Bianca Exklusiv Band 386

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SCHWEIG UND KÜSS MICH von SANDRA STEFFEN

Die schöne Summer ist in Orchard Hill für ihre Verschwiegenheit bekannt. Doch das allergrößte Geheimnis, das sie wie einen Schatz hütet, betrifft nur sie selbst – bis ein viel zu attraktiver Mann ins Dorf kommt. Sein heißer Kuss weckt in Summer den gefährlichen Wunsch zu reden …

TRAUMMANN SUCHT FAMILIENGLÜCK von BRENDA HARLEN


Beim Blick in Matts blaue Augen schlägt das Herz von Single-Mom Georgia sofort schneller. Ihr neuer Nachbar scheint ein absoluter Traummann zu sein, seinen zärtlichen Küssen kann sie nicht widerstehen. Aber dann muss sie fürchten, dass er sie nur aus purer Berechnung so liebevoll umwirbt …

MARTAS GRÖSSTE SEHNSUCHT von LYNNE MARSHALL

Keine Verpflichtungen. Keine Versprechen. Marta ist sich einig mit Leif Andersen, dass sie nur eine kurze Affäre haben. Schließlich ist der attraktive Witwer aus Heartlandia für eine neue Beziehung so wenig bereit wie sie. Trotzdem wächst bald eine geheime Sehnsucht in Marta …


  • Erscheinungstag 29.03.2025
  • Bandnummer 386
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531139
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sandra Steffen

1. KAPITEL

Wetterleuchten erhellte die Wipfel der Bäume am Horizont, als Summer Matthews den schmalen Bürgersteig zu ihrer Pension entlangging. Ein paar Sekunden lang konnte sie die Brücke über dem Fluss erkennen und den höchsten Kirchenturm von Orchard Hill, doch kurz darauf war der sternenlose Himmel wieder nachtschwarz.

Die Pension lag direkt vor ihr auf einem Hügel über dem Fluss, gerade noch innerhalb der Stadtgrenzen. Das große massige Gebäude war aus Sand- und Flussstein erbaut. Mit den großen Fenstern, den breiten Eingangsstufen und dem verzierten Portal sah es würdevoll und anheimelnd aus – eine Wirkung, die von der brennenden antiken Lampe im Erkerfenster im Erdgeschoss noch verstärkt wurde. Hinter den alten Fensterscheiben im ersten Stock flackerte jedoch das bläuliche Licht von Laptops und Fernsehern – moderne Technologie in einem über hundert Jahre alten Gebäude.

Summer betrat das Inn durch die Eingangstür. Das helle Klingeln der Glocke darüber vermischte sich mit den lebhaften Stimmen ihrer Freundinnen, die in ihrer Abwesenheit immer die Rezeption übernahmen. Summer blieb auf dem Weg zu ihren Privaträumen am Fuß der Treppe stehen und lauschte, bevor sie einen Blick in das Gästebuch warf. K. Miller, das letzte noch ausbleibende Mitglied der Zimmermannscrew, die morgen früh mit der Restaurierung des alten Lokschuppens anfangen sollte, hatte noch immer nicht eingecheckt. Summer fragte sich, was ihn wohl aufgehalten haben mochte.

Madeline Sullivan bemerkte sie. „Du bist ja früh zurück“, sagte sie überrascht. Ihre plötzliche Verlobung mit Riley Merrick war der Grund dafür, dass sie heute spontan mit der Hochzeitsplanung angefangen hatten.

Chelsea Reynolds blickte von ihrem Laptop hoch, und Abby Fitzpatrick drehte sich auf ihrem Stuhl um. Sie musterte Summer von Kopf bis Fuß. „Ich habe den neuen Tierarzt vorhin mit Rosen und einer Flasche Wein in seinen Wagen steigen sehen. Was machst du schon so früh zu Hause?“

Summer ging zum Kühlschrank, nahm sich eine Cola light heraus und setzte sich zu den anderen an den Tisch. „Wusstet ihr schon, dass Ziegen nach der Geburt erst nur auf einem Vorderbein stehen?“

Die anderen schwiegen einen Moment verwirrt. Offensichtlich fragten sie sich, warum Summer ihnen diese Perle der Weisheit mitteilte.

„Ziegen?“, wiederholte Abby ungläubig. Chelsea zupfte einen Strohhalm aus Summers hellbraunem Haar.

„Hast du Erfahrung mit Ziegengeburten?“, fragte Madeline.

„Jetzt schon.“ Summer öffnete ihre Dose Cola und goss den Inhalt in ein Glas. „Jake bekam während des Abendessens einen Anruf. Eine der Jenkins-Ziegen hatte Probleme bei der Geburt. Ich bin mitgefahren. Den Zwillingen geht es gut, die Mutter ist wohlauf, aber ich habe mir die Beine definitiv umsonst rasiert.“

Madeline war Krankenschwester. Mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen sah sie aus wie ein Engel. Die ebenfalls blonde Abby trug ihr Haar kürzer, was gut zu ihrer zierlichen Figur passte. Sie hatte einen IQ, der Einstein alle Ehre gemacht hätte. Chelsea war brünett, üppig gebaut und pragmatisch. Alle drei brachen in lautes Gelächter aus. Summer stimmte mit ein.

Beim Anblick der drei Frauen an ihrem Tisch an diesem ruhigen Dienstagabend fiel ihr wieder ein, dass sie bei ihrer Ankunft in Orchard Hill vor über sechs Jahren im zarten Alter von dreiundzwanzig genauso fragil und unsicher auf den Beinen gewesen war wie die neugeborenen Ziegen. Damals hatte sie sich mit Madeline, Chelsea und Abby angefreundet, und die drei hatten ihr großen Rückhalt gegeben, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen gehabt hatte.

Vor anderthalb Jahren hatten sie das Gleiche für Madeline getan, als deren Verlobter bei einem tragischen Motorradunfall ums Leben gekommen war. Inzwischen ging es ihr jedoch wieder gut. Sie würde bald den Mann heiraten, der Aarons Spenderherz bekommen hatte.

„Was machen die Hochzeitsvorbereitungen?“, erkundigte Summer sich.

„Laufen auf Hochtouren“, antwortete Abby. „In zehn Tagen wird hier die tollste Hochzeit des Jahrhunderts steigen.“

Summer wünschte, Abby hätte das anders formuliert. Sie wollte ja, dass Madeline ihre Traumhochzeit bekam – niemand verdiente das mehr als sie –, aber gleich die Hochzeit des Jahrhunderts? Hochzeiten hinterließen bei Summer sowieso immer ein ungutes Gefühl.

Sie rief sich ins Gedächtnis, dass die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens irgendwelche Spuren auf der Welt hinterlassen wollten, und wenn schon nicht das, dann wollten sie zumindest fünf Minuten lang Ruhm haben.

Nicht so Summer.

Sie hatte ihre fünf Minuten Ruhm gehabt und hätte gut darauf verzichten können. Nicht dass das in Orchard Hill bekannt war. Summer liebte diese Stadt und ihr Leben hier, aber ihr kleines Geheimnis behielt sie lieber für sich.

„Ich glaube, wir haben alles geschafft, was heute zu schaffen war“, sagte Chelsea zufrieden und klappte ihren Laptop zu.

Die anderen begannen, ihre Sachen zusammenzupacken.

Summer brachte ihre drei Freundinnen noch nach draußen. „Wir haben die Kirche, den Partyraum, den Caterer, das Kleid und die Gästeliste“, zählte Chelsea auf. „Fehlen nur noch die Musik, die Blumen, die Tischdekoration und Madelines Gelübde, aber das schaffen wir auch noch, was, Madeline?“

Summer fiel auf, dass Madeline gar nicht richtig zuhörte. „Ich will Apfelblüten auf dem Altar und keine Geschenke“, sagte sie verträumt, den Blick zum schwarzen Nachthimmel erhoben. „Eine ganz schlichte Hochzeit.“

Chelsea lachte. „Eine schlichte Hochzeit mit dreihundert Gästen?“

„Zweihundertachtundneunzig“, korrigierte Madeline sie. „Riley hat mit seinen Brüdern telefoniert. Die beiden können sich so kurzfristig nicht von ihren Verpflichtungen freimachen.“

„Zwei der begehrenswertesten Junggesellen auf der Gästeliste, und sie kommen nicht?“, fragte Abby.

„Mist!“, rief Chelsea zur selben Zeit.

Summer fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte schon viel von Kyle Merrick, Rileys älterem Bruder gehört. Er hatte schon als Student Aufsehen erregt, als er von seinem Elite-College geflogen war und anschließend einen Artikel über die Fehlleistungen seines Professors veröffentlicht hatte. Er hatte die Entschuldigung seiner Universität angenommen, die Aufforderung zur Rückkehr jedoch abgelehnt.

Er war ein erfolgreicher Investigativjournalist. Summers Story wäre für ihn bestimmt ein gefundenes Fressen, nachdem sie es vor sechs Jahren auf die Titelseite des Gesellschaftsteils jeder bedeutenden Zeitung an der Ostküste geschafft hatte. Gut, dass er nicht zur Hochzeit seines Bruders kam! Vor Erleichterung hätte sie am liebsten gejubelt, aber das wäre zu verräterisch.

„Bevor wir gehen, möchte ich, dass ihr alle die Augen schließt“, sagte Madeline.

Abby gehorchte als Erste. Chelsea folgte ihrem Beispiel widerstrebend, und auch Summer schloss lächelnd die Augen.

„Atmet tief ein“, säuselte Madeline. „Jetzt atmet langsam aus und holt ein zweites Mal Luft. Entspannt euch. Konzentriert euch auf euren Atem. Stellt euch den Mann eurer Träume vor. Seht ihr ihn schon? Vielleicht ist er ein Naturbursche, oder er ist sexy oder eher der nachdenkliche intelligente Typ.“

Eine Vision blitzte vor Summers innerem Auge auf. Ganz egal, wie oft sie mit den bodenständigen Männern von Orchard Hill ausging, ihr Traummann trug keine ausgeblichene Jeans, sondern einen gut geschnittenen europäischen Anzug.

„Glaubt daran, dass eure Wege sich kreuzen werden, dann passiert es auch“, fuhr Madeline fort. „Ich bin der beste Beweis dafür. Und jetzt öffnet eure Augen wieder.“

Alle vier schlugen die Augen gleichzeitig wieder auf und blinzelten, als ein Blitz den Himmel erhellte. Wie als Reaktion darauf flackerten die Lichter im Inn.

„Das Universum hat uns ein Zeichen geschickt“, flüsterte Madeline. „Eure Geliebten sind unterwegs.“

Summer hatte keine Ahnung, ob Chelsea und Abby an Madelines Vorhersagen glaubten. Alle stiegen in Chelseas Wagen, ohne zu widersprechen. Madeline war schon immer sehr intuitiv und romantisch veranlagt gewesen, und seitdem sie dem reichen Architekten Riley Merrick begegnet war und sich in ihn verliebt hatte, war das sogar noch schlimmer geworden. Sie glaubte an das Schicksal und daran, dass positive Gedanken zu positiven Ergebnissen führten. Und dass flackernde Lampen ein Zeichen waren.

Summer glaubte lediglich an die unzuverlässige Elektrik in ihrer Pension. Wenn das Gewitter bei ihnen ankam, würde ganz bestimmt wieder die Hauptsicherung herausspringen. Das hatte absolut nichts mit Schicksal zu tun. Genauso wenig wie das Flattern ihres Kleides in der schwülen Nachtbrise die Berührung eines Mannes ankündigte.

Das war nur der Wind.

Der große muskulöse Mann, der Summers Türschwelle überschritt, sah Summer unverwandt an. Sie konnte seine Augen nicht erkennen, dafür aber sein kühnes Lächeln.

Kühn mit einem großen K.

So viel Selbstsicherheit fand Summer bei Männern nicht immer attraktiv. Bei diesem hier jedoch schon.

Der Oberkörper des Mannes war nackt und tropfnass, warum auch immer. Es schien ihm egal zu sein, dass er ein auf dem Boden liegendes makellos weißes Hemd nass machte. Achtlos schob er es mit einer abgeschabten Stiefelspitze beiseite. Summer fiel auf, dass seine Stiefel irgendwie nicht zu seiner restlichen Kleidung passten, aber das hier war schließlich nur ein Traum, und sie fand ihn viel zu angenehm, um sich an irgendwelchen Ungereimtheiten zu stören.

Das Donnergrollen kam genauso stetig näher wie der Mann. Und was für ein Mann – der Inbegriff natürlicher Eleganz und muskulöser schlanker Männlichkeit. Völlig unbeeindruckt vom Gewitter beugte er sich über sie. Summer hielt die Luft an und wartete darauf, dass er sie küsste …

Lautes Donnerkrachen vor ihrem Fenster riss sie aus dem Schlaf. Sie blinzelte orientierungslos in die Dunkelheit.

Wo war sie?

Sie hörte den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln. Es donnerte erneut. Als sie eine Hand über das Polster neben sich gleiten ließ, kehrte die Erinnerung nach und nach zurück. Sie lag auf dem Sofa im Foyer, weil sie auf die Ankunft des letzten Gastes gewartet hatte, und musste dabei eingeschlafen sein.

Hatte sie geträumt? Die Details waren ihr entfallen, aber es musste ein sehr erotischer Traum gewesen war, so erregt wie sie war. Es war schon sehr lange her, dass ein Mann sie berührt hatte.

Blöde Madeline mit ihren albernen Vorhersagen!

Summer kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit etwas zu erkennen.

Es ist dunkel?!

Die Lampen hatten noch gebrannt, als sie sich mit einer Zeitschrift hingesetzt hatte. Anscheinend war der Strom tatsächlich ausgefallen. Gott sei Dank hatte sie in weiser Voraussicht eine Sturmlaterne und ein Feuerzeug auf dem Empfangstresen bereitgestellt.

Barfuß ging sie zum Tresen und zündete gerade die Laterne an, als jemand hinter ihr gegen die Tür hämmerte.

Sie wirbelte herum, das Feuerzeug noch in den Händen. In diesem Augenblick durchzuckte ein Blitz den Himmel und erhellte die dunkle Gestalt eines Mannes vor ihrer Türschwelle. Sie konnte den Umriss durch das Milchglasfenster sehen.

Erschrocken prallte sie zurück.

„Ich brauche ein Zimmer“, hörte sie ihn rufen.

Das muss K. Miller sein, der fehlende Zimmermann, dachte Summer.

Ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie das Feuerzeug ausmachte und das Glas der Sturmlaterne über die Flamme senkte. „Der Strom ist ausgefallen“, rief sie zurück.

„Das ist beim letzten Blitz passiert“, sagte er laut. „Ich brauche keinen Strom, nur einen trockenen Platz zum Schlafen.“

Summer schloss die Tür auf und schlüpfte hinter den Tresen.

Der Mann kam ihr vage bekannt vor, als er über die Türschwelle trat. Was schräg war, denn sie war ihm mit Sicherheit noch nie begegnet.

Sein nasses Haar hatte die Farbe von schwarzem Kaffee – dunkel und kräftig. Er hatte gerade Augenbrauen und Augen, deren Farbe sie aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Ein Wassertropfen rann ihm über eine Wange und verfing sich in seinen Bartstoppeln. Er hängte sein Jackett an den Garderobenständer neben der Tür und kam zum Tresen.

Grün. Seine Augen waren von einem so tiefen Grün, dass Summer bei dem Anblick ein Schauer über den Rücken lief. Die Luft im Raum war plötzlich spannungsgeladen – Verlangen auf den ersten Blick. Er schien es auch zu spüren, denn er erstarrte.

„Sind Sie die Besitzerin dieses Inns?“, fragte er und ließ seine Reisetasche fallen.

„Summer Matthews, ja. Willkommen im Orchard Inn.“

Vielleicht lag es am Licht der Sturmlaterne oder an der nächtlichen Uhrzeit oder dem Regen draußen, aber ihre Stimme klang plötzlich irgendwie heiser und verführerisch. „Die anderen sind schon vor Stunden angekommen“, fügte sie hinzu, wenigstens einen Anschein von Normalität wahrend.

Der Mann schob eine Hand in seine Hosentasche, vermutlich, um eine Kreditkarte herauszuholen.

Sie schob ihm das in Leder eingebundene Gästebuch hin. „Solange wir keinen Strom haben, funktioniert auch mein Computer nicht. Tragen Sie sich einfach hier ein, den Rest erledigen wir morgen früh.“

Rasch kritzelte er seinen Namen in das Buch und hob wieder den Blick zu Summer.

Ihr wurde ganz heiß. Sieh mal einer an, da fühlte sie sich doch tatsächlich mal zu einem bodenständigen Mann ohne Zweihundert-Dollar-Krawatte hingezogen. Es gab also noch Hoffnung für sie.

„Sie übernachten in Zimmer sieben.“ Sie reichte ihm einen Schlüssel, von dessen Ring die Nummer sieben baumelte. „Oben rechts und dann am Ende des Flurs.“

Schweigend nahm er den Schlüssel. Er hob seine Reisetasche hoch und ging zur Treppe.

„Warten Sie!“, rief Summer hinter ihm her.

Langsam drehte er sich zu ihr um. Sein Blick war intensiv und kühn.

Kühn mit einem großen K.

Draußen grollte der Donner. Drinnen flackerte verführerisch das Lampenlicht.

„Ja?“, fragte er.

„Sie werden eine Taschenlampe brauchen.“

Summer kam um den Tresen herum und reichte ihm eine Lampe. Ihr letzter Funken Verstand sagte ihr, dass sie jetzt loslassen musste, aber leider brachte sie nichts weiter zustande, als ihn anzustarren.

Er sah gut aus, wenn auch nicht im klassischen Sinn. Dafür war sein schmales Gesicht zu markant. Seine Lippen waren gerade voll genug, dass man ein zweites Mal hinsehen musste. Unter seiner Nase war eine kleine Narbe, aber es war sein Blick, der sie wieder erschauern ließ. Irgendetwas an ihm weckte in ihr eine Sehnsucht, ihn zu spüren, ihn zu berühren und von ihm berührt zu werden.

Er schien das ähnlich zu empfinden, denn er sah sie ganz intensiv an, bevor er den Blick zu ihrem Mund senkte … und von da ganz selbstverständlich zu ihren nackten Schultern und dem Ausschnitt ihres Kleides, der den Ansatz ihrer Brüste zeigte.

Als Summer ihn scharf einatmen hörte, stockte ihr der Atem. Eine Bewegung oder ein Lächeln, und es gäbe kein Zurück mehr. In letzter Sekunde riss sie sich zusammen, ließ die Taschenlampe los und trat einen Schritt zurück. „Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt im Inn. Gute Nacht, Mr. Miller.“

Er knipste die Taschenlampe an und richtete den Strahl auf die Stufen der Treppe. „Ich heiße nicht Miller“, sagte er auf halbem Weg nach oben.

„Wie bitte?“

„Ich heiße nicht Miller, sondern Merrick. Kyle Merrick.“

Seine Schritte waren längst verhallt und seine Tür zugefallen, als Summer sich aus ihrer Schockstarre riss. Ihr Blick fiel auf das aufgeschlagene Gästebuch. Sie ging zum Tresen und drehte es um. Im Licht der Öllampe las sie den Namen Kyle Merrick.

Oh nein!

Madeline hatte doch vorhin noch gesagt, dass keiner von Rileys Brüdern zur Hochzeit kommen würde. Was machte Kyle dann hier?

Doch seine Gründe spielten keine Rolle. Der weit gereiste Enthüllungsjournalist mit einer Spürnase für Skandale verbrachte jetzt die Nacht in ihrem Inn, und sie konnte nichts dagegen tun.

Sie wusste, dass die Merricks Selfmade-Millionäre waren. Das Jackett, das am Garderobenständer hing, war vermutlich italienisch. Kyle hatte wahrscheinlich einen ganzen Schrank voller guter Anzüge. Ganz egal, wie sehr Summer sich in den letzten sechs Jahren verändert hatte – ihr Geschmack, was Männer anging, war anscheinend immer noch der gleiche.

Sie hatte sich fast magisch zu ihm hingezogen gefühlt und war drauf und dran gewesen, diesem Verlangen nachzugeben. Sogar jetzt noch spürte sie den süßen Nachhall des Prickelns zwischen ihnen. Es wäre bestimmt eine sehr leidenschaftliche Nacht geworden.

Aber er war Kyle Merrick, Investigativreporter.

Und sie war … nun ja, Summer war nicht ihr echter Name.

2. KAPITEL

Kyle Merricks Jeep Wrangler war mit dem neuesten Navigationssystem ausgestattet, aber er benutzte es nur selten. Wenn er sich ausschließlich auf die moderne Technologie verließ, verkümmerten nur seine natürlichen Instinkte, und seinem Orientierungssinn zu folgen, machte ihm Spaß. Der war ihm schon oft zugutegekommen, wenn er sich aus heiklen Situationen in Dritte-Welt-Ländern und gelegentlich aus Hotelzimmern hatte befreien müssen.

Das Haus zu finden, in dem sein Bruder wohnte, fiel ihm daher nicht schwer. Als Kyle erst mal die Brücke überquert und die Village Street gekreuzt hatte, ließ der Anblick von Rileys in einer Einfahrt geparkten Porsche nicht lange auf sich warten.

Kyle stellte den Motor seines Jeeps aus und stieg aus. Auf dem Weg zur Haustür sah er sich gründlich um – noch etwas, das er instinktiv tat. Das Haus lag in einem alten Viertel von Orchard Hill, war jedoch klein und unscheinbar. Da Riley nicht auf diesen Typ Bungalow stand, musste es Madeline Sullivan gehören.

Kyle gab sich einen Ruck und klopfte an. Ein großer brauner Hund schoss heraus, kaum dass die Tür geöffnet wurde. Während der Hund sein Geschäft an einer unschuldigen Hecke verrichtete, musterten die beiden Merrick-Brüder einander ernst.

Riley ergriff als Erster das Wort. „Ich habe mich schon gefragt, wen von euch beiden die Quellen schicken.“

Kyle verzog das Gesicht. Das Ganze erinnerte ihn tatsächlich an eine Mission. Er hätte lieber Brandon vorgeschickt, aber die Wahl war auf ihn gefallen.

Er und seine Brüder hatten denselben Vater, aber unterschiedliche Mütter. Äußerlich waren sie alle groß gewachsen und ähnlich gebaut, aber ihre Augenfarben und Charaktere waren unterschiedlich. Sie hatten sich nicht immer gut verstanden, waren sich jedoch immer einig gewesen, wenn es um ihre Mütter ging, die sie unter sich „die Quellen“ nannten. Was Rileys überstürzte Verlobung anging, konnte Kyle ihre Bedenken jedoch gut nachvollziehen.

Riley wusste offensichtlich, dass eine Konfrontation unvermeidlich war. Er öffnete die Tür ein Stück weiter. „Komm rein.“

Kyle und der Hund folgten ihm durch ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer, auf dessen Tisch Bauentwürfe lagen. Sie betraten eine gelb gestrichene Küche, in der ein Fernseher lief und Dampf von einer ultramodernen Kaffeemaschine aufstieg.

„Sie ist nicht hier“, sagte Riley, als Kyle sich suchend umsah. Anstatt seinem Bruder einen Platz am Tisch anzubieten, lehnte er sich gegen die Arbeitsfläche und trank einen Schluck aus einem der beiden Becher, die er gerade gefüllt hatte. Er versuchte gar nicht erst, die unangenehme Situation zu überspielen. Er wusste genau, dass Kyle nicht eher gehen würde, als bis er seine Erklärung abgeliefert hatte.

Kyle nahm seinen Kaffee und blieb in sicherem Abstand zu seinem Bruder stehen. „Du kannst uns nicht verdenken, dass wir uns Sorgen machen. Vor zwei Jahren hast du noch gesagt, dass du sterben wirst, und seitdem warst du nicht mehr du selbst. Und jetzt willst du plötzlich heiraten, noch dazu eine Frau, die du gerade erst getroffen hast.“

„Du solltest Madeline erst kennenlernen, bevor du dir ein Urteil erlaubst.“

„Sie ist bestimmt eine Heilige. Ich habe gehört, dass sie nur ein Laken trug, als sie deiner Mutter zum ersten Mal begegnet ist.“ Kyle wäre nur zu gern dabei gewesen; Riley schwieg wie ein Grab. Die Merrick-Männer waren immer sehr diskret, wenn es um Frauengeschichten ging. „Du musst doch zugeben, dass es sehr verdächtig aussieht“, fuhr Kyle fort. „Sie ist Krankenschwester, und du hast Geld.“

„Madeline ist Geld egal.“

Niemandem war Geld egal. „Sie kam also einfach so bei einer deiner Baustellen vorbei und hat zufällig vergessen zu erwähnen, dass das Herz in deiner Brust von ihrem verstorbenen Verlobten stammt?“

„Das haben wir längst geklärt.“ Riley trank noch einen Schluck Kaffee.

Kyle folgte seinem Beispiel. „Du bist offensichtlich so verliebt, dass du nicht mehr klar denken kannst. Leb doch erst mal für eine Weile mit ihr zusammen. Überzeug dich davon, dass sie wirklich die Richtige ist.“

„Ich werde sie heiraten, Kyle, und zwar so schnell wie möglich“, erwiderte Riley scharf.

Der Hund stand auf und sah zwischen den beiden Männern hin und her.

„Wozu die Eile?“, beharrte Kyle. „Es besteht doch keine Notwendigkeit …“ Er verstummte. Das Geräusch des Fernsehers übertönte ihre unbehagliche Gesprächspause. „Ach, darum geht es also? Sie ist schwanger?“

Riley sah ihn warnend an.

Kyle stieß einen leisen Fluch aus.

„Wir haben es noch niemandem erzählt“, sagte Riley. „Also behalt es bitte für dich. Ich weiß nicht, womit ich eine so tolle Frau wie Madeline verdient habe, und ich will nicht eine Minute meines Lebens mehr ohne sie verbringen.“

Kyle unterdrückte den Impuls, sich verzweifelt das Haar zu raufen. „Du hast mit ihr geschlafen, und jetzt behauptet sie, dass sie schwanger von dir ist? Da kann man doch nur misstrauisch werden.“

Riley sah aus, als würde er ihn am liebsten schlagen. „Hast du schon einmal was von einer Jungfrau gehört, Kyle?“, fragte er.

Kyle brauchte ein paar Sekunden, bis die Bedeutung von Rileys Worten zu ihm durchdrang. „Du meinst Madeline? Echt? Bist du sicher?“

„Absolut.“

Kyle stellte seinen Kaffee weg. „Ich fass es nicht! Eine Jungfrau also. Ich hatte keine Ahnung, dass es die heutzutage noch gibt. Na schön, dann ist das Kind also von dir. Umso besser. Ich sage ja nur …“

„Dass alles viel zu schnell geht und ihr euch deshalb Sorgen macht, ich weiß. Aber du wirst es schon schaffen, unsere Mütter zu beruhigen.“

Die beiden Brüder lächelten einander zum ersten Mal zu.

„Gibt es noch etwas, das ich ihnen ausrichten soll?“

„Ja, dass ich meinen Herzschlag spüren kann.“

Kyle sah seinen jüngeren Bruder verblüfft an. Nie würde er die lähmende Angst vergessen, die vor zwanzig Monaten die ganze Familie erfasst hatte, als sie erfahren hatten, dass Riley einen seltenen Virus hatte, der sein Herz zerstörte. Innerhalb nur weniger Tage war der athletische Mann nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen.

Kyle, Braden und Rileys Freund Kipp waren ihm nicht von der Seite gewichen und hatten ihn beschworen, nicht aufzugeben. Erst im letzten Moment war es Riley gelungen, dem Tod von der Schippe zu springen – dank einer Herztransplantation. Seine Genesung war das reinste Wunder gewesen, doch obwohl er sich körperlich rasch wieder erholt hatte, war er nicht mehr derselbe gewesen. Seine Abenteuerlust, seine Leidenschaft und sogar sein Lachen schienen mit seinem alten Herzen verschwunden zu sein. Und seltsamerweise hatte er sein neues Herz nicht schlagen gespürt.

„Wie lange schon?“, fragte Kyle.

„Seitdem ich Madeline kenne.“ Riley legte eine Hand auf die Brust. „Ich bin Berge hochgeklettert, um die Aussicht zu genießen, aber nichts lässt sich mit dem Gefühl vergleichen, das ich habe, wenn ich ihr in die Augen sehe. Ich kann darin die Zukunft sehen. So etwas ist mir noch nie passiert.“

Kyle hob abwehrend eine Hand. Er konnte das romantische Gelaber auf leeren Magen nicht ertragen.

Riley lachte, ein Geräusch, das Kyle an frühere Sommerurlaube und Jungenstreiche erinnerte. So glücklich und unbefangen hatte er seinen Bruder schon lange nicht mehr erlebt.

„Okay, ich richte den Quellen aus, dass du glücklich und kerngesund bist und wieder deinen Herzschlag spüren kannst. Mensch, bin ich froh! Es tut richtig gut, dich wiederzusehen. Schade, dass ich heute schon nach Los Angeles zurückfliegen muss.“

„Du siehst auch gut aus, Kyle. Erholt.“

Die Brüder wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Riley war nämlich nicht der Einzige, um den ihre Mütter sich Sorgen machten. Auch Kyle war schon länger nicht mehr er selbst. Er machte gerade eine sehr schwierige Phase durch.

„Wenn ich erholt aussehe, dann nur, weil ich letzte Nacht wie ein Baby geschlafen habe.“

„Trotz des Gewitters?“

Kyle konnte es selbst nicht erklären, aber er hatte neun Stunden am Stück durchgeschlafen. Das Inn war verwaist und der Strom wieder an gewesen, als er heute Morgen die Treppe heruntergekommen war. Er ertappte sich dabei, wieder an die Frau mit den großen haselnussbraunen Augen und der verführerischen Stimme zu denken, bei der ein bloßes „Hallo“ schon intim klang.

„Hast du nicht noch Zeit zum Mittagessen?“, fragte Riley.

„Kommt darauf an. Kochst du?“

Wieder grinsten die beiden Brüder einander an. Riley schaffte es, sogar Toast anbrennen zu lassen.

„Ich dachte, ich ruf Madeline bei der Arbeit an und frage sie, ob sie uns in einem Restaurant in der Stadt Gesellschaft leistet. Ich würde euch nämlich gern miteinander bekannt machen.“

„Okay, dann sims mir das Lokal und die Uhrzeit durch“, antwortete Kyle und stieg in seinen Jeep. Jetzt musste er nämlich erst mal zurück zur Pension, sein Zimmer bezahlen.

Ein paar Rotkehlchen plantschten in den Pfützen der Einfahrt des Inns, als Summer ihren Wagen parkte. Sie nahm ihre schweren Stofftaschen mit Einkäufen aus dem Kofferraum und ging zur Hintertür. Aus dem Küchenfenster klang Kyle Merricks sonore Stimme, und Summers steigender Puls machte das Pochen ihrer Kopfschmerzen nicht unbedingt besser.

Sie hatte die halbe Nacht lang wach gelegen und sich unruhig im Bett hin und her gewälzt, voller Verlangen danach, zu vollenden, was ihre Begegnung mit Kyle Merrick ausgelöst hatte. Immer wieder hatte sie an die dunkle Decke gestarrt und sich vorgestellt, welche Hassmails sie wohl kriegen würde, sollte ihr Geheimnis je enthüllt werden.

Von ihrem Vater zum Beispiel. Oder ihrem ehemaligen Verlobten.

Manchmal stellte sie sich vor, wie ihre Mutter und ihre Schwester von einer Wolke aus auf sie herunterlächelten und ein Lied davon sangen, dass Rache süß sei. Sie war nach wie vor davon überzeugt, das Richtige getan zu haben, aber trotzdem dachte sie nur sehr ungern an jenen Tag zurück, der ihr Hochzeitstag hatte sein sollen.

Wieder hörte sie Kyle, diesmal gefolgt von einer kokett klingenden, etwas in die Jahre gekommenen Stimme, die Summer überall wiedererkannt hätte. Harriet Ferris wohnte nebenan und sprang immer gern für Summer ein, wenn sie Besorgungen machen musste. Harriet erzählte gern skandalöse Geschichten aus ihrem Leben und wusste ein aufmerksames Publikum zu schätzen, vor allem, wenn es vom anderen Geschlecht war.

Kyle tat Summer fast leid. Aber nur fast.

Was machte er überhaupt hier? Er war doch eigentlich schon fort gewesen. Summer hatte nach dem Frühstück die Zimmer aufgeräumt und die Betten gemacht. Zimmer sieben war leer gewesen, das wusste sie genau. Ihre Erleichterung hatte keine Grenzen gekannt. Okay, sie war auch ein bisschen verstimmt gewesen, aber das spielte keine Rolle.

Jetzt war Kyle aus irgendeinem Grund wieder da, saß an ihrem Küchentisch und hörte sich die wilden Geschichten von Summers Nachbarin an. Als Summer die Küche betrat, blickte er hoch und lächelte dünn.

„Ich dachte, Sie seien schon abgereist“, sagte sie.

„Ohne für meine Übernachtung bezahlt zu haben? Sie haben ja eine ganz schön schlechte Meinung von mir.“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich mir eine Meinung über Sie gebildet habe?“, fragte Summer. Großer Gott, hatte er sexy Augen!

Diesmal war sein Lächeln aufrichtig. Als er ihr in die Augen sah, sprühten förmlich die Funken zwischen ihnen. Es fiel Summer schwer, den Blick von ihm loszureißen und auf die Frau zu richten, die ihrem Wortwechsel neugierig folgte.

„Möchten Sie eine Tasse Tee, Harriet?“

Die achtundsiebzigjährige Harriet Ferris färbte sich seit fünfzig Jahren das Haar rot. Vor jedem Geburtstag spielte sie mit dem Gedanken, endlich in Würde zu ergrauen, aber dazu würde sie sich nie überwinden können, genauso wenig, wie sie damit aufhören würde, falsche Wimpern zu tragen und mit Männern jedes Alters zu flirten.

„Nein danke, meine Liebe. Ich muss jetzt wirklich nach Hause. Ich erwarte eine Mail von meiner Schwester in Atlanta. Sie weigert sich zu simsen. Sie ist schrecklich altmodisch, wissen Sie?“ Harriet stand auf, machte aber keine Anstalten, Richtung Tür zu gehen, bis Summer sich bückte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.

Ein Lächeln breitete sich über Harriets rubinrote Lippen. „Was würde ich nur ohne Sie tun? Und nicht nur ich … Dieser gut aussehende junge Mann hat Ihnen übrigens etwas mitgebracht.“ Harriet streifte Kyle mit einem Blick. „Ich will Ihnen die Überraschung nicht verderben, aber wenn man die Spannung in diesem Zimmer einfangen und an einen Stromanbieter verkaufen könnte, bekäme man bestimmt eine hübsche Stange Geld dafür. Ach, wenn ich doch nur zwanzig Jahre jünger wäre!“

„Sie sind wirklich schlimm, Harriet.“ Kyle erhob sich ebenfalls.

Harriet zwinkerte ihm verführerisch zu und verließ die Küche durch die Hintertür.

Kyle reichte Summer eine braune Papiertüte. „Hier, für das nächste Mal, wenn Ihnen der Strom ausgeht.“

Harriet öffnete die Tüte neugierig. Beim Anblick der Sicherungen lächelte sie kopfschüttelnd.

Kyle machte ebenfalls Anstalten zu lächeln, aber dann blieb sein Blick an ihrem Mund hängen. Harriet hatte völlig recht mit der spannungsgeladenen Atmosphäre in der Küche.

„Sie möchten Ihre Übernachtung bezahlen?“, fragte Summer.

„Sie kommen nicht aus Michigan, oder?“

Diese Frage kam so unerwartet, dass Summer etwas überrumpelt war, aber inzwischen war sie darin geübt, ihre Unsicherheit zu überspielen.

„Ich kann Ihren Dialekt nicht recht einordnen“, fuhr er fort. „Sie stammen jedenfalls nicht aus dem Mittleren Westen.“

Summer wandte sich ab und verstaute Milch, Eier und Käse im Kühlschrank. „Ich wurde in Philadelphia geboren und bin in Baltimore aufgewachsen. Meine Großeltern hatten ein Ferienhaus auf Mackinaw Island. Bis zum Tod meines Großvaters haben meine Schwester und ich jeden Sommer in Nord-Michigan verbracht. Und Sie? Wo kommen Sie her?“

Sie fragte ihn das nur, um das Thema zu wechseln, denn sie kannte seine wichtigsten Eckdaten schon. Sie hatte gründliche Recherchen über die drei Merrick-Brüder angestellt, nachdem Madeline vor ein paar Tagen überraschend ihre Verlobung mit Kyles Bruder Riley bekannt gegeben hatte.

„Ich wurde in Bay City geboren und bin dort aufgewachsen“, antwortete Kyle so lässig, als habe er alle Zeit der Welt. „Ich habe an der Ostküste studiert und bin beruflich auf der ganzen Welt gewesen. Was haben Sie Harriet vorhin eigentlich zugeflüstert?“

Summer klappte die Kühlschranktür zu. „Ich habe ihr gesagt, wo sie diese Woche ihren Ersatzschlüssel versteckt hat. Sie denkt sich immer ein neues Versteck aus und vergisst es dann.“

„Hat Harriet deshalb gesagt, dass Sie Geheimnisse gut für sich behalten können?“, fragte er.

Summer hörte auf, ihre Einkäufe zu verstauen, und sah ihn an. Sie konnte immer auf ihre Fähigkeit zählen, jemanden auf den ersten Blick einzuschätzen, aber anscheinend war sie da nicht die Einzige in dieser Küche. Kyle sah sie an, als sei sie ein Rätsel, das er unbedingt lösen müsse, was erheblich gefährlicher war als sein offensichtliches Interesse oder ihre Neugier, ob er sie wohl küssen würde.

Summer wollte auf keinen Fall als Erste den Blick abwenden, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie habe etwas zu verbergen. Auch wenn das durchaus der Fall war. Aber das brauchte Kyle nicht zu erfahren. Das Beste war vermutlich, ihn abzulenken. „Flirten Sie etwa mit mir?“, fragte sie.

Dass ihr kleiner Schachzug funktionierte, erkannte sie daran, dass er den Kopf schieflegte und sie aus schmalen Augen ansah. Oh ja, ihn beschäftigte gerade etwas ganz anderes als ihre Vergangenheit.

Seit Monaten konnte Kyle sich nicht mehr entspannen. Diese Frau hier lockerte irgendetwas in ihm. Sie war ein ganz schönes Risiko eingegangen, als sie ihm letzte Nacht die Tür geöffnet hatte, aber vielleicht hatte sie ja Tränengas unterm Tresen. Einen Elektroschocker hatte sie jedenfalls nicht gebraucht, denn er war von Anfang an wie gelähmt gewesen.

Summer Matthews hatte haselnussbraune Augen und Kurven an genau den richtigen Stellen. Sie war eine hübsche Frau, und mit hübschen Frauen kannte Kyle sich aus. Er wurde zwar nicht schlau aus ihnen, aber er wusste immer sofort, wenn eine Frau das Gleiche wollte wie er.

Summer stand zweifellos auf ihn, aber sie hielt sich trotzdem zurück. Kyle fragte sich, warum. Sie trug weder einen Ring, noch war sie prüde. Niemand mit einer so verführerischen Stimme und einem so messerscharfen Verstand war schüchtern und unsicher.

Kyle fand sie erfrischend und faszinierend. Irgendetwas tief in ihm lockerte sich noch mehr. „Wenn ich mit Ihnen flirten würde“, antwortete er heiser, „würden Sie das schon merken.“

Sie senkte den Blick zu seinem Mund, doch anstatt sich eine Retourkutsche einfallen zu lassen, nannte sie ihm den Betrag für die Übernachtung letzte Nacht, was Kyles Interesse und Hochachtung nur steigerte.

Er mochte Frauen, die sich im Griff hatten.

Kyle hätte gern die Hände über ihre zarten Schultern gleiten lassen und sie geküsst, bis sie ihm die Arme um den Hals schlang und seinen Kuss erwiderte. Leider hatte er keine Zeit. „Ich treffe gleich meinen Bruder und meine künftige Schwägerin, und danach muss ich zum Flughafen. Ich würde jetzt gern bezahlen.“

Sie steckte das Bargeld ein, das er ihr gab. „So ehrliche Menschen trifft man selten.“ Und dann tat sie etwas, das alles veränderte: Sie lächelte, als meine sie das ernst.

Kyle nahm sie in die Arme und küsste sie, bevor sie es sich anders überlegen konnten. Er konnte einfach nicht anders.

Kaum hatten seine Lippen ihre berührt, vertiefe er den Kuss. Sie küssten sich wild und hungrig. Es spielte keine Rolle, dass es heller Tag war, dass Kyle in wenigen Minuten aufbrechen musste oder dass er Summer bisher kaum kannte. Er küsste sie, weil ihm einfach nichts anderes übrig blieb. Was da zwischen ihnen passierte, war primitiv und überwältigend und noch lange nicht genug. Er wollte mehr. Er wollte alles.

In seiner Fantasie – und er hatte eine verdammt gute – hatte er sich ausgemalt, wie sie sich an ihn schmiegen würde, doch seine Vorstellungen konnten der Realität nicht das Wasser reichen. Sie ließ die Hände von seinem Rücken zu seinen Schultern gleiten und presste sich hungrig an ihn, während er sie eng an sich zog, um sie von Kopf bis Fuß zu spüren.

Irgendwo in Summers Hinterkopf schrillten die Alarmglocken. Was sie hier machte, war völlig verrückt. Wie konnte sie nur etwas mit einem Enthüllungsjournalisten anfangen und noch dazu mit diesem hier? Sie setzte sich dem Risiko aus, entdeckt zu werden, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie war machtlos gegen die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte. Sie musste einfach herausfinden, wie Kyle küsste. Und welche Wirkung das auf sie hatte.

Letzte Nacht waren ihre Augen weit offen gewesen, obwohl sie eigentlich hätte schlafen müssen. Jetzt schloss sie sie verträumt, um sich besser auf ihre anderen Sinne konzentrieren zu können, die vor lauter Hitze und Leidenschaft förmlich explodierten.

Kyles Mund war warm und feucht, er atmete schwer, und er duftete nach Seife, Pfefferminz und Leder, eine Mischung, die ihren Herzschlag beschleunigte und ihr Denkvermögen verlangsamte. Seine Arme und sein Rücken fühlten sich unglaublich gut an, hart und muskulös. Es war schon sehr lange her, dass sie so leidenschaftlich geküsst worden war und so intensiv darauf reagiert hatte. Hatte sie überhaupt schon jemals ein Mann so geküsst?

Sie presste sich hungrig an ihn, suchte noch engeren Körperkontakt, obwohl das gar nicht mehr möglich war. Noch vor wenigen Sekunden waren sie Fremde gewesen, doch Kyles Kuss änderte alles. Summer spürte, dass sie die Kontrolle verlor. Aber sie wollte auch keine Kontrolle mehr. Eine solche Leidenschaft begegnete einem nicht jeden Tag.

Sie hatte das verrückte Gefühl, dass ihr Leben von seinem Kuss abhing, von seinen Lippen, seiner Zunge. Gott sei Dank würde er nachher die Stadt verlassen. Wenn sie ihn überhaupt jemals wiedersah, dann nur sehr selten und als Madelines Schwager. Damit konnte sie umgehen. Das machte das Risiko viel überschaubarer und verringerte die Gefahr, es hinterher zu bereuen. Also überließ sie sich ihren Empfindungen vorbehaltlos, ließ sich gehen und gab sich hin.

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder wie sie selbst. Und das war ein verdammt gutes Gefühl.

Sie hörten erst auf, sich zu küssen, als zeitgleich ihre Handys klingelten.

Summers Handy verstummte, bevor sich der Nebel in ihrem Kopf genug gelichtet hatte, um ranzugehen. Der Anruf wurde auf die Mailbox weitergeleitet, doch ihr Handy begann sofort wieder zu klingeln. Wer auch immer sie anrief, war hartnäckig. Kyles Anrufer war genauso beharrlich.

Schwer atmend machten sie sich voneinander los. Summer ließ die Arme sinken, während Kyle sich benommen mit einer Hand durchs Haar fuhr.

Benommen und schwerfällig griff Summer nach ihrem Handy und nahm das Gespräch an. Bevor sie sich mit ihrem Namen melden konnte, kam Madeline ihr zuvor.

„Was?“, fragte Summer ein paar Sekunden später. „Schätzchen, sprich langsamer.“ Sich Kyles Stimmgemurmel nur undeutlich bewusst, lauschte sie konzentriert. „Natürlich komm ich vorbei. Ich bin sofort da.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, wurde ihr bewusst, dass Kyle sein Handy bereits eingesteckt hatte und sie beobachtete. „Das war Riley“, teilte er ihr mit. „Ich wollte mich eigentlich gleich mit ihm und Madeline zum Mittagessen treffen, aber er hat abgesagt.“

Summer verstaute ihr Handy in ihrer Handtasche und suchte nach ihren Schlüsseln. „Ich weiß. Mein Anruf kam von Madeline.“

Kyle schien darauf zu warten, dass sie weitersprach, doch sie sagte nichts. „Riley sagt, es kann sein, dass sie das Baby verliert.“

Summer sah ihn überrascht an. Nur wenige Menschen wussten von Madelines Schwangerschaft. „Riley hat dir von dem Baby erzählt?“

Kyle nickte. „Er wirkte heute Morgen glücklicher, als ich ihn lange erlebt habe.“

„Madeline war auch glücklich.“

Sommer hätte am liebsten vor lauter Frustration eine Faust geschüttelt und vom Schicksal verlangt, es wenigstens diesmal für Madeline gut ausgehen zu lassen. Sie hatte schon so viel verloren. Jetzt hatte sie Riley gefunden und war glücklich. Glücklich! War es denn zu viel verlangt, dass das so blieb?

„Verdammte Scheiße!“, murmelte Kyle.

Summer neigte normalerweise nicht zu Tränen, aber diesmal kamen ihr welche. Anscheinend war Kyle genauso frustriert und fühlte sich ebenso hilflos wie sie.

Er ließ den Blick über ihr Kleid gleiten. Bei der Arbeit trug sie immer Kleider. Das ärmellose graue Kleid, das sie heute trug, war tailliert geschnitten. Es war keineswegs hauteng, aber trotzdem war ihr unter Kyles Blick nur allzu bewusst, an welchen Stellen es sich an ihren Körper schmiegte.

Sein Blick blieb für einen Moment an ihrem Halsansatz hängen. Sie widerstand dem Impuls, ihren heftig pochenden Puls dort zu verbergen.

Letzte Nacht hatte sie die Anziehungskraft zwischen Kyle und ihr auf das Gewitter geschoben. Es war schließlich allgemein bekannt, dass Menschen in atmosphärisch aufgeladenen Situationen zu völlig verrückten Dingen neigten, aber seit Kyles Kuss vorhin konnte sie sich nichts mehr vormachen.

Doch Madeline brauchte sie jetzt, und Summer verdrängte solche Gedanken. „Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich muss jetzt los.“ Sie lächelte Kyle zu. „Es war schön, dich kennenzulernen. Ich wünsche dir einen guten Flug.“

Kyle wusste, wann er nicht länger erwünscht war. Und da er keinen triftigen Grund hatte zu bleiben – schließlich musste er seinen Flug kriegen – verließ er gemeinsam mit Summer das Inn.

Sie ging auf einen blauen Sedan zu, während Kyle sich zu seinem Jeep begab, der vor der in voller Blüte stehenden Fliederhecke stand. Der Kies knirschte unter seinen Schritten. Er wusste selbst nicht, warum er sich nach Summer umdrehte. Vielleicht aus dem gleichen Grund, weil sie ihm zum selben Zeitpunkt einen Blick über eine Schulter zuwarf. Doch was auch immer die Ursache war – es fühlte sich elementar und intensiv an.

Als in diesem Augenblick der Wind ihr Haar und ihr Kleid hob, hatte Kyle plötzlich das Gefühl, dass er sie schon mal gesehen hatte. Sie verblüfft anstarrend, versuchte er sich zu erinnern.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie gehetzt.

Da jetzt nicht der passende Zeitpunkt war, ihr Fragen zu stellen, sagte er nur. „Nein. Du musst jetzt los. Viel Glück. Richte Riley bitte aus, dass ich ihn anrufen werde.“

Summer fuhr davon, und er stieg in seinen Jeep. Anstatt den Motor zu starten, blieb er eine Weile nachdenklich hinterm Steuer sitzen.

Das Vernünftigste wäre, jetzt direkt zum Flughafen zu fahren, um seinen Zweiuhrflug nach Los Angeles zu kriegen, aber stattdessen zog Kyle seinen Laptop aus der Hülle und stellte ihn an. Er tippte Summers Namen in seine Lieblingssuchmaschine und bekam Tausende Treffer, darunter eine Opernsängerin, eine Schlagzeugerin im Ruhestand aus einer Sixties-Rockband und eine Lehrerin in Cleveland. Es gab sogar ein Rennpferd mit Summers Namen. Frustriert stellte er den Computer wieder aus.

Was wohl gerade in der Notaufnahme passierte? Als Riley vor zwei Jahren dem Tod nahe gewesen war, hatte Kyle ganze Tage im Krankenhaus verbracht. Diesmal hatte Riley ihn nicht gebeten zu kommen, was Kyle nur recht war. Vor Frauenbeschwerden schreckte er instinktiv zurück. Außerdem handelte es sich um eine sehr persönliche Angelegenheit, eine, die nur Riley, Madeline und deren beste Freundin etwas anging.

Was Kyles Gedanken wieder zurück zu Summer brachte …

Er war sich ziemlich sicher, dass er ihr noch nie begegnet war, denn er hätte sie bestimmt nicht vergessen. Doch irgendwie konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass er etwas übersah.

Aber was nur?

Bis eben gerade war Summer ihm völlig unbekannt gewesen. Erinnerte sie ihn vielleicht nur an jemanden? War es das?

Nein, sie sah niemandem ähnlich, den er kannte. Das wäre ihm schon früher aufgefallen.

Aber irgendwoher musste er sie kennen, auch wenn er keine Ahnung hatte, woher. Er vergaß nämlich nie ein Gesicht.

3. KAPITEL

Die Gründerväter des Städtchens Orchard Hill waren ein sehr inhomogenes Gespann von Unternehmern aus dem Staate New York. Einer soll ein charmanter Ganove gewesen sein, der seine Geschäftspartner zu Hause davon überzeugt hatte, dass Reichtümer sie „in den grünen Hügeln eines gelobten Landes“ erwarteten.

Den Historikern zufolge hatten zu den ersten Ankömmlingen ein prominenter Banker und dessen Frau gehört. Letztere sollte nach einem Blick auf die grob zusammengezimmerten Holzhütten des Dorfes und die mit Moskitos verseuchen Farmen schlagartig in Ohnmacht gefallen und verstorben sein.

Der zweite Gründervater war ein Botaniker gewesen, dem es nach zahlreichen gescheiterten Experimenten gelungen war, drei Apfelsorten zu züchten, die noch immer in den Obstgärten der Stadt gediehen. Der Dritte war von seinen aristokratischen Eltern für minderbemittelt gehalten worden, hatte sich jedoch als sehr kluger Mann entpuppt und schließlich die Orchard Hill Academy gegründet, die inzwischen zur Universität geworden war.

Sich an einer roten Ampel die Geschichte von Orchard Hill zu vergegenwärtigen, war vielleicht etwas merkwürdig, aber wenigstens konnte Summer sich so von Madelines Problemen ablenken … oder von Kyle Merricks seltsamen Blick bei ihrer Verabschiedung – so als käme sie ihm plötzlich doch irgendwie bekannt vor. Aber wozu voreilige Schlüsse ziehen?

Kyle konnte sie unmöglich erkannt haben.

Gut möglich war natürlich, dass er vor sechs Jahren in den Zeitungen ihr Foto gesehen hatte, aber damals war sie jünger und blond gewesen und hatte einen Schleier und ein voluminöses Hochzeitskleid getragen.

Nie im Leben hatte er sie erkannt. Wie auch? Sie erkannte sich ja selbst kaum wieder.

Nein, sein seltsamer Blick war vermutlich nur auf ihren Kuss zurückzuführen. Sanft berührte Summer ihre Lippen. Er war nicht der Einzige, dem es schwerfiel, sich davon zu erholen.

So, Schluss damit! Sie hatten ein bisschen rumgemacht, weiter nichts. Es war völlig überflüssig, sich seinetwegen Sorgen zu machen. Höchstwahrscheinlich war er gerade unterwegs zum Flughafen, um aktuellere Storys zu verfolgen als die veraltete von Baltimores berühmtester entflohener Braut.

Außerdem hatten sie sich bereits voneinander verabschiedet. Oder sie sich zumindest von ihm. Wie hatte er noch mal reagiert? „Viel Glück“, hatte er gesagt, als ihre Wege sich getrennt hatten. Und das war so gut wie ein Abschied.

Summer zuckte erschrocken zusammen, als sie ein Hupen hinter sich hörte. Die Menschen in Orchard Hill hupten eigentlich nie, was nur bedeuten konnte, dass die Ampel vermutlich schon länger auf Grün stand. Dem armen Fahrer hinter sich ein entschuldigendes Lächeln im Rückspiegel zuwerfend, nahm sie rasch den Fuß von der Bremse und fuhr weiter Richtung Krankenhaus.

Orchard Hill war eine Kleinstadt mit fünfundzwanzigtausend Einwohnern. Die Straßen wanden sich malerisch um die Biegungen des Flusses herum. Ein Highway trennte den Ost- und Westteil der Stadt und war voller Ampeln, sodass Summer sich in Geduld üben musste – etwas, das sie in den Jahren in Orchard Hill jedoch gelernt hatte.

Als Summer an der nächsten Ampel bremste, fiel ihr Blick auf eine zehn Fuß hohe Statue zu ihrer Linken. Niemand wusste so genau, wo die bronzene Gestalt herkam oder wie lange sie schon vor dem Gerichtsgebäude stand.

Sie konnte sich noch lebhaft erinnern, wie sie sie vor über sechs Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Ihr Tank war fast leer gewesen, sie hatte sich verfahren und war erschöpft am Straßenrand stehen geblieben, um einen Blick auf ihre Karte zu werfen. Als sie aus dem Fenster geblickt hatte, hatte sie die überlebensgroße Gestalt eines Mannes mit Löchern in den Schuhen, krummen Beinen, einer geflickten Hose und einem ausgebeulten Topf auf dem Kopf gesehen. Johnny Appleseed war ihr erster Bekannter in Orchard Hill geworden.

Summer war ausgestiegen und hatte tief die nach reifen Äpfeln und Herbstlaub duftende Luft eingeatmet. Über den goldenen Wipfeln der Bäume in der Ferne hing die Rauchfahne einer kleinen Fabrik, ein Wasserturm und mehrere Kirchtürme ragten in den Himmel. Irgendwo probte eine Marschkapelle, und Hundebesitzer führten ihre Tiere Gassi.

Ohne ihren Wagen abzuschließen, ging Summer geradeaus Richtung Stadtzentrum und ließ ihre Geldkarten offen sichtbar liegen. Ein Dieb käme damit ohnehin nicht weit, da sämtliche Karten gesperrt worden waren.

Niemand machte Winston Emerson Matthews dem Dritten nämlich ungestraft einen Strich durch die Rechnung, noch nicht mal seine Tochter. Schon gar nicht seine Tochter.

Summer betrat das erste Restaurant, an dem sie vorbeikam, und setzte sich an einen kleinen Tisch. Eine blonde Kellnerin tauchte lächelnd mit einer Speisekarte auf. Plötzlich überwältigt von der Tragweite und der Endgültigkeit ihrer Entscheidung sah Summer dem Mädchen in die himmelblauen Augen und platzte heraus: „Vor zehn Tagen habe ich einen reichen Mann vorm Altar stehen lassen. Mein Vater hat mich enterbt, und ich habe nur noch zehn Dollar und etwas Wechselgeld im Portemonnaie.“

Die Kellnerin dachte einen Moment nach und sagte dann: „Ich empfehle Roxy’s Superman Special, eine sehr leckere Hühnchenpastete. Roxy macht sie selbst. Allein der Teig ist ein Gedicht.“

Summers Augen füllten sich mit Tränen. Sie nickte.

„Ich komme gleich zurück.“ Die engelsgleiche Kellnerin kehrte kurz darauf mit zwei Tellern zurück und setzte sich Summer gegenüber. „Ich bin Madeline Sullivan“, stellte sie sich vor, während sie Summer eine Gabel und eine Serviette reichte und sich selbst ein Set nahm. „Willkommen in Orchard Hill.“

Noch vor Ende der Mahlzeit war aus Summers zweiter Bekannter in der Stadt ihre beste Freundin geworden. Madeline nahm Summer mit zu sich nach Hause, als sei das das Selbstverständlichste der Welt.

Sie war der einzige Mensch in Orchard Hill, dem Summer sich anvertraut hatte, was ihre Vergangenheit anging – die Einzige, die ihren wahren Namen kannte.

Madeline hatte sich damals mit mehreren Jobs das College finanziert und war inzwischen Krankenschwester. Und jetzt lag sie selbst in einem Krankenhaus und würde vielleicht das Baby verlieren, das sie sich so innig wünschte.

„Ich komme, Madeline“, flüsterte Summer.

Die Buchanan Street machte eine letzte Biegung, bevor das dreistöckige Krankenhaus auftauchte. Summer folgte den Pfeilen und parkte neben der Notaufnahme. Nachdem sie ihre Handtasche genommen und ihren Wagen abgeschlossen hatte, betrat sie das Gebäude und ging zum Empfangsbereich. Als sie um eine Ecke bog, sah sie sich zu ihrem Entsetzen gleich zwei Merrick-Brüdern gegenüber, nicht einem. Ihre jahrelang eingeübte Fähigkeit, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren, ließ sie bei Kyles Anblick fast im Stich. Es lag ihr auf der Zunge, ihn zu fragen, was er hier machte und warum zum Teufel er nicht am Flughafen war.

Und wie zum alles in der Welt hatte er es geschafft, schneller als sie hier zu sein?

Doch stattdessen konzentrierte sie sich auf zwei braune Augen, nicht zwei grüne. „Wie geht es ihr, Riley?“

Riley Merrick war so groß wie sein Bruder und ähnlich gebaut. „Du kennst ja Madeline“, sagte er mit seinem tiefen Bariton. „Sie sagt nur, dass ich mir keine Sorgen um sie zu machen brauche und alles gut wird.“

Klang ganz nach Madeline.

„Was ist passiert?“, fragte Summer.

„Sie wurde bei der Arbeit ohnmächtig und hat sich beim Sturz den Kopf verletzt. Aber die Blutung scheint vorbei zu sein.“

„Sie hat geblutet?“

„Ja. Zu heftig, als dass es eine bloße Zwischenblutung sein könnte.“

Ach. Die Art Blutung. „Und das Baby?“, fragte Summer zögernd.

„Wir warten noch auf die Ergebnisse der Blutuntersuchung. Madelines Gefühl sagt ihr jedoch, dass sie das Baby nicht verloren hat.“

Klang ebenfalls nach Madeline.

Offensichtlich wurde Riley erst jetzt bewusst, dass Kyle noch immer neben ihm stand. Er streifte ihn mit einem Blick. „Summer, das ist mein Bruder Kyle.“

„Hallo, Kyle.“

„So sieht man sich wieder“, sagte er gleichzeitig, nur etwas lauter als sie.

„Ihr kennt euch?“, fragte Riley verdutzt.

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich letzte Nacht wie ein Baby geschlafen habe. Da war ich bei ihr.“

„In meinem Inn. In Zimmer sieben. Allein. Zumindest nehme ich an, dass er allein war.“ Summer warf Kyle einen strengen Blick zu, bevor sie den Blick wieder auf Riley richtete. „Und wo ist Madeline jetzt?“

Eine Doppeltür wurde aufgestoßen, und ein Krankenpfleger schob eine Liege durch die Tür. An der Rückwand im Wartebereich dröhnte ein Fernseher. Ein kleines Mädchen weinte, und ein Teenager hielt sich das Handgelenk.

„Sie ist in Zimmer vier“, antwortete Riley niedergeschlagen. „Talya untersucht sie gerade.“

Talya Ireland war Hebamme und Madelines neue Arbeitgeberin. Bei ihr war Madeline in guten Händen.

Summer wollte Platz nehmen, doch noch bevor sie ihren Rock glätten konnte, sagte Riley: „Madeline hat mich gebeten, dich sofort zu ihr zu schicken.“

Sie sprang auf und war schon halb durch die Tür, als ihr noch etwas einfiel. „Riley?“

Beide Merrick-Brüder sahen sie erwartungsvoll an.

„Wenn Madeline das Gefühl hat, dass mit ihr und dem Baby alles in Ordnung ist, glaube ich ihr.“

Riley schien ihre Bemerkung zu erleichtern, doch Kyles Gesichtsausdruck war schon schwieriger zu deuten. Er sah Summer schweigend an, die Schultern gestrafft, den Kragen seines Hemds offen und die Ärmel hochgekrempelt. Er gehörte zu den Männern, die immer gepflegt aussahen und trotzdem sehr männlich waren.

Summer zwang sich, den Blick von ihm abzuwenden, spürte seinen jedoch, bis die schweren Metalltüren hinter ihr zufielen. Der Vinylboden unter ihren Füßen dämpfte das Geräusch ihrer Schritte.

Sie steckte den Kopf in Zimmer vier, das fast vollständig von einem Bett eingenommen wurde. Monitore und ein Tropf kämpften mit einer tüchtig aussehenden Hebamme um den verbleibenden Platz.

„Hey“, sprach Summer Madeline an.

Madeline lächelte schwach. „Selber hey.“

„Wie geht es dir?“

Madeline atmete zittrig ein. „Ach, Summer! All diese Geräusche und Gerüche. Ich habe hier schon gearbeitet, aber heute kann ich an nichts anderes denken als an den Tag, an dem Aaron starb.“

Summer nahm Madelines Hand und ließ sich auf Madelines Bett sinken. Aaron Andrews war Madelines Jugendliebe gewesen. Die beiden waren bis zu seinem tödlichen Motorradunfall vor zwei Jahren unzertrennlich gewesen. Madeline war ihm nicht von der Seite gewichen, bis er in einem Zimmer wie diesem seinen letzten Atemzug getan hatte. Kein Wunder, dass diese Erinnerungen sie wieder einholten. „Und wie geht es dir sonst?“

„Talya will, dass ich ein paar Tage lang im Bett bleibe.“

Mindestens ein paar Tage“, ergänzte Talya streng.

„Und wie geht es dem Baby?“

„Ich bin noch nicht stabil genug für einen Ultraschall, aber Talya ist verhalten zuversichtlich.“

„Manchmal kommt es in der Frühschwangerschaft zu Spontanblutungen“, erklärte Talya. „Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Es kann sein, dass Madelines Plazenta ein bisschen tief saß und spontan höher gerückt ist. Im Moment können wir nur abwarten.“

Eine Krankenschwester betrat das Zimmer und reichte der Hebamme ein paar Unterlagen. „Hier sind die Laborergebnisse. Hi, Madeline.“ Sie ging wieder.

Talya las sich den Bericht aufmerksam durch. „Deine Beta-Werte sind erhöht. Das ist ein gutes Zeichen.“

Summer sprang sofort auf. „Ich hole Riley.“

„Das übernehme ich“, erklärte Talya. „Ich überbringe gern gute Neuigkeiten.“ Sie verschwand durch die Tür.

„Ich rufe Chelsea und Abby an“, sagte Summer. „Und dann kontaktieren wir den Caterer, Reverend Brown und eure Gäste. Wir mailen ihnen einfach, dass die Hochzeit um ein paar Wochen verschoben wird.“

Madeline schüttelte den Kopf. „Darüber müssen wir noch reden.“

Summer kannte Madeline seit über sechs Jahren. So stur war sie erst, seitdem sie ihr neues Glück mit Riley Merrick gefunden hatte.

„Worum geht’s?“

„Ich muss dich um einen Gefallen bitten.“

„Die Antwort lautet Ja.“

„Du hast meine Bitte doch noch gar nicht gehört.“

Summer wollte sich bei Madeline schon seit Jahren dafür revanchieren, dass sie sie nach ihrer Ankunft in Orchard Hill unter ihre Fittiche genommen hatte. „Ich mach’s, egal, was es ist.“ Erst als ihr das durchtriebene Funkeln in Madelines Augen auffiel, wurde sie stutzig. „Um was für eine Art Gefallen handelt es sich denn?“

Madeline legte die Knöchel übereinander, schüttelte ihr Kissen auf, legte eine Hand unter den Kopf und machte es sich bequem. Als Talya mit Riley und Kyle im Schlepptau zurückkehrte, hatten die beiden Frauen bereits alles durchgeplant. Summer umarmte ihre beste Freundin herzlich, verabschiedete sich von Riley und machte einen Bogen um Kyle, der offensichtlich noch immer reichlich Zeit hatte, seinen Flieger zu kriegen.

Lächelnd trat sie hinaus in den Sonnenschein. Madeline hatte völlig recht. Alles würde gut werden.

Harriet Ferris machte grundsätzlich nichts halbherzig.

Als Summer ins Inn zurückkehrte, sprach die kernige Rothaarige gerade mit einem Mann, den Summer nicht kannte. Sie lehnte sich auf den Empfangstresen und lächelte Summer zu. „Das ist Knox Miller.“

Ah, der abtrünnige K. Miller war also endlich aufgetaucht!

„Ist Knox nicht der männlichste Name, den Sie je gehört haben?“

Harriet flirtete auch nicht halbherzig. Es spielte keine Rolle, dass Mr. Miller einen Ehering trug und eine Halbglatze und ein Bäuchlein hatte. Harriet diskriminierte niemanden.

Knox wirkte geschmeichelt. Freundlich erklärte er, dass seine Verspätung mit einem Notfall in der Familie zu tun hatte.

Nachdem Mr. Miller sich zu seinen Kollegen gesellt hatte, informierte Summer Harriet über Madelines Zustand. Im Geiste überlegte sie, wie lange es dauern würde, die Gästehandtücher zu waschen, überall staubzusaugen, einen Strauß Flieder für den Esstisch zu pflücken und das morgige Frühstück zu planen.

Sie fragte sich auch, ob Kyle seinen Flieger bekommen hatte.

Wie herbeibeschworen öffnete er in diesem Augenblick die Tür und trat ein. Summer hatte wieder das unangenehme Gefühl, da...

Autor

Brenda Harlen
<p>Brenda ist eine ehemalige Rechtsanwältin, die einst das Privileg hatte vor dem obersten Gerichtshof von Kanada vorzusprechen. Vor fünf Jahren gab sie ihre Anwaltskanzlei auf um sich um ihre Kinder zu kümmern und insgeheim ihren Traum von einem selbst geschriebenen Buch zu verwirklichen. Sie schrieb sich in einem Liebesroman Schreibkurs...
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Lynne Marshall
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Lynne Marshall war beim Schreiben eine Spätzünderin: Lange dachte sie, sie hätte ein ernsthaftes Problem, weil sie so oft Tagträumen nachhing. Doch dann fand sie heraus, dass sie diese einfach niederschreiben konnte und daraus tolle Geschichten entstanden! Diese Erkenntnis traf sie erst, als ihre Kinder schon fast erwachsen...
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