem Wesen entspricht. Bisher haben Sie meine Bemühungen unterminiert. Warum? Wollen Sie mich frustrieren oder Ihrer Tante eins auswischen?“ Ein mittelmäßiges Bild würde ihren künstlerischen Ruf ruinieren.

Erwartungsvoll beobachtete er ihr Gesicht. „Gestern haben Sie mein Angebot angenommen. Und ich erwarte ein Gemälde in fragwürdigem Stil.“

Gwen lächelte kühl. „Auch Ihrer Tante habe ich ein Porträt versprochen, Beide Aufträge werde ich erfüllen. Was Sie und die Duchess damit machen, geht mich nichts an – solange Sie Ihr Bild nur ganz privat betrachten, niemals in aller Öffentlichkeit präsentieren. So wie wir es vereinbart haben. In beiden Fällen möchte ich Qualität liefern, davon hängen weitere Offerten und mein Lebensunterhalt ab.“

Die Augen zusammengekniffen, akzeptierte er die sachliche Strategie. „Also gut, was wollen Sie noch sehen?“

Sollte die seidenweiche Stimme ein schlichtes Entgegenkommen oder die Möglichkeit einer Verführung andeuten? Wie auch immer, in diese Falle würde sie nicht tappen. Glaubte er, sie würde erbleichen und flüchten? Oder wollte er sie mit einem Flirt verwirren, Geschäfte mit Vergnügen verbinden? Kalter Zorn stieg in ihr auf. Dachte er, sie würde sich so leicht manipulieren lassen?

„Ich möchte Ihr Schlafzimmer sehen, Mr. Bythesea“, erwiderte sie frostig. Gewiss, ein Risiko. Aber wenn es einen Raum gab, der Einblicke in sein Seelenleben erlauben würde, war es dieser.

Langsam hob er eine schmale, dunkle Braue. „Obwohl wir uns erst seit gestern kennen, Mrs. Norton?“, wagte er zu schäkern.

„Solche Überlegungen haben Sie sicher noch nie zurückgehalten.“ Sie ging an ihm vorbei zur Tür des kleinen Gästeraums und in den Flur hinaus. „Bitte, Ihr Schlafzimmer, Mr. Bythesea.“

Selbstgefällig grinste er, seine Hand berührte wieder ihren Rücken. „Hier entlang, bitte.“

Er führte sie zu einer Doppeltür am Ende des Korridors und ließ ihr den Vortritt. Sobald sie die Schwelle überquerte, wusste sie es. Ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht.

Deutlich unterschied sich dieser Raum von allen anderen, mit unzähligen sinnlichen Blickfängen. Beinahe überwältigt musste sie sich zwingen, alles der Reihe nach zu mustern und einzuordnen. Auf dem Weg zum Zentrum inspizierte sie zuerst die faltenreichen, von dicken, geflochtenen goldenen Schnüren zusammengehaltenen dunkelroten Fenstervorhänge. Ein besticktes Tuch mit geometrischem Muster hing über dem Kaminsims. Daneben standen ein niedriger Sessel und ein Tisch, den ein geschnitztes Rosenholzkästchen schmückte. Gwen stellte sich vor, Bythesea würde abends hier sitzen, die langen Beine ausgestreckt, und gedankenverloren in die Flammen starren.

Fasziniert wandte sie sich zu einem schönen Ebenholzschrank mit bemalten Türen und schließlich zum großen Vierpfostenbett aus Teakholz. Auf der rostroten Decke häuften sich orangefarbene und safrangelbe Kissen, und es juckte sie in den Fingern, über die weichen Seidenstoffe zu streichen. In einer erotischen Fantasie sah sie sich zwischen solchen Laken, würde es genießen, die kühle Seide auf nackter Haut zu spüren …

„Sehe ich ein zartes Erröten?“ Bytheseas Blick war ihrem gefolgt. Waren ihre Gefühle so offenkundig?

Sofort fasste sie sich, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Ebenholzschrank zurück und zeigte darauf. „Welch ein exquisites Kunstwerk!“

„O ja. Das ist ein Sandook aus meiner Wohnung im großväterlichen Palast“, erklärte er, ging zu dem Schrank und strich über das schimmernde Holz. Jetzt verlor seine Stimme den anzüglichen Unterton und klang ernst, fast ehrfürchtig. Dieses Möbel schätzte er, weil er seinen Großvater liebte, weil es ihn an ein Leben erinnerte, das er zurückgelassen hatte. Vielleicht für immer. „Die Bilder schildern die Geschichte von Shiva und Shakti, die schönste aller Liebesgeschichten.“ Ganz sanft zeichneten seine langen Finger die Umrisse der gemalten Gestalten nach.

„Erzählen Sie mir davon“, bat sie leise, geriet immer tiefer in den Bann dieses stillen, intimen Raums.

„Für die ganze Geschichte fehlt uns leider die Zeit.“ Wehmütig seufzte er und drehte sich zu ihr um. „Deshalb müssen Sie sich mit einer Zusammenfassung begnügen. Es beginnt so ähnlich wie die Romanzen im Westen. Gegen den Willen ihres Vaters Daksha heiratet Shakti den großen Gott Shiva, denn die beiden lieben sich innig. Dann veranstaltet der Vater ein Yagna, ein Feueropfer, um alle Götter außer Shiva zu ehren. Vor lauter Zorn über diese Kränkung wirft Shakti sich in die Flammen und stirbt…“

„Wie schrecklich!“, unterbrach ihn Gwen. „Verzeihen Sie, das finde ich nicht besonders romantisch.“

„Die Geschichte ist noch nicht zu Ende“, entgegnete er und schenkte ihr ein geduldiges Lächeln. „Völlig niedergeschmettert versinkt Shiva viele Jahre lang in seiner Trauer, und darunter leidet das Universum. Das lehrt uns, wie selbstsüchtig man ist, wenn man sich auf Kosten anderer persönlichen Gefühlen hingibt. Schließlich wird Shiva wieder mit Shakti vereint. Nach mehreren Wiedergeburten kehrt sie als Göttin Parvati zu ihm zurück.“ Bythesea lachte leise. „Nun sehen Sie, dass westliche Liebesgeschichten zu früh enden. In diesem Fall wäre mit Shaktis Feuertod alles vorbei. Auch das Ehegelübde der Anglikanischen Kirche bezieht sich auf ein Ende. ‚Bis der Tod euch scheidet.‘ Bei uns gibt es kein Ende, sondern immer wieder einen neuen Anfang. Die Geburt führt zum Tod, der Tod ist das Tor zum Leben. Ein endloser Kreislauf. Darin liegt die Moral der Geschichte von Shiva und Shakti – die Hoffnung auf Liebe ist ewig. Beisammen zu sein, ist den beiden bestimmt. Das ändert nicht einmal der Tod.“

Wenn es doch so wäre, dachte Gwen beklommen. Sie wusste es besser. Niemals würde Christophe zu ihr zurückkehren. Um sich daran zu gewöhnen, hatte sie vier Jahre gebraucht. Und es erschien ihr immer noch seltsam, allein aufzuwachen, auf den Klang seiner Schritte außerhalb des Schlafzimmers zu lauschen – dann zu erkennen, er würde nie mehr die Tür öffnen …

„Das klingt kompliziert.“ Für sie war die Liebe nie so schwierig gewesen wie das Leben ohne dieses sichere Gefühl. Impulsiv wandte sie sich von dem wundervollen Ebenholzschrank ab, verließ den Raum und hoffte, eine andere Umgebung würde einen Wechsel des Gesprächsthemas bewirken.

Diese Hoffnung erfüllte sich nicht.

„Ist die Liebe nicht immer kompliziert?“, fragte Bythesea und folgte ihr in den Flur.

„Nun, das könnte sie sein.“ Mit dieser vagen Antwort versuchte sie ihm klarzumachen, solche Themen seien in ihrer geschäftlichen Beziehung – zwischen der Porträtmalerin und ihrem Kunden – tabu.

„Ist die Liebe für Sie kompliziert, Mrs. Norton?“, hakte er unbarmherzig nach.

„Eig...

Autor