Brennende Sehnsucht oder falsche Gefühle?

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Jahrelang hat Miss Gwen Cully sich allein um die Schmiede ihrer Familie gekümmert, stolz und unabhängig. Und das soll auch so bleiben! Bis sich eines Tages ein gut aussehender Mann vor einem wütenden Mob in ihre Werkstatt flüchtet. Natürlich nimmt sie Kellan Fox in Schutz – doch dann hört sie seine unglaubliche Forderung! Sie soll ihn heiraten und ein Jahr lang seine Frau spielen, um ihm einen guten Leumund zu verschaffen. Eigentlich will sie empört ablehnen. Aber die Konkurrenz mit anderen Geschäften im Dorf ist groß, und als verheiratete Frau würde auch sie besser dastehen. Und Kellans feurige Küsse wecken eine brennende Sehnsucht in ihr …


  • Erscheinungstag 29.03.2025
  • Bandnummer 172
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532181
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sophie Jordan

Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrer Familie in Houston, und wenn sie sich nicht gerade die Finger wund tippt bei einem weiteren Schreibmarathon, sieht sie sich gerne Krimis und Reality- Shows an.

Für meine Cousine, Laurie Duke. Du warst von Anfang an in meinem Leben. Ich habe dich immer geliebt, und ich werde dich immer lieben.

1. KAPITEL

Draußen vor der Tür tobte ein wütender Mob.

Gwen Cully zog ihre dicken Arbeitshandschuhe aus und warf sie zur Seite. Ihre Lederschürze klatschte ihr gegen die Beine, als sie an das geöffnete Fenster der Schmiede trat und neugierig hinausschaute, wobei sie die frische Brise auf ihrem erhitzten Gesicht genoss, auch wenn sie angesichts der wilden Szene vor ihr zusammenzuckte.

Es waren nicht weniger als dreißig Dorfbewohner, die die Gasse hinuntergestürmt kamen – ihre Freunde und Nachbarn mit vor Wut geröteten Gesichtern. Sie hatte keine Ahnung, was ihren Zorn ausgelöst hatte. So etwas hatte sie in ihren achtundzwanzig Jahren noch nie erlebt. Nicht in ihrem gesamten Leben in Shropshire.

Sie hatten keinen Schaum vor dem Mund. Sie fuchtelten nicht mit Heugabeln herum, aber einige von ihnen reckten immerhin kämpferisch Stöcke in die Luft. Mr. Fyfe, der Wagnermeister des Dorfes, schwenkte einen Klanghammer, den sie selbst vor Jahren für ihn angefertigt hatte. Damals hatte sie sich nicht vorstellen können, dass er jemals als Waffe eingesetzt werden würde.

Die Horde knurrte wie eine Bestie und kam unaufhaltsam näher.

Die Rufe waren undeutlich, ein einziges großes Stimmengewirr, das immer lauter wurde, je weiter sie die Gasse hinunterkamen.

Was sie wollten, befand sich in der Schmiede – sie wollten einen Mann.

Einen bestimmten Mann.

Sie drehte sich um und blinzelte in die düstere Enge der Schmiede, ihr Blick suchte ihn, den Eindringling … die potenzielle Beute der aufgebrachten Menge draußen. Vor wenigen Augenblicken war er in ihrer Schmiede aufgetaucht und wie eine Erscheinung an ihr vorbei und in die Schatten gesaust.

Die Hände in die Hüften gestemmt, spähte sie in die dunklen Ecken, bevor sie vorsichtig an der Feuerstelle vorbeiging. Sie ertappte sich dabei, dass sie sich mehr Licht wünschte. Für ihre Arbeit bevorzugte sie Dämmerlicht, damit sie das Glühen des erhitzten Metalls besser sehen konnte, und doch wünschte sie sich jetzt das volle Tageslicht, als sie stehen blieb und auf die Gestalt hinunterblickte, die sich in der Ecke hinter ihrem Arbeitstisch versteckt hielt. Obwohl verstecken eigentlich nicht das richtige Wort war. Ganz und gar nicht. Der Mann war zu groß, um sich irgendwo verstecken zu können.

Selbst in der Hocke konnte sie erkennen, dass er ein wahrer Riese war. Beeindruckende Schultern und Muskelberge füllten seine Jacke aus. Der Stoff seiner Hose spannte sich über massiven Oberschenkeln, deren Anblick sie vollkommen faszinierte. Rasch rief sie sich zur Ordnung ließ den Blick tiefer gleiten und begutachtete die Stiefel, die sich an ein Paar muskulöser Waden schmiegten.

Sie blinzelte, schluckte und ermahnte sich abermals, sich zusammenzureißen und sich der Situation angemessen zu verhalten.

Aufgrund seines Erscheinungsbildes hätte sie ihn für einen Mann gehalten, der an schwere körperliche Arbeit gewöhnt war. Doch seine Kleidung erzählte eine andere Geschichte.

Er war wie ein wohlhabender Herr gekleidet, aber sie war noch nie einem Herrn begegnet, der etwas von harter Arbeit verstanden hätte. Sein Jackett war aus feinster Merinowolle, und seine Hessenstiefel waren aus edlem Leder. Gentleman hin oder her, er hatte etwas auf dem Kerbholz. Etwas so Schwerwiegendes, dass die Dorfbewohner hinter ihm her waren.

„Sie haben hier nichts zu suchen!“, warf sie ihm mit strenger Stimme vor, wobei sie sich dazu zwang, ihm ins Gesicht zu sehen und seinen beeindruckenden Körper zu ignorieren.

Obwohl sein Gesicht ebenso ablenkend war.

Er starrte sie mit dunklen Wolfsaugen an, die von viel zu langen und dichten Wimpern umrahmt waren. Sein Gesicht war zu grob, um es als hübsch zu bezeichnen, aber es war dennoch besonders. An jedem anderen wäre seine Nase zu groß gewesen, aber zu ihm passte sie perfekt, da seine Züge wie aus Granit gemeißelt wirkten.

Sie schluckte abermals. Alles in allem war er die Art von Mann, die ihr gefiel. Zumindest körperlich. Groß und wohlgeformt, mit Händen, die größer waren als ihre eigenen. Wenn nötig, wäre er dazu in der Lage, sie aus einem brennenden Gebäude zu tragen. Und eine Frau wie Gwen zu tragen war kein leichtes Unterfangen. Tatsächlich hatte seit ihrem Papa kein Mann mehr sie getragen. Und der auch nicht mehr seit ihrem fünften Lebensjahr.

Obwohl er seinen Mund vor Unmut verzog, waren seine Lippen erstaunlich üppig. „Bitte.“

Dieses eine Wort, das er mit seiner tiefen Stimme aussprach, löste etwas in ihr. Mitleid durchflutete sie, bevor sie es aufhalten konnte.

Sie straffte die Schultern, räusperte sich und fragte streng: „Was haben Sie getan?“

„Getan?“

„Ja. Was haben Sie getan?“ Sie wies hinter sich auf das Fenster. „Ob Sie es glauben oder nicht, die guten Menschen in diesem beschaulichen Flecklein Erde verlieren normalerweise nicht den Kopf und jagen einen Mann ohne triftigen Grund durch die Straßen. Sie sind größtenteils vernünftig. Sie müssen etwas getan haben. Also, raus mit der Sprache!“

„Sie erkennen mich nicht?“

Sie blinzelte und musterte ihn prüfend. Wie kam er nur darauf, dass sie ihn kennen könnte? Sie hatte ihn noch nie gesehen. „Sollte ich?“

Dann war er an der Reihe, sie zu mustern. Er betrachtete ihre beachtliche Gestalt von oben bis unten, wobei ihm nichts von ihren fast sechs Fuß zu entgehen schien.

Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ sie die Musterung über sich ergehen, atmete bewusst ein und aus, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie hatte sich vor langer Zeit damit abgefunden, wie Gott sie erschaffen hatte. Sie würde sich unter niemandes Inspektion kleiner machen, als sie war.

Er wandte den Blick ab und nahm die Umgebung in Augenschein, bevor er sie wieder ansah. „Wer sind Sie? Was ist das für ein Ort?“

Wer sie war? Wer war er?

„Sie meinen den Ort, zu dem Sie sich, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten, Zutritt verschafft haben?“ Sie schnaubte und verschränkte die Arme. „Es ist eine Schmiede. Ich bin eine Schmiedin.“ Sie zuckte innerlich zusammen. Nicht die Schmiedin. Leider nicht mehr. Nicht in Shropshire. Vielmehr war sie jetzt eine Schmiedin.

Einst hatte sie die einzige Schmiede im Umkreis von mehreren Kilometern besessen, nachdem sie die Werkstatt von ihrem Vater und ihrem Onkel übernommen hatte.

Gwen leitete die Schmiede der Familie in dritter Generation. Die dritte Generation, die den Hammer auf den Amboss schlug. Die dritte Generation … und sie war allein.

Ihre Großeltern, ihr Vater und ihr Onkel waren nicht mehr da. Sie hatten ihr alles beigebracht, was es zum Schmieden brauchte, und sie machte alles selbst. Es gab keinen Bruder und auch keine Schwester, die die Last mit ihr geteilt hätten. Keinen Onkel, keine Tante, keinen Cousin. Niemanden.

Die Schmiede gehörte ihr allein.

Sie war nicht mehr die einzige Schmiedin im Dorf, die ihre Dienste anbot. Jetzt gab es einen anderen. Einen anderen Schmied, der nicht den Namen Cully trug, und er hatte sich niedergelassen und ihr das Geschäft verdorben.

Bei diesem schmerzlichen Gedanken atmete sie tief durch – Kummer und Sorge waren ihr nicht fremd. Sie hatte bereits genug Verluste in ihrem Leben erlitten, aber dieser war besonders bitter.

In den letzten Monaten hatte sie mehr Aufträge erhalten, als sie bewältigen konnte, und nach und nach war die Zahl der Anfragen deutlich zurückgegangen. Als sie ihre langjährige Kundschaft fragte, warum sie deren Gunst verloren hatte, hatten alle die gleiche Erklärung. Sie brauche zu lange. Sie sei zu langsam. Unzuverlässig.

Die Wahrheit tat weh.

Es war immer schwerer für sie geworden, ihre Aufträge rechtzeitig zu erfüllen. Nachdem ihr Onkel erkrankt und bettlägerig geworden war, war sie allein für seine Pflege verantwortlich gewesen. Ihre Aufmerksamkeit war geteilt gewesen, und die Schmiede hatte darunter gelitten. Zunächst hatte das allerdings keine Rolle gespielt, denn sie war die einzige Schmiedin im Dorf gewesen.

Bis jetzt.

Meyer war vor Kurzem mit seinen beiden Söhnen hergezogen. Sie hatten eine Gasse weiter eine Schmiede eröffnet und ihr nach und nach das gesamte Geschäft weggenommen, weil sie zu dritt viel schneller vorankamen als sie.

Es spielte keine Rolle, dass ihr Onkel vor über einem Monat gestorben war und sie nun mehr Zeit – ihre ganze Zeit – für die Arbeit aufbringen konnte. Die Schaden war angerichtet. Einen Großteil ihrer Kundschaft hatte sie bereits an Meyer und seine Söhne verloren. Das Vertrauen in sie war erschüttert. Sie war gern bereit zu glauben, es hätte nichts damit zu tun, dass sie eine Frau war. Sie hatte ihr ganzes Leben in Shropshire verbracht. Sie hatte ihr ganzes Leben hier gearbeitet. Die Menschen hier kannten sie. Sie waren ihre Nachbarn. Ihre Freunde. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie einem Neuankömmling eher vertrauten, nur weil er als Mann zur Welt gekommen war. Das wäre ihr sehr ungerecht vorgekommen und hätte sich wie ein böser Verrat angefühlt.

Der Lärm draußen wurde lauter. Sie warf einen Blick über die Schulter. „Sie kommen näher“, stellte sie fast beiläufig fest, als wäre es vollkommen normal für sie, dass fremde Männer in ihre Schmiede eindrangen.

Er nickte einmal in die Richtung des Fensters. „Ja, sie wollen mich hängen.“

„Sie hängen?“ Welche ruchlose Tat hatte dieser Mann begangen? Wer war er? „Warum?“ Sicherlich übertrieb er. Ihre Nachbarn waren doch allesamt gesetzestreue Bürger!

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie zurück zum offenen Fenster und schaute erneut hinaus, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Der Anblick der blutrünstigen Menge verhieß nichts Gutes. Sie seufzte. „Ich fürchte, Sie haben recht. Ich weiß nicht, was Sie getan haben, aber sie sind auf Blut aus.“

Auf diese Erklärung gab es keine Antwort, und sie entfernte sich vom Fenster, um ein Schüreisen von ihrem Werkzeugständer zu holen. Sie packte den Stahl mit einer Hand.

Ein fremder Mann hatte sich in ihre Schmiede geflüchtet.

Wahrscheinlich war er gefährlich, und sicherlich war er verzweifelt. Der Mob da draußen war hinter ihm her. Sie war nicht so töricht, ihn zu unterschätzen. Ganz und gar nicht. Sie würde höllisch aufpassen. Er könnte sehr wohl versuchen, sie als Geisel zu benutzen, um sich selbst zu schützen.

Jetzt bewaffnet, trat sie wieder auf ihn zu. „Kommen Sie da raus, aber flott!“, forderte sie ihn mit ihrer rauen Stimme auf.

Obgleich er so massiv war, war er nur wenige Augenblicke zuvor schnell wie der Blitz durch die Eingangstür ihrer Werkstatt zu der Ecke gestürmt, in der er sich jetzt versteckte. Sie ermahnte sich, das ja nicht zu vergessen. Er war flink auf den Beinen. Sie umklammerte das Schüreisen, wartete ab und fragte sich immer wieder, was dieser Mann verbrochen haben mochte, fest entschlossen, sich nicht überrumpeln zu lassen.

Er erhob sich, und ihr stockte der Atem. Er war mehr als nur groß. Er war wahrhaftig ein Riese.

Er entfaltete sich aus seinem Versteck und offenbarte sich als weit über zwei Meter groß.

Größer als ich.

Er wies mit dem Kinn auf das Schüreisen in ihrer Hand. „Wollen Sie mich damit erschlagen?“

„Wenn nötig.“

„Ich will Ihnen nichts Böses.“ Er hob beide Hände, als wollte er ein unberechenbares Tier besänftigen. „Ich brauche nur ein Versteck, bis sie wieder weg sind.“

Gwen drehte sich wieder leicht in Richtung des Fensters, bereit zu schreien, falls er eine bedrohliche Bewegung auf sie zu machte. „Sie können nicht erwarten, dass ich Sie beschütze, ohne zu wissen, was Sie getan haben.“ Vorausgesetzt natürlich, er würde ehrlich zu ihr sein.

Er schüttelte den Kopf und klang müde, als er sprach. „Nur eine Kleinigkeit …“

„Ich glaube, er ist da drüben!“ Das Gebrüll war nun ganz nah. Direkt vor ihrer Werkstatt.

Gwen spähte erneut aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die Meute auf die Wagnerei auf der gegenüberliegenden Seite stürzte. Aus welchem Grund auch immer, sie dachten, der Fremde versteckte sich dort. Was für ein Glück im Unglück.

„Sie sind in der Wagnerei auf der anderen Seite der Gasse“, informierte sie ihn.

Der Fremde atmete hörbar aus, seine stoische Fassade bekam leichte Risse. Seine Erleichterung war deutlich spürbar.

„Was wollten Sie sagen?“, erkundigte sie sich. „Was haben Sie getan?“

„Es handelt sich nur um eine kleine Betrugsangelegenheit. Nichts, was rechtfertigen würde …“ Er winkte ab. „Nichts, was das hier rechtfertigen würde.“

„Was genau darf ich unter einer kleinen Betrugsangelegenheit verstehen?“ Sie richtete das Schüreisen auf ihn. „Wenn ich Sie wäre, würde ich aufhören, Ausflüchte zu machen. Die Zeit ist nicht auf Ihrer Seite. Ein Wort von mir …“ Sie ließ ihre Stimme verklingen und ließ die Andeutung zwischen ihnen im Raum stehen.

Er nickte widerwillig und seufzte. „Mein Vater hat so getan, als wäre er der Duke of Penning. Aber er ist es nicht.“ Wieder ein Seufzen. „Seine List wurde aufgedeckt, denn der echte Duke ist inzwischen eingetroffen.“

Der echte Duke?

„Warten Sie einen Moment. Der Duke of Penning, der sich in den letzten Monaten hier überall als solcher präsentiert hat, ist nicht der wahre Duke of Penning?“

Sie hatte den Duke auf dem Ball der Blankenships und einmal im Dorf getroffen. Von der Ankunft von dessen Sohn hatte sie gehört, ihn aber nicht gesehen.

Der Duke of Penning hatte sie bei seiner Ankunft beauftragt, eine Reihe von Verbesserungen im Haus vorzunehmen. Das war selbstverständlich gewesen, bevor Meyer hierhergezogen war. Sie hatte gerade eines der kleineren Projekte abgeschlossen, als sie vor vierzehn Tagen Pennings schicke Kutsche vor Meyers Laden entdeckte. Offenbar hatte der Duke, der angebliche, beschlossen, wie alle anderen auch, lieber mit dem neuen Schmied zu arbeiten als mit ihr. Das hatte wehgetan, obwohl sie dem Duke – oder dem Mann, den sie für den Duke gehalten hatte – keinen Vorwurf machte. Er brauchte einen Schmied, der zügig Ergebnisse liefern konnte.

Er nickte mit grimmiger Miene. „Das ist richtig. Er ist es nicht.“

Gwen begann fieberhaft, alles, was sie eben gehört hatte, in ihrem Kopf zusammenzufügen. „Er ist Ihr Vater? Das bedeutet …“ Sie brach in Gelächter aus. „Oh, Mann! Das ist wirklich komisch! Sie sind der berühmte Sohn, der vor Kurzem eingetroffen ist und das Dorf in Aufruhr versetzt! Sie sind der begehrte Erbe des Duke of Penning! Nein, das sind Sie ja gar nicht. Von wegen!“ Sie fuchtelte mit dem Schüreisen. „Sie sind einfach nur ein Angeber, der sich unverdienterweise den Reichtum anderer Leute unter den Nagel reißen will.“

Er starrte sie weiterhin finster an, schien ihre Worte zu akzeptieren und machte sich nicht die Mühe, sein perfides Handeln zu verteidigen oder zu entschuldigen.

Sie hatte den Duke unterwegs gesehen – oder zumindest den Mann, der vorgegeben hatte, der Duke zu sein. Er hatte seine Haushälterin geschickt, um Gwen mit den Arbeiten zu beauftragte, aber später hatte sie seine Bekanntschaft gemacht. Ein Mann mittleren Alters, offen und freundlich. Er war schon eine ganze Weile in Shropshire und hatte seine Rolle, die ihm nun offenbar gestohlen worden war, in vollen Zügen genossen. Alle mochten ihn. Schließlich hatten die Blankenships ihm zu Ehren einen Ball veranstaltet. Diese schockierende Enthüllung musste all jene schmerzen, die diesem Mann vertraut hatten.

Die Miene des Fremden vor ihr war jetzt fast reumütig – und doch nicht. Der Mann, der vor ihr stand, hatte eine gewisse Ausstrahlung. Ein gewisses Maß an Würde und Akzeptanz für das, was er war. Oder vielleicht war es Resignation. „Ich bin mir dessen bewusst, was ich getan habe.“

Was er getan hatte, konnte den Dorfbewohnern von Shropshire gar nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Sie hatten sich vor dem angeblich neuen Duke und dessen Erben lächerlich gemacht. Sie hatten sich verbeugt und gekatzbuckelt und den beiden ihre Töchter vor die Füße geworfen, in der Hoffnung, ihre Gunst zu gewinnen.

„Sie sind also ein Dieb. Und ein Schwindler“, sagte sie. Das war die schlichte und einfache Antwort. Sie musterte ihn erneut – jeden seiner riesigen, beeindruckenden Zentimeter. Er war ein schöner Mann. Natürlich musste etwas mit ihm nicht in Ordnung sein. „Ein elender Heuchler. Sie stehlen Identitäten und nisten sich wie ein Parasit in das Leben anderer ein.“

Etwas huschte über seine Züge. Er hörte das nicht gern. Und doch sagte sie nur die Wahrheit. Sie hatte keine Geduld für einen Mann wie ihn. Sie führte ein ehrliches Leben. Er konnte seine illegalen Machenschaften woanders ausleben. Sie hatte Arbeit zu erledigen und keine Zeit für diesen Unsinn.

„Ich nehme an. Ja“, gab er zähneknirschend zu.

„Wo steckt denn Ihr lieber Papa?“ Angewidert verzog sie die Lippen. „Warum versteckt er sich nicht mit Ihnen zusammen in meiner Schmiede?“

„Es ist ihm gelungen, nicht … entdeckt zu werden.“

Sie dachte kurz nach und übersetzte dann. „Er ist abgehauen? Und hat Sie hier zurückgelassen?“

Sein Vater hatte ihn im Stich gelassen.

Auch darüber dachte sie einen Moment nach. Sein Vater hatte ihn im Stich gelassen, hatte es ihm allein überlassen, sich dem Mob zu stellen. Aus irgendeinem Grund blieb ihr das Lachen im Halse stecken. Stattdessen empfand sie wieder Mitleid mit dem so bedauernswerten wie lügnerischen Riesen vor ihr.

Sein Vater war genauso schuldig. Mehr noch. Er war schon länger in Shropshire, hatte vorgegeben, jemand zu sein, der er nicht war, und sich in der Sonne seiner erschlichenen Position gebadet schon Monate vor der Ankunft seines Sohnes.

Er nickte einmal kurz und knapp. Natürlich brauchte sie ihn nicht darauf hinzuweisen, dass sein Vater ihn verraten hatte. Das war ihm klar.

Gwen entschied, dass er nicht gefährlich war, und ließ das Schüreisen sinken. „Sie werden Sie nicht hängen.“ Die Menschen hier im Dorf waren vernünftig.

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, sagte er düster.

„Ich kenne diese Leute.“

„Wie dem auch sei, ich möchte heute nicht die Grenzen ihrer Toleranz austesten.“

Sie hängte das Schüreisen zurück in ihren Werkzeugständer. „Ich denke, Sie können hierbleiben, bis sie sich zerstreut haben.“ Sie duldete keine Gewalt. Sie glaubte zwar nicht, dass die guten Menschen in Shropshire ihn tatsächlich hängen würden, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie ihm die Prügel seines Lebens verpassen könnten.

Seine Gesichtszüge wurden weicher, und etwas von der Anspannung schien von seinen massiven Schultern abzufallen. Sie versuchte, nicht zu lange auf diese breiten Schultern zu starren … oder auf irgendeinen Teil seines Körpers, aber es war schwierig. Sein Körperbau war außergewöhnlich, und sie konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie gut er sich in einer Schmiede machen würde. In ihrer Schmiede. Er würde recht nützlich sein.

Wenn sie einen Lehrling wie ihn gehabt hätte, wäre ihr Geschäft nicht durch die Ankunft eines Konkurrenten im Dorf bedroht gewesen. Schnell rief sie sich zur Ordnung. Das Wenn war nicht real. Ein Wenn half ihr jetzt nicht weiter. Sie musste mit der Realität ihres Lebens zurechtkommen.

„Ich weiß das zu schätzen.“ Er nickte einmal, sein Kehlkopf bewegte sich, als er schluckte. „Mehr als ich sagen kann.“

Plötzlich drang eine Stimme zu ihnen durch. Ganz nah. „He! Da ist er! In der Schmiede! Er ist genau hier!“

Gwen drehte sich um und entdeckte den jungen Ben Hawkes, den Sohn des Gerbers, der durchs Fenster hineinschaute. Er fuchtelte wild mit einem spindeldürren Arm herum und lockte die anderen zu sich herüber. Offenbar waren sie von der Wagnerei weitergezogen.

Der Schwindler, der in ihrer Schmiede Zuflucht gesucht hatte, stieß einen erstickten Laut aus und sah sich wild nach einem Fluchtweg um.

„Oh, verdammter M…“ Die Worte erstarben ihr in der Kehle.

Sie hatte keine Zeit, noch etwas anderes zu sagen oder zu tun, bevor ihre Werkstatt gestürmt wurde. Ein Dutzend Männer platzte herein und nahm direkten Kurs auf den Eindringling. Er hatte keine Zeit, ihnen auszuweichen – nicht, dass er irgendwo hätte hingehen können. Schon hatten sie ihn in die Enge getrieben, und er schien sich seinem Schicksal gottesergeben zu fügen. Er begegnete ihnen so stoisch, als hätte er bereits mit dem Leben abgeschlossen.

Sie packten ihn grob und begannen, ihn zur Tür zu zerren. Seine Miene blieb starr, wie in Stein gemeißelt. Es gab keine Tränen, kein panisches Flehen, kein Gejammer, wie man es hätte erwarten können. Ihr Arbeitstisch wurde umgestoßen, und die Werkzeuge verteilten sich auf dem verdreckten Boden.

Sie fluchte lauthals und hievte den Tisch wieder auf die Beine.

Ihr nächster Nachbar, Mr. Fredericks, den sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, sah sie zerknirscht an. „Tut mir leid, Gwen.“

Dann waren sie alle verschwunden, waren unter großem Getöse nach draußen geströmt und hatten den unglücklichen Schwindler mit sich gezogen.

Gwen ging zum Fenster, um zu beobachten, was draußen geschah, und runzelte die Stirn bei dem Anblick, der sich ihr bot. Sie wollte sich abwenden, dem Ganzen den Rücken kehren. Es war nicht ihre Angelegenheit. Sie hatte Besseres zu tun, Arbeit, die auf sie wartete, die sie sorgfältig und schnell erledigen musste, damit sich herumsprach, dass man sich sehr wohl auf sie verlassen konnte. Ihr Onkel war nun gestorben, was alle wussten, aber ihre Kunden waren immer noch nicht zu ihr zurückgekehrt, obwohl sie jetzt alle Zeit der Welt hatte, sich ihrem Geschäft zu widmen.

Das Schicksal eines Fremden ging sie nichts an.

Mit diesem Gedanken wandte sie sich ab, hielt dann aber mit einem schweren Atemzug inne. Der Tumult vor ihrer Tür war nicht zu überhören.

Verdammter Mist.

Mit einem Stöhnen wirbelte sie zurück und verließ mit langen Schritten die Schmiede. Sosehr sie sich auch wünschte, sie könnte den Mann aus dem Gedächtnis streichen, es war zu spät. Sie hatte ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Sie war jetzt ein Teil dieser leidigen Geschichte. Sein stoischer Gesichtsausdruck hatte sich ihr eingeprägt. Er mochte des Betrugs und aller Arten von Diebstahl schuldig sein, aber sie war jetzt in das Drama verwickelt. Das konnte sie nicht ignorieren – oder ihn.

Sie musste wissen, wie es weiterging.

2. KAPITEL

Als Gwen ins Freie trat, brachte ihr die Herbstluft angenehme Kühlung. In der Schmiede war es durch das stets brennende Feuer immer übermäßig warm. Der erste Atemzug frischer Luft, nachdem sie drinnen eingesperrt gewesen war, war immer willkommen. Sie hob das Gesicht in den Wind. Obwohl es schon spät am Nachmittag war, fühlte es sich wegen des bedeckten Himmels eher wie Abend an.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte der Menge nach. Sie konnte ihn nicht mehr sehen. Der betrügerische Riese musste irgendwo im vorderen Teil der Gruppe stecken, außerhalb ihres Blickfelds.

Sie eilte vorwärts und schloss sich der Nachhut der Meute an, wurde von der Flut der Körper mitgerissen und begleitete den Mob die Hauptstraße hinunter in Richtung Dorfplatz.

Die Menge schien ein Eigenleben entwickelt zu haben. Unruhig blickte Gwen sich um. Ihr kam es so vor, als würden es immer mehr Menschen, die sich aufgemacht hatten, sich zu rächen. Die Dorfbewohner wirkten immer noch wütend, ihre Gesichter waren gerötet, so sehr schienen sie in Rage zu sein.

Sie kannte fast jeden. Einige besser als andere, aber einige hatte sie tatsächlich noch nie gesehen. Das Dorf wuchs und würde bald eine Stadt sein. Neue Geschäfte wurden eröffnet. Neue Familien zogen hinzu. Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich mit dem direkten Beweis für diese Entwicklung konfrontiert wurde, denn dort, unter den verschiedenen Gesichtern, war auch Shropshires jüngster Neuzugang – ihr hämischer, wichtigtuerischer Rivale Meyer. Seine beiden stiernackigen, stumpfäugigen Söhne standen neben ihm. Wie immer. Sie waren nie weit von ihm entfernt. Ständige Schatten. Sie waren so alt wie Gwen, aber sie betrachtete sie immer nur als kleine Jungen. Sie machten keinen Schritt und trafen keine Entscheidung ohne die Zustimmung ihres Vaters. Meyers Söhne waren einfach nur geistlose Schufte, die in der Schmiede ihres Vaters rackerten und seinen Anweisungen folgten.

Meyers Blick fand den ihren. Er wölbte eine buschige graue Augenbraue in stummer Frage. Sie kannte die Frage. Sie hatte ihm ihre Antwort bereits unmissverständlich gegeben, aber anscheinend dachte er, dass sie ihre Meinung doch noch ändern würde.

Sie wandte den Blick von ihm ab und suchte die Menge nach dem verlogenen Unglücksraben ab.

Als die Menge den Platz erreichte, strebten die Menschen auseinander und gaben den Blick auf den Schwindler frei. Ein Ärmel seiner Jacke war zerrissen, und es kam ihr in den Sinn, dass sie das Ausmaß der schlechten Laune ihrer Nachbarn vielleicht unterschätzt hatte.

Sie musterte die Gesichter und bemerkte den Blutrausch in den Augen vieler. Sie hatte gesagt, man habe nichts von ihnen zu befürchten, aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.

Mrs. Dove, die heitere und wohlgenährte Bäckersfrau, fuchtelte mit einer speckigen Faust in der Luft herum und rief: „In den Pranger mit ihm!“

Gwen zuckte zusammen. Der Pranger stand zwar immer noch in der Mitte des Dorfplatzes, aber er war schon seit Jahren nicht mehr zur Bestrafung eingesetzt worden. Nicht mehr, seit sie ein Kind gewesen war. Dennoch erinnerte sie sich lebhaft an einen Vorfall, der sich früher zugetragen hatte. Ein Dieb war in den Käfig aus Holz eingesperrt worden und so gezwungen gewesen, dort über Nacht zu bleiben. Die Dorfbewohner verhöhnten ihn und warfen mit verdorbenen Lebensmitteln nach ihm. Das hatte sie damals als den Gipfel der Grausamkeit empfunden. Zum Glück hatten solche Bestrafungen aufgehört, seit der neue Magistrat im Amt war.

„Nichts zu essen für ihn“, rief jemand. „Hängt ihn! Hängt seine schwarze Seele!“

Gwen schreckte bei der Forderung zusammen. Mehrere andere schlossen sich dem Ruf an, und sie suchte die Menge nach dem Magistrat ab. Er würde Ruhe in dieses heillose Durcheinander bringen.

„Wo ist Mr. Redmond?“, fragte sie laut, weil sie hoffte, dass jemand sie hören oder – noch besser – dass der Gesuchte selbst vortreten würde, um dem Ganzen ein Ende zu setzen.

Niemand antwortete ihr, und sie bahnte sich einen Weg nach vorn. Als sie Dr. Merrit entdeckte, zog sie ihn am Ärmel. „Wo ist der Magistrat?“

Dr. Merrit blickte sie abwesend an.

Er war sichtlich gefesselt von der Szenerie. „Mr. Redmond? Ah, ich glaube, er besucht die Familie seiner Tochter in London.“

Ganz wunderbar. Der einzige Mann, der in diesem Chaos für Recht und Ordnung hätte sorgen können, war nicht anwesend. Sie wies auf den unglücklichen Mann, der gerade zu der großen Eiche in der Mitte des Platzes geschleppt wurde. „Dr. Merrit, tun Sie doch bitte etwas.“

Er war ein bedeutender Mann. Ein Heiler. Sicherlich würde er die Stimme der Vernunft sein, auf die alle hörten.

Dr. Merrit schüttelte den Kopf, die Lippen zu einer grimmigen Linie verzogen. „Er ist zu weit gegangen. Er hat uns alle zum Narren gehalten.“ Er verengte die Augen zu Schlitzen. „Er hat mit meiner Tochter auf dem letzten Ball der Blankenships getanzt, und sie hat seitdem nicht mehr aufgehört, von ihm zu reden. Sie wird keinen anderen Verehrer mehr in Betracht ziehen.“

Offensichtlich hegte Dr. Merrit einen tiefen Groll gegen den Fremden. Sie zog fester an seinem Ärmel. „Und dafür hat er den Tod verdient?“

Seine Wangen waren vor Ärger gerötet. „Jede Mutter in dieser Grafschaft hat sich mit ihren Töchtern auf ihn gestürzt, als wäre er ein Prinz.“

Sie musterte ihn prüfend. Er meinte es ernst. Er würde sich nicht für den Mann einsetzen. Zweifellos war seine Frau eine dieser Mütter.

„Nein! Halt!“, schrie sie, bevor sie überhaupt wusste, was sie tat.

Einige Leute hörten sie. Ein paar Köpfe drehten sich in ihre Richtung, sie wurde mit verwunderten Blicke und gerunzelten Stirnen bedacht, aber sonst passierte nichts. Der Todgeweihte wurde immer noch in Richtung der großen Eiche gezogen, die ein Mann erklommen hatte. Ein anderer Mann wartete unten mit einem Seil, bereit, es zu ihm hinaufzuwerfen.

Das konnte doch nicht wahr sein.

Die Menschen in diesem Dorf taten so etwas Schreckliches doch nicht.

Oder?

Es war, als hätten sie ein gemeinsames Gehirn. Sie agierten, als wären sie ein Bienenvolk. Keiner dachte unabhängig.

Wenn der alte Pfarrer hier gewesen wäre, hätte er dem Ganzen einen Riegel vorgeschoben. Nur wusste sie, dass auch er nicht in Shropshire war. Sie hatte seine Tochter erst vor einer Woche auf der Straße getroffen. Imogen hatte ihr erzählt, dass sie mit ihrem Mann und ihrem Vater nach London reiste, um ein paar Dinge für ihr neues Heim zu kaufen, ein schönes Haus, das sie gerade außerhalb des Dorfes gebaut hatten.

Gwen stieß einen ängstlichen Atemzug aus. Der Magistrat und Mr. Bates. Es hätte keinen schlechteren Zeitpunkt geben können für ein solch dramatisches und emotional aufgeladenes Ereignis. Fassungslos schüttelte sie den Kopf.

Ob er nun im Ruhestand war oder nicht, Mr. Bates war ein guter Mann, der in dieser Situation Vernunft und Mitgefühl hätte walten lassen. Und seine Tochter auch: Imogen und ihr Mann, Peregrine Butler. Sie waren anständige Menschen. Sie hätten sich nicht von der Menge mitreißen lassen. Sie hätten dem Ganzen ein Ende gesetzt. Aber sie waren weit weg in der großen Stadt. Warum war denn niemand hier, der diesen Wahnsinn stoppen könnte?

Nur du.

Du bist hier.

Du kannst das mörderischen Treiben beenden.

Sie schluckte und drängte sich weiter nach vorne. „Nein!“ Niemand konnte sie der Zurückhaltung oder Schüchternheit bezichtigen. Sie hatte ihr ganzes Leben lang in einer Männerdomäne gearbeitet. Ihr Vater und ihr Onkel hatten sie wie einen Sohn erzogen und ihr beigebracht, auf eigenen Füßen zu stehen, Aufmerksamkeit zu erregen und Respekt zu verlangen. Ja, genauso war es.

Sie konnte das tun.

Sie würde es tun.

Jetzt bemerkte sie, dass der Mob irgendwann auf dem Weg zum Dorfplatz seine Hände gefesselt hatte. Er wurde nach vorne geschubst, sodass er direkt unter dem Baum stand, dessen Äste einen Baldachin über ihm bildeten. Der Mann, der auf den Baum geklettert war, band das Seil an einem Ast fest. Blätter raschelten und segelten von oben herab.

„Genug jetzt! Ihr könnt ihn nicht hängen!“ Sie suchte nach einem einzigen Gesicht in der Menge, das Vernunft widerspiegelte, nach jemandem, der zu einem sachlichen Urteil fähig wäre. Es schien aussichtslos zu sein. Aller Mienen waren von Blutdurst gezeichnet, und diese speziellen Bewohner von Shropshire, die sich hier versammelt hatten, schienen jegliche Vernunft in den Wind geschossen zu haben.

„Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Mädchen.“ Meyers Sohn, der ältere – obwohl sie sich angesichts der Ähnlichkeit der beiden nicht sicher sein konnte – hatte sich neben sie gestellt.

Beide Söhne waren vom Alter nicht weit auseinander und sahen sich sehr ähnlich – jeder von ihnen hatte stumpfe Augen und einen Mund, der ihnen ständig offen zu stehen schien. Vor allem, wenn sie Gwen ansahen. Sie glotzten sie an, und überschüssiger Speichel glänzte auf ihren Lippen. Sie verbargen nie die grobe Richtung ihrer Gedanken, wenn sie sie ansahen und über ihre Brüste faselten, als wäre sie gar nicht da. In Anbetracht des hartnäckigen Vorschlags des Vaters der beiden, sie solle einen von ihnen heiraten, damit sie dann ihre Schmieden zusammenlegen könnten, wurde ihr bei dem Anblick der beiden noch übler.

Sie schaute ihn finster an. Niemals würde sie einen von den beiden Widerlingen heiraten, und das hatte sie Meyer nach seinem ziemlich aggressiv vorgetragenen Vorschlag auch kurz und bündig mitgeteilt.

Gwen entfernte sich mindestens zwei Schritte von dem jungen Meyer und schaffte so den dringend benötigten Abstand zwischen ihnen, während sie sich der Eiche näherte. „Tut das nicht!“ Sie winkte dem düster dreinblickenden Fremden zu, der sich in ihrer Schmiede versteckt gehalten hatte. Er zuckte mit den Schultern. „Es muss einen anderen Weg geben!“

„Er verdient es, bestraft zu werden!“, rief Meyer schrill.

„Das wäre Mord“, donnerte sie über das Getöse hinweg. „Die Strafe sollte dem Verbrechen angemessen sein.“

Gwen bemerkte, dass die Gemüter sich ein wenig beruhigt hatten. Mrs. Dove, die Frau des Bäckers, starrte angewidert auf das Seil, das vom Ast herabhing und in der Luft schwang. „Sie hat recht! Wir können ihn nicht töten.“

Mr. Dove drehte sich um und wandte sich der Menge zu, wobei er mit den Händen in der Luft gestikulierte, als würde er sich einem wilden Tier entgegenstellen. „Sie hat natürlich recht. Es muss eine angemessenere Strafe geben.“

Hoffnung flatterte in Gwens Brust auf. Das Blatt hatte sich gewendet. Die Hälfte der Menge forderte immer noch seine Hinrichtung, die andere Hälfte aber mahnte zur Zurückhaltung.

Ausgerechnet Dr. Merrit, ein vermeintlich gelehrter Mann, meldete sich zu Wort. „Die Strafe ist dem Verbrechen angemessen. Wer sich ungerechtfertigterweise als Mitglied der Aristokratie ausgibt, wird mit dem Tod bestraft.“ Er zeigte mit dem Finger auf den gefesselten Mann. „Würde er vor Gericht gestellt, würde man ihn zum Tode verurteilen. Ich schlage vor, dass wir diese Angelegenheit selbst in die Hand nehmen!“

„In der Tat“, sekundierte Mr. Pedersen, ein Rechtsanwalt, wenig einsichtig. „Es ist ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wird.“

Diejenigen, die dem Unglückseligen noch immer nach dem Leben trachteten, begannen, die fachkundige Auskunft des Juristen lauthals und im Chor zu skandieren.

Sie stöhnte auf. Das heizte die Menge nur noch mehr an. Die Unentschlossenen schrien plötzlich wieder nach seinem Kopf, denn sie waren sich sicher, dass sowohl der gute Doktor als auch der angesehene Anwalt die Gerechtigkeit auf ihrer Seite hatten.

Richtig so!

Da haben Sie es! So ist das Gesetz!

Hängt ihn!

Sogar Mr. Dove, der noch vor wenigen Augenblicken zur Zurückhaltung gemahnt hatte, stimmte in den Chor mit ein, offenbar immun gegenüber dem Unmut seiner Frau, die ihm begütigend den Arm tätschelte.

Keiner hörte mehr zu, keiner dachte auch nur noch einen Moment nach. Die Ansichten des Doktors und des Juristen gaben allen den letzten Rest an Rechtfertigung, den sie brauchten.

Niemand kümmerte sich um Gwens Einwände. Sie konnte nichts sagen, um sie umzustimmen. Kein einziges Wort, um das Mitgefühl oder auch nur die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen. Sie hatten sich von ihr abgewandt. Sie war entlassen.

„Dieser Mann verdient es zu hängen!“ Dies wurde von der jungen und stets nach dem neuesten Schrei gekleideten Emily Blankenship verkündet, eine der Töchter des reichsten Bürgers Shropshires. Die Augen des hübschen Mädchens schienen zu glühen, als sie auf den Mann zeigte, der bald tot sein würde.

„Das sagst du nur, weil du dich von ihm hinter der Kirche hast küssen lassen und dachtest, er würde dir einen Antrag machen! Du dachtest, du würdest eine Duchess werden! Ha! Sieh dir jetzt deinen Möchtegern-Duke an!“, rief ein anderes Mädchen.

Emilys Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Sie wirbelte herum und stemmte die Hände in die Hüften. „Und du hast ihn mehr tun lassen, als dich zu küssen!“

„Das nimmst du sofort zurück!“

„Das werde ich nicht, du Flittchen!“

Die Mädchen wollten sich wütend aufeinanderstürzen. Sie wurden aber aufgehalten, bevor sie sich einander auch nur einen Meter nähern konnten. In einem Wirbel von Röcken und empörtem Gekeife wurden sie von Mitgliedern der Gemeinde auseinandergezerrt, die nicht zulassen wollten, dass die angesehenen jungen Damen sich zu körperlicher Gewalt hinreißen ließen. Aber dass die zwei albernen Gänse einer schurkischen Hinrichtung beiwohnten, das würden sie sehr wohl zulassen. Wäre sie nicht so verstört gewesen von den Umständen, hätte Gwen darüber lachen können.

„Der Mann hat es mit der Hälfte der Mädchen in der Grafschaft getrieben“, brummte ein Mann in ihrer Nähe, sichtlich betrübt darüber, dass er selbst beim schönen Geschlecht nicht so beliebt war, und dann brüllte er mit lauter Stimme: „Lasst ihn hängen!“

Aha. Jetzt verstand sie, was alle an ihm auszusetzen hatten. Er war ein Schwindler, der die guten Frauen von Shropshire ausgenutzt hatte. Das genügte, um Männer und Frauen gleichermaßen nach seinem Blut dürsten zu lassen. Er konnte von Glück reden, dass nicht schon jemand für sein Ableben gesorgt hatte.

Ein Mann schlang ihm den Strick um den Hals.

Die Verzweiflung nagte hart und tief in ihrer Brust. Sie rannte auf ihn zu, unfähig, sich zurückzuhalten.

Der Mann war ein Fremder. Ein Schwindler. Ein Weiberheld. Aber das hatte er nicht verdient. Es war ihr egal, was das Gesetz vorschrieb. Nicht, dass es ein Gericht gewesen wäre, das über das Schicksal dieses Mannes entschieden hatte.

Sie packte den Arm des Mannes, der sich zum Henker aufspielte, und hielt das Seil fest. „Tun Sie das nicht. Bitte.“

Sie kannte ihn nicht persönlich, aber begegnet war sie ihm bereits. Sie hatte sein wieselartiges Gesicht schon einmal im Dorf gesehen, als er durch die Straßen lief. Sie glaubte, dass er als Lumpensammler arbeitete und die Abfälle der Leute einsammelte, um sie zu verkaufen. Er war kein großer Mann. Sie war einen ganzen Kopf größer als er. Als sie ihn am Arm berührte, schaute er sie mit finsterem Blick an. Es war nicht das erste Mal, dass ein Mann sie mit Abneigung ansah – als wäre ihre Größe ein persönlicher Affront gegen das eigene Selbstwertgefühl.

Wieselgesicht schüttelte ihre Hand von seinem Arm und machte sich wieder daran, das Seil zu richten.

Die ganze Zeit über stand der Hochstapler aufrecht, starrte stur geradeaus und presste grimmig die Lippen zusammen. Das war vielleicht das Schlimmste – die Tatsache, die es ihr nicht möglich machte, ihn sich selbst zu überlassen, wegzugehen und die Leute tun zu lassen, was sie begehrten. Wenn er geweint oder um sein Leben gebettelt hätte, wäre sie vielleicht weniger gerührt gewesen. Aber er war stoisch. Schicksalergeben. Fast … würdevoll.

„Nehmen Sie das Seil ab“, forderte sie und packte erneut den Arm von Wieselgesicht.

Der unglückliche Mann wirbelte mit einem Fluch herum und stieß sie hart von sich, sodass sie unvorbereitet zu Boden stürzte.

Sie hätte nicht so erstaunt sein dürfen. Der Mann hatte sich nur allzu bereitwillig als Henker zur Verfügung gestellt. Natürlich würde er mit Gewalt reagieren, wenn sie es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen.

Protest wurde in der Menge laut. Wenigstens das beruhigte Gwen ein wenig. Es gefiel ihnen nicht, dass man ihr Schaden zufügte. Offenbar hatten sie ihr Gewissen noch nicht ganz verloren. Sogar der Schuldige, der im Mittelpunkt dieses Chaos stand, der Mann mit der Schlinge um den Hals, schien nicht einverstanden damit zu sein, wie sie behandelt wurde.

Seine breiten Schultern spannten sich an. Er knurrte und wollte einen Schritt nach vorne machen, selbst als das Seil ihm in den Hals schnitt. Wieselgesicht hielt ihn mit einem schnellen Schlag in den Magen auf.

„Uff.“ Er krümmte sich leicht in der Taille, reagierte aber ansonsten nicht. Kein Aufschrei. Er sank nicht auf die Knie. Kein Zeichen von Schwäche.

„Na, na!“ Mr. Dove trat vor und half Gwen auf die Beine. „Entschuldigen Sie sich bei Miss Cully, Sie Gauner!“ Wütend funkelte er den Lumpensammler an.

„Schande über Sie!“ Mrs. Dove schüttelte ihre Faust. Andere schlossen sich mit ähnlichen Bemerkungen an. Wieselgesicht blickte sich um und musste erschrocken feststellen, dass er selbst bald am Strick hängen könnte, da ihm die Dorfbewohner seinen Umgang mit der allseits beliebten Schmiedin nicht durchgehen ließen. Er neigte sein Haupt in unaufrichtiger Demut. „Ich bitte um Verzeihung, Miss Cully. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Sie wusste, dass er sich nur entschuldigte, weil es von ihm verlangt wurde. Seine Augen verrieten seinen Groll nur allzu deutlich. 

Nachdem er sich entschuldigt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem wahren Übeltäter zu, prüfte noch einmal das Seil und vergewisserte sich, dass es fest um den Hals des Todgeweihten lag. Das war es, worum es ihm ging. Gewalt. Selbstjustiz. Mord.

„Kommen Sie, Miss Cully. Das ist kein Ort für Sie.“ Mrs. Dove nahm sie sanft am Arm und zog sie weg. „Sie sind eindeutig zu zart besaitet. Wer hätte das gedacht? Großes strammes Ding, das Sie sind.“ Sie schüttelte den Kopf, als wäre eine Hinrichtung im Dorf das Normalste der Welt … und als wäre es vollkommen in Ordnung, eine andere Frau als groß und stramm zu bezeichnen. „Ich werde Sie zurück in Ihre Schmiede begleiten und eine schöne Kanne Tee kochen, um Sie zu beruhigen.“

Gwen schaute über die Schulter, während sie sich vom Geschehen entfernten. Mrs. Dove hatte natürlich recht. Sie hatte nicht den Mut für so etwas. Aber wer hätte schon den Mut, mit anzusehen, wie ein Mann getötet wurde? Am Strick aufgehängt? Es war schrecklich.

Trotzdem. Vielleicht wäre sie mit Mrs. Dove gegangen – wenn sie ihm nicht wieder in die Augen geschaut hätte. Er stand in der Mitte dieses Durcheinanders, ein Abbild soldatischer Entschlossenheit, und in seinen Augen stand kühle, grimmige Akzeptanz – die Würde, die sie schon an ihm wahrgenommen hatte und die ihr in der Brust wehtat.

Nein.

Nein. Das konnte sie nicht dulden. Sie würde nicht zulassen, dass man ihn ermordete.

Sie riss sich von Mrs. Dove los, drehte sich um und eilte zurück. Ein kurzer Blick in die Menge verriet ihr, dass niemand mehr etwas gegen die bevorstehende Hinrichtung unternehmen würde. Die Leute jubelten nur und riefen allerlei wilde Forderungen. Ein paar sahen mit leeren Augen zu. Doch niemand würde es aufhalten. Niemand würde die Worte aussprechen, die dem Spuk ein Ende setzen würden.

Keiner außer Gwen. „Halt! Lasst ihn los!“

Zu diesem Zeitpunkt schenkte ihr niemand auch nur noch die geringste Aufmerksamkeit. Wie zuvor stießen all ihre Einwände auf taube Ohren. Keiner wollte ihr zuhören: Nein. Stopp. Tut es nicht.

„Das könnt ihr nicht tun!“ Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie hielt einen Moment inne, während die nächsten Worte ihr glühend heiß auf den Lippen lagen … um dann damit herauszuplatzen. „Ich liebe ihn!“

3. KAPITEL

Seit Kellan heute aufgewacht war, hatte er eine unangenehme Überraschung nach der anderen erlebt. Aber dass die große, blonde Wikingerin schrie, dass sie ihn liebte? Das war das Erstaunlichste und Unglaublichste von allem.

Er war ihr noch nie zuvor begegnet. Er hätte sich daran erinnert. Sie war zum Anbeißen. Eine Frau, an die sich die meisten Männer nicht herantrauen würden. Nur die Kühnsten – oder Dümmsten – würden es überhaupt versuchen. Er verzog die Lippen zu einem Grinsen. Er bezweifelte, dass sich irgendjemand für einen größeren Idioten hielt, als er es derzeit tat.

Wie sonst wäre er in diese Lage geraten?

Indem er auf Da gehört hatte, natürlich. Wie immer.

Kellan hatte sein Bauchgefühl ignoriert. Er hatte schon vor vierzehn Tagen abhauen wollen. Eigentlich von Anfang an. Dieser Schwindel hatte sich nicht gut angefühlt. Er hatte versucht, seinen Vater zu überreden, aber der war nicht bereit gewesen, auf ihn zu hören, da er seine Rolle als Duke viel zu sehr genoss.

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