Julia Exklusiv Band 387

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BELÜGE NIEMALS EINEN MILLIARDÄR! von CATHY WILLIAMS

„Du hast 48 Stunden Zeit, dich zu entscheiden." Die schöne Chase ist bei diesen Worten fassungslos: Der italienische Milliardär Alessandro Moretti lässt sie bei den Verhandlungen um ihr Herzensprojekt nur gewinnen, wenn sie seine Geliebte wird! Will er sich mit seinem schamlosen Angebot rächen, weil sie ihn damals verlassen hat?

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  • Erscheinungstag 29.03.2025
  • Bandnummer 387
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533898
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Williams

1. KAPITEL

Chase Evans schob den Ordner beiseite und blickte auf ihre Uhr. Seit fünfundzwanzig Minuten ließ man sie nun schon in diesem Konferenzsaal warten. Als erfahrene Anwältin wusste sie genau, was das zu bedeuten hatte.

Es ging darum, sie einzuschüchtern.

Mit einem unterdrückten Seufzen stand sie auf und trat vor die eindrucksvolle Fensterfront, die einen fantastischen Ausblick über die von Menschen überfüllten Straßen der Stadt bot. Zu dieser Jahreszeit wimmelte London geradezu vor Touristen aus aller Welt. Es gab kein Entkommen vor ihnen und dem geschäftigen Treiben der Metropole. Doch hier, hoch oben in den heiligen Hallen von AM Holding, konnte es einem fast so vorkommen, als sei man Lichtjahre von alldem entfernt. Es war mucksmäuschenstill.

Eine weitere gern genutzte Einschüchterungstaktik.

In den Jahren, in denen sie nun schon als Anwältin praktizierte, hatte sie schon so einiges erlebt. Die Gepflogenheiten dieser Firma hier allerdings schlugen wirklich alles.

Anfangs schien man die Sache nicht besonders ernst genommen zu haben. Sie brauchte nur an das erste Treffen zurückzudenken, zu dem die Verantwortlichen bei AM Holding ihren Junioranwalt Tom Barry geschickt hatten. Offenbar war man überzeugt gewesen, dass es sich beim Kauf des Frauenhauses um eine reine Routineangelegenheit handelte. Ein Kinderspiel, wie man so schön sagte. Als sich jedoch herausstellte, dass dem nicht so war, hatte man ihr beim nächsten Meeting zwei erfahrenere Kollegen gegenübergestellt. Im Gegensatz zu Tom Barry waren Alex Cole und Bruce Robins bestens vorbereitet gewesen.

Ebenso wie Chase selbst, und das aus gutem Grund. Von all den Fällen, die ihre Kanzlei aus gemeinnützigen Gründen kostenlos übernahm, lag ihr dieser Zufluchtsort für Frauen nämlich am meisten am Herzen. Sie war nicht bereit aufzugeben, ehe sie nicht auch ihre letzte Trumpfkarte ausgespielt hatte. Und so hatten auch Cole und Robins sich zu guter Letzt nur ratlos die Haare raufen und erklären können, dass Chase bald wieder von ihnen hören würde.

Was die keine Sekunde bezweifelte.

Das Frauenhaus – Beth’s House, wie es auch genannt wurde –, stand auf einem erstklassigen Grundstück in West London, direkt an einer der beliebtesten Einkaufsstraßen gelegen. Ein Grundstück, mit dem sich, sollte es jemals erschlossen werden, ein Vermögen machen ließ. Und ein Vögelchen hatte Chase gezwitschert, dass die AM Group genau dies plante: den Abriss des Frauenasyls und die Errichtung eines exklusiven Einkaufszentrums an seiner Stelle.

Nur über meine Leiche …

Sie seufzte. Minute um Minute verstrich, doch niemand erschien. Sie fragte sich, ob diese Hinhaltetaktik ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Natürlich konnte es möglich sein, dass sie am Ende doch eine Niederlage erlitt. Darüber aber wollte sie im Augenblick lieber nicht nachdenken.

Das letzte Treffen mit Leslie Swift – AM Holdings Topanwalt – war nicht besonders gut verlaufen. Er hatte jedes einzelne ihrer Argumente entkräftet und Gemeindeverordnungen, Sonderregelungen und Klauseln vorgebracht, die ihr vollkommen den Wind aus den Segeln nahmen.

Jetzt, wo sie allein in dem großen Konferenzraum saß, wurde sie sich immer deutlicher der Tatsache bewusst, dass dies vermutlich ihre letzte Chance war. Eine Erkenntnis, die sie nicht gerade ruhiger stimmte.

Ein weiteres Mal schaute sie auf die Uhr, ehe sie sich wieder zurück an ihren Platz an dem langen Konferenztisch setzte. Sie hatte keine Ahnung, wen man ihr dieses Mal auf den Hals hetzen würde. Vielleicht hatte man längst erkannt, dass sie am Ende war, und schickte ihr wieder den Junioranwalt, der sich ohne Zweifel diebisch über ihr Scheitern freuen würde.

Doch noch hatte sie ein allerletztes Ass im Ärmel – und dieses würde sie ohne zu zögern ausspielen. Sie hatte die Zeiten hinter sich gelassen, in denen sie davor zurückgeschreckt war, für sich selbst und ihre Meinung einzustehen.

Hastig verdrängte sie alle Gedanken an die Vergangenheit und konzentrierte sich stattdessen wieder auf ihre Unterlagen.

„Wie lange wollen Sie Miss Evans noch warten lassen?“

Alessandro Moretti schaute zu seiner Sekretärin auf, die seinen Blick ungerührt erwiderte. Sie hatte ihm vor einer halben Stunde Chase Evans Ankunft verkündet und ihn seitdem schon einmal darauf hingewiesen, dass sie noch immer im Konferenzraum auf ihn wartete. Keiner seiner anderen Angestellten hätte es gewagt, ihn noch ein zweites Mal zu erinnern. Vielleicht war es genau das, was er so an Alicia Brown schätzte.

Seit fünf Jahren arbeitete sie nun schon für ihn. Sie war alt genug, um seine Mutter sein zu können, und hatte von Anfang an klargestellt, dass sie gar nicht daran dachte, ihm einfach nur nach dem Mund zu reden.

Alessandro hatte sie vom Fleck weg eingestellt.

Jetzt seufzte Alicia. „Sie können Miss Evans nicht ewig warten lassen. Das ist schrecklich unhöflich.“

„Sie sollten mich wirklich lange genug kennen, um zu wissen, dass Höflichkeit nicht unbedingt zu meinen größten Tugenden zählt“, entgegnete Alessandro ungerührt. Dennoch stand er nun auf und nahm sein Jackett von der Lehne seines Schreibtischstuhls.

Was er gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Obwohl er erst vierunddreißig war, hatte er sich in der Branche bereits einen Namen gemacht. Eine solche Position erreichte man nicht, indem man die Menschen um sich herum mit Samthandschuhen anfasste. Seine Mitarbeiter fürchteten und respektierten ihn. Er behandelte sie hart, aber fair. Und sie gehörten zu den bestbezahlten Angestellten der ganzen Stadt. Im Gegenzug verlangte er von ihnen, dass sie der Marschrichtung folgten, die er vorgab, ohne Rückfragen zu stellen. Und wenn er etwas erledigt haben wollte, dann erwartete er, dass seine Anweisungen unverzüglich in die Tat umgesetzt wurden.

Zumeist funktionierte das auch recht gut. Umso ärgerlicher war es, dass sein Team von Topjuristen, dem er nebenbei bemerkt ein fürstliches Gehalt zahlte, es bisher nicht geschafft hatte, den Deal um das Frauenhaus unter Dach und Fach zu bringen. An seinen finanziellen Möglichkeiten scheiterte es gewiss nicht. Er besaß genug Geld, um die Immobilie kaufen zu können. Warum sich die ganze Angelegenheit nun trotzdem schon seit mehr als vier Monaten hinzog und er jetzt höchstpersönlich einspringen musste, um den Job seiner Angestellten zu erledigen, war ihm ein Rätsel.

Er hatte bereits sorgfältig ausgearbeitete Pläne zur Umgestaltung des Grundstücks, auf dem das Gebäude stand. Sein Kaufangebot war mehr als fair. Jeder Idiot hätte in der Lage sein sollen, die Verhandlungen zu führen. Doch stattdessen musste er sich nun selbst darum kümmern, was ihn wertvolle Zeit kostete.

Zeit, die er eigentlich für andere Dinge nutzen sollte.

Er verließ sein Büro und steuerte den Konferenzraum an. In weniger als fünfzehn Minuten stand eine Telefonkonferenz mit Hongkong auf dem Programm – bis dahin wollte er die Angelegenheit vom Tisch haben.

Chase hatte jede Menge Zeit gehabt, um nun ihrerseits über Einschüchterungsmaßnahmen nachzudenken, während sie wieder am Fenster stand und auf das gegnerische Anwaltsteam wartete. Barfuß war sie knapp einen Meter achtzig groß. In ihren High Heels überragte sie in der Regel die meisten ihrer Gegenspieler. Der letzte hatte ihr nicht einmal bis zur Schulter gereicht. Und wenn ihre Körpergröße allein nicht ausreichte, um die anderen Anwälte einzuschüchtern, dann konnte sie sie immer noch niederstarren.

Sie schaute gerade zum Fenster hinaus, als sie hörte, wie die Tür des Konferenzraums geöffnet wurde. Langsam drehte sie sich um. Man hatte sie die ganze Zeit in einem Raum warten lassen, der ungefähr so gemütlich war wie eine Gefängniszelle. Unter diesen Umständen sah sie sich nicht veranlasst, sofort Gewehr bei Fuß zu stehen, sobald sich jemand dazu herabließ, sie endlich mit seiner Anwesenheit zu beehren.

Doch zu ihrer Überraschung sah sie sich nun keineswegs den Anwälten gegenüber, die sie eigentlich erwartet hatte. Es waren nicht Tom Barry, Alex Cole, Bruce Robins oder Leslie Swift. Sie schaute den Mann an, der lässig im Türrahmen stand, und spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Wie angewurzelt stand sie da. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie glaubte, es müsse jeden Augenblick zerspringen.

„Du?“, fragte sie fassungslos, und ihre eigene Stimme erschien ihr vollkommen fremd. Das war nicht die feste, ruhige Stimme der selbstbewussten, achtundzwanzigjährigen Frau, zu der sie geworden war.

Nein, ganz und gar nicht.

„Na, so was …“ Alessandro war ebenfalls schockiert, ihr plötzlich in seinem eigenen Konferenzraum gegenüberzustehen, aber er verstand es wesentlich besser, seine Überraschung zu kaschieren. Und er erholte sich sehr schnell wieder von dem ersten Schreck. Dennoch wagte er es kaum, seinen Augen zu trauen, als er nun langsam auf sie zuging.

Unwillkürlich wanderten seine Gedanken acht Jahre zurück. Zurück zu dem langbeinigen, wunderschönen Wesen, das ihm seit damals einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Sie wirkte verändert, andererseits aber auch nicht. Verschwunden war die hüftlange Mähne, stattdessen war ihr kastanienbraunes Haar zu einem schulterlangen Bob frisiert. Jeans und Sweatshirt hatte sie gegen eine gepflegte Businessgarderobe getauscht. Ihre Augen aber besaßen noch immer dieses katzenhafte Grün, das ihn seit jeher fasziniert hatte. Und ihr Körper war so gertenschlank wie eh und je.

„Lyla Evans …“ Er schüttelte den Kopf.

Hätte es schon beim Nachnamen klingeln müssen? Vielleicht – wenn da nicht der Vorname Chase gewesen wäre … Er stand nun direkt vor ihr. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment die Besinnung verlieren. Hoffentlich erwartete sie nicht von ihm, dass er sie auffing, wenn sie fiel.

„Alessandro!“, stammelte sie nervös. „Niemand hat mir gesagt … Ich habe nicht erwartet, dass …“

„Das ist mir bereits aufgefallen.“ Er lächelte kühl und ohne jeden Anflug von Humor. Wie von selbst wanderte sein Blick zu ihrer Hand. Kein Ehering. Was nichts bedeuten musste, wenn er es recht bedachte.

„Werde ich die Verhandlungen mit dir führen, oder warten wir noch auf den Rest deines Teams?“, fragte Chase und versuchte verzweifelt, ihre Fassung zurückzugewinnen. Erfolglos. Es wollte ihr einfach nicht gelingen. Sie konnte nichts anderes tun, als ihn anzustarren. Er war noch genauso attraktiv, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Mehr noch als das. Mit sechsundzwanzig war er bereits unglaublich sexy gewesen, aber auf eine eher jungenhafte Art und Weise. Nun war er ein Mann – daran konnte kein Zweifel bestehen.

Sein Anzug war maßgeschneidert. Das helle Grau bildete einen aufregenden Kontrast zu seinem olivfarbenen Teint. Ein Effekt, den er, so wie sie ihn kannte, sicherlich beabsichtigt hatte. Auch seine Lederslipper waren sündhaft teuer – natürlich. Ein Mann wie Alessandro Moretti gab sich nicht mit Zweitklassigem zufrieden. Warum sollte er auch? Mit dem goldenen Löffel im Mund geboren, hatte er es nie anders kennengelernt. Auch wenn Chase ihm widerwillig zugutehalten musste, dass er sich nicht auf dem Vermögen ausgeruht hatte, das seine Eltern ihm hinterlassen hatten.

Doch es waren nicht diese materiellen Dinge, die sie damals, vor acht Jahren, so an ihm gefesselt hatten. Geld interessierte sie nicht. Es war die Wärme, die seine dunklen Augen ausgestrahlt hatten, sein wacher Geist und – ja, sie konnte es nicht leugnen – auch sein gutes Aussehen gewesen.

Der Blick, mit dem er sie jetzt abschätzend musterte, war eisig.

„Nun, du wirst mit mir vorliebnehmen müssen. Kuschelig, findest du nicht? So viele Jahre, nachdem wir uns zum letzten Mal begegnet sind, Lyla … oder Chase?“

„Chase. Mein Name war immer schon Chase.“

„Also hast du dir das … Pseudonym nur für mich ausgedacht, ja? Natürlich, das macht ja auch Sinn – angesichts der Umstände damals …“

Chase räusperte sich mühsam. Reiß dich zusammen, um Himmels willen! Du bist keine unsichere Zwanzigjährige mehr …

„Lyla war der Name meiner Mutter. Ich … würde mich gern setzen.“ Sie schwankte leicht, als sie zu ihrem Stuhl ging. Schwer ließ sie sich darauffallen. Der Stapel Papiere vor ihr, die Aktentasche, ihr Laptop – das alles erinnerte sie daran, warum sie sich überhaupt in diesem Konferenzraum aufhielt. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren. Alessandros unerwartetes Auftauchen hatte sie vollkommen unerwartet getroffen. Ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis.

„Was meinst du, Lyla? Entschuldige … Chase. Willst du mir nicht erzählen, was du die letzten acht Jahre so getrieben hast?“ Alessandro setzte sich auf den Rand des Konferenztischs und starrte sie an. Die erste und einzige Frau, der er je nachgejagt war – mit dem frustrierenden Ergebnis, dass sie nicht einmal in seinem Bett gelandet war. Schon allein deshalb nahm sie einen ganz besonderen Platz in seinem Leben ein. Normalerweise musste er keinen großen Aufwand betreiben, um eine Frau von seinen Vorzügen zu überzeugen. Doch auch sonst war Chase Evans wirklich unvergleichlich.

Wenn auch nicht unbedingt im positiven Sinne …

„Das würde ich lieber nicht tun“, erwiderte sie steif.

Er schmunzelte. „Habe ich mir fast gedacht. Würde ich an deiner Stelle vermutlich auch nicht.“

„Alessandro, ich weiß, was du von mir denken musst, aber …“

„Ich habe wirklich keine Lust, mir irgendwelche rührseligen Geschichten anzuhören, Lyla.“

„Hör auf, mich so zu nennen. Mein Name ist Chase.“

„Du bist also tatsächlich Anwältin geworden. Respekt. Obwohl … du hast mir ja schon einmal bewiesen, dass du bereit bist, dir zu nehmen, was du willst – ganz gleich, was es auch kostet …“

„Ich …“ Ihr Blick huschte über sein Gesicht. Seine finstere Miene ließ sie innerlich erschaudern – dabei konnte sie ihm sein abweisendes Verhalten ihr gegenüber nicht einmal verübeln. Ihre gemeinsame Zeit war nur kurz gewesen, aber von Missverständnissen, Notlügen und Geheimnissen geprägt.

„Ich kann gar keinen Ehering an deinem Finger entdecken“, sprach er weiter und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Hast du dich deines unglücklichen Gatten entledigt, weil er deiner aufstrebenden Karriere im Wege stand?“

Alessandro seufzte. Als er ihr zum ersten Mal begegnet war – in der Universitätskantine, in ein Buch vertieft, die Welt um sich herum vollkommen ausgeblendet –, hatte ihre unglaubliche Ausstrahlung ihn schlichtweg umgehauen. Und auch jetzt fühlte er sie wieder, diese unbeschreibliche Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte.

Bezeichnenderweise hatte sie damals auch keinen Ehering getragen …

„Ich bin nicht hier, um mich über meine Vergangenheit zu unterhalten“, stellte Chase klar und räusperte sich angestrengt. Sie musste das Gespräch wieder zum eigentlichen Thema zurücklenken. Das war sie nicht nur Beth und den Frauen schuldig, die im Asyl Zuflucht fanden. Auch für sie selbst war es ein Terrain, auf dem sie sich einigermaßen sicher zu bewegen vermochte. Was man von ihrer Vergangenheit nicht sagen konnte. „Ich habe alle Unterlagen bezüglich des Frauenhauses mitgebracht.“

Alessandro setzte sich auf einen der Stühle neben ihr, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und bedachte sie mit einem ausdruckslosen Blick. „Ich bin noch nicht in der richtigen Stimmung, mich mit dir darüber auseinanderzusetzen.“ Ihre verzweifelten Bemühungen, sich zu sammeln, amüsierten ihn. „Nun“, sagte er gedehnt. „Du wolltest mir gerade erzählen, wohin dein Ehering verschwunden ist.“

„Das glaube ich kaum“, entgegnete sie kühl. Sie wusste selbst nicht, wo sie die Beherrschung dafür hernahm, während Augen in der Farbe von Zartbitterschokolade sich in sie hineinbohrten und scheinbar mühelos die Schutzmauern durchdrangen, die sie um sich herum errichtet hatte. „Mag sein, dass du gern wüsstest, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, aber ich habe nicht die Absicht, deine Neugier zu befriedigen. Ich möchte einfach nur hinter mich bringen, weswegen ich hergekommen bin.“

„Du bist hergekommen, um dein Scheitern einzugestehen“, entgegnete Alessandro mit einer Arroganz, die Chase den Atem raubte. „Wenn du auch nur einen Funken gesunden Menschenverstand besitzt, wirst du einsehen, dass du verloren hast, und ohne große Diskussion das Handtuch werfen. Solltest du allerdings darauf bestehen, mit mir zu verhandeln, muss ich dich warnen: In diesem Fall wird der Preis, den ich für das Grundstück zu zahlen bereit bin, rapide sinken.“ Er deutete auf die Uhr, die an der Wand hing. „Sagen wir, mit jeder Minute, die verstreicht, um einen Tausender.“

Entsetzt starrte Chase ihn an. „Das kannst du nicht machen!“

„Ich kann tun, was immer ich will, Lyla … Chase … oder soll ich dich lieber Mrs. Evans nennen? Oder vielleicht Miss …?“

„Hier geht es nicht um uns, Alessandro.“ Erneut versuchte sie das Gespräch wieder auf eine rein professionelle Ebene zu bringen. „Lass uns vernünftig über Beth’s House sprechen und versuche nicht, mich mit leeren Drohungen …“

„Sieh dich um“, fiel Alessandro ihr ins Wort. „Und sag mir, was du siehst.“

Sie runzelte die Stirn. „Worauf willst du hinaus?“

„Tu einfach, was ich gesagt habe.“

Nervös blickte Chase sich um. Sie hatte keine Ahnung, was er damit erreichen wollte, wurde aber das Gefühl nicht los, geradewegs in eine Falle zu tappen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Bedrohung nicht erkennen. „Ich sehe einen großen, farblosen Konferenzraum“, entgegnete sie. Während sie sich weiter umschaute, verspürte sie immer wieder den Drang, stattdessen ihn anzusehen, und ihr wurde klar, dass sie ihn nie wirklich hatte vergessen können.

„Ich mag es farblos“, sagte er. „Es zahlt sich nicht aus, für Zerstreuung zu sorgen, wenn man eigentlich will, dass die Leute, die hier sitzen, sich konzentrieren.“

Du magst es farblos …“

„Richtig. Weißt du, ich bin AM Holdings. Mir gehört das alles hier. Jeder einzelne Deal geht über meinen Tisch. Was ich sage, wird gemacht – und niemand widerspricht mir. Wenn ich dir also sage, dass der Preis für das Grundstück mit jeder Minute um tausend Pfund sinkt, dann meine ich es auch so. Wenn du dich allerdings der Hoffnung hingibst, dich gegen mich durchsetzen zu können, ist meine Drohung irrelevant. Anderenfalls solltest du mal nachrechnen, was dir am Ende bleibt, wenn du deine Zeit mit fruchtlosen Einwänden verschwendest.“

Chase konnte ihn einfach nur anstarren. Ihr fehlten die Worte. Angesichts dessen, was zwischen ihnen vorgefallen war – angesichts der Täuschung und der Halbwahrheiten, die ihr schließlich zum Verhängnis geworden waren –, saß sie einem Mann gegenüber, dem sich nun ganz überraschend die Gelegenheit bot, Rache zu nehmen.

Und sie zweifelte keine Sekunde daran, dass er diese Gelegenheit beim Schopfe packen würde.

Chase seufzte. Sie hätte ihre Hausaufgaben gründlicher machen sollen, aber ihr Boss hatte alle Vorbereitungen selbst übernommen. Nur um dann festzustellen, dass er die Verhandlungen aus persönlichen Gründen nicht führen konnte. Sie hatte all ihre Energie darauf verwandt, Schlupflöcher zu suchen, die einen Ausverkauf des Frauenhauses verhindern konnten. Wer hinter AM Holdings steckte, war ihr nicht wichtig gewesen. Sie hatte es in der Regel ohnehin nur mit anderen Anwälten zu tun, nicht mit Firmeninhabern. Ein Fehler, wie sie nun feststellen musste. Denn dieses Mal war alles vollkommen anders.

„Das klingt nicht besonders freundlich, schon klar.“ Alessandro zuckte mit den Schultern, und das Lächeln, mit dem er sie bedachte, war eiskalt. „Aber wenn es ums Geschäft geht, lebe ich nach dem Motto, dass sich keine Dividenden erwirtschaften lassen, indem man sich wie ein Gentleman verhält.“

Chase schüttelte den Kopf. „Warum tust du das? Wie kannst du nur die hilflosen Frauen bestrafen, für die das Asyl die letzte Zuflucht ist, nur weil wir … wir …?“

„Eine unglückselige Affäre miteinander hatten? Weil du mich angelogen, mich betrogen hast? Weiß deine Anwaltsfirma eigentlich, was für ein Mensch du wirklich bist?“

Chase entgegnete nichts. Was sollte sie auch sagen? Stattdessen fragte sie sich, wie weit er in seinem Rachedurst wohl gehen würde. Alessandro Moretti gehörte diese Firma. Er konnte nicht nur seine Drohung wahr machen und das Angebot für das Frauenhaus mit jeder verstreichenden Minute reduzieren – er konnte sie auch als Person ruinieren. Sie zweifelte nicht daran, dass sein Einfluss dazu ausreichte.

„Es war damals nicht so, wie es vielleicht ausgesehen haben mag, Alessandro“, sagte sie schließlich. „Ich …“

„Die Uhr läuft.“ Entspannt lehnte er sich zurück und schenkte ihr ein gelassenes Lächeln. Wider Erwarten stellte er fest, dass er sie auf rein körperlicher Ebene nach wie vor anziehend fand. Er hatte sie nie auch nur angerührt, aber, zum Teufel, er hatte davon geträumt, bis ihm der Kopf schwirrte.

Natürlich war er, bevor er ihr damals begegnete, schon mit anderen Frauen zusammen gewesen, doch so wie zu ihr hatte er sich noch zu keiner zuvor hingezogen gefühlt.

Er war als Gastdozent an der Universität gewesen, weil sein alter Professor ihn darum geben hatte. Es ging um eine Reihe von Vorträgen, um die Studenten zu inspirieren. Nicht mehr, nicht weniger. Dass ihm dort eine Frau vollkommen den Kopf verdrehen würde, war nie Bestandteil des Planes gewesen. Doch am Ende hatte er wegen Lyla – oder Chase, wie sie sich jetzt nannte – seinen Aufenthalt noch um ein halbes Dutzend weiterer Vorträge verlängert. Nur weil er noch nicht bereit gewesen war, sie gehen zu lassen.

Zum ersten Mal in seinem privilegierten Leben hatte er es mit einer Frau zu tun, die er nicht einfach so um den Finger wickeln und kontrollieren konnte, und er beschloss, sich zurückzulehnen und es einfach nur zu genießen. Dass sie die Zurückhaltende spielte, machte die Sache für ihn nur noch interessanter. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass er sich an ihr tatsächlich die Zähne ausbeißen würde. Allerdings – was hatte er damals schon über sie gewusst? Fest stand nur eines: Als sie schließlich verschwand, war ein hässlicher Nachgeschmack in seinem Mund zurückgeblieben.

Und nun war sie wieder da.

Er lächelte kühl. „Du bist nicht daran interessiert, unsere … aufregende gemeinsame Vergangenheit zu diskutieren? Fein, dann lass mich deine Argumente hören. Ach, übrigens – eine Minute ist bereits verstrichen.“

Chase hatte das Gefühl, mitten in einem Albtraum festzustecken. Mit zitternden Fingern schlug sie den Aktendeckel auf. Sie verstand ja, dass Alessandro verbittert und verärgert war. Trotzdem hatte sie nicht erwartet, dass seine Wut so tief sitzen würde. Er konnte ihr wirklich schaden und alles zunichtemachen, was sie bisher erreicht hatte.

Sie holte tief Luft und fasste zusammen, was sie mit seinen Untergebenen in den vergangenen drei Meetings besprochen hatte. Er schien ihr aufmerksam zuzuhören – bis er sie mit einer unwilligen Handbewegung zum Schweigen brachte.

„Dir ist schon klar, dass keines deiner Argumente wasserdicht ist?“, fragte er. „Du weichst aus – aber das funktioniert bei mir nicht.“

Frustriert fuhr Chase sich übers Haar. Sie wusste, dass sie sich konzentrieren musste, wenn sie auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn haben wollte. Als er sie damals in der Uni-Cafeteria angesprochen hatte, hatte sie instinktiv gewusst, dass er ein gefährlicher Mann war. Liebenswert und charmant, wenn er es sein wollte. Wenn es notwendig war, aber auch unnachgiebig und hart. Vor acht Jahren hatte sie nur eine – die sanfte – Seite von ihm kennengelernt. Doch heute wie damals war es ein Spiel mit dem Feuer, sich auf ihn einzulassen. Mit dem Unterschied, dass sie heute ungleich mehr zu verlieren hatte als in der Vergangenheit …

„In Ordnung“, sagte sie. „Du magst alle juristischen Aspekte auf deiner Seite haben. Aber hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie die Presse mit einem Großunternehmen umspringen wird, das vorhat, ein wohltätiges Frauenasyl dem Erdboden gleichzumachen? Die Öffentlichkeit reagiert nicht gerade wohlwollend auf solche Geschichten, wie du sicher weißt.“ Dies war eine ihrer letzten Trumpfkarten, die sie nun aus dem Ärmel schüttelte. Doch Chase konnte nicht behaupten, dass sie sich besonders siegessicher fühlte. „Ich habe hier eine Liste von Namen“, fuhr sie fort und durchbrach die Stille. Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Stattdessen räusperte sie sich und sprach weiter. „Es handelt sich um Journalisten und Reporter, die meiner Sache aufgeschlossen gegenüberstehen werden.“ Sie schob Alessandro das Papier über den Tisch zu, doch er ignorierte es und lächelte nur milde.

„Versuchst du etwa, mir zu drohen?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Nun, ich würde es nicht drohen nennen …“

„Nein? Wie würdest du es denn dann bezeichnen?“

„Ich übe Druck aus.“

Es war ihr wie eine gute Idee erschienen, als sie sich vorbereitet hatte. Aber da wusste sie auch noch nicht, in was für einer Situation sie sich wiederfinden würde. Der durchdringende Blick seiner dunklen Augen ließ sie unruhig werden, und sie unterdrückte nur mit Mühe den Drang, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Die Fassade von Selbstbewusstsein und Beherrschtheit bröckelte mehr und mehr angesichts der Tatsache, dass ihr das Blut ins Gesicht stieg.

„Ich wette, du hast geglaubt, dass meine Anwälte sofort einknicken, wenn du diese Karte aus dem Ärmel ziehst, nicht wahr?“, erwiderte er spöttisch lächelnd. „Ich muss schon sagen, ein ziemlich mieser Trick – aber warum überrascht mich das eigentlich?“ Er lehnte sich über den Konferenztisch hinweg zu ihr vor und schaute ihr unmittelbar in die Augen. „Wie auch immer, lass uns diese Drohung einmal in aller Ruhe gemeinsam durchgehen, und …“

„Es ist keine Drohung.“

Ohne auf ihren Einwand einzugehen, sprach er weiter: „Ich habe einen äußerst guten Preis für den Kauf des Frauenhauses und des dazugehörigen Grundstücks geboten. Mehr als genug, um die Einrichtung an anderer Stelle wieder aufzubauen.“

„Beth will das Asyl aber nicht irgendwo anders aufbauen. Für die Frauen ist es ein Zufluchtsort, ein Zuhause. Sie fühlen sich sicher dort.“

„Du kannst deinen Freunden bei der Presse natürlich vorjammern, dass die Frauen kurzerhand aus ihrer Umgebung gerissen werden. Aber dann sei bitte darauf gefasst, dass meine Leute dem entgegenstellen werden, was von dem Geld, das ich biete, alles erreicht werden könnte. Ein doppelt so großes Asyl. Moderner Komfort. Ein etwa gleich großes Grundstück außerhalb des Zentrums. Zum Teufel, sie könnten sogar einen Swimmingpool, einen Spieleraum und ein Kinderzimmer bekommen – und die Liste ließe sich noch beliebig verlängern.“ Er stand auf und schlenderte gelassen zu dem Fenster, vor dem sie vorhin gestanden hatte. „Also, was denkst du, wer am Ende als Gewinner aus diesem Streit hervorgehen wird? Vor allem, wenn bekannt wird, dass ich auf dem Grundstück ein Einkaufszentrum errichten will und damit dringend benötigte Arbeitsplätze schaffe.“

Chase konnte den Blick nicht von ihm wenden, und ihr Körper reagierte auf eine ganz und gar nicht angemessene Art und Weise auf ihn. Und das war wirklich das Letzte, was sie im Augenblick gebrauchen konnte. Das zwischen ihnen hatte alles in allem nur ein paar Monate gehalten – im Grunde war es nie über die Anfangsphase hinausgekommen.

„Also.“ Alessandro wandte sich zu ihr um. Licht strömte hinter ihm durchs Fenster, sein Gesicht lag im Schatten. „Wie schätzt du deine Chancen jetzt ein, gegen mich zu gewinnen?“

„Es ist Beths Haus – sie fühlt sich wohl dort.“

„Du weißt, dass du verloren hast, das kann ich dir deutlich ansehen. Davon abgesehen – wir diskutieren nun bereits seit fünfundvierzig Minuten vollkommen fruchtlos miteinander … Was hast du deine Klienten damit schon gekostet? Den Spieleraum? Das Kinderzimmer? Die riesige Küche, in der all die Frauen, um die du so besorgt bist, zusammen am Tisch sitzen und sich an den Händen halten können?“

„Ich hätte dich niemals für so arrogant gehalten.“

„Nun, man könnte sagen, dass wir so gut wie nichts voneinander gewusst haben. Allerdings habe ich zumindest nicht über meine Identität gelogen.“ Alessandro hielt den Atem an, während er sie so unauffällig wie möglich betrachtete. Die Art, wie das Sonnenlicht sich in ihrem Haar verfing und es zum Leuchten brachte, hielt seinen Blick gefangen. Ihr Kostüm war schick und businesslike, doch er sah sie noch immer in eng anliegenden Jeans, Pullover und Turnschuhen vor sich – und mit diesem zögernden Lächeln, das einst sein Herz zum Rasen gebracht hatte.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll …“ Chase schaute auf den Ordner hinab, der vor ihr lag. Es gab nichts mehr, was sie sonst noch aus dem Hut zaubern konnte. Und selbst wenn es etwas gäbe – das hier war etwas Persönliches. Alessandro war fest entschlossen, diese letzte Auseinandersetzung für sich zu entscheiden. Das letzte Wort zu haben. Sie für die Vergangenheit bezahlen zu lassen.

„Dann wirst du die frohe Botschaft an – wie heißt sie noch? Beth? – weitergeben?“

„Du weißt, wie sie heißt.“

„Kannst du dir ausrechnen, was von meinem ursprünglichen Angebot noch übrig bleibt?“

„Du willst das doch nicht wirklich durchziehen, oder?“

„Unterstellst du mir, dass ich lüge?“ Alessandro kam zu ihr und setzte sich auf den Rand des Tisches.

„Du kannst sie nicht zwingen zu verkaufen.“

Er lächelte. „Hast du dir ihre Bücher angesehen? Sie hat große Schulden. Es mag ein gut gemeintes Projekt sein, aber wirtschaftlich gesehen ist es eine Katastrophe. Ein geflüstertes Wort ins Ohr des richtigen Bankers, und sie müssten sich schon bald mit der Realität einer Kreditkündigung befassen. Am Ende könnte aus meinem Angebot ein echter Ausverkauf werden.“

„Also gut.“ Chase wusste, dass er die Wahrheit sagte.

Er blinzelte. „Also gut?“

„Du hast gewonnen, Alessandro. Aber vielleicht fragst du dich einmal, ob du ebenso unnachgiebig gewesen wärst, hätte dir jemand anderes am Verhandlungstisch gegenübergesessen.“

„Zum Verkauf wäre es zweifellos auch so gekommen“, entgegnete er ohne jegliche Gefühlsregung. „Aber ich hätte vielleicht auf die tickende Uhr verzichtet.“ Er trat um sie herum zu seinem Stuhl und setzte sich. Doch ehe er noch etwas sagen konnte, klingelte sein Handy. Es war Alicia, die ihm mitteilte, dass sie die Konferenzschaltung mit Hongkong nicht unbegrenzt verschieben konnte.

„Sagen Sie die Telefonkonferenz ab“, wies er seine Sekretärin an. „Und sorgen Sie dafür, dass auch meine Meetings nach dem Mittagessen verschoben werden.“

Er beendete das Gespräch, ehe Alicia dazu kam, neugierige Fragen zu stellen.

„Ich möchte dich nicht von deiner Arbeit abhalten“, sagte Chase und fing an, ihre Unterlagen zusammenzusammeln. „Aber ich würde mich freuen, wenn du noch einmal über dein … Angebot nachdenken könntest.“

„Und dir die Erniedrigung ersparen, deiner Klientin gegenübertreten und eingestehen zu müssen, dass du für die Reduzierung des Kaufpreises verantwortlich bist?“ Er lächelte. „Nun, ich denke, ich könnte dir eine Chance bieten, die verlorenen Tausender zurückzuerarbeiten.“

„Ach ja? Und wie?“

„Nun, es gibt da einige Dinge in unserer gemeinsamen Vergangenheit, die nie wirklich geklärt wurden. Es ist an der Zeit, damit abzuschließen.“

Misstrauisch sah sie ihn an. „Was genau meinst du damit?“

„Ganz einfach.“ Er holte tief Luft. „Ich will wissen, wer zur Hölle du wirklich bist. Befriedige meine Neugier, und ich bin bereit, wieder den vollen Kaufpreis zu bezahlen.“

2. KAPITEL

Alessandro sprach kein Wort, während er den Blick auf Chase gerichtet hielt. Die Macht der Stille war etwas Wunderbares. Nichts verunsicherte das Gegenüber bei geschäftlichen Verhandlungen mehr als wohldosiertes Schweigen. Und gerade bei Chase war er nicht bereit, auch nur das geringste Risiko einzugehen.

Er traute ihr kein Stück. Wenn sie glaubte, dass sie irgendwie mehr herausschlagen konnte als die vereinbarte Summe, dann täuschte sie sich – und zwar gewaltig.

Doch offenbar war sie bereit, sich mit seinem Angebot zufriedenzugeben. „Ich bräuchte eine schriftliche Bestätigung von dir“, sagte sie schließlich.

„Du wirst nichts dergleichen bekommen“, erwiderte er gelassen. „Entweder du verlässt dich auf mein Wort, oder du gehst – und zwar mit einem wesentlich schlechteren Angebot.“

Sie stöhnte erstickt auf. „Es macht doch keinen Sinn, das zwischen uns noch einmal aufzuwärmen, Alessandro …“

Er hob eine Hand. „Deine Antwort, Chase: Ja oder nein. Ganz einfach.“

Sie stand auf und strich ihren schmalen grauen Rock glatt. Sie wusste, dass sie eine gute Figur hatte: sehr groß, sehr schlank. Das hatte den Vorteil, dass sie auch in preisgünstiger Kleidung einen guten Eindruck machte. Fitzsimmons war eine angesehen Anwaltsfirma und beschäftigte nur hervorragende Mitarbeiter. So gut wie jeder dort entstammte einer Familie, in denen es zum guten Ton gehörte, maßgeschneiderte Designerkleidung zu tragen und ein Ferienhaus auf dem Land zu besitzen.

Sie gehörte nicht dazu – hatte auch nie wirklich dazugehört –, aber das war ihr auch ganz recht so. Sie blieb lieber auf Abstand. Zu ihrem Glück war sie eine von nur zwei angestellten Anwälten, die sich auf kostenlose Rechtsberatung spezialisiert hatten. Auf diese Weise konnte sie unter dem Radar ihrer Kollegen bleiben, ihre Arbeitszeit ableisten und nur an den allernotwendigsten gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen. Sie brauchte niemanden, der ihr ruhiges Leben auf den Kopf stellte. Und sie wollte nicht, dass Alessandro darin eindrang, unbequeme Fragen stellte und seinen Rachefeldzug gegen sie startete.

Umso weniger behagte es ihr, dass er es immer noch scheinbar mühelos schaffte, ihr weiche Knie zu bereiten. Sie hatte ihr Leben jetzt im Griff, und das wollte sie nicht aufs Spiel setzen.

Aber was hatte sie schon für eine Wahl?

Sie setzte sich wieder hin. „Okay. Worüber willst du sprechen? Ich meine, was willst du hören?“

„Dies ist wohl kaum der angemessene Ort für ein solches Gespräch, findest du nicht auch? Wir haben so vieles aufzuholen, Lyla … Chase …“

„Bitte hör endlich auf, mich Lyla zu nennen. Ich sagte dir bereits, dass ich so nicht mehr heiße.“

„Es ist fast Mittag. Warum führen wir unsere Unterhaltung nicht irgendwo fort, wo es ein wenig gemütlicher ist?“

„Ich fühle mich recht wohl hier.“

„Um dich geht es aber nicht“, erklärte er kühl. „Ich brauche noch fünf Minuten, um ein paar geschäftliche Dinge zu erledigen. Wir treffen uns unten im Foyer.“ Er schaute ihr tief in die Augen. „Und komm ja nicht auf die Idee, vor mir davonzulaufen. Ich garantiere dir, du würdest es bereuen – oder viel mehr Beth …“

„Das würde ich niemals tun.“ Chase reckte das Kinn und begegnete seinem Blick, um Stärke zu demonstrieren – doch der Versuch scheiterte kläglich. Er war ihr so nah, dass sie seinen würzigen, aggressiv männlichen Duft wahrnahm. Ihr Herz fing an zu hämmern. Unwillkürlich zog sie sich wieder zurück. Sie hoffte, dass ihm dieser kurze Moment der Schwäche nicht aufgefallen war.

„Tatsächlich?“ Alessandro hob eine Braue. „Offen gestanden wirkst du auf mich im Moment wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines heranfahrenden Wagens.“

Chase atmete tief durch. „Wir sehen uns dann im Foyer“, sagte sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. „Aber glaube nicht, dass ich stundenlang auf dich warte.“

„Mach dich nicht lächerlich. Du wartest genau so lange, wie ich es für richtig halte.“

„Und das alles nur, um es mir heimzuzahlen?“

„Wie ich bereits sagte: Wir unterhalten uns irgendwo weiter, wo es ein wenig komfortabler ist.“

Chase merkte erst, wie angespannt sie gewesen war, als sie die Tür des Konferenzraumes hinter sich schloss. Sie schloss die Augen, stützte sich auf die Tischplatte und atmete tief durch. Sie fühlte sich, als wäre ihr Leben von einer Minute auf die andere aus den Fugen geraten. Doch nur weil sie es mit Alessandro zu tun hatte, bedeutete dies nicht automatisch, dass er es darauf anlegen würde, sie zu zerstören.

Zumindest versuchte sie sich das einzureden.

Sie hatte damals seinen Stolz verletzt. Was er von ihr wollte, waren Antworten. Antworten auf Fragen, auf die er in all den Jahren nie eine Antwort gefunden hatte.

Natürlich musste sie sich gut überlegen, was sie zu ihm sagte. Aber wenn er erst einmal zufriedengestellt war, würden sie beide endlich wieder ganz normal weiterleben können. Jeder für sich. Es würde sein, als wären sie einander niemals wieder begegnet.

Eilig verließ sie den Konferenzraum. Im Foyer brauchte sie nicht lange auf Alessandro zu warten. Er kam auf sie zu, das Jackett lässig über die Schulter geworfen, und Chase fühlte sich einmal mehr in die Vergangenheit zurückversetzt. Er hatte es schon immer geschafft, ihre Nerven zum Flattern zu bringen – selbst wenn alles, was es jemals zwischen ihnen gegeben hatte, gemeinsame Mittagessen und Cappuccinos gewesen waren.

„Du bist also noch da.“

„Du hast nicht wirklich damit gerechnet, dass ich die Flucht ergreife, oder?“ Chase ging neben ihm her. Es war angenehm, einen Mann einmal nicht zu überragen. Doch sie musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten, als er durch die gläserne Drehtür hinaus auf die Straße trat.

„Nein, natürlich nicht. Du bist Anwältin – du weißt, wann es besser ist, diplomatisch vorzugehen.“ Er wandte sich nach links, fort von den vollgestopften Straßen, hinein in die kleinen Seitenwege, die so charakteristisch für London waren. „Und da wir gerade über deinen Beruf sprechen – lass uns unseren kleinen Austausch doch damit beginnen.“

„Was willst du wissen?“

„Vor allem möchte ich kein Frage-und-Antwort-Spiel hieraus machen.“

Sie atmete tief durch. „Ich … habe mein Studium mit Bestnote abgeschlossen. In meinem letzten Jahr wurde ich von einer Anwaltsfirma angeworben – nicht die, für die ich heute arbeite, aber ebenfalls ein sehr angesehenes Unternehmen.“

„Kluge Chase.“

Sie spürte, dass er es nicht als Kompliment meinte. Allerdings hatte sie keine Ahnung, worauf er anspielte. Doch so, wie er sie verabscheute, konnte es nur etwas Beleidigendes sein.

Dabei war sie klug. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte man sie als eines von den Mädchen bezeichnet, die beides hatten: Aussehen und Köpfchen. Sie für ihren Teil hatte sich stets mehr auf ihr Köpfchen verlassen und wie eine Verrückte für ihren Abschluss gearbeitet.

„Danke.“ Sie zog es vor, so zu tun, als wäre sein herablassender Tonfall ihr nicht aufgefallen. „Ich war also ziemlich gut in meinem Job, habe hart gearbeitet, die Firma gewechselt – und da bin ich nun.“

„Fitzsimmons. Eine gute Firma.“

„Stimmt.“

„Und doch Kleidung von der Stange? Zahlen sie dir nicht genug?“

Chase wand sich vor Verlegenheit. Alessandro hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er aus einer reichen Familie stammte. Sah er deshalb auf Anhieb, dass ihre Kleidung alles andere als Designerware war?

„Sie zahlen mehr als genug“, entgegnete sie kühl. „Ich ziehe es lediglich vor, mein Geld zusammenzuhalten, anstatt es für teure Designerkleidung zum Fenster hinauszuwerfen.“

„Wie überaus ehrenhaft. Ich muss gestehen, Sparsamkeit ist keine Eigenschaft, die ich unbedingt mit dir in Verbindung gebracht hätte.“

„Könntest du nicht wenigstens versuchen, mir mit einem Mindestmaß an Höflichkeit zu begegnen?“ Chase atmete tief durch. Sie versuchte ja, seine Feindseligkeit nicht an sich herankommen zu lassen – leicht fiel es ihr jedoch nicht. „Die meisten Fälle, die ich vertrete, bearbeitet die Kanzlei unentgeltlich. Es wäre eher unangebracht, bei mittellosen Klienten in maßgeschneiderter Kleidung für mehrere Tausend Pfund zu erscheinen.“

Sie erreichten einen urigen Pub, der in einer ruhigen Seitenstraße lag. Überall in London gab es noch alteingesessene Lokale wie dieses. Als sie eintraten, wurden sie von wohltuender Kühle und Stille empfangen. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt, das Licht gedämpft. An der lang gestreckten Theke saßen nur ein paar ältere Männer, die sich an ihren Pints festhielten.

Alessandro bot ihr einen Drink an und zuckte mit den Schultern, als sie sagte, dass sie nur einen Fruchtsaft wollte. Ein paar Minuten später kam er mit den Getränken an den Tisch bei den bunten Bleiglasfenstern, an dem sie Platz genommen hatte.

„Also.“ Er setzte sich, die Hand um sein Glas gelegt, und schaute sie an. Er wusste selbst nicht, was er sich von diesem erzwungenen Beisammensein versprach. Aber sie wiederzusehen hatte einiges wieder in ihm wachgerüttelt, das er längst überwunden zu haben glaubte. „Lass uns ganz von vorn anfangen“, schlug er vor. „Oder vielleicht doch lieber am Ende? An dem Punkt, an dem du mir mitgeteilt hast, dass du verheiratet bist?“ Er nickte sich selbst zu. „Ja, ich denke, genau an der Stelle sollten wir ansetzen. Vier Monate lang hast du mir schöne Augen gemacht – um mir dann zu eröffnen, dass du einen Ehemann hast.“

Chase nippte an ihrem Fruchtsaft. Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, als sie in seine kalten, pechschwarzen Augen blickte. „Was soll das bringen, Alessandro?“

„Ist das denn wirklich so schwer nachzuvollziehen? Du befriedigst meine Neugier, und im Gegenzug dazu zahle ich den vollen Kaufpreis für das Asyl. Ein fairer Deal. Also – erzähl mir, was aus deinem Ehemann wurde.“

Sie senkte den Blick. „Shaun … er starb, kurz nachdem ich meinen ersten Job antrat. Er war zu schnell mit dem Motorrad unterwegs, verlor die Kontrolle und krachte auf dem Highway in die Leitplanke.“ Die Stimme versagte ihr.

„Also hast du ihn nicht einfach abserviert und dich scheiden lassen.“ Alessandro nahm einen tiefen Zug von seinem Bier und betrachtete Chase über den Rand des Glases hinweg. Er erinnerte sich noch genau, was sie an ihrem letzten gemeinsamen Tag zu ihm gesagt hatte. Dass dieser Mann – Shaun – ihr Jugendschwarm und die Liebe ihres Lebens gewesen war. „Und ich nehme an, du hast auch nicht wieder geheiratet.“

„Und das werde ich auch niemals.“ Sie hörte die Bitterkeit in ihrer eigenen Stimme, doch als sie zu ihm aufschaute, war sein Blick so hart und unnachgiebig wie eh und je.

„Liegt es daran, dass es für einen Mann im Leben einer ehrgeizigen Anwältin keinen Platz gibt? Oder hängst du noch immer an diesem … wie sagtest du noch so schön? Ach ja, jetzt weiß ich es wieder: Shaun, der einzigen Mann, mit dem du jemals schlafen würdest.“

Einmal mehr spulte sich jene unschöne Szene von vor acht Jahren in seiner Erinnerung ab. „Entschuldige, wenn du mich missverstanden hast, Alessandro“, hatte sie gesagt. „Ein paar Cappuccinos machen noch keine Beziehung – aber ich habe deine Gesellschaft sehr genossen …“

Seufzend fuhr Chase sich durchs Haar. „Ich habe mich damals falsch verhalten. Ich war verheiratet, daher hätte ich dich niemals so nah an mich heranlassen dürfen.“

„Nun, du hast mich ja auch nicht wirklich an dich herangelassen, oder?“ Alessandro neigte den Kopf zur Seite und musterte sie eindringlich. Er hatte das Gefühl, dass ihm etwas entgangen war. Aber was? Diese Frau hatte ihn hinters Licht geführt und war dann einfach verschwunden, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Zum Teufel, sie hatte Gefühle in ihm ausgelöst, die … Aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken.

„Nein“, entgegnete sie aufgebracht. „Nein, habe ich nicht. Ich meinte …“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Das verstehst du nicht. Ich hätte mich überhaupt nie mit dir treffen sollen. Ich war verheiratet.“

„Warum hast du es dann getan? Warst du derart stolz auf dich, weil du dir den reichen Typen geangelt hast, hinter dem all deine Kommilitoninnen her waren?“

„Das klingt verdammt eingebildet.“

„Mag sein – aber ich bin nur ehrlich. Du ahnst ja nicht, wie viele Nachrichten ich von Mädchen bekommen habe, in denen ich um privaten Nachhilfeunterricht gebeten wurde.“

Im Grunde wunderte es sie nicht besonders. Alessandro war unglaublich sexy und zudem auch noch äußerst wohlhabend. Kein Wunder, dass Mädchen Schlange standen, um seine Aufmerksamkeit zu erwecken.

„Hast du mir deinen Ehemann deshalb verschwiegen und deinen Ehering abgezogen?“, fragte er. „Um mich mit der Aussicht auf Sex um den Finger zu wickeln?“

„Ich habe dir nie vorgemacht, dass ich mit dir ins Bett gehen würde.“

„Stell dich nicht dumm!“ Er ließ die flache Hand auf die Tischplatte niedersausen, und Chase zuckte zusammen. „Du wusstest genau, worauf du dich einlässt!“

„Aber“, stammelte sie, „ich hätte nie …“

„Du hast mich glauben lassen, dass du Single und bereit für eine neue Beziehung bist.“

„Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir mehr als einmal gesagt, dass du an einer engen Bindung nicht interessiert bist. Dass du deine Beziehungen schnell und leidenschaftlich bevorzugst – und zeitlich begrenzt.“

Alessandro spürte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. „Schwache Argumentation“, stieß er hervor. „Hast du gelogen, weil du es einfach mal mit mir ausprobieren wolltest? Um zu sehen, ob ich vielleicht eine bessere Wahl bin als der Stubenhocker-Ehemann? Hast du mich deshalb vier Monate lang an der Nase herumgeführt?“ Er schüttelte den Kopf, wütend über sich selbst, weil er die Kontrolle über ihr Gespräch verloren hatte. Und weil es ihn tatsächlich noch kümmerte, was vor acht Jahren geschehen war.

„Nein“, protestierte sie. „Natürlich nicht. Außerdem war Shaun nie ein Stubenhocker.“ Wieder stahl sich Bitterkeit in ihre Stimme.

„Nein? Nun, was war er denn dann?“ Alessandro lehnte sich vor. „Banker? Unternehmer? Du warst ein wenig wortkarg, das letzte Mal, als wir uns begegnet sind. Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, konntest du es gar nicht abwarten, von mir wegzukommen.“

Überrascht stellte Alessandro fest, dass er sich ganz genau daran erinnern konnte, was sie an jenem Tag getragen hatte: Ein Paar verwaschene enge Jeans, billige Stiefel aus Kunstwildleder und einen Pullover, der, jetzt, wo er darüber nachdachte, vermutlich ihrem Ehemann gehört hatte.

Ebenso deutlich hatte er vor Augen, wie sie damals mit der Wahrheit herausgerückt war. Nach Monaten voller unschuldiger Unterhaltungen, vorsichtiger Annäherungsversuchen und ohne jeden körperlichen Kontakt – was die Hölle für ihn gewesen war – hatte sie sich ihm gegenüber an den Tisch in der kleinen Weinbar gesetzt, die ihr Lieblingstreffpunkt gewesen war. Und dann hatte sie ihn eiskalt darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie sich nicht weiter mit ihm treffen würde.

Sie hatte ihm den Ring an ihrem Finger gezeigt, den Alessandro zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal sah. Shaun McGregor, hatte sie leichthin gesagt, sei die Liebe ihres Lebens. Er war der erste und einzige Mann, mit dem sie jemals zusammen gewesen war.

Wie vor den Kopf geschlagen war ihm nichts anderes geblieben, als das Foto eines jungen Mannes mit strahlend blauen Augen anzustarren, das sie aus ihrem alten, abgenutzten Portemonnaie gezogen hatte. Der Anblick hatte ihm überdeutlich vor Augen geführt, wie sehr sie ihn zum Narren gehalten hatte.

„Es tut mir leid“, sagte Chase nun und brachte ihn damit in die Gegenwart zurück. „Ich weiß, es ist reichlich spät, um sich zu entschuldigen, aber ich möchte es trotzdem tun.“

„Warum hast du einen anderen Namen benutzt?“

Fragend schaute sie ihn an.

„Du hast den Namen Lyla benutzt. Nicht nur für mich, sondern allgemein. Warum?“

„Ich …“ Chase hielt inne. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie damals ein anderer Mensch gewesen war? Dass sich ihr die Chance geboten hatte, sich selbst neu zu erschaffen – und dass sie sie ergriffen hatte, weil diese neue Identität so viel besser war als die Realität. Sie war trotzdem schlau genug gewesen, niemals in Bezug auf ihre Ausbildung zu lügen. Wem tat es weh, wenn sie vorgab, aus einer ganz normalen Mittelklassefamilie zu stammen? Wenn sie so tat, als hätten sich ihre Eltern je für irgendetwas interessiert, was sie machte?

Sie hatte immer sichergestellt, niemanden zu nah an sich heranzulassen – bis Alessandro ihren Weg kreuzte. Selbst da war ihr zu Anfang noch nicht klar gewesen, dass es sie so heftig erwischen würde. Oder dass ihre kleinen frommen Lügen, die sie ihm am Anfang erzählte, sich in etwas verwandeln würden, das sie nicht mehr zurücknehmen konnte. Verletzter Stolz und Hass konnten einen Menschen dazu bringen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sich zu rächen.

„Ich sollte jetzt langsam zur Arbeit zurück.“ Sie trank den letzten Rest von ihrem Orangensaft und stand auf.

Ohne darüber nachzudenken, ergriff Alessandro ihren Arm und hielt sie fest. „Nicht so schnell.“

Chase erstarrte. „Ich habe all deine Fragen beantwortet, Alessandro!“

„Dann stelle ich dir jetzt noch eine einzige.“

Sie seufzte. „Und die lautet?“

„Was, zum Teufel, ist für dich dabei herausgesprungen?“

„Nichts! Ich … habe einen Fehler gemacht. Das ist lange her. Du meine Güte, ich war noch ein halbes Kind!“

„Ein Kind von zwanzig Jahren, und darüber hinaus bereits verheiratet. Ich dachte eigentlich, so etwas passiert heute nicht mehr.“

„Ich habe dir es doch schon erklärt. Wir waren verliebt.“ Chase senkte den Blick und schüttelte seine Hand ab. „Wir sahen keine Veranlassung, länger zu warten.“

„Und eure Familien haben beide an den Feierlichkeiten teilgenommen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Shaun ist tot – es ist ziemlich gleichgültig, wer bei unserer Hochzeit anwesend war und wer nicht.“

„Tja, was soll ich sagen? Du klingst nicht gerade wie eine wahrhaft trauernde Witwe.“ Alessandro seufzte. Er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Spielte sein Verstand ihm Streiche? Hatte sie sein Ego vor acht Jahren so tief verletzt, dass er nach einer versteckten Bedeutung suchte, wo keine war?

„Das ist Jahre her. Das Leben geht weiter.“

„Und seitdem ist niemand mehr auf der Bildfläche erschienen, der seinen Platz hätte einnehmen können?“

„Warum geht es hier eigentlich nur um mich?“ Sie schaute ihm geradewegs in die Augen. „Was ist mit dir? Wir haben noch nicht darüber gesprochen, was du so gemacht hast.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“ Alessandro lehnte sich zurück. Irgendetwas an ihrem Gesicht zog ihn geradezu magisch an. Es war wunderschön anzusehen, wirkte dabei aber geheimnisvoll, sodass man sich unwillkürlich fragte, was sich hinter dieser bezaubernden Maske verbarg.

Und auch jetzt spürte er wieder, wie seine Neugier sich regte.

„Ich bin für dich ein offenes Buch.“ Er breitete die Arme aus. „Ich verberge nicht, wer ich bin, und ich habe mir auch keine Gewohnheit daraus gemacht, andere Menschen an der Nase herumzuführen.“

„Und? Gibt es jemand Besonderen in deinem Leben? Eine Mrs. Moretti, die das Haus sauber hält und eine Horde kleiner Moretti-Kinder versorgt? Oder bevorzugst du nach wie vor eher unverbindliche Beziehungen?“

„Ich muss schon sagen, du hast eine wirklich spitze Zunge bekommen, Chase.“

Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Ja, das hatte sie in der Tat. Und es gab Momente, in denen sie sich fragte, ob sie die Frau mochte, zu der sie sich entwickelt hatte. Nicht, das sie jemals brav und folgsam gewesen war. Aber jetzt …

„Ich mag es einfach nicht besonders, wenn man auf meinen Gefühlen herumtrampelt“, sagte sie.

„Und du glaubst, deshalb wäre ich mit dir hergekommen? Um auf deinen Gefühlen herumzutrampeln?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Ist es denn nicht so?“

„Wir tauschen Informationen aus“, erwiderte er kühl. „Und nur damit du es weißt: Es gibt keine Mrs. Moretti – und gäbe es sie, müsste sie gewiss nicht das Haus sauber halten.“

„Weil du für solche Dinge jemanden bezahlst? Arbeitest du immer noch rund um die Uhr? Langsam müsstest du doch genug verdient haben, um kürzertreten zu können.“ Sie kniff die Augen zusammen. Stundenlang hatte sie früher dasitzen und ihm zuhören können, wie er von seinem Arbeitsleben berichtete. Ständig auf Achse. Ohne Unterbrechung im Einsatz. Die Vorlesungen, so seine Worte, waren für ihn so etwas wie eine kleine Erholungspause gewesen. Es ärgerte sie mehr, als sie in Worte fassen konnte, dass sie tatsächlich neugierig darauf war, was er in den vergangenen Jahren alles getrieben hatte. „Aber das geht mich im Grunde nichts an“, fuhr sie knapp fort. „Kann ich jetzt gehen?“

Alessandro kochte vor Wut. Bislang hatte er so gut wie überhaupt nichts herausgefunden. Keine einzige seiner Fragen war wirklich beantwortet worden. Sein Verstand sagte ihm, dass er Chase ziehen lassen sollte – doch ein anderer Teil von ihm wollte sich nicht so leicht zufriedengeben.

„Warum hast du dich entschieden, dich auf kostenlose Rechtsberatung zu konzentrieren?“, fragte er. „Sicherlich gäbe es für jemanden mit deinen Qualifikationen profitablere Aufgabenfelder.“

„Es ging mir nie darum, viel Geld zu machen“, erklärte sie und entspannte sich ein wenig. Ihr war ganz entfallen, wie einnehmend er sein konnte, wenn er sich wirklich für das interessierte, was sie zu sagen hatte. Die Art und Weise, wie er seinen Kopf zur Seite neigte und den Anschein erweckte, als wäre jedes ihrer Worte von immenser Bedeutung. „Ich wollte immer schon Anwältin werden“, sprach sie weiter. „Allerdings gab es auch zwei Alternativen, die für mich infrage gekommen wären: Sozialarbeiterin oder Polizistin.“ Sie errötete, als ihr klar wurde, dass sie darüber bisher noch mit niemandem gesprochen hatte.

„Sozialarbeiterin? Polizistin?“

„Ja – und deshalb solltest du mich auch nicht beschuldigen, materialistisch veranlagt zu sein.“

„Ich kann dich mir beim besten Willen nicht als Sozialarbeiterin vorstellen. Und noch viel weniger als Polizistin.“

„So langsam sollte ich wirklich wieder zurück an die Arbeit. Ich muss heute noch zum Frauenhaus und den Ausgang unseres Gesprächs übermitteln. Sie werden enttäuscht sein, weil sie mit der Nachbarschaft eng verwurzelt sind und die meisten der Frauen, die diese Hilfe in Anspruch nehmen, aus der näheren Umgebung stammen.“

„Was hat für dich letztlich den Ausschlag gegeben? Warum bist du schließlich Anwältin geworden?“

„Die Arbeitszeit“, antwortete sie. „Ich war nicht unbedingt erpicht darauf, zu jeder Tages- und Nachtzeit zum Dienst gerufen zu werden. Meine Wochenarbeitszeit bei Fitzsimmons mag hoch sein – aber ich kann sie mir im Großen und Ganzen einteilen.“

„Das macht Sinn.“ Er zuckte mit den Schultern. „Weißt du was? Ich würde mir Beth’s House gern einmal ansehen. Um herauszufinden, inwieweit das Grundstück meinen Anforderungen entspricht.“ Fragend schaute er sie an. „Ich nehme an, du begleitest mich?“

3. KAPITEL

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Chase sich vollkommen hilflos. Als sie vor drei Tagen die beeindruckende Firmenzentrale von AM Holdings betreten hatte, hatte sie eine einfache Mission gehabt: Beth’s House zu retten.

Sie war diejenige gewesen, die die Fäden in der Hand hielt – die Anwältin, die erfolgreich war in dem, was sie tat, und stets die Kontrolle über alles bewahrte. Natürlich hatte sie auf einen guten Ausgang gehofft; doch selbst wenn es dazu nicht kam – sie würde getan haben, was sie konnte.

Stattdessen stand sie nun am Fenster ihres kleinen Reihenhauses und hielt nervös Ausschau nach Alessandro. Er hatte darauf bestanden, sich das Frauenhaus von ihr zeigen zu lassen.

„Wozu?“, hatte sie ihn gefragt. „Ich verstehe den Grund nicht. Du wirst es doch ohnehin nur abreißen, damit du dort einen Konsumtempel für die Schönen und Reichen errichten kannst.“

Doch davon hatte er nichts hören wollen. Und deshalb wartete sie nun auf ihn und fühlte sich dabei, als ob ihr langsam, aber sicher sämtliche Kontrolle entglitt. Unter normalen Umständen hätte sie dies schnell wieder in den Griff bekommen – aber bei Alessandro lagen die Dinge ein wenig anders.

Sie hatte vorgeschlagen, dass sie sich vor dem Grundstück des Frauenhauses treffen würden, doch er beharrte stur darauf, sie abzuholen.

In diesem Moment fuhr ein eleganter schwarzer Jaguar vor ihrem Haus vor. Unwillkürlich schlug ihr Herz schneller, als Alessandro kurz darauf ausstieg. Er wirkte ebenso unpassend in dieser einfachen Gegend wie sein teurer Wagen. Schon von Weitem war seiner Kleidung anzusehen, dass sie sündhaft teuer gewesen sein musste.

Chase stockte der Atem. Sein bloßer Anblick reichte noch immer aus, um sie die Fassung verlieren zu lassen. Sie beobachtete ihn, wie er sich umschaute und die Umgebung in sich aufnahm. Dies war vermutlich eine Gegend, in der er seinen Chauffeur normalerweise anweisen würde, die Wagentüren zu verriegeln. Das Viertel gehörte zwar keineswegs zu den heruntergekommenen oder gar gefährlichen Gegenden in London, aber ganz gewiss auch nicht zu vornehmeren. Chase verdiente in ihrem Job nicht schlecht, was aber keineswegs bedeutete, dass sie sich ein Haus in Chelsea oder Knightsbridge leisten konnte – anders als viele ihrer Kollegen hatte sie keine Eltern, die einen solchen Luxus aus der Portokasse finanzierten.

Erschrocken trat sie vom Fenster weg, als er seinen Blick dem Haus zuwandte, und als es kurz darauf an der Tür klingelte, ließ sie sich Zeit. Er sollte nicht denken, dass sie nur auf ihn gewartet hatte – selbst wenn es der Wahrheit entsprach. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie schließlich öffnete.

„Schön, sollen wir gleich los?“ Ihr verzweifelter Versuch, ihn nicht anzustarren, scheiterte kläglich. Um davon abzulenken, nahm sie ihre Handtasche von der Garderobe und hob ihre Aktentasche auf.

„Zu gegebener Zeit.“ Alessandro betrat die Diele und schloss die Tür hinter sich.

„Was tust du?“

„Ich komme auf eine Tasse Kaffee herein.“

„Kaffee?“ Sie blinzelte irritiert und schüttelte dann den Kopf. „Für so etwas haben wir keine Zeit, Alessandro. Der Termin ist für Viertel nach zehn angesetzt. Und wer weiß, wie lange wir im Berufsverkehr dorthin brauchen.“

„Entspann dich. Ich habe meine Sekretärin angewiesen, den Besuch um eine Stunde zu verschieben.“

„Du hast – was?“

„Hier wohnst du also.“

„Ja, aber …“ Ungläubig beobachtete sie Alessandro, wie er an ihr vorüber in Richtung Wohnzimmer s...

Autor

Maya Blake
<p>Mit dreizehn Jahren lieh sich Maya Blake zum ersten Mal heimlich einen Liebesroman von ihrer Schwester und sofort war sie in den Bann gezogen, verlor sich in den wunderbaren Liebesgeschichten und begab sich auf romantische Reisen in die Welt der Romanhelden. Schon bald träumte sie davon, ihre eigenen Charaktere zum...
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Carole Mortimer
<p>Zu den produktivsten und bekanntesten Autoren von Romanzen zählt die Britin Carole Mortimer. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman, inzwischen gibt es über 150 Romane von der Autorin. Der Stil der Autorin ist unverkennbar, er zeichnet sich durch brillante Charaktere sowie romantisch verwobene Geschichten aus. Weltweit...
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