Julia Herzensbrecher Band 55

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NIE MEHR TRAURIG – NIE MEHR ALLEIN? von JUDY DUARTE

Bo Conway kann kaum glauben, dass Carly wirklich eine traurige Märchenprinzessin ist – und er der Prinz sein könnte, der sie wachküsst! Schließlich ist er nur ein einfacher Zimmermann. Und dass die Traumfrau seine heißen Gefühle erwidert, ist womöglich nur eine Laune …

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  • Erscheinungstag 22.03.2025
  • Bandnummer 55
  • ISBN / Artikelnummer 9783751534154
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

JUDY DUARTE

1. KAPITEL

Als es an der Tür klingelte, saß Carly Alderson auf ihrem Sofa und schaute sich einen traurigen Liebesfilm an. Während sie mit einer Hand ihre Tränen wegwischte, steckte sie sich den letzten Bissen eines Donuts in den Mund.

Sie hatte nicht mit Besuch gerechnet und wäre lieber ungestört geblieben. Am liebsten würde sie die Unterbrechung ignorieren, den letzten Donut aus der Tüte holen, sich im Sofa zurücklehnen und mit den Filmhelden leiden, statt sich mit ihrem eigenen Kummer zu beschäftigen.

Andererseits hoffte sie, dass Greg wieder nach Hause kam, um ihr zu sagen, dass er einen riesigen Fehler gemacht habe und nicht ohne sie leben wolle.

Solche Nachrichten könnten ihre Welt wieder in Ordnung bringen, denn Greg hatte sie völlig aus der Fassung gebracht, als er ihr sagte, dass er sie nicht mehr liebte und nach siebenjähriger Ehe die Scheidung wollte.

In einem Anflug von gespielter Tapferkeit hatte Carly ihn aus dem Haus geworfen, alle Schlösser ändern lassen und ihren Mädchennamen wieder angenommen.

Natürlich wollte sie ihn mit ihrem Verhalten nur schockieren, damit er wieder zur Vernunft kam.

Bis jetzt hatte sie damit aber keinen Erfolg gehabt.

Wieder hörte sie ein Läuten, und Carlys Herzschlag beschleunigte sich.

Was wäre, wenn es wirklich Greg war?

Natürlich wollte sie unbedingt ihre Ehe retten. Carly stand auf, aber als ihr Blick auf die Tüte in ihrer Hand fiel, hielt sie die Luft an.

Greg durfte nicht sehen, dass sie sich vollstopfte. Schließlich hatte sie seit der Trennung mehr als acht Pfund zugenommen. Sie steckte die Tüte mit dem Donut hinter das Kissen auf dem Sessel, etwas, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte.

Dann lief sie ins Bad, um zu überprüfen, ob sie keine Zuckerspuren im Gesicht hatte. Als sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie ein armseliges, bedauernswertes Wesen, das keine Ähnlichkeit mit der Frau hatte, die sich so gut beherrschen konnte.

Sicher würde Greg glauben, sie sei noch nicht über ihn hinweg. Bis gestern hatte das auch noch gestimmt. Aber diesmal waren ihre Tränen auf den traurigen Film zurückzuführen, und …

Ihre Gedanken wurden durch ein ungeduldiges Klingeln unterbrochen.

„Komme gleich!“, rief sie, während sie den Wasserhahn aufdrehte.

Fast hoffte sie, der ungebetene Besucher vor der Tür würde weggehen, aber sie hatte ihren Wagen nach dem morgendlichen Einkauf nicht in die Garage gestellt. Daher wussten die meisten Leute, dass sie im Haus war.

Stünde Greg vor der Tür, würde sie vor Scham sterben, denn er hatte sie noch nie so elend gesehen.

Früher gab es eine Zeit, in der sie immer so ausgesehen und sich schlecht gefühlt hatte. Aber seit sie von Zuhause ausgezogen war und das College besucht hatte, war viel Zeit vergangen. Sie hatte an sich gearbeitet und sich um Selbstbeherrschung bemüht.

Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie in letzter Zeit teilweise in alte Gewohnheiten zurückgefallen war. Das musste aufhören, damit sie sich durch die zusätzlichen Kilos nicht wieder so hässlich und wertlos fühlte wie als Kind.

Obwohl sie die erniedrigenden Gedanken verdrängen konnte, hörte sie doch wieder die Worte ihres Vaters. Verdammt, Carly. Isst du schon wieder? Wenn du nicht aufpasst, wirst du so fett wie deine Mutter. Meine Güte, Mädchen. Kannst du dir nicht einen großen Spiegel anschaffen, damit du siehst, wie dick dein Hintern ist?

Unwillig schüttelte sie den Kopf. Dann griff sie nach einem bestickten Handtuch und wischte die verschmierte Wimperntusche weg.

Diesmal schlug jemand mit der Faust gegen die Tür. „Mach auf, Carly. Wir wissen, dass du da bist.“

Es war nicht Greg.

Beinahe wäre sie in das Fernsehzimmer zurückgekehrt, um ihren Besuch einfach zu ignorieren, aber sie hatte die Stimme von Molly erkannt, die einen Schlüssel zum Haus hatte.

Molly und sie konnte man nicht direkt als beste Freundinnen bezeichnen, denn Carly ließ niemanden nahe an sich herankommen. Aber als sie ihre neuen Haustürschlüssel bekommen hatte, wollte sie einer Nachbarin für Notfälle einen abgeben.

Da Molly direkt nebenan wohnte, war die Wahl auf sie gefallen.

„Ich habe einen Schlüssel“, erinnerte Molly sie. „Komm, Carly, mach schon auf. Wir machen uns Sorgen um dich.“

Dass sich die Nachbarn um sie sorgten, verbesserte ihre Laune sofort.

Carly holte tief Luft und öffnete dann die Haustür, vor der Molly und Rebecca Peters, eine weitere Nachbarin, standen. Als sie zur Seite trat, um die beiden ins Haus zu lassen, atmete sie den Duft von Sonnencreme ein.

Rebecca, eine attraktive Frau um die Dreißig, deren blaue Augen wirkungsvoll mit dem braunen Haar kontrastierten, war wie immer modisch gekleidet. Sie trug sogar ein passendes Oberteil zu ihrem Badeanzug. „Wir wollen mit dir ins Schwimmbad gehen.“

„Ist das euer Ernst?“ Carly, die normalerweise nicht einmal zum Frühstück ging, ohne perfekt gestylt zu sein, blickte auf ihr blaues T-Shirt. Es gehörte Greg und war damals im Trockner gewesen, als sie von Greg verlangt hatte, seine Sachen zu packen und zu verschwinden. „In diesem Zustand kann ich nirgendwohin gehen.“

„Für das, was wir vorhaben, siehst du gut genug aus“, erwiderte Rebecca.

„Richtig“, bestätigte Molly, die ein weißes Sommerkleid trug. „Du hast deine Wunden lange genug geleckt, und du kommst jetzt mit.“

Oh, nein. Carly würde nicht mit ihnen gehen. Warum sollte sie? Sie hatte schließlich einen eigenen Pool mit Wasserfall, Außenkamin, ein Warmwasserbecken, herrliche Grünpflanzen und einen farbenfrohen Garten. „Wenn ihr euch sonnen oder schwimmen wollt, dann kommt doch herein. Wir können den Nachmittag im Garten verbringen.“

„Heute nicht. Du hast dich schon zu lange in deinem Haus vergraben, und es ist höchste Zeit, dich noch einmal draußen sehen zu lassen.“ Molly, deren braunes lockiges Haar mit einer eleganten Spange hochgesteckt war, zeigte auf die Treppe. „Hol dir ein Handtuch und einen Badeanzug und komm mit.“

„Ich habe mich gar nicht hier vergraben“, log Carly.

Rebecca, deren blaue Augen ziemlich energisch funkelten, verschränkte die Arme vor der Brust. „Es gibt noch ein Leben nach der Scheidung, Carly. Je eher du das akzeptierst, desto besser.“

„Aber das tue ich doch.“ Es tat ihr jedoch weh, dass Greg seit einem Monat ein Verhältnis hatte. Er traf sich ausgerechnet mit Megan Schumacher, einer weiteren Nachbarin, die Carly für ihre Freundin gehalten hatte.

Dabei hatte sie sich so sehr bemüht, in jeder Hinsicht die vollkommene Frau für Greg zu sein.

Megan dagegen wog mindestens zwanzig Pfund zu viel und war nicht einmal besonders hübsch. Was sah Greg in ihr?

Vielleicht hatte Carlys fleißiger, erfolgreicher Ex-Mann eine Midlife-Crisis, falls man so etwas schon mit dreißig bekommen konnte. Carly konnte sich überhaupt nicht erklären, warum Greg nicht mehr mit ihr verheiratet sein wollte, denn sie hatte so sehr darauf geachtet, in Form zu bleiben, damit er stolz auf sie war.

Selbst Gregs hochnäsige Mutter Vanessa, die man kaum zufriedenstellen konnte, hatte Carly allmählich akzeptiert. Nach der Trennung hatte sie Carly verteidigt und versucht, Greg davon zu überzeugen, wieder nach Hause zurückzukehren und seiner Ehe noch eine Chance zu geben.

Aber er hatte es nicht gewollt.

„Ohne dich gehen wir nicht los“, sagte Rebecca und legte die Hände auf Carlys Schultern. Dann drehte sie sie um und schob Carly auf die Treppe zu.

„Hol deine Badesachen. Wir warten.“

Viel lieber würde Carly ihren Donut essen, aber sie tat das, was die Nachbarinnen vorschlugen. Warum auch immer. Vielleicht hatten sie ja recht. Sie hatte sich versteckt und in den Schmollwinkel zurückgezogen, und es war Zeit, sich wieder in den Griff zu bekommen.

So schlecht ging es ihr doch gar nicht. Sie hatte ein schönes Haus und war bei der Scheidung großzügig bedacht worden. Wenn sie einige Wochen fasten und Sport treiben würde, hätte sie auch bald wieder ihre gute Figur zurück.

An den Donuts durfte sie sich nicht mehr vergreifen, denn dann wäre sie bald so dick wie ihre Mutter.

Sofort bekam Carly ein schlechtes Gewissen, denn sie wollte ihre Mutter nicht kritisieren. Sie liebte und vermisste sie, aber das Gewicht, das diese seit den letzten fünfundzwanzig Jahren mit sich herumschleppte, war ungesund und konnte zu Herzproblemen oder einem Schlaganfall führen. Außerdem verließ sie das Haus kaum noch.

Vor Jahren hatten Carly, ihre Mutter und die Schwester sich sehr nahe gestanden und in schwierigen Zeiten zusammengehalten. Alle litten jedoch unter Essstörungen, obwohl Carly ihre überwunden hatte.

Wirklich? fragte die innere Stimme. Und was ist mit dem Donut unter dem Kissen?

Okay. Vielleicht hatte sie ihr Essverhalten doch nicht ganz unter Kontrolle, aber seit Greg nicht mehr da war, hatte sie keine Lust mehr auf das tägliche Training und auf die kohlenhydratfreie und fettarme Kost.

Aber sie würde bald wieder auf die richtige Spur kommen.

Als Carly die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hochging, nahm sie sich vor, ihre Mutter am Abend anzurufen. Der letzte Anruf lag eine Woche zurück, und Carly wollte sich nach ihr erkundigen und hören, ob das neue Diätprogramm, an dem die Mutter auf Rat des Arztes teilnahm, erfolgreich war.

Während des letzten Arztbesuches hatte ihre Mutter erfahren, dass ihr Übergewicht sie langsam umbrachte. Ihre Knie schmerzten, und die Cholesterinwerte und Triglyceride waren stark erhöht.

Aber diese Probleme konnte ihre Mutter nur allein lösen.

Natürlich hatte Carly alles versucht, nicht in die Fußstapfen der Mutter zu treten, und sie wollte nicht zulassen, dass sie die Kontrolle über ihr Essverhalten verlor.

Auf jeden Fall würde sie etwas über ihrem Badeanzug tragen. Schließlich sollte man nicht den Bauch sehen, den sie sich im letzten Monat angefuttert hatte. In den vergangenen Jahren war sie immer schlank und trainiert gewesen, und wenn sie daran dachte, dass jemand ihre Problemzone sehen konnte, wurde ihr ganz übel.

Allerdings nicht so wie bei ihrer Schwester, die erst hemmungslos aß und sich dann übergab.

Die Scheidung hatte sie schwer getroffen und ihr den sprichwörtlichen Teppich unter den Füßen weggezogen. Ihr Leben hatte sich nur um ihre Ehe mit Greg gedreht, aber es war Zeit, ihr angeschlagenes Selbstwertgefühl wieder aufzubauen.

Wer würde sie außerdem im Schwimmbad sehen?

Bo Conway sah von seiner Arbeit im Schwimmbad auf, als drei Frauen durch das schmiedeeiserne Tor kamen und sich Liegen aussuchten, die ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes standen. Beinahe hätte er sich nicht weiter um die Frauen gekümmert. Doch dann hörte er einen sexy texanischen Akzent und erkannte die wunderschön aussehende Blondine mit den blauen Augen und dem strahlenden Lächeln.

Carly Banning – oder jetzt Alderson – war eine schöne Frau, die hart für ihr Aussehen arbeitete.

Zu hart, wenn man ihn fragte.

Im Keller ihres Hauses hatte sie einen vollständig eingerichteten Fitnessraum, der ihren Ex-Mann Greg Banning einiges gekostet hatte. Aber anders als viele reiche Hausfrauen benutzte sie den Raum tatsächlich.

Bo hatte häufig am Haus der Bannings gearbeitet, sodass er das kürzlich geschiedene Paar besser kannte als die meisten Nachbarn.

Tatsächlich war Bo einer der wenigen Menschen, den die Nachricht von der Trennung nicht überrascht hatte. Zwar hatte er sie nie streiten gehört, aber er spürte die Spannung zwischen ihnen und die Einsamkeit in dem großen Haus, selbst wenn Greg und Carly sich im gleichen Zimmer aufhielten.

Da er beide mochte, tat es ihm leid, als er von der Scheidung erfuhr. Schließlich sollte eine Ehe von Dauer sein. Häufig beobachtete Bo Paare, um festzustellen, wie sie sich behandelten und wie sie ihre Zuneigung zeigten. Sein Onkel Roy hatte ihm während eines ihrer vielen Gespräche über das Leben und die Liebe diesen Rat gegeben.

„Ein Mann kann viel lernen, wenn er Augen und Ohren öffnet“, hatte Roy gesagt, und Bo konnte feststellen, dass sein Onkel recht hatte.

Als er vor einigen Monaten in dem viel zu großen und protzigen Haus gearbeitet hatte, hatte Bo eine weinende Carly – oder Mrs. B., wie er sie damals nannte – mit einem Glas Milch und einer Tüte Cookies in einem Sessel gefunden.

„Meine Droge“, hatte sie erklärt.

Zu einer Frau, die in seinen Augen fast vollkommen war und wie verrückt trainierte, schien es nicht zu passen, unzählige Kalorien zu verschlingen.

Er hatte sich auch über ihre Verletzlichkeit gewundert, denn Bo hatte Carly ursprünglich für egozentrisch gehalten. Andererseits war sie immer freundlich und nie herablassend gewesen wie einige seiner Kunden. Aus diesem Grund hatte sie bald sein Herz gewonnen – wie auch heute.

Mehrere Male bemerkte er, dass sie in seine Richtung sah, aber nicht so, als wolle sie ihn reizen. Eher spürte er eine Verbindung zwischen ihnen.

Da ihr Mann sehr beschäftigt war, hatte sie die Bauarbeiten an ihrem Haus überwacht, wobei sie niemanden störte, sondern immer interessiert und freundlich war. Außerdem hatte sie sich überzeugen lassen, wenn er ihr klarmachen musste, dass einige ihrer Vorstellungen sich nicht umsetzen ließen.

Noch etwas anderes gefiel ihm gut und berührte ihn.

Wenn sie nervös war, kaute sie an ihrer Unterlippe, was zeigte, dass sich hinter der heilen Fassade eine Frau versteckte, die auch ihre Probleme hatte.

Jetzt kam er nicht umhin, den Frauen bei ihrem Gespräch zuzuhören, obwohl die Worte sicher nicht für seine Ohren bestimmt waren.

„Wir sollten essen gehen und eine Flasche Champagner öffnen“, schlug die attraktive Brünette Carly vor. „Lasst uns deine Freiheit feiern und auf dein neues Leben anstoßen.“

Bos frühere Kundin sah bei diesem Vorschlag nicht gerade glücklich aus.

„Du musst nur einen neuen Mann finden“, meinte die andere Frau. „Dann hast du ganz schnell wieder deine alte Lebensfreude.“

„Das ist leichter gesagt als getan.“ Carly, die ein großes blaues T-Shirt trug, das ihre gute Figur verhüllte, legte ein gestreiftes Handtuch auf eine Liege. „Ich war so lange verheiratet, dass ich gar nicht mehr weiß, wie ich mich bei einem Date verhalten soll.“

„Denke doch nur ans Fahrradfahren“, erwiderte die Brünette und trank einen Schluck Wasser. „Wenn du es einmal gelernt hast, verlernst du es nicht. Außerdem hat das Singledasein auch seine Vorteile.“

„Ich fühle mich aber noch verheiratet“, entgegnete Carly. „Meine Ehe war das Wichtigste für mich, und ich habe meine eigenen Bedürfnisse zurückgestellt. Heute weiß ich gar nicht mehr, wer ich eigentlich bin.“

Schade, dachte Bo, während er arbeitete und dem Gespräch zuhörte. Ein Mensch sollte schon wissen, wer er war, oder was er im Leben erreichen wollte. Er selbst hatte das schon vor langer Zeit herausgefunden.

Bo hatte sich gerade ein Grundstück gekauft, auf dem er sich ein Haus bauen wollte, das genug Platz für die große Familie bot, die er einmal haben wollte – alles Jungen, wenn es nach ihm ginge.

Natürlich müsste er erst eine Partnerin finden, aber er wollte nicht jede. Er hatte sehr klare Vorstellungen.

Seine Traumfrau war nicht nur seine Geliebte, sondern auch seine beste Freundin. Eine Frau, die, wie er, viel arbeitete und sich um das Gelingen der Ehe bemühte. Eine Gefährtin, die Einsatz zeigte, und für die eine Scheidung keine Lösung war.

Im Laufe der Jahre hatte Bo viele Frauen kennengelernt, die für eine dauerhafte Bindung bereit schienen. Sie verloren aber häufig das Interesse, wenn sie herausfanden, dass er sich nicht nach ihren Vorstellungen formen ließ.

Er hatte es jedoch nicht eilig und würde sicher eines Tages die Richtige finden.

Carly tat ihm leid, und am liebsten würde er ihr sagen, was in ihrer Ehe nicht funktioniert hatte. Vielleicht konnte er ihr einige Verbesserungsvorschläge machen.

Dafür müsste sie ihn aber schon fragen, und das war nicht gerade wahrscheinlich. Schließlich war sie äußerst attraktiv und würde sicher nicht lange allein bleiben.

Außerdem war Bo fast ein Fremder für sie, der nicht in ihren Kreisen verkehrte.

Zufrieden betrachtete er seine Arbeit. Für heute hatte er genug getan.

Als er die Werkzeuge einpackte, hörte er ein Auto kommen und sah zum Parkplatz. Erst beachtete er den Wagen nicht, aber dann entdeckte er Greg Banning, der mit zwei Frauen und mehreren Kindern ausstieg.

Verdammt. Hoffentlich passierte nichts, denn weder Carly noch Greg rechneten damit, sich im Schwimmbad zu begegnen.

Obwohl er Carly gern gewarnt hätte, konnte er sich nicht einfach einmischen.

Am besten packte er seine Sachen ein und ging zum Parkplatz, bevor die Lage ungemütlich wurde.

„Hey“, meinte Rebecca, während sie ihr Oberteil auszog und einen neuen schwarzen Badeanzug enthüllte, der ihre gute Figur betonte. „Habt ihr den Mann gesehen, der da hinten arbeitet? Wer kann das sein?“

Carly blickte zu dem Backsteingebäude und sah Bo Conway, einen der Zimmerleute, die vor einigen Monaten ihr Haus umgebaut hatten.

„Ich kenne ihn“, antwortete sie. „Er heißt Bo“, informierte sie die anderen, „und ist ein sehr guter Zimmermann.“

Außerdem war er sehr attraktiv, und wenn er lächelte, zeigte sich auf einer Wange ein Grübchen. Bo wirkte solide, verlässlich und bodenständig.

Als er in ihrem Haus gearbeitet hatte, hatte Carly ihn häufiger beobachtet, obwohl sie glaubte, dass er nicht ahnte, dass sie ihn … interessant und anziehend fand.

Häufiger hatte sie sich gefragt, ob er liiert war, oder ob er eine sympathische, unverheiratete Frau kennenlernen wollte. Sie hätte ihm gern bei der Suche geholfen, aber wenn sie sich eine Frau für Bo vorstellte, dann fand sie keine, die gut genug für ihn war.

Molly, die ihr Sommerkleid noch nicht ausgezogen hatte, griff in ihre Aktentasche und holte Papiere und ihre Lesebrille heraus.

„Du bringst tatsächlich Arbeit mit ins Schwimmbad?“, wollte Carly wissen.

„Nur einige Unterlagen, die ich überprüfen muss.“ Molly setzte sich neben Carly an den Rand des Pools und steckte die Füße ins warme Wasser. „Dein Bekannter sieht gut aus. Ist er noch Single?“

„Ich nehme an, denn er trägt keinen Ring.“

„Viele Handwerker tragen aus Sicherheitsgründen keinen Ring.“ Rebecca stieg in den Pool und verzog das Gesicht, als sie die Wärme spürte. „Er hat dich jedenfalls nicht aus den Augen gelassen, Carly.“

„Mich? Mach dich nicht lächerlich.“

Bo hatte sie immer respektvoll behandelt. Niemals hatten sie geflirtet. Nicht einmal, nachdem Greg aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen und Carly allein und verletzlich war.

Bei dem Gedanken daran, dass er sie angesehen hatte, schlug ihr Herz schneller.

Sie riskierte einen Blick zu ihm, sah in seine Augen und drehte schnell den Kopf weg.

Hatte er sie wirklich beobachtet? Nein, das konnte nicht sein.

Meine Güte. Sie zog am Saum ihres übergroßen T-Shirts, das die Folgen ihrer Donut-Exzesse verbarg. Bo fragte sich sicher schon, warum sie sich so in der Öffentlichkeit zeigte.

„Ich glaube, er ist wirklich an dir interessiert“, bemerkte Molly.

„Bo?“ Carly musste ihre Überraschung nicht spielen.

„Genau der.“

Rebecca schaute zu Bo. „Warum machst du nicht den ersten Schritt, bevor er geht?“

„Jetzt hör schon auf.“ Carly verdrehte die Augen. „Das würde ich nie tun.“

„Wieso nicht?“

„Weil ich mich immer noch verheiratet fühle.“

Bevor eine der Freundinnen antworten konnte, wurde das Tor geöffnet, und mehrere Kinder liefen fröhlich in das Schwimmbad. Ihnen folgten drei Erwachsene.

Carlys Herz schlug bis zum Hals, als sie Megans Schwester Angela und ihre Kinder erkannte.

Das allein hätte schon gereicht, um sie nervös zu machen, aber als Greg mit Megan am Arm durch das Tor kam, wollte Carly sich am liebsten im Pool verstecken, denn Megan war die Frau, mit der Greg jetzt zusammen war.

Ihr Bauch schien ihr plötzlich viel zu dick zu sein, und sie wollte nur noch schnell verschwinden.

Okay, wahrscheinlich fühlten Greg und Megan sich auch gerade nicht wohl, denn sie lächelten nicht mehr, nachdem sie sie erblickt hatten. Sie konnten sich aber gegenseitig trösten, und Carly war allein in dieser unangenehmen Situation.

„Oh, Carly, nie hätte ich gedacht, dass sie herkommen würden.“

Carly war nicht sicher, ob Molly oder Rebecca gesprochen hatte. Sie wusste nur, dass sie nicht mehr bleiben konnte.

„Meine Güte, ich kann gar nicht glauben, wie spät es schon ist. Ich muss gehen.“

„Ich bringe dich nach Hause“, bot Molly an.

„Mach dir keine Mühe. Genieß lieber das schöne Wetter.“ Carly zwang sich zu einem Lächeln. „Und mir kann es gar nicht schaden, wenn ich mich etwas bewege.“

Glücklicherweise hatten Greg und Megan einen Platz am flachen Ende des Schwimmbades gefunden, sodass Carly schnell zur Liege ging, ihre Sandalen anzog und alle Utensilien in ihre Sporttasche steckte. Dann marschierte sie durch das Tor und ging zum Parkplatz.

Der Weg nach Hause war noch lang, aber das war ihr egal, denn sie wollte keine Minute länger im Schwimmbad bleiben.

Außerdem könnte sie unterwegs ein Taxi anhalten.

Als sie über den Parkplatz ging, stieß sie mit einem muskulösen Mann zusammen. Sie schnappte nach Luft und nahm den Duft eines herben Männerparfums wahr.

Da öffnete sie die Augen und sah Bo vor sich stehen.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er.

Sie öffnete den Mund, aber ihr fehlten die Worte, und sie biss sich auf die Unterlippe. Als eine Träne ihre Wange hinunterrollte, wischte Bo sie sanft weg.

Dann legte er den Arm um sie und führte sie zu seinem Wagen. „Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.“

Carly war nicht in der Lage zu widersprechen, selbst wenn sie gewollt hätte. Als sie mit Bo ging, fühlte sie sich plötzlich mutiger und weniger verheiratet.

2. KAPITEL

Bo öffnete die Beifahrertür seines Pick-ups und sah zu, wie die attraktive Blondine ihre Tasche ins Auto legte und dann einstieg.

Ein übergroßes, blaues T-Shirt bedeckte ihren Badeanzug, konnte aber die langen, prachtvollen Beine nicht verbergen.

An den Füßen trug sie weiße Sandalen mit hohen Absätzen, und die Strasssteine auf den Riemchen lenkten die Aufmerksamkeit auf ihre kirschrot lackierten Zehennägel.

Alles in allem war Carly Alderson eine Frau, die die Blicke auf sich zog, aber Bo verkniff es sich, sie anzustarren. Sonst könnte sie noch denken, dass er gewisse Absichten hatte, was aber nicht stimmte. Selbst wenn er sie bedauerte, ließ er sich mit solchen reichen, an Luxus gewöhnten Frauen nicht ein.

„Ein kluger Mann kann sich das nicht leisten“, hatte Onkel Roy immer gesagt, bevor er hinzufügte, „und ich spreche nicht nur über Geld, mein Sohn.“

Bo stieg in den Wagen und ließ den Motor an.

Unter normalen Umständen hätte er sich nicht um Carly bemüht, aber wenn es um Tränen ging, konnte er nicht wegsehen. Besonders, wenn die Tränen echt waren.

Die Scheidung hatte ihr sehr zugesetzt, und ihren Ex-Mann mit einer anderen Frau zu sehen hatte ihr sicher wehgetan.

Natürlich hatte Greg Banning auch nicht gerade glücklich ausgesehen, als er Carly im Schwimmbad bemerkt hatte, denn sein Lächeln war ganz schnell verschwunden.

Wahrscheinlich hat er Schuldgefühle, vermutete Bo.

Vielleicht bedauerte Greg inzwischen die Scheidung. Schließlich hatte er eine großzügige Abfindung gezahlt und Carly das Haus überlassen. Das zumindest hatte sie Bo an dem Tag erzählt, als er sie mit roten und verweinten Augen und einer Tüte Cookies zu Hause gefunden hatte.

Scheidungen konnten böse enden. Bo kannte Fälle, bei denen ehemals glückliche Paare sich in bösartige, egoistische Wesen verwandelten, selbst wenn Kinder beteiligt waren, die sich nach Liebe und Stabilität sehnten.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mann so großzügig wie Greg war, wenn er nicht noch Gefühle für Carly hatte.

Obwohl Bo sich auf die Fahrt konzentrieren wollte, sah er kurz zur Seite und fing Carlys Blick auf.

Sie lächelte ihn an. „Das ist sehr freundlich von Ihnen.“

„Kein Problem. Ich helfe Ihnen gern.“

Während er aus dem Parkplatz auf die Straße fuhr, sah Bo nach vorn statt auf die nackten Beine seiner hübschen Beifahrerin.

„Ich kann nicht glauben, dass Greg im Schwimmbad ist“, bemerkte sie. „Und das mitten am Tag. Früher hat er sich nie freigenommen.“

Darauf wusste Bo keine Antwort. „Sicher hat er auch nicht damit gerechnet, Sie dort zu treffen, Carly.“

„Meine Nachbarinnen dachten, es wäre gut, wenn ich einmal ausginge. Nicht zu fassen, dass sie mich zu so etwas Dummem überredet haben. Eher wird es im August einen Blizzard geben, als dass ich mich wieder im Schwimmbad sehen lasse – erst recht nicht in diesem Aufzug.“

„Wieso?“

Sie blickte auf ihr verwaschenes blaues T-Shirt. „Besonders schick sehe ich nicht aus.“

„Mir gefallen Sie.“

„Vielen Dank.“ Sie lächelte, während sie die Arme vor der Brust verschränkte und Bo zweifelnd ansah. „Sie wissen genau, was Sie tun müssen, damit eine Frau sich wohlfühlt.“

Bei ihren Worten musste Bo plötzlich an Sex denken. Er wusste schon, wie er eine Frau glücklich machen konnte, aber Carly war für ihn tabu. Sie war zu verletzlich und nicht gerade die passende Frau für einen einfachen Handwerker.

Wenn es ihm aber gelang, sie für einen kurzen Moment ihre Sorgen vergessen zu lassen, dann wäre er schon zufrieden.

„Ich weiß gar nicht, warum Sie so selbstkritisch sind“, wunderte er sich.

Wieder zog sie an ihrem T-Shirt, von denen er auch einige in der Schublade hatte. „Sehen Sie mich doch an.“

Er hatte sie angesehen – mehr als für einen Mann gut war, der sich eigentlich nicht mit einer Schönheit in Designer-Kleidung, kostbarem Schmuck und allem erdenklichen Luxus einlassen wollte.

„Schon vor Jahren hätte ich es wegwerfen sollen“, fügte sie hinzu.

„Kleider machen einen Menschen nicht aus, Carly. Das, was darunter liegt, zählt.“ Wieder stellte er sich ihren Körper vor, der von dem Shirt bedeckt wurde, an die langen Beine, mit denen sie einen Mann umklammern konnte.

Verdammt, an so etwas wollte er überhaupt nicht denken. „Sie sehen echt und außerdem hübsch aus. Wo also liegt das Problem?“, fragte er, um auf andere Gedanken zu kommen.

„Danke für das Kompliment, aber ich bin nicht einmal geschminkt. Meine Haare sind nicht frisiert, und ich müsste über meinem Badeanzug etwas anderes tragen.“

Sie kannte ihn nicht besonders gut, und Bo beschloss, ihr etwas klarzumachen. „Ich sage nie etwas, was ich nicht so meine.“

Wirklich nicht?

Sie sah Bo gründlich an. Sein Blick wirkte aufrichtig, und Carly fand den Mann attraktiv und anziehend. Einen Moment lang fragte sie sich, ob ihre Freundinnen recht hatten, und ob Bo wirklich an ihr als Frau interessiert war.

Oder war er einfach nur freundlich?

Ihm war es gelungen, sie zu necken und ein Lächeln hervorzulocken, als sie sich so elend gefühlt hatte.

„Entschuldigung“, warf sie ein. „Ich wollte nicht undankbar klingen, aber ich fühle mich heute nicht besonders hübsch. Sie können mich auch nicht von dieser Meinung abbringen.“

„Wahre Schönheit kommt von innen, Carly.“

Den Spruch kannte sie, aber sie glaubte nicht daran. Ihre Mutter hatte ihr etwas Ähnliches erzählt, als sie ein Teenager war. Damals hatte ein Kind in der Schule sie auf ihre Zähne anspielend Bucky Biber genannt. Danach wollte sie ihre Zähne richten lassen, und sie hatte sogar ihren Vater darauf angesprochen.

„Bist du wahnsinnig?“, hatte er gefragt. „Die Krankenversicherung zahlt nichts für eine kosmetische Behandlung. Außerdem wird niemand deine Zähne bemerken, wenn du den Mund hältst.“

Sie hatte eine Zahnspange bekommen und die Zähne später überkronen lassen – nachdem sie mit Greg verheiratet war. Danach war sie selbstbewusster geworden.

„Der Charakter ist wichtiger als äußere Schönheit“, fügte Bo hinzu.

„Jetzt klingen Sie wie ein Therapeut.“

„Ich verfüge nur über einen gesunden Menschenverstand, und es fällt mir leicht, hinter die Fassade eines Menschen zu blicken.“

Wunderbar. Carly hoffte, dass er nicht hinter ihre schauen konnte, denn es gab Dinge in ihrem Leben, die sie nie jemandem mitgeteilt hatte, nicht einmal Greg.

„Sie sind doch eine Frau, die etwas vorzuweisen hat.“

„Früher traf das vielleicht zu“, korrigierte sie ihn, „aber später hat sich alles um meinen Mann und meine Ehe gedreht. Heute weiß ich nicht mehr genau, wer ich eigentlich bin.“

„Wahrscheinlich derselbe Mensch wie damals, nur älter und weiser.“

Was ihr Äußeres anging, stimmte das nicht, denn sie war zum Glück kein übergewichtiger Teenager mit schiefen Zähnen mehr.

Bevor sie sich noch weiter an die Vergangenheit erinnern konnte, fuhr Bo in die großzügige Einfahrt bis vor das Haus und hielt an.

Obwohl Carly unbedingt hineingehen wollte, um sich umzuziehen und im Kühlschrank nach einer Packung Eis zu suchen, zögerte sie noch.

„Danke fürs Nachhausebringen.“

„Gern geschehen.“

Sie sah Bo an und erkannte Mitgefühl in seinem Blick.

Oder fühlte er sich mit ihr verbunden?

Während der Renovierungsarbeiten im Haus hatten sie sich häufiger unterhalten, aber heute war das Gespräch persönlicher und intimer geworden.

Carly war nicht besonders mutig, aber sie musste ihm eine Frage stellen. „Glauben Sie, wir können Freunde werden?“

Einen Moment lang schien er zu überlegen, aber dann schenkte er ihr ein Lächeln, das ihr Herz erwärmte und ihr sehr guttat. „Ich glaube schon.“

Molly und Rebecca hatten Carly vorgeschlagen, sich einen Liebhaber zu suchen, damit sie wieder am Leben teilnahm, aber bisher hatte sie nur ein Leben mit Greg führen wollen.

Es war jedoch schön festzustellen, dass ein anderer Mann sie gut aussehend fand. Auch wenn sie selbst anderer Meinung war.

„Ich hatte noch nie eine rein freundschaftliche Beziehung mit einer Frau“, meinte er. „Das ist das erste Mal.“

Carly hatte kaum Freundschaften geschlossen, besonders nicht mit Männern. „Ich auch nicht. Also erleben wir beide etwas Neues.“

„Richtig.“ Er grinste sie an, und sie fand, dass sich die Sache mit der Freundschaft gut anhörte. Vielleicht würde irgendwann einmal mehr daraus.

„Danke, Bo, und nicht nur für die Fahrt, sondern auch für die aufmunternden Worte.“

„Keine Ursache.“

Sie nickte, stieg aus dem Pick-up und ging zur Haustür.

Es war schon verlockend, einen Freund zu haben.

Als sie jedoch den Schlüssel ins Schloss steckte, musste sie an die Freunde denken, die sie in der Vergangenheit im Stich gelassen hatten.

Und an die beiden Männer, die sie hätten uneingeschränkt lieben sollen: ihren Vater und ihren Ehemann.

Am Abend stand Bo mit Lebensmitteln bepackt vor Carlys Haus. Während er die Hand hob, um zu klingeln, fragte er sich, ob es wirklich klug war, sich mit einer Frau zu befassen, die eigentlich nicht nur seine Freundin sein konnte.

Trotzdem klingelte er.

Bo musste lange warten, und als er gerade weggehen wollte, kam Carly an die Tür.

Sie öffnete sie nur ein wenig und schien sich fast dahinter zu verstecken. Dabei sah sie Bo fassungslos an.

Okay, sie war also überrascht, ihn zu sehen. Er staunte über sich selbst, dass er hier war, aber als Carly ihn gefragt hatte, ob sie Freundschaft schließen konnten, hatte er erkannt, wie dringend sie jemanden brauchte, der ehrlich zu ihr war. Er wollte gern dieser Mensch sein.

Natürlich wusste er nicht, wie lange die Freundschaft dauerte, aber er würde Carly einige Ratschläge geben – vielleicht, wie sie ihren Mann zurückbekommen konnte –, wenn sie das wollte.

Jedenfalls hoffte Bo, dass sie in einer späteren Beziehung mehr Glück hatte.

Carly räusperte sich. „Hey.“

Bo zeigte die braune Tüte mit den Lebensmitteln. „Ich dachte, Sie könnten etwas Gesellschaft gebrauchen. Und etwas, womit Sie sich besser fühlen.“

„Was wäre das?“

Er griff in die Tüte und holte eine große Packung mit Cookies heraus. „Vor einigen Monaten sagten Sie mir, das sei Ihre Droge.“ Dann holte er eine Flasche Merlot aus der Tüte. „Das hier ist meine.“

Da lachte Carly fröhlich, und Bo war froh, dass er vorbeigekommen war.

„Lassen Sie mich jetzt hinein?“, fragte er mit einem Blick auf den Türgriff, den sie festhielt.

„Natürlich.“ Sie trat zur Seite, und nachdem er im Haus war, schloss sie die Tür und führte ihn ins Fernsehzimmer.

Als er hinter ihr her ging, nahm er ihre bequeme Kleidung und den Schwung ihrer Hüften wahr, während sie auf ihren hübschen Füßen über den teuren Holzboden ging.

Carly trug eine tief sitzende graue Sporthose sowie ein weißes T-Shirt, das etwas vom Bauch frei ließ. Ihm gefiel, was sie trug, aber Carly zog am Saum des T-Shirts, als sei es ihr peinlich, ein Stück Haut zu zeigen.

Er konnte nicht verstehen, warum sie verlegen war, denn sie sah gut aus, auch wenn sie ihr Haar zu einem zerzausten Pferdeschwanz gebunden hatte. Obwohl er sie früher perfekt gestylt gesehen hatte, gefiel sie ihm so viel besser, denn sie wirkte nicht wie ein unnahbares Model.

Als sie im Fernsehzimmer angekommen waren, das nicht mehr so aussah wie das Titelbild der Zeitschrift Better Homes and Gardens, drehte sie sich zu Bo um und zog dabei wieder an ihrem Shirt. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie vorbeikommen …“

„Tun Sie es nicht.“

„Was?“

„Sich entschuldigen, denn das wird allmählich langweilig.“

Verwirrt sah sie ihn an. „Wovon reden Sie?“

„Sie sind viel attraktiver und hübscher, wenn Sie ganz natürlich sind.“

Und das war sogar noch untertrieben.

Während er in ihrem Haus gearbeitet hatte, war er davon ausgegangen, dass sie nur mit ihrem Äußeren beschäftigt war. Aber heute Abend sah sie verdammt sexy aus und wusste es nicht einmal.

Bei ihrem Aussehen war sie alles andere als selbstsicher. Sie wusste anscheinend wirklich nicht, dass sie einem Mann den Kopf verdrehen konnte.

Er fühlte sich verpflichtet, sie ein bisschen aufzurichten. „Wo ist er?“

„Wer?“

Bo lächelte. „Sie sehen so aus, als hätten Sie gerade Ihren Liebhaber weggeschickt, um nicht auf frischer Tat ertappt zu werden.“

Sie riss die Augen entsetzt auf. „Ich habe keinen Liebhaber.“

Vielleicht noch nicht, aber sie verdiente einen. Bo vermutete, dass sie nicht lange allein bleiben würde.

Er stellte den Wein auf dem gläsernen Beistelltisch ab, auf dem sich eine Fernsehzeitung, ein Rätselbuch, ein Stift, eine zerknüllte Serviette und ein fast leeres Glas Milch befanden.

„Meine Haushaltshilfe kommt morgen“, bemerkte Carly.

Bo hoffte, sie würde sich nicht dafür entschuldigen, dass nicht alles aufgeräumt war.

Als er noch in ihrem Haus gearbeitet hatte, war immer alles perfekt, und man fühlte sich eher wie in einem Museum als in einem gemütlichen Heim.

Es schien jedoch so, als habe sie mehr Zeit in diesem kleinen Zimmer verbracht als in den anderen Räumen des großen, leeren Hauses.

Er fragte sich, ob sie sich verloren fühlte, da sie jetzt allein lebte.

„Die anderen Zimmer sind alle aufgeräumt“, fügte sie hinzu und sah sich um.

„Wenn Sie sich noch einmal für irgendetwas entschuldigen, dann bewerfe ich Sie mit den Keksen.“

Sie lächelte schüchtern, und er fragte sich, wieso. Andererseits wollte er nicht zu neugierig sein.

Bo wies auf den Merlot. „Haben Sie etwas, womit wir die Flasche öffnen können?“

„Sicher, ich bin gleich wieder da.“

Während sie weg war, öffnete er die Packung mit den Keksen, und als Carly mit Gläsern und einem Korkenzieher zurückkehrte, bot er ihr einen an.

„Nein, danke.“

„Wollen Sie fasten?“

„Kekse und Wein passen nicht zusammen.“

Er zuckte mit den Schultern, öffnete die Flasche und schenkte den Wein in die Gläser. Carly nahm das Glas, das Bo ihr reichte, und als er sich auf eine Seite des Ledersofas setzte, nahm sie auf der anderen Seite Platz.

„Woher kommt Ihr Wunsch nach Perfektion?“, erkundigte er sich.

„Wie bitte?“

Er wiederholte die Frage nicht, und Carly war froh darüber.

Trotzdem war sie neugierig über seine Meinung. „Bei Ihnen klingt es so, als sei es eine Charakterschwäche, wenn man sich sehr um etwas bemüht.“

„Wenn man übertreibt, kann es das sein.“

„Sie verstehen das nicht.“

„Ich würde es gern.“

Lange dachte sie nach, wie sie ihm ihre Ansicht erklären konnte. Oberflächlich betrachtet, mochte sie eitel sein, aber das entsprach absolut nicht der Wahrheit.

„Mein Mann sollte einfach glücklich sein, dass er mich geheiratet hatte.“

Bo erwiderte nichts, aber das brauchte er auch nicht. Trotz all ihrer Bemühungen, Greg zufriedenzustellen, hatte sie keinen Erfolg gehabt. Das war für ihn und die gesamte Nachbarschaft offensichtlich.

Carly überlegte, wie sie ehrlich antworten konnte, ohne zu viel preiszugeben. Das war sicher nicht einfach, aber sie würde es versuchen.

„Ich wuchs in einer Arbeiterfamilie auf, bei der es kein Geld für Extrawünsche gab. Als Greg mich seinen Eltern vorstellte, wollte ich unbedingt zu ihnen passen und akzeptiert werden.“

„Greg hätte Sie sicher nicht geheiratet, wenn Sie nicht schon gut genug für ihn gewesen wären.“

Bo hatte teilweise recht, aber er hatte keine Ahnung, wie unvollkommen sie gewesen war, und wie hart sie kämpfen musste, um sich selbst zu beweisen.

„Sie kennen die Bannings nicht“, meinte sie. Die Aldersons kannte er ebenso wenig, und beide Familien waren völlig gegensätzlich.

Bo trank einen Schluck Merlot. „Erzählen Sie mir von ihnen.“

„Gregs Eltern? Sie sind unvorstellbar reich und haben große Erwartungen an ihren Sohn und dessen Frau.“

„Haben sie Sie schlecht behandelt?“

„Nein, eigentlich nicht. Gregory war ganz in Ordnung, aber Vanessa konnte man kaum zufriedenstellen.“

„Aber sie haben es trotzdem versucht.“ Das klang wie eine Feststellung und nicht wie eine Frage.

Sie nickte. „Genau, und es war ein ständiger Kampf.“

Carly dachte an Ereignisse in der Vergangenheit, über die sie berichten konnte. „Zur Hochzeit bekamen wir von meiner Mutter und meiner Schwester eine teure Kaffeekanne, aber die Bannings gaben uns so viel Geld, dass wir ein Haus im Danbury Way kaufen konnten.“

„Liebe lässt sich nicht am Wert eines Geschenkes bemessen.“

„Das tue ich auch nicht, das können Sie mir glauben. Meine Mutter liebt mich genauso sehr, wie die Bannings Greg lieben, aber sie ist erwerbsunfähig, und es fällt ihr schwer, jeden Monat über die Runden zu kommen.“

„Das tut mir leid.“

„Ich schicke ihr regelmäßig Geld, das sie jedoch nicht gern annimmt.“

„Kann ich verstehen. Ich wollte meinen Eltern schon lange ein neues Haus in einer besseren Gegend bauen, aber sie möchten ihre gewohnte Umgebung nicht verlassen. Trotzdem bin ich nicht ganz sicher, ob sie wirklich nicht umziehen wollen, oder ob sie zu stolz sind, Hilfe von mir anzunehmen.“

„Mir scheint, dass wir einige Gemeinsamkeiten haben.“

„Vielleicht.“ Er nahm noch einen Schluck Wein.

Carly trank auch etwas und spielte mit dem Stiel ihres Glases. „Innerhalb von zwei Jahren entwickelte Greg sich zum erfolgreichen Unternehmer in der Firma seines Vaters, und er verdiente sehr gut. Ich brauchte nicht zu arbeiten, sodass ich mich um den Haushalt kümmern konnte und mich bemühte, eine gute Ehefrau zu werden.“

Das hatte ihr jedoch nicht viel genützt.

Zuerst hatte Carly an ihrer äußeren Erscheinung gearbeitet, denn darauf konnte sie Einfluss nehmen. Sie hatte sogar eine Nasenoperation machen lassen, aber das teilte sie Bo nicht mit. Außerdem sagte sie nichts über ihr tägliches Fitnesstraining mit einem persönlichen Trainer, über die regelmäßigen Besuche im Schönheitssalon und die Einkäufe, mit denen sie ihre Garderobe ständig aktualisierte.

„Ich habe immer fleißig das Haus dekoriert“, gab sie zu. „Als Greg eine noch bessere Position im Unternehmen bekam, kauften wir das Nachbarhaus, rissen beide Häuser ab und bauten ein größeres, prunkvolleres auf.“

Pläne für eine Veranda verwandelten sich in Pläne für einen Pool, und bald hatten sie das größte, eindrucksvollste Haus in der Stadt.

Carly hatte die Veränderungen vorangetrieben, aber Greg war zufrieden damit. Zumindest am Anfang.

„Aber das neue Haus war nicht genug, oder?“, fragte Bo.

„Offensichtlich nicht.“ Carly trank noch einen Schluck Wein. „Die Nachbarn kamen alle und bestaunten und bewunderten das Haus, aber hinter unserem Rücken nannten sie es zu protzig für die Umgebung.“

Aufgrund der exklusiven Kochkurse, die sie besucht hatte, war Carly bald als beliebte Gastgeberin bekannt. Jeder freute sich, wenn er zu einer ihrer Partys oder einem ihrer Empfänge eingeladen wurde. Zumindest war das früher so gewesen, denn sie hatte schon lange keine Gäste mehr gehabt.

„Mir scheint, als hätten Sie sich sehr bemüht, die perfekte Ehefrau zu werden.“

„Und man sieht ja, was es mir genützt hat.“

„Vielleicht hätte Greg es vorgezogen, wenn Sie ganz Sie selbst geblieben wären.“

„Es könnte sein, denn er behauptete, in der Ehe ginge es nicht darum, wie schön man war, wie vollkommen das Haus war oder ob man ein Baby ›nach Plan‹ bekam. Er wollte eine Frau, die ihn liebte, und bei der er so sein konnte, wie er wirklich war.“

In dieser Hinsicht hatte Carly ihn enttäuscht.

Sie war am Boden zerstört, als sie seine Ablehnung gespürt hatte, vor der sie sich immer gefürchtet hatte.

„Mein Stolz war sehr verletzt, als Greg mir sagte, dass er mich nicht mehr liebte, und da habe ich ihn aus dem Haus geworfen. Hätte ich das nicht getan …“

„Hätten Sie es nicht getan, wären Sie jetzt nicht allein“, murmelte Bo.

„So ist es.“

„Wie viele Geschwister haben Sie?“, erkundigte er sich.

„Nur eine Schwester. Shelby.“ Mehr wollte Carly nicht sagen.

„Lebt sie in Texas?“

Carly nickte. „Woher wissen Sie das?“

„Nur eine Vermutung. Aber da Sie diesen weichen Südstaatenakzent haben, liegt die Schlussfolgerung nahe.“

„Ich bin in Dallas geboren und aufgewachsen.“

„Warum melden Sie sich nicht bei Ihrer Familie, wenn Sie sich allein fühlen?“

So einfach, wie es für ihn schien, war es nicht. Ihre Familie war weit weg, und ihre Mutter ging selten aus dem Haus. „Ich könnte einmal nach Texas fliegen.“

„Oder sie hierher bringen.“

Das hatte sie einmal versucht. Für die Verlobungsfeier.

Zuerst hatte sie immer Ausreden gefunden, wenn Greg die Familien zusammenbringen wollte. Als ein Treffen jedoch nicht mehr aufzuschieben war, instruierte sie ihre Mutter und Schwester, wie sie sich „richtig“ verhalten sollten. Bei den Bannings fand ein Dinner statt, und obwohl Antoinette begeistert war, dass ihre älteste Tochter „es geschafft“ hatte, und sich nie mehr Sorgen machen musste, fühlte sie sich von der steifen und formellen Atmosphäre überwältigt.

Dank Carlys Instruktionen hatten Antoinette und Shelby den Abend überstanden, aber sich die ganze Zeit zu verstellen war zu anstrengend für Antoinette gewesen. Deshalb graute ihr schon vor der eigentlichen Hochzeit.

Carly war auch die ganze Zeit angespannt gewesen, denn sie befürchtete, Greg und seine Familie könnten herausfinden, dass sie gelogen hatte und gar nicht zu ihren Kreisen gehörte.

Der Abend ging ohne Probleme oder Patzer zu Ende, aber als der Hochzeitstermin gekommen war, konnten Antoinette und Shelby nicht teilnehmen.

Shelby, die immer schon für Krisen gesorgt hatte, war schwanger geworden und wusste nicht, wer der Vater des Kindes war. Bevor sie mit Antoinette zur Hochzeit fliegen wollte, hatte sie jedoch eine Fehlgeburt gehabt.

Damit hatten sie einen guten Grund, nicht zur Hochzeit zu kommen, aber für Carly war es schon traurig, in der Kirche nur Freunde und Verwandte der Bannings zu sehen.

Natürlich war sie enttäuscht gewesen, aber gleichzeitig auch erleichtert, da sie nicht ständig darauf achten musste, ob Shelby während der Hochzeit in ein Fettnäpfchen nach dem anderen trat.

Trotzdem hatte Bo recht.

„Heute Abend rufe ich meine Mutter an“, meinte sie. Sie würde sie jedoch nicht drängen, nach New York zu fliegen, denn sie hatte nichts dagegen, die Vergangenheit auf Distanz zu halten.

„Was ist mit Ihnen?“, fragte sie Bo nun, um von ihrer Familie abzulenken. „Haben Sie Geschwister?“

„Nur Brüder: Pete Jr., Rick und J. J.“

„Verstehen Sie sich gut?“

„Ja.“ Er lächelte, und man sah ihm die Zuneigung zu seiner Familie an. „Meine Eltern haben uns ermutigt, miteinander in einen gesunden Wettstreit zu treten, besonders beim Sport. Trotzdem achteten sie auch darauf, dass wir alle loyal sind. Manchmal streiten wir uns, aber wir unterstützen uns auch gegenseitig.“

Carly gefiel es, dass er seine Familie liebte, und sie würde gern einmal die Menschen kennenlernen, bei denen so ein sympathischer Mann aufgewachsen war.

Eine Weile unterhielten sie sich über alles Mögliche, und Carly war begeistert von Bos Freundlichkeit und seinem Humor, den sie früher gar nicht bemerkt hatte.

Bevor sie noch mehr Wein anbieten konnte, stellte er sein Glas auf den Tisch und stand auf. „Jetzt mache ich mich auf den Weg.“

„Oh“, sagte sie, denn sie wollte ihn noch gar nicht gehen lassen. „In Ordnung.“ Sie bedankte sich, dass er vorbeigekommen war, denn sie hatte sich gern mit ihm unterhalten. Außerdem gefiel ihr sein Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ.

Vielleicht hatten Molly und Rebecca ja recht, und es gab noch ein Leben nach der Scheidung.

Was aber wäre, wenn Bo nicht zurückkäme? Wenn sie etwas gesagt oder getan hätte, um ihn zu vertreiben?

Sie suchte nach einem Grund, ihn einzuladen, aber Bo sollte nicht denken, dass sie an mehr als an seiner Freundschaft interessiert war. Schließlich war sie nicht ganz sicher, ob ihre Ehe wirklich vorbei war.

Da sie keine bessere Idee hatte, wollte sie ihm einen Arbeitsauftrag geben.

„Könnten Sie mir hier ein Bücherregal einbauen?“

Er sah sich gründlich um. „Ja, kein Problem. Am Montag komme ich vorbei und messe alles aus. Dann zeige ich Ihnen verschiedene Holzmuster, von denen Sie das aussuchen können, das Ihnen am besten gefällt.“

„Klingt gut“, erwiderte sie zufrieden.

Sie brachte ihn zur Haustür, und als er an ihr vorbeiging, trafen sich ihre Blicke. Plötzlich geschah etwas zwischen ihnen. Etwas, was Carly fast anfassen konnte.

„Aber ich komme am Montag ganz früh vorbei.“

„Das macht mir nichts aus.“

„Wirklich nicht? Sie sind doch nicht gerade eine Frühaufsteherin.“

Das war sie nicht, aber in letzter Zeit hatte sie nicht gut geschlafen und trank deshalb schon vor dem Morgengrauen ihren Kaffee.

„Ich werde wach sein.“

Und sie freute sich schon darauf, ihn wiederzusehen.

3. KAPITEL

Am Samstagabend saßen Carly, Molly und Rebecca an einem Tisch im Entrée, einem hübschen Restaurant, das sich auf die Nouvelle Cuisine spezialisiert hatte. An den Wochenenden wurde in der Lounge Jazz gespielt.

Die Wände waren in einem warmen Gelb gestrichen, das gut zu dem dunklen Holz und dem massiven Kamin passte. So konnte man hervorragendes Essen in einem romantischen Ambiente genießen.

Das Restaurant gehörte Ed und Marti Vicente, ihren Nachbarn im Danbury Way. Die beiden arbeiteten hart dafür, dass alles reibungslos funktionierte. Marti, eine aparte Rothaarige um Mitte dreißig, hieß alle Gäste freundlich willkommen. Ed, der in der Küche gewesen war, als die Freundinnen ankamen, begrüßte sie an ihrem Tisch und brachte einen Korb mit Brot. „Hallo, Ladies. Was hättet ihr gern zu trinken?“

„Bring uns bitte eine Flasche von deinem besten Champagner“, bat Rebecca den Gastwirt.

„Natürlich.“ Ed grinste und schaute kurz in die Runde. „Ist jemand befördert worden?“

„So könnte man es auch nennen.“ Rebecca lachte. „Carly ist wieder zu haben.“

Ed lächelte Carly an und zwinkerte ihr zu. „Eine schöne Frau wie du bleibt sicher nicht lange allein. Deshalb hole ich schnell den Champagner, bevor du ihn nicht mehr brauchst.“

„Er ist süß, und Marti kann glücklich sein“, meinte Carly, als Ed gegangen war.

„Das stimmt“, antwortete Molly. Sie holte eine Scheibe Baguette aus dem Korb und tunkte sie in ein Schälchen mit Olivenöl und Balsamico-Essig.

Aus lauter Gewohnheit schaute Carly sich die verschiedenen, frisch gebackenen Brotsorten an. Alles war sehr verführerisch, aber sie stellte den Korb schnell wieder zur Seite, weil sie auf die zusätzlichen Kalorien verzichten wollte.

„Eigentlich weiß ich gar nicht, wieso ich mit euch feiere“, gab sie zu. „Ich freue mich gar nicht darauf, irgendwelche Dates zu haben. Die besten Männer sind schon vergeben, und bei meinem Glück finde ich wahrscheinlich nur einen, der übrig geblieben ist.“

„Du musst dich doch gar nicht mit dem Erstbesten verabreden“, meinte Rebecca. „Du solltest wählerisch sein und dich nicht aus lauter Verzweiflung irgendeinem Kerl an den Hals werfen.“

Alles schon erlebt, dachte Carly.

In der Highschool war sie weder bei den Jungen noch bei den Mädchen beliebt gewesen. Sie hatte das immer auf ihre Figur und die schlechten Zähne zurückgeführt.

Da sie keine Freunde hatte, mit denen sie etwas unternehmen konnte, hatte sie sich auf das Lernen konzentriert. Weil sie gute Noten erzielt hatte, wurde ihr ein Vollstipendium für die North Carolina University in Chapel Hill verliehen.

Als eine hartnäckige Magen-Darm-Grippe in der Universität umging, nahm Carly fast zwanzig Pfund ab und passte danach in die schicke Kleidung ihrer Zimmernachbarin. Fast sofort fiel sie den Männern auf, und später verlor sie noch weitere zehn Pfund.

Aus einer Laune heraus war sie in einen Friseursalon neben dem Campus gegangen und hatte sich ihr blondes Haar aufhellen lassen. Im Salon hatte man ihr auch Schminktipps gegeben. Kaum hatte sie ihr Äußeres verändert, da befand sie sich in einer neuen Welt und hatte viele Verabredungen.

„Heiratet Geld“, hatte ihre Mutter ihr und Shelby geraten. „Es ist genauso einfach, sich in einen reichen Mann zu verlieben, wie in einen armen.“

Carly war sich dessen nicht so sicher gewesen.

Anfangs war sie mit irgendwelchen Typen unterwegs gewesen, aber dann achtete sie mehr darauf, mit wem sie ausging.

Irgendwann lernte sie Greg auf einer Party kennen. Der gut aussehende und sympathische Student besuchte einen Studiengang für Manager und stammte aus einer wohlhabenden Familie.

Wundersamerweise verstanden sie sich auf Anhieb.

Sich Greg Banning zu angeln war unwahrscheinliches Glück für ein armes Mädchen aus einem kleinen Kaff in Texas, und Carly wurde bald von allen Studentinnen ihres Semesters beneidet.

Jetzt aber war ihr Glück zu Ende, und sie war wieder allein.

Weil ihr das Leben als Single nicht gerade erstrebenswert schien, war Carly nicht sicher, warum Molly und Rebecca mit ihr feiern wollten.

„Da wir gerade von Dates reden“, bemerkte Molly nun an Rebecca gewandt, „gibt es jemanden, mit dem du dich triffst?“

„Nein, noch nicht.“

„Dann sollten wir vielleicht noch mal ein Straßenfest organisieren“, schlug Molly vor. „Dort wirst du sicher jemanden kennenlernen.“

„Das wäre schön.“ Rebecca trank einen Schluck Wasser. „Was wisst ihr eigentlich über Jack Lever?“

Jack war ein Anwalt, der auch im Danbury Way wohnte. Er war ein attraktiver Witwer in den Dreißigern mit blondem Haar und braunen Augen.

„Ein liebenswerter Mann“, meinte Molly, „aber er scheint noch um seine Frau zu trauern.“

Carly stimmte zu. „Patricia Lever ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, nachdem ihr zweites Kind geboren war. Sicher war es hart für ihn, seine Frau zu verlieren und mit zwei kleinen Kindern zurückzubleiben, besonders, da er sehr beschäftigt ist. Jetzt kümmert sich eine Nanny um die Kinder.“

„Eine von vielen“, meinte Molly. „Jack soll ziemlich anspruchsvoll sein.“

„Aber wenn du interessiert bist“, fügte Carly hinzu, „dann ergreif doch die Chance.“

Rebecca äußerte sich nicht, aber Carly vermutete, dass sie etwas unternehmen wollte.

„Apropos … Männern eine Chance geben …“ Molly sah Carly direkt in die Augen. „Was hältst du denn von einem hübschen Intermezzo mit Bo?“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, irgendwelche Dates zu haben“, gab Carly zu, obwohl ihr Bo gut gefiel.

Rebecca holte sich eine Scheibe Pumpernickel aus dem Brotkorb. „Vielleicht könntest du Bo zum Straßenfest einladen, denn so viele ansprechende Männer gibt es nicht. Er scheint doch ganz okay zu sein und sieht gut aus, wenn man diesen kernigen Männertyp mag.“

Bevor die Freundinnen das Thema weiter verfolgen konnten, kehrte Ed mit einer Flasche Champagner, einem Sektkühler und drei Sektflöten zurück. Nachdem er die Flasche geöffnet hatte, schenkte er Rebecca ein.

„Danke.“

Molly legte eine Hand über das Glas. „Nein danke, ich trinke heute nur Wasser.“

Ed erfüllte ihre Bitte und ging dann in die Küche zurück.

„Du lässt dir den Champagner entgehen?“, fragte Rebecca erstaunt.

Carly wunderte sich ebenfalls. Sie war zwar auch nicht in Feierlaune, aber es war merkwürdig, dass Molly sich nicht beteiligen wollte.

„Ich …“ Molly räusperte sich und wirkte verlegen. „Ich bin schwanger.“

Rebecca verschluckte sich fast an ihrem Brot. „Bist du sicher? Ich wusste gar nicht, dass du mit einem Mann zusammen bist.“

„Das bin ich auch nicht.“

Carly wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Wäre es unhöflich, sich nach dem Vater zu erkundigen?

Natürlich, wenn Molly gar keinen Freund hatte … „Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst“, meinte sie. Schließlich legte sie auch Wert auf ihre Privatsphäre, da schuldete sie ihren Freundinnen den gleichen Respekt. „Warst du auf einer Samenbank?“

Mollys Wangen verfärbten sich, aber sie schwieg.

Carly insistierte nicht weiter und bot der Nachbarin ihre Unterstützung an. „Sehr mutig von dir, alles allein durchzustehen. Aber herzlichen Glückwunsch, Molly. Du wirst bestimmt eine wundervolle Mutter.“

„Eine fantastische“, fügte Rebecca hinzu. „Wie weit bist du?“

„Ungefähr im vierten Monat.“

Eine lange Zeit, um ein Geheimnis zu bewahren, besonders vor den Freundinnen. Carly beugte sich vor. „Warum hast du es so lange für dich behalten?“

Molly spielte mit dem Stiel ihres leeren Glases, bevor sie Carly freundlich anlächelte. „Ich wusste doch, wie sehr du dir ein Baby gewünscht hast, und …“ Sie zuckte mit den Schultern.

Carly hatte erst ein Baby gewollt, als sie erkannte, dass ihre Ehe gefährdet war, und sie alles versuchen wollte, um sie zu retten.

In den Anfangsjahren hatte Greg häufiger von Kindern gesprochen, aber Carly war noch nicht bereit dafür. In Wahrheit hatte sie Angst vor der Schwangerschaft gehabt, vor der Gewichtszunahme und vor Schwangerschaftsstreifen. Noch mehr hatte sie befürchtet, Greg an eine andere Frau zu verlieren, wenn sie dick und ...

Autor

Karen Templeton
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Janice Maynard
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