Die Diebin und der Ritter des Königs

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London im 13. Jahrhundert: Ein Fremder macht der armen Waisen Eva Siward ein verlockendes Angebot. Viele Silberstücke erwarten sie, wenn sie Ritter Nicholas D’Amberly ein wichtiges Schriftstück entwendet. Eva lässt sich auf das gewagte Unterfangen ein – und besiegelt damit ihr Schicksal. Denn der Bestohlene verfolgt sie quer durch London, und ihre Flucht endet in seinen Armen. Erst will Nicholas ihre Beute zurück, dann raubt er ihr einen Kuss, der ebenso bedrohlich wie verheißungsvoll ist! Plötzlich muss die Diebin gegen ihr eigenes Verlangen ankämpfen, gegen ihren sehnsüchtigen Wunsch von einer Zukunft mit ihrem Herzensritter …


  • Erscheinungstag 18.03.2025
  • Bandnummer 423
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531597
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Southwark, London, Sommer 1227

Ein geborener Sünder, zweifelte Nicholas D’Amberly nicht am sündhaften Ende seiner Tage. Dennoch hoffte er, der Allmächtige würde seiner Seele verzeihen.

Aber soeben hatte eine andere Seele seine Aufmerksamkeit gefesselt. Nicht weit entfernt, am anderen Ende der rappelvollen Taverne im Londoner Southwark, stand eine junge Frau. In dieser heruntergekommenen, mit zahlreichen zwielichtigen Gestalten gefüllten Spelunke wirkte sie ziemlich deplatziert, und die schüchternen Blicke, die sie ihm zuwarf, verblüfften ihn.

Nun beendete er sein Gespräch mit dem Informanten, den er hier traf, Bruder Michael von St. Albans. Aber bevor der selbstgerechte scheinheilige Mönch die Münze ergriff, die Nicholas ihm anbot, verbreitete er sich wortreich über die Gefahren der Unzucht und verschiedener lasterhafter Ausschweifungen.

Welch ein abscheulicher Heuchler … Trotzdem war er ein nützlicher Zuträger, da er dem Gefolge des Bischofs von Winchester angehörte und sich nur zu gern für seine Mitteilungen bezahlen ließ. Gut zu gebrauchen, weil London immer noch von Verschwörungen und geflüsterten Gerüchten über Hochverrat heimgesucht wurde …

Diese Aktivitäten wollte Nicholas auskundschaften. Soeben hatte er dem Mönch ein Schriftstück mit geheimem Inhalt abgekauft, weil er Hinweise auf die Schuld oder Unschuld des Bischofs erhoffte. Beteiligten sich der ranghohe Geistliche und Mitglieder seines Gefolges an verräterischen Umtrieben? Paktierten sie mit einer Untergrundgruppe, die angeblich umstürzlerische Aktionen gegen die Krone plante?

Da der Bischof von Winchester zu den mächtigsten Männern im Königreich zählte, musste Nicholas äußerst vorsichtig operieren. Zusammen mit seinen Gefährten vom Geheimbund „Ritterkraft“ war er verpflichtet, solche Komplotte zu entlarven und niederzuschlagen. Für König Henry den Dritten. Für die Krone von England. Und für seinen Lehnsherrn Hubert de Burgh, bis vor Kurzem Regent von England.

Zum Glück ließen sich zahllose Leute kaufen, insbesondere widerwärtige habgierige Mönche. Das nutzte er auch an diesem Abend in der Taverne aus, bei seinem Treffen mit Bruder Michael. Diskret vertauschten sie die Münze und das Pergament, während sie aneinander vorbeischlenderten.

Erneut spähte Nicholas zu der jungen Frau hinüber, die nicht hierherpasste und ihn musterte. Mit exquisiten Gesichtszügen, das feuerrote Haar unter einem durchsichtigen Schleier, war sie eine Schönheit, und die Naivität, die sie ausstrahlte, erschreckte ihn.

Ohne den Blickkontakt mit ihr zu unterbrechen, schob er das zusammengerollte Pergament in den Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing. Der weite Umhang verdeckte die blitzschnelle Geste.

Dann hob er seinen Becher, nahm einen Schluck Ale und beobachtete erstaunt, wie sich die junge Dame durch das Gedränge einen Weg zu ihm bahnte. Welch eine Überraschung … Und irgendetwas an ihrer Haltung, an der Art, wie sie sich bewegte, wirkte falsch, das Lächeln zu süß, viel zu unschuldig für eine so üble Kaschemme.

Aber – großer Gott, je näher sie herankam, desto echter erschien ihm das naive Lächeln. Was um alles in der Welt hatte sie in dieser vulgären schmutzigen Taverne verloren, wo sich alle möglichen Sorten von Schurken versammelten? Was ihr in diesem Dunstkreis zustoßen mochte, wollte er sich gar nicht vorstellen.

Es sei denn, sie ist ein leichtes Mädchen … Nicholas war mit mehreren Londoner Prostituierten befreundet, weil er sie gut für Informationen bezahlte, die sie ihren reichen vornehmen Freiern entlockten. Nein, danach sah diese junge Frau nicht aus – noch nicht.

Plötzlich peinigte ein unerwarteter Kummer sein Herz. In seinem Leben gab es vieles, worauf er nicht stolz war. Aber eher würde die Hölle gefrieren, bevor er diese ahnungslose Unschuld dem Weg des Verderbens folgen ließ. Vielleicht sollte er mit ihr reden, seine Hilfe anbieten …

Während sie sich zu ihm durchzukämpfen suchte, umfing ein alter Knacker ihre Taille, zerrte sie auf seinen Schoß und begrapschte sie unter dem Gejohle seiner Kumpane. Entsetzt schnappte sie nach Luft und wehrte sich erfolglos.

Die Zähne zusammengepresst, erkannte Nicholas, dass er diese Szene nicht ignorieren konnte – obwohl er eigentlich keine Aufmerksamkeit erregen durfte. Und so stellte er seinen Becher beiseite und ging zu der Gruppe, die an einem kleinen Tisch saß, beugte sich vor und starrte den alten Mann an.

„Lassen Sie das Mädchen los.“ Seine Stimme klang ruhig, aber hart und entschlossen genug, um Gehorsam zu erzwingen.

Unbehaglich schluckte der alte Kerl und lockerte seinen Griff. „Nur ein Scherz, Sir, war nicht böse gemeint …“

Nicholas missachtete die armselige Entschuldigung. So etwas hörte er immer wieder, wenn Frauen gegen ihren Willen festgehalten und betatscht wurden. Sein Blick schweifte zu der jungen Dame, die aufgesprungen war und vor ihm stand. Dankbar und eindringlich sah sie ihn an, nickte ihm zu, biss auf ihre Lippen, bevor sie zurückwich und sich abwandte. Fürsorglich beobachtete er sie, um festzustellen, ob sie den Ausgang unbehelligt erreichen würde.

Und da geschah es. Eine pfeilgeschwinde Regung, schneller als ein Wimpernschlag … Ein leichtes Ziehen, das er nicht bemerkt hatte. Obwohl er sorgfältig ausgebildet worden war, um solche winzigen Einzelheiten an beschatteten Personen wahrzunehmen. Gleichwohl hatte er soeben versagt. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen.

Er wusste es … Noch bevor er unter seinem Umhang nach dem Gürtel tastete. Der Beutel war abgeschnitten und entwendet worden. Verdammt, er war unaufmerksam gewesen – hatte nur auf das Mädchen geachtet …

Dieses auffällige Mädchen! Jetzt verstand er den ausdrucksvollen Blick, sorgsam unter halb gesenkten Lidern verborgen. Scham, Gewissensqualen.

Warum hatte das geschehen können? Weil er zum Narren gehalten und gedrängt worden war, den edlen Ritter zu spielen, die junge Frau vor Unheil zu bewahren. Damit er von ihrem diebischen Komplizen abgelenkt wurde.

Erbost schaute er sich in der Taverne um. Ohne jeden Zweifel war sie längst im Getümmel untergetaucht und geflohen. So rasch wie möglich zwängte er sich durch die Menschenmenge, in die Richtung der offenen Tür. Dort fragte er einen Mann, der nicht so betrunken wirkte wie die meisten anderen: „Haben Sie eine junge Frau in einem grauen Umhang gesehen? Mit rotem Haar unter einem Schleier?“

„Wer will das wissen?“

„Ich, mein Freund!“, stieß Nicholas hervor und packte ihn am Kragen. „In diesem Höllenloch kreuzen nur selten hübsche Mädchen auf. Also wird’s nicht so schwer sein, sich an eins zu erinnern. Nun? Haben Sie die junge Frau gesehen?“

Diesen drohenden Tonfall schlug er selten an. Aber die Zeit drängte, und er hatte Erfolg.

„Eh – ja, Sir. Gerade ist sie weggegangen, mit einem jungen Burschen. Bitte, tun Sie mir nicht weh …“

Nicholas ließ den Mann los und trat in den dunklen Londoner Nebel hinaus.

Mit einem jungen Burschen? Der glich wahrscheinlich einem Kellner, konnte sich unauffällig bewegen – und einen Beutel vom Gürtel eines Gastes abschneiden. Mit einem Serviertablett in der anderen Hand …

Heiliger Himmel, welch ein Narr bin ich gewesen …

Verzweifelt spähte er nach beiden Seiten, ohne das diebische Paar oder sonst jemanden zu entdecken.

In dem gestohlenen Beutel steckte nicht nur das Pergament mit den brisanten Informationen, sondern auch ein edler Hessonitring mit Süßwasserperlen – alles, was ihm von seiner verstorbenen Mutter geblieben war, der einzigen Frau, die er jemals geliebt hatte …

In diesem Stadtteil waren am Abend nur wenige Leute unterwegs, und die Stille begünstigte Nicholas. Denn als er den Atem anhielt und lauschte, hörte er das Echo hastiger Schritte auf dem verlassenen Kopfsteinpflaster. Sofort wandte er sich in die Richtung, aus der die Geräusche herandrangen. Hinter einer Straßenkurve sah er die beiden in eine schattige Gasse huschen. Da er größer und stärker war, zudem längere Beine besaß, würde er die jungen Leute bald einholen.

Während sie in immer neue gewundene finstere Gassen bogen, beschleunigte er sein Tempo und staunte über ihr Durchhaltevermögen. Trotzdem würde er sie in absehbarer Zeit unter Kontrolle bringen.

Wieder einmal rannte er um eine Ecke und stellte fest, dass sie ans Ende einer Sackgasse geraten waren.

Sehr gut.

Und dann beobachtete er, wie der Junge seine Finger ineinander schlang, seine Begleiterin daraufsteigen ließ und ihr half, über eine Mauer zu klettern.

„Halt, verdammt noch mal!“, schrie Nicholas ihn an.

„Sir, Sie sollten sie laufen lassen! Ich bin es, den Sie fangen wollen!“ Aus irgendwelchen seltsamen Gründen trug der Bursche eine schwarze Augenmaske und eine Kapuze. Zwischen den wendigen Fingern baumelte der Lederbeutel. „Wie ich zugeben muss, sind Sie tüchtiger als die meisten Lords. Imposant – und so flink!“

„Verflixter kleiner Schurke!“, schimpfte Nicholas und sprang mit einem machtvollen Satz nach vorn.

Zu spät.

Grinsend salutierte der Junge, bevor er geschmeidig über die Mauer hüpfte, und Nicholas hielt verwirrt inne.

Und dann geriet er, statt dieses eindrucksvolle Talent zu bewundern, in noch heißeren Zorn. Vor allem gegen seine eigene Unfähigkeit und mangelnde Weitsicht. Warum zum Teufel hatte er sich dermaßen veralbern lassen?

Diesen vermaledeiten unverschämten Kerl musste er in seine Gewalt bringen, den kostbaren Beutel zurückerobern. Und zwar sofort! Entschlossen stürmte er zu der Mauer und schwang sich darüber.

Eva Siward spähte beklommen über ihre Schulter. Jeden Moment würde der Mann, den sie hatten bestehlen müssen, über die Mauer klettern und die Verfolgung erneut aufnehmen. Aber jetzt befanden sie sich nicht mehr in einer so gefährlichen, verlassenen düsteren Gegend wie Southwark, sondern nahe dem belebten Flussufer, dem dichteren Nebelschleier über dem sumpfigen Terrain. Lächelnd sagte sie sich, so weit müssten sie gar nicht flüchten.

Da sie ihre Mission bald beenden würde, seufzte sie erleichtert. Aber es war nicht vorbei. Nur fast. Noch immer gab es viel zu tun. Viel zu verhandeln. Und vielleicht würde sie endlich ein bisschen inneren Frieden finden, wenn der Mord an Simon dem Raben gerächt war – am einzigen Mann, der ihr jemals etwas bedeutet hatte.

So schmerzlich krampfte sich ihr Herz zusammen, wann immer die Erinnerung an seinen Tod zurückkehrte. Manchmal wollte sie die grausame Welt, die ihr Simon genommen hatte, vor Wut und Verzweiflung anschreien. Oder die Kronenritter – denn einer dieser erlauchten Herrschaften hatte ihren Retter getötet.

Nach ihrer ziellosen Flucht von zu Hause war Simon ihr zu Hilfe geeilt, ein richtiger Vater gewesen. In krassem Gegensetz zu ihrem Stiefvater hatte er sie beschützt und ihr Obdach gegeben. Jetzt musste sie für sich selber sorgen und weiterkämpfen …

Wie immer, wenn Eva an den schweren Verlust dachte, brannten in ihren Augen Tränen, die sie entschlossen hinunterschluckte. Auch das Ereignis dieses Abends gehörte zu ihrem Racheplan. Aber es gab noch einen anderen Beweggrund, nämlich Silber. Ob der bestohlene Ritter Simons Mörder war oder nicht, spielte keine Rolle, da sie alle zur selben Sorte zählten.

Außerdem – nach dem erfolgreichen Diebstahl konnte sie London für immer verlassen, irgendwo ein neues Leben beginnen, möglichst weit von dieser gefährlichen Stadt entfernt. Insbesondere von dem Fremden, der sie für diese spezielle Missetat angeheuert und den Anschein erweckt hatte, ihr bliebe gar nichts anderes übrig, als seinen Wunsch zu erfüllen. Und wie sie sich eingestand, traf das eindeutig zu. Schaudernd konzentrierte sie sich auf den Lohn, den sie für erwiesene Dienste erhalten würde.

Sie eilte um eine Ecke, durch einen Torbogen, nahm die Maske ab, die sie hergestellt hatte, um ihre Weiblichkeit zu verbergen und sich zu schützen.

„Marguerite?“, wisperte sie in die kühle Nachtluft. „Bist du da?“

„Ja, und ich habe gerade das Überkleid ausgezogen und bin in die Männerkleidung geschlüpft, die hier in der Tasche versteckt war. So, wie du’s gesagt hast.“

Eva hatte Simons Satteltasche – seine einzige Hinterlassenschaft – in ein herausgebrochenes tiefes Mauerloch geschoben und drei große Steine davorgerückt.

„Wunderbar, Marguerite, du hast deine Sache sehr gut gemacht. Auch in der Taverne – ganz genau so, wie wir es besprochen hatten.“

„War das nicht großartig? Alles ist so geschehen, wie du’s geplant hast. Abgesehen von diesem widerwärtigen alten Mann. Da war ich dankbar, aber auch ziemlich verblüfft, weil der Kronenritter mir half.“

Die Stirn gerunzelt, musterte Eva ihre jüngere Freundin. Ja, da war sie ebenfalls erstaunt gewesen. Dass Sir Nicholas D’Amberly eingreifen würde, hatte sie nicht erwartet. Sein Verhalten wies auf eine ehrenwerte Gesinnung hin …

Doch darüber wollte sie nicht nachdenken. Nur kurzfristig war sie abgelenkt und verwirrt worden, bevor sie die Bedenken verdrängt und ihren Auftrag ausgeführt hatte. Alles war sogar besser abgelaufen als erhofft, und dennoch verspürte sie weiterhin ein vages Unbehagen.

„Noch ist es nicht vorbei, Marguerite, noch lange nicht“, betonte sie und wühlte in der ledernen Satteltasche, in die sie ihre Frauenkleider gepackt hatte. „Wir müssen von hier verschwinden. Sofort, weil Sir Nicholas D’Amberly hinter uns her ist. Der Ritter, den wir bestohlen haben. So viele Gefahren müssen wir abwehren. Bist du stark genug dafür?“

„Ja, ich glaube schon, und ich werde dir beistehen, so gut ich es vermag.“

„Dafür bin ich dir sehr dankbar“, beteuerte Eva. „Was für eine gute Freundin du bist!“

„Das bist du auch für mich. Ohne dich hätte ich in den Londoner Straßen wohl kaum überlebt.“

Verständnisinnig nickte Eva. Dann zog sie unter ihrem kurzen Umhang den Lederbeutel hervor und hielt ihn hoch. „Und das alles dafür“. Geistesabwesend drehte sie ihn und her.

„Wollen wir herausfinden, was der Beutel enthält?“

„Nein, keinesfalls.“ Je weniger Marguerite wusste, desto besser.

„Was wirst du damit machen?“

„Erst mal lasse ich ihn hier, zur Sicherheit.“ Eva legte den Beutel beiseite und begann sich umzukleiden. „Bis es an der Zeit ist.“

Inständig sehnte sie das Ende des riskanten Geschäfts herbei – den Moment, in dem der Auftraggeber die Beute entgegennehmen und ihr das versprochene Silber geben würde. Ihrer Freundin brauchte sie nicht zu erklären, was sie befürchtete, warum sie den Beutel verstecken musste. Instinktiv ahnte sie, dieser Entschluss würde sie schützen.

Wovor? Das ließ sich noch nicht feststellen. Vielleicht würde der fremde Mann unlautere Methoden anwenden, um sich das Diebesgut anzueignen. Insbesondere, wenn er sich die ungeheuerliche Summe ersparen wollte, die er ihr angeboten hatte.

Zweifellos war es ratsam, Vorsicht zu üben. Sie wickelte den Beutel in die Männerkleider, die sie abgelegt hatte, verstaute alles in der Satteltasche und schob sie in die Maueröffnung. Dann rückte sie die drei großen Steine davor.

Während sie ihr Überkleid verschnürte, das die Tunika verdeckte, wandte sie sich lächelnd zu ihrer Freundin. „Du siehst sehr gut als Junge aus.“

Etwas mühsam schob Marguerite ihr langes rotes Haar unter eine enge Kappe, die sie dann mit der Kapuze eines weiten Umhangs verdeckte. In dieser voluminösen Kleidung schien ihre zierliche Gestalt zu verschwinden. „Findest du?“

„O ja. Nun – wie ein recht kleiner Junge. Gehen wir.“

Durch den Torbogen traten sie auf die Straße hinaus, und Eva ergriff die Hand ihrer Freundin.

Nun waren die Rollen vertauscht. In Männerkleidung fühlte sie sich wohler. Wegen der hinderlichen Schichten, die eine Frau tragen musste, fielen ihr natürliche Bewegungen schwer. Schon seit vielen Jahren trug sie Männerkleidung, um sich in den gefährlichen Londoner Straßen zu schützen.

Das war Simons Idee gewesen. Nur zu gern hatte sie seinen Rat befolgt und eine Freiheit genossen, die nur ganz wenigen Mädchen aus gutem Haus ermöglicht wurden. Er hatte sie ermutigt, ihre Scheu zu überwinden, wie ein Junge aufzutreten. Und er hatte ihr alle Fertigkeiten beigebracht, die er kannte – von der Kunst, einen Dolch zu schwingen, bis zu den Finten eines erfolgreichen Diebstahls.

Seit sie auf der Fahrt nach London vom Heck eines Lastkarrens gestolpert war, hatte er sie unter seine Fittiche genommen. Irgendetwas musste er in ihr gesehen haben, das er nutzen konnte. Anscheinend hatte sie aus der Schar der vereinsamten obdachlosen Jugendlichen hervorgestochen, die in der Hauptstadt zu überleben trachteten.

Das war ihr mit Simons Hilfe gelungen. In der Verkleidung eines Jungen hatte sie sich zu einer geschickten wendigen Diebin entwickelt. Ansonsten war ihr auch gar nichts anderes übrig geblieben, außer der Prostitution.

Warnend drückte sie Marguerites Hand, als sie einer belebten Straße folgten, und bedeutete ihr unauffällig, den Kopf unter der Kapuze zu senken. Falls Nicholas D’Amberly inzwischen in die nähere Umgebung geraten war, durfte er das Gesicht des Mädchens nicht erkennen.

Nicholas D’Amberly … Welch ein bewundernswertes Exempel maskuliner Strahlkraft! Nie zuvor war Eva einem so attraktiven Mann begegnet. Mit dichtem dunklem Haar und strahlend blauen Augen …

Sein Anblick in der Taverne hatte sie gleichermaßen gestört und fasziniert. Da er nicht nur vor Selbstvertrauen zu strotzen schien, sondern auch eine Aura eisenharter Entschlossenheit verströmte, zögerte sie, einen solchen Ritter zu bestehlen.

Dann eilte der verdammte Mann auch noch der Freundin zu Hilfe – und änderte alles, was Eva zuvor von den Kronenrittern gehalten hatte. Offenbar war dieser ein anständiger ehrbarer Mensch. Dazu kamen noch verwirrende fremdartige Gefühle, die er in ihr weckte – und die sie vor der geplanten Tat zurückschrecken ließen.

Doch sie schüttelte die törichte Schwäche ab, gab dem Unbehagen nicht nach, das blitzartig unter ihre Haut gekrochen war. Mochte es auch riskant sein, den Auftrag auszuführen – er würde ihr nicht nur eine Menge Silber einbringen, sondern hoffentlich auch eine Gelegenheit, Simons Ermordung zu rächen. Ein Kronenritter hatte ihn getötet, ein gesichtsloser Feigling. Vielleicht nicht Nicholas D’Amberly … Aber im Grunde waren sie alle arrogante Bastarde. Jeder Einzelne …

Und so hatte sie die Tat begangen, ohne weiteres Zaudern.

2. KAPITEL

Durch schmale gewundene Gassen gingen die Freundinnen zum Kai, wo die große Brücke demnächst in Sichtweite auftauchen würde.

Sobald sie das andere Themseufer unbeschadet erreichten, würden sich Evas ungestüme Herzschläge verlangsamen. Hinter dem Stadttor, im Getümmel der Innenstadt, würde sie wieder dort sein, wohin sie gehörte. Daheim.

Daheim im Herzen der Stadt. Daheim in Schmutz und Abfall. Nicht dass Eva so etwas in ihrem kleinen, aber ordentlichen Quartier zuließ, das sie mit Marguerite teilte – oberhalb eines Gastbetriebs nahe der Queenhithe-Werft.

Nur eine kurze Treppe musste sie bewältigen, um der alltäglichen Mühsal im populären Lokal zu entrinnen. Sie arbeitete nicht nur in der Schankstube, sondern half auch in der Brauerei. Auf das Bier war sie besonders stolz. Aber ohne den Einfluss und den Schutz Simons des Raben fühlte sie sich immer noch unsicher.

Nach seinem Tod hatte Eva erwartet, sie könnte im Gasthaus weiterhin für Kost und Logis arbeiten. Natürlich nicht für alle Zeiten. Wenn sie sich nur einen einzigen Fehler erlaubte, würde der Wirt sie vor die Tür setzen.

Und eine alleinstehende, mittel- und obdachlose Frau wäre auch auf den Straßen der Innenstadt gefährdet. Deshalb hatte sie das Angebot des fremden Mannes sofort angenommen. Für eine fabelhafte Summe hatte sie nichts weiter tun müssen, als einen Kronenritter zu bestehlen. Diese Gelegenheit wollte sie für einen Neuanfang nutzen – fern von London.

Hoffentlich zusammen mit ihrer jüngeren Freundin …

Sie hatte sich gelobt, für Marguerite zu sorgen. Denn das Mädchen erinnerte sie an ihr eigenes Schicksal – an die jüngere Eva, die vor einigen Jahren ebenfalls vor ihren Schwierigkeiten geflohen und auf den Londoner Straßen gelandet war.

Schaudernd stellte sie sich vor, welches Unheil Marguerite ohne den Beistand einer erfahrenen Beschützerin erlitten hätte. Wahrscheinlich würde irgendein Schurke sie zwingen, in der berüchtigten Popkirtle Lane ihren Körper zu verkaufen. Dieses Elend hätte Eva gedroht, wäre sie nicht dem großherzigen fürsorglichen Simon begegnet und zur Diebin ausgebildet worden.

Genau genommen kümmerten sich die Freundinnen seit Simons Tod umeinander, weil es sonst niemanden in ihrem Leben gab.

„Ah, da vorn ist die Brücke“, verkündete Eva.

„Dem Himmel sei Dank!“, murmelte Marguerite. „Allmählich tun mir die Füße weh.“

„Leider müssen wir vor unserer Heimkehr noch eine gewisse Strecke zurücklegen.“

„Das weiß ich.“ Das jüngere Mädchen kicherte leise. „Aber die Brücke führt mir vor Augen, dass wir bald zu Hause sind.“

„Freu dich nicht zu früh!“, mahnte Eva. „Um diese Zeit geht es hier immer noch lebhaft zu.“

Sie bezahlten den Zoll an der Wache, dann behielt Eva mit ihrer Warnung recht.

Auf der Brücke herrschte dichter Verkehr, nur langsam kamen sie voran. Trotz der späten Stunde verkauften zahlreiche Kaufmänner ihre Waren an die dicht gedrängte Kundschaft – von Wein- und Kurzwarenhändlern und Messerschmieden bis hin zu Bogenmachern und Befiederern von Pfeilen.

Im Schneckentempo passierten die beiden Freundinnen die Thomas Becket-Kapelle und die Brückentaverne „Zu den drei Dohlen“, nach den schwarzen Rabenvögeln im Wappen des gemarterten und ermordeten Erzbischofs von Canterbury benannt. Die Taverne war des Heiligen unwürdig, denn wie Eva aus verlässlicher Quelle wusste, wurde darin verwässertes Ale zu überhöhten Preisen ausgeschenkt – im Gegensatz zu dem exzellenten Bier, das sie braute.

Als sie sich umsah, stieß sie beinahe mit einem großen Mann zusammen, der wie eine unüberwindliche Wand vor ihnen stand – und dessen Augen wie Gold aufzuleuchten schienen. Erschrocken hörte sie Marguerite nach Atem ringen.

Großer Gott, wenn sie den Kopf hebt, wenn er erkennt, dass sie kein Junge ist …

In diesem gefährlichen Stadtteil dürften zwei junge Frauen natürlich keine unwillkommene Aufmerksamkeit erregen. Unauffällig drückte Eva ihren Ellbogen in Marguerites Seite, um ihr klarzumachen, was auf dem Spiel stand.

Da verzogen sich die Lippen des Mannes ganz langsam zu einem Lächeln. Höflich lüftete er seinen Hut, trat beiseite und gab ihnen den Weg frei.

Maßlos erleichtert seufzte Eva. Erst jetzt merkte sie, wie krampfhaft sie die Luft angehalten hatte. Ihre Aufregung musste mit dem Kronenritter zusammenhängen, Sir Nicholas D’Amberly. Diese ganze vermaledeite Mission hatte sie viel zu sehr mitgenommen. Je schneller sie mit ihrer Freundin daheim eintraf, desto besser – desto sicherer würde sie sich fühlen.

Sie umklammerte wieder Marguerites Hand, und sie bahnten sich erneut einen mühsamen Weg durch das Gewühl. Den Kopf hochgereckt, hielt Eva Ausschau nach weiteren unerwarteten Hindernissen. Oder nach dem neuerlichen Auftauchen eines Verfolgers mit boshaftem Glanz in den blauen Augen …

Aber nichts dergleichen geschah. Warum zum Geier war ihr eigentlich Sir Nicholas D’Amberlys Augenfarbe bewusst geworden? Auf die kam es nun wirklich nicht an.

„Geht es dir gut, Marguerite?“, murmelte sie aus einem Mundwinkel heraus.

„Ja.“

„Hattest du Angst – wegen dieses Mannes?“ Eva erinnerte sich an die heftige Reaktion ihrer Gefährtin auf die plötzliche Begegnung.

„Meinst du den mit den ungewöhnlichen Goldaugen? Nein, natürlich nicht. Aber dich scheint alles zu beunruhigen, was heute Nacht geschieht.“

„Unsinn!“ Lächelnd schüttelte Eva den Kopf. „Ich fühle mich nur so – beengt zwischen den vielen Leuten.“

„Zum Glück sind wir bereits am Ende der Brücke angekommen.“

Sie passierten das Nordtor in der Stadtmauer, stiegen zum Kopfsteinpflaster der Straße hinab und bogen nach links.

Fast hatten sie ihr Ziel erreicht. Nur fast … Noch immer konnte Eva ihre seltsame innere Unrast nicht abschütteln, ein unbegreifliches Kältegefühl jagte einen Schauer über ihren Rücken.

Auf der anderen Straßenseite beschleunigten sie ihre Schritte. Trotz der Erschöpfung, die Eva nach dem ereignisreichen Abend in allen Knochen spürte, zwang sie sich, wachsam zu bleiben.

„Dir ist genauso eigenartig zumute wie mir, nicht wahr?“, zischelte Marguerite neben ihr.

„Und was genau spürst du?“ Unentwegt spähte Eva in alle Richtungen, um etwaige Gefahren zu entdecken, die in den nächtlichen Schatten lauern mochten.

„Dass wir beobachtet und gejagt werden.“

„Um Himmels willen, mach dich nicht lächerlich!“ Um das Mädchen zu besänftigen, drückte Eva wieder einmal seine Hand. „Nach diesem anstrengenden Tag sind wir beide müde. Sobald wir in unseren Betten liegen, ist alles wieder in Ordnung, das verspreche ich dir.“

Von der nahen Werft stiegen Nebelschwaden hoch und umwallten die flinken Beine der Freundinnen. Und Eva erblickte zwei große Männer auf der anderen Straßenseite, die ihnen langsam entgegengingen.

Ihr Puls beschleunigte sich. „Komm, laufen wir – ich will endlich heim.“ Hastig zerrte sie Marguerite in eine schmale Gasse zur Rechten, dann in eine andere. Und in noch eine … Von rasenden Herzschlägen und zu flachen Atemzügen schmerzte ihre Brust.

O Gott, warum fühlte sie sich so schwach, so unfähig, so unerfahren? Das passte nicht zu ihr.

Oft genug war Eva geflohen. Seit sie denken konnte. Ständig war sie irgendwem davongelaufen, hatte sich versteckt, um zu überleben. Doch das kalte Entsetzen, das sie nun peinigte, hatte sie nie zuvor empfunden. Sie befand sich tatsächlich in einer völlig neuen Situation. An diesem Abend fürchtete sie zum ersten Mal in ihrem Dasein, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Neben ihr keuchte ihre Freundin immer mühsamer, offenbar ebenso verunsichert, während sie einer weiteren gewundenen Gasse folgten. Sie bogen wieder um eine Ecke, und da sahen sie das ersehnte Gasthaus.

Beruhigt drosselten sie das rasante Tempo ihrer Flucht, betraten den Hof, und Evas qualvolle Angst verebbte.

„Ah, endlich sind wir da!“, japste Marguerite und lächelte mit bebenden Lippen. „So schnell könnte ich nicht weiterlaufen.“

„Glücklicherweise ist es nicht mehr nötig. Gehen wir nach oben.“

„Bald komme ich dir nach. Ich hole nur noch ein Tablett mit Ale und einer Mahlzeit. Nach diesem beschwerlichen Tag müssen wir uns stärken.“

Eva nickte und eilte zum Hintergrund des Hofs, öffnete eine Tür und stieg die Treppe zu ihrer Kammer hinauf.

Erleichtert schloss sie die Tür hinter sich, schob den Riegel vor, und ihr Blick schweifte durch das große Zimmer. Alles wirkte genauso, wie sie es verlassen hatte. Zwei ordentlich gemachte Betten nebeneinander, saubere Binsen am Boden …

Und dann entdeckte sie ein einladend flackerndes Feuer im Herd, das einzige Licht, das den ansonsten dunklen Raum ein wenig erhellte. Da wusste sie, dass sie nicht allein war.

Prompt beschleunigte sich ihr Atem erneut. Es gab keinen Zweifel. Irgendwo in den schattigen Ecken lauerte die personifizierte Gefahr, die ihr seit den Ereignissen in Southwark unaufhaltsam gefolgt war.

„Sie sind hier und verbergen sich, Sir“, wisperte sie, „das weiß ich. Wer sind Sie?“

Unheimliche Stille antwortete ihr.

„Ich frage Sie noch einmal. Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“ Evas Augen irrten durch das Halbdunkel. Dahin und Dorthin. Über ihren Rücken rann ein eisiger Schauer. Noch immer war nichts zu hören.

Und plötzlich – eine kaum merkliche Regung … Schmerzhaft hämmerte ihr Herz gegen die Rippen, ganz vorsichtig, mit bebenden Fingern zog sie ihren Dolch aus der Scheide, die an ihrem Gürtel hing.

„Ich – ich weiß, Sie sind hier!“, wiederholte sie etwas lauter. „Zeigen Sie sich!“

Da trat jemand aus der Finsternis. Groß und imposant, zog er einen langen Schatten hinter sich her. Trotz des schwachen Lichts erkannte sie die hohen Wangenknochen, die harten Kinnkonturen, die Bartstoppeln. Und sie sah, wie sich seine Lippen in mildem Ärger verkniffen. Als wäre er gezwungen, ein verirrtes Pferd einzufangen.

Sir Nicholas D’Amberly – der Ritter, der sie gnadenlos verfolgte, seit sie den Beutel von seinem Gürel abgeschnitten hatte.

„Oh – Sie!“, stammelte sie und hasste den atemlosen Klang ihrer Stimme.

„Ja, ich.“ Langsam schlenderte er zu ihr. „Haben Sie jemand anderen erwartet?“

Was sollte sie sagen? Auf irgendeine Weise musste sie ihn auf Distanz halten. „Wie – kamen Sie hierher?“

„Anscheinend bin ich genauso flink wie Sie …“, erwiderte er gedehnt und zuckte die Achseln. „Nicht wahr, meine kleine Diebin?“

Erst jetzt dachte Eva wieder an den Dolchgriff in ihrer Hand, hob die Klinge und tat ihr Bestes, um Gleichmut zu bekunden. „Zu diesem eindrucksvollen Geschick, sich an andere Leute heranzupirschen, muss ich Ihnen gratulieren, Sir Nicholas. Nun werden Sie mir erlauben, diese Tür zu öffnen und den Raum zu verlassen, während Sie hierbleiben.“

Sie wich einen Schritt zurück, dann noch einen. Um ihre Nerven zu beruhigen, atmete sie tief durch, bevor sie hinter ihrem Rücken nach dem Riegel tastete.

Ehe sie wusste, wie ihr geschah, packten starke Finger das Handgelenk vor ihrem Körper, verdrehten es und zwangen sie, die Waffe fallen zu lassen. Im selben Moment entfernte Nicholas D’Amberlys zweite Hand ihre andere, heftig zitternde vom Riegel.

Beinahe sanft schob er Eva an die steinerne Wand neben der Tür. „Nein, das glaube ich nicht.“ Nur eine kraftvolle Hand umfasste ihre Unterarme, zog sie hoch und hielt sie über ihrem Kopf fest.

Mit einer gewissen Genugtuung musterte er die verdammenswerte Frau, die ihn an diesem Abend so viel Mühe gekostet hatte. Er wusste, sein Freund und Mitbruder vom Geheimbund „Ritterkraft“ – Savaric Fitz Leonard mit den ungewöhnlichen Augen – würde gerade Mistress Marguerite festhalten. Unterdessen musste er im oberen Stockwerk diesen Wildfang bändigen. Der sein Blut allerdings auf unerwartete Weise erhitzte, einen Funken entfachte, der fast an Begierde heranreichte … Oder vielleicht an heillosen Zorn.

Natürlich war es eine schockierende Entdeckung gewesen, dass er nicht von einem frechen Schlingel, sondern von einer jungen Frau beraubt worden war. Und die sah ebenso reizvoll aus wie ihre Freundin, wenn auch auf andere Weise. Plötzlich juckte es ihn in den Fingern, eine rostbraune Locke zu berühren, die unter dem Schleier herabhing – oder sogar die Haut des Halses. Dann würde sein Daumen zu den Lippen wandern … Nein. Er musste bedenken, warum er sich in diesem gottverlassenen Gasthaus befand. Wegen seines Beutels, den sie ihm entwendet hatte, direkt vor seiner Nase!

Dieser dreisten Person und ihrer Begleiterin mit dem feuerroten Haar war er gefolgt, sobald sie ihm trotz der geänderten Kleidung aufgefallen waren. Vor allem die zarte Gestalt des „jungen Burschen“. Schon vor der Brücke hätte er die beiden zur Rede stellen können. Doch er hatte in Southwark – einem Bezirk unter der Herrschaft des Bischofs von Winchester, Peter des Roches – kein Aufsehen erregen wollen. Außerdem hatte er feststellen müssen, welches Ziel die Mädchen ansteuern und wen sie eventuell treffen würden.

Warum war er das Opfer des Diebstahls geworden? Die Ältere der Freundinnen schien ihn zu kennen. Und er glaubte nicht an einen zufälligen Raub. Also musste er mehr herausfinden – und den Beutel zurückbekommen. Die verschlüsselte Nachricht, die der Mönch auf dem Pergament notiert hatte, war von immenser Wichtigkeit. Womöglich bestand eine Verbindung zwischen dem Bischof von Winchester und dem „Doppeldrachen“, was die Krone bedrohen würde.

„Nun wird Folgendes geschehen, Mistress“, begann er. „Sie geben mir zurück, was Sie mir weggenommen haben. Und zwar unverzüglich.“

Bevor sie antwortete, legte sie den Kopf schief. „Ich fürchte, das ist nicht machbar.“

„Oh, alles ist machbar, meine tückische Diebin.“

„Zweifellos haben Sie recht, Sir“, stimmte sie in einem dermaßen sarkastischen Ton zu, dass er rasch schlucken musste, um sein Amüsement zu verhehlen.

„In der Tat“, bestätigte er sanft. „Und so verlange ich erneut die Rückgabe Ihrer Beute“

„Nun, ich glaube, Ihre Ohren haben Sie bei meiner ersten Antwort wohl kaum getrogen, Sir.“

„Welch ein unverschämtes Weibsbild!“ Noch länger ließ sich seine Belustigung nicht unterdrücken, und er lachte leise. „Seltsam, wie mühelos so dumme Worte über Ihre Lippen kommen, obgleich Sie meiner Gewalt unterworfen sind …“

Natürlich lag ihr Schicksal in seiner Hand, das musste sie zur Kenntnis nehmen. Wenn sie weiterhin Widerstand leistete, konnte er sie jederzeit im Rundturm der „Ritterkraft“ einsperren. Doch er hoffte, das würde nicht nötig sein.

„Verraten Sie mir bitte – was würden Sie mir antun, Sir? Wollen Sie mich noch schmerzhafter festhalten?“

Nicholas hob eine Braue, lockerte seinen Griff um ihre zarten Handgelenke ein wenig und zog sie zu ihren Hüften herab. Doch er ließ sie nicht los. Dieser Frau durfte er keine Gelegenheit geben, ihn zu übertölpeln. Und ihr geschliffenes Mundwerk würde ihn ganz bestimmt nicht beeindrucken. Keinesfalls – weil er sich den Beutel und den Ring seiner Mutter unbedingt wieder aneignen musste.

Ihr immer noch hoch erhobener Kopf und die stolze Attitüde erstaunten ihn.

„Soll ich wirklich darauf antworten, Mistress?“

„Ja.“ Ihr Blick wanderte zu seinen Lippen, bevor ihr dieses Versehen bewusst wurde – bevor sie merkte, dass es ihm nicht entging. Interessant …

Nun schaute sie weg, die arrogante Fassade schien ihr zu entgleiten, ihre Miene bekundete leichten Ärger. Über ihn oder sich selbst, weil sie sich hatte ablenken lassen? Vielleicht war sie argloser, als er es vermutet hatte. Wies das spürbare Unbehagen darauf hin, dass sie sich mit kühnen Worten und spöttischen Blicken zu tarnen versucht hatte?

Oder doch ein schlauer Kniff, den sie nutzte, um zu manipulieren, zu lügen, zu betrügen? So vielen weiblichen Wesen war er begegnet, die sich auf diese Art geschickt aus Affären zogen – die mit einem einzigen Augenaufschlag die ganze Welt eines jungen Mannes durcheinandergewirbelt hatten.

So oder so, das spielte keine Rolle. Nicholas brauchte Antworten, musste der Diebin ihre Notlage klarmachen, die Gefahr, in die sie sich gebracht hatte.

„Ja“, wiederholte sie und räusperte sich. „Ich möchte wissen, wie Sie mich einschüchtern wollen.“

Also war die junge Diebin nicht nur tapfer, sondern sogar tollkühn. Unwillkürlich bewunderte er sie und überlegte, welche Vergangenheit zu ihren Raubzügen geführt haben mochte. 

Verzweiflung? Wahrscheinlich – ein Gefühl, das er nur zu gut kannte. So viele mittellose hungrige Menschen wurden auf schiefe Bahnen getrieben, wussten sich nicht mehr anders zu helfen …

Trotz dieser Erkenntnis bezwang er sein Mitleid. Die Situation der jungen Frau ließ sich leicht verbessern, wenn sie ihm den Beutel zurückerstattete und ein paar wichtige Fragen beantwortete.

„Glauben Sie, das könnte ich nicht?“, provozierte er sie.

„Ich – ich glaube, Sie benehmen sich absichtlich so rüde, Sir Nicholas.“

„Verzeihen Sie“, bat er, „ich wurde nicht über die Manieren informiert, die ertappte Diebinnen von mir erwarten. Offenbar meinen Sie, ich müsste Sie einfach laufen lassen.“

Herausfordernd hob sie ihr Kinn. „Habe ich das noch nicht angedeutet?“

„Doch, und ich gab Ihnen zu verstehen, das würde ich nicht tun.“

„Dann stecken wir in einer Sackgasse fest.“

„Keineswegs. Obwohl Sie mir heute Nacht einiges zugemutet haben, lasse ich Sie tatsächlich frei. Aber vorher müssen Sie mir Ihre Beute aushändigen und ein paar Fragen beantworten.“

„Ah, so gern ich Ihre Großzügigkeit auch nützen und Ihre Wünsche erfüllen würde – es ist unmöglich.“

„Würden Sie mir wenigstens Ihren Namen verraten, nachdem Sie meinen kennen?“

Sichtlich verstört zog sie die Brauen zusammen. „Wozu?“

„Bisher haben Sie keine einzige Frage beantwortet, meine kleine Diebin, und ich verliere allmählich die Geduld. Also? Seien Sie bitte so freundlich, stellen Sie sich vor.“

„Wie höflich Sie sind, Sir … Beinahe fühle ich mich zu dem Vorschlag verleitet, Sie sollten mich so nennen, wie es Ihnen gefällt.“

Das Mädchen begann ihn wahrhaft zu ermüden. Seufzend verdrehte er die Augen. „Koketterie passt nicht zu Ihnen. Wie heißen Sie?“

„Eva.“ Sie holte tief Atem. „Eva Siward.“

„Nun, Mistress Eva, das war doch gar nicht so schwierig, oder? Wollen wir es mit einer zweiten Frage versuchen?“

„Nur wenn Sie mich gehen lassen.“

„Derzeit befinden Sie sich nicht in der Position, die Ihnen erlauben würde, Bedingungen zu stellen.“

„Müssen Sie mich immer noch festhalten?“

„Ja, falls Sie versuchen, aus diesem Raum zu fliehen oder einen zweiten Dolch zu zücken. Und wenn Sie besser behandelt werden möchten, sollten Sie übers Stehlen nachdenken.“ Nicholas beugte sich näher zu ihr. „Wie man mir erklärt hat, ist das eine schwere Sünde.“

Als sie den Kopf seitwärts wandte, um seinem Blick auszuweichen, legte er einen Finger unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich herum. „Und jetzt hören Sie mir gut zu, Mistress. Hiermit fordere ich Sie auf, mir den entwendeten Beutel zurückzugeben. Und zwar sofort.“

„Leider ist das nicht möglich.“

„Diesen Unsinn habe ich lange genug erduldet. Wo ist die Beute?“

Seine Miene erhärtete sich. Durchdringend starrte er sie an.

Nur mit einer Hand umschloss er wieder ihre Unterarme, mit der anderen tastete er ihre Taille ab, suchte vergeblich nach einem Gürtel, an dem sie den Beutel befestigt habe könnte. Bevor sie in dieses Zimmer gelangt war, hatte sie sich keine Zeit genommen, sein Eigentum irgendwo im Gasthaus zu verbergen. Sonst hätte Savaric ihn informiert.

„Nicht hier“, murmelte sie. Diesmal hielt sie seinem Blick stand.

„Und wo ist mein Beutel?“

Seine Gefangene schwieg.

„Verdammt, antworten Sie!“, herrschte er sie an.

„Zur Sicherheit habe ich ihn – versteckt, bevor ich heimkam. Weit weg von hier.“

Nicholas stieß den Atem durch seine zusammengebissenen Zähne aus. „Was haben Sie getan?“

„Ich glaube, das haben Sie gehört.“

„Und Sie glauben, dazu müsste ich Ihnen gratulieren?“

„Vous ne pouvez pas entendre ce que vous refusez de croire, mais ce sont de vraies paroles prononcés“, zischte Eva Siward.

Anscheinend warf sie ihm vor, er weigere sich für bare Münze zu nehmen, was er gehört habe – trotz ihrer richtigen Aussprache der Wörter.

Wie hatte das alles geschehen können? Warum hatte Nicholas diese Möglichkeit nicht erwogen? Er hätte Mistress Eva nicht falsch beurteilen dürfen. Mit schmalen Augen inspizierte er sie wieder und merkte, was ihm entgangen war. Normalerweise begegnete man einer solchen Frau nicht auf Londoner Straßen – oder bei der Arbeit in Tavernen. Schon gar nicht, wenn sie sich wie ein Mann kleidete. Zudem reichten ihre schönen, glänzenden rostbraunen Locken nur bis zu den Schultern. Viel kürzer, als die meisten Frauen ihr Haar zu tragen pflegten …

Ihre kultivierte Stimme kündete von einer anderen Zeit, einem anderen Ort. Und sie beherrschte Französisch, eine Sprache, die man am Hof gebrauchte. Also verfügte sie über eine höhere Bildung. Interessant.

Sogar sehr interessant …

„Oh, seien Sie versichert, ich höre Ihnen zu, Mistress Eva. Aber bedauerlicherweise erzürnen mich Ihre Worte.“

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