Stürmische Küsse für Miss Elise

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Rasend vor Zorn flieht Miss Elise Lanscarr aus London. Ihre eigene Schwester hat ihr den Verlobten weggeschnappt! Jetzt will sie nur noch zurück nach Hause, nach Irland. Doch in einer stürmischen Nacht hat ihre Kutsche einen Unfall, und inmitten der Wildnis ist Elise nun auf die Hilfe eines gut aussehenden Fremden angewiesen. Gemeinsam mit Kit macht sie sich auf eine gefährliche Reise quer durchs Land. Bei jedem Blick, jeder Berührung von ihm erwachen tiefe Gefühle in ihr. Ist es zärtliche Zuneigung? Ist es wildes Begehren? Elise darf es nicht herausfinden – sie hat sich geschworen, einen Duke zu heiraten. Und Kit ist ganz sicher kein Adliger …


  • Erscheinungstag 15.03.2025
  • Bandnummer 413
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532051
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Maxwell

Cathy Maxwell beschäftigt sich am liebsten mit der Frage, wie und warum Menschen sich verlieben. Obwohl sie bereits über 35 Romane veröffentlicht hat, bleibt die Liebe für sie weiterhin eines der größten Mysterien! Um weiter zu diesem Thema zu forschen, verlässt sie gerne ihr gemütliches Zuhause in Texas und reist durch die Welt, um sich mit ihren Fans auszutauschen und für ihren nächsten Roman zu recherchieren.

Für Leslie Wagner

Plötzliche Eingebungen gibt es nur im Traum.

Meine Freundinnen sind mein Reichtum.

1. KAPITEL

Wenn man vom Teufel spricht, kommt er.

Irisches Sprichwort

Es war keine gute Nacht zum Weglaufen.

Der Regen trommelte auf die Postkutsche, er prasselte auf das lackierte Holz, auf Mensch und Tier gleichermaßen, während ein heftiger Wind drohte sie von der Straße zu fegen. Die Fenster waren zwar mit gewachstem Tuch verhängt, aber an den Rändern spritzte Wasser herein, das sich in einer Lache auf dem Boden sammelte und den wollenen Umhang durchnässte, den Miss Elise Lanscarr trug. Sie packte den Halteriemen fester. Ihr war ein wenig übel, weil das Gefährt so heftig schwankte.

Sie war sehr froh darüber, dass sie in der Kutsche saß. Als sie am frühen Morgen zu ihrem Abenteuer aufgebrochen war, hatte sie sich nur eine Fahrt auf dem Dach der Postkutsche leisten können. Da hatte sie sich noch keine Sorgen wegen des Wetters gemacht. Sie war vollauf mit ihrer Flucht beschäftigt gewesen.

Elise war auf dem Weg nach Hause – nach Irland in die Grafschaft Wicklow, ins herrschaftliche Wiltham, wo früher einmal alles in ihrem Leben seine Ordnung gehabt hatte. Es war ein berauschendes Gefühl, für sich selbst einzustehen. Sie floh aus London mit all seinem Unsinn, wozu auch ihre Schwestern gehörten, die sie nicht mehr zu verstehen schienen.

Der Kutscher war ein roher, aufbrausender Mann, der seine Pferde mehr anbrüllte, als es ihrer Meinung nach richtig war, aber die frische Luft auf dem Dach hatte ihr nichts ausgemacht. Sie war sogar sehr angenehm, so, wie einige der anderen Fahrgäste rochen.

Sie hatte sich ruhig verhalten und die Kapuze des schwarzen Umhangs, den sie ihrer Großtante Tweedie stibitzt hatte, über ihren breitkrempigen Strohhut gezogen. Sie hatte ihre blonden Locken gnadenlos nach hinten aus dem Gesicht gebunden, so dass sie nicht zu sehen waren, weil man sie an ihrem Haar viel zu leicht wiedererkannt hätte.

Das hatte den Kutscher natürlich nicht davon abgehalten, ungehobelt mit ihr zu flirten. Sie reiste allein und sie war jung. Offensichtlich machte sie das zu Freiwild, eine sehr grobe und lächerliche Ansicht, die er mit vielen anderen Männern gemeinsam hatte.

Elise kümmerte sich nicht um ihn. Sie tat so, als wäre sie eine fromme Kirchenfrau. Sie hielt den Blick gesenkt, als wäre sie im Gebet, murmelte hier und da ein „Lieber Gott“ oder ein „Vielen Dank, Bruder“, wenn es angezeigt war.

Es fiel ihr nicht leicht, diese Rolle zu spielen. Sie war die kontaktfreudigste der drei Lanscarr-Schwestern; wegzulaufen, war jedoch trotzdem ein Wagnis. Tollkühn. Eigenwillig. Sie war insgeheim stolz auf ihre Unabhängigkeit, aber sie wollte auch keine gefallene Frau werden. Ein Mensch, der die „Schönheit von London“ wiedererkannte, reichte schon, um einen Skandal auszulösen. Oder ihre Familie auf ihre Spur zu führen, ehe sie dazu bereit war, mit irgendjemandem zu sprechen, der dazugehörte.

Natürlich war das Wetter im Laufe des Tages umgeschlagen. Es war schwül geworden, während sich dicke Regenwolken zusammengeballt hatten, als wollten sie jemandem den Krieg erklären.

Die Fahrt wurde noch dazu immer holpriger. Der Kutscher trank schamlos immer weiter. Sämtliche Fahrgäste beklagten sich bei ihm und sogar der bewaffnete Postwächter mischte sich ein, aber das alles half nicht im Mindesten.

An der letzten Poststation waren angesichts der Tatsache, dass für alle deutlich ersichtlich war, dass ihnen ein heftiges Gewitter bevorstand, die meisten Reisenden ausgestiegen. Keiner von ihnen hatte vor, rechtzeitig vor der Abfahrt wieder da zu sein. Offensichtlich fanden sie Leib und Leben wichtiger als die Weiterreise mit dieser Kutsche.

Im Gegensatz zu Elise. Kein Gewitter, kein betrunkener Kutscher konnten sie daran hindern, nach Hause zu fahren, vor allem, weil sie nicht genug Geld in den Taschen ihres Umhangs versteckt hatte, um die Reise zu unterbrechen.

Es würde eine lange Fahrt werden. Ihr erstes Ziel war Liverpool. Von dort aus wollte sie die Irische See überqueren. Aber im Augenblick wollte sie London einfach so weit hinter sich lassen, wie diese Postkutsche sie bringen konnte.

Natürlich wollte sie deswegen nicht unbedingt weiter auf dem Dach sitzen, den Elementen ausgesetzt. Sie hatte ihre fünf Sinne beisammen und wenn alle anderen verschwunden waren, konnte sie sich genauso gut auf einen Platz in der Kutsche einladen!

Also war sie von ihrem Platz heruntergekrabbelt und war in die Kutsche geklettert, während der Kutscher die Pferde gewechselt hatte.

Der Kutscher hatte etwas dagegen gehabt. Er wollte sie wieder neben sich auf das Dach befördern, wenn sie ihm nicht den Preis für den besseren Platz bezahlte. Als sie an seinen guten Willen appelliert hatte, hatte er angedeutet, dass es eine Möglichkeit gäbe, wie sich ein Mädchen ihr Fahrgeld verdienen konnte – und dann hatte Elise ihren jetzigen Reisebegleiter kennengelernt, der kaum einen Fuß von ihr entfernt auf dem harten Ledersitz saß.

Er war ein absoluter Grobian. Er trug einen Hut mit breiter Krempe, den er tief ins Gesicht gezogen hatte, und war in Ölzeug gehüllt, einen langen Mantel aus Wachstuch. Sein Bart war mit Sicherheit mehrere Tage alt. Seine Stiefel waren staubig und abgetragen, als wäre er schon eine ganze Weile unterwegs und hätte einen noch längeren Weg vor sich. Er machte auf jeden Fall nicht den Eindruck, als ob er sich für irgendjemanden einsetzen würde, aber er hatte sich für sie eingesetzt.

Die ungehobelten Andeutungen des Kutschers hatten Elise schockiert, was nicht hätte passieren dürfen. Sollten vornehm erzogene junge Damen nicht genau deswegen nur in Begleitung unterwegs sein? Um sie vor den unanständigen Bedürfnissen von Männern zu bewahren?

Elise hatte allerdings immer geglaubt, dass sie jeden ungehobelten Kerl, der es wagte, ihr gegenüber eine respektlose Bemerkung zu machen, mit einem einzigen kühlen Blick niederringen konnte. Sie hatte das sogar vor dem Spiegel geübt.

Doch in diesem Augenblick war sie über seine Andeutungen so verwundert und eben nicht voller Verachtung gewesen – und sie war sich nicht einmal wirklich sicher, dass Frauen so etwas überhaupt mit Männern taten, es klang ziemlich geschmacklos – dass sie erstarrt war. Sie. Diejenige, die nie um ein Wort verlegen war. Die weltgewandte Lanscarr-Schwester.

In diesem Augenblick hatte der Grobian sich eingemischt und war in ihr Leben getreten.

Er war gerade auf die Kutsche zugekommen, als der Kutscher gesagt hatte, was er von ihr wollte. Als er es gehört hatte, oder vielleicht als er den Schrecken in ihrem Gesicht gesehen hatte, hatte der Neuankömmling dem Kutscher mit einer schweren Hand auf die Schulter geklopft. Mit leiser, rauer Stimme hatte er zu Elise gesagt: „Steigen Sie in die Kutsche.“

Sie hatte gezögert.

Machen Sie schon“, hatte er geblafft.

Dieses Mal hatte Elise gehorcht.

Die Tür wurde hinter ihr geschlossen und dann gab es ein dumpfes Geräusch, als ob etwas, oder wahrscheinlich eher jemand, gegen die Kutsche geworfen wurde. Es gab einen Wortwechsel, aber die Stimme des Grobians war so leise, dass Elise nicht verstand, was gesagt wurde.

Dann wurde die Tür so abrupt aufgerissen, als ob der Grobian keine Ahnung hatte, wie stark er war. Er war eingestiegen, ohne etwas zu sagen. Dabei hatte sich die Kutsche in seine Richtung geneigt. Er hatte sich auf den Sitz fallen lassen, als wäre er erschöpft. Seine langen Beine nahmen den größten Teil des Platzes zwischen ihnen ein, so dass Elise sich bemüßigt fühlte, so weit zur Seite zu rutschen, wie sie konnte, bis sie sich im wahrsten Sinne des Wortes in eine Ecke quetschte.

Sie musterte ihn unauffällig. Er hatte den Hut abgenommen und fuhr sich mit den ledernen Handschuhen über das Kinn, als wäre er müde. Sein Haar war dunkel und hatte lange keinen Barbier mehr gesehen. Er würdigte sie keines Blickes. Stattdessen setzte er den Hut wieder auf und schloss die Augen, als wolle er überhaupt nichts mit ihr zu tun haben.

Elise hatte auch keine Lust, mit ihm zu reden. Sie wollte sich nicht um ihn kümmern. Aber es war etwas an ihm, das, nun ja, zu groß war. Er war so breitschultrig, dass er den stämmigen Kutscher sicher mit Leichtigkeit umherwerfen konnte.

Außerdem roch er nach Gin oder vielleicht nach Rum … und Männlichkeit. Sein Duft. Er kräuselte sich in der Luft um ihn herum.

Trotzdem hatte sie ihre gute Erziehung nicht vergessen. „Vielen Dank“, hatte sie geflüstert.

Statt einer Antwort hatte er sich die breite Krempe seines Huts tiefer ins Gesicht gezogen.

Elise zog die Kapuze ihres Umhangs weiter über ihr Gesicht. Sie konnte auch reserviert sein.

Und dann hatte der Kutscher den Pferden ein Kommando zugerufen, der Postwächter hatte sein Horn geblasen und sie waren losgefahren – so dass Elise mit ihren Gedanken allein war … und ihren Zweifeln.

In Wirklichkeit musste sie sich vor ihren Ängsten in Acht nehmen. Jede Wankelmütigkeit in ihrem Entschluss, nach Irland zu kommen, würde sie ohne Umwege zurück zu ihren Schwestern Gwendolyn und Dara und ihrer Großtante Tweedie führen. Sie glaubte nicht, dass die drei schon wussten, dass sie weggelaufen war. Gestern Abend, als Elise das Geld für ihre Reise aus dem geschnitzten Holzkästchen entwendet hatte, in dem Gwendolyn aufbewahrte, was die Schwestern ausgeben konnten, hatte sie einen Brief hinterlassen, in dem sie versprach, dass sie jeden Penny zurückzahlen würde. Sie wusste noch nicht, wie, aber sie würde ihr Wort halten. Sie hatte ihnen auch geschrieben, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. Sie würde schon zurechtkommen. Da sie jetzt alle bei Dara und ihrem frischgebackenen Ehemann Michael Brogan wohnten, konnte gut eine ganze Woche vergehen, ehe jemand das Kästchen anfasste. Und was ihre Abwesenheit betraf, hatte sie so viel Zeit bei ihrer Freundin Lady Whitby verbracht, dass alle annehmen würden, dass sie dort wäre.

Elise überlegte außerdem, wie gerne man sie eigentlich auf Wiltham empfangen würde. Vielleicht war sie dort nicht willkommen, nachdem ihr Vater für tot erklärt worden war und ihr Cousin Richard das Haus mit dem dazugehörigen Land geerbt hatte. Richard hatte nichts für die Lanscarr-Schwestern übrig. Er hielt sie für eine Last und sie hielten ihn für einen Schwächling.

In diesem Augenblick waren ihr Richard und seine doppelzüngige Ehefrau Caroline jedoch immer noch lieber, als in London zu bleiben, wo man von Elise erwartete, ihren Stolz zu vergessen und unter Daras und Michaels Dach zu wohnen. Eine große, glückliche Familie – nur dass sie das nicht waren. Elise liebte Michael. Leidenschaftlich.

Sie hatte ihn vom ersten Augenblick an geliebt, als sie ihm vor Monaten in Lady Whitbys Salon das erste Mal begegnet war. Sie war sogar die erste der Lanscarr-Schwestern gewesen, die ihn bemerkt hatte. Er war gut aussehend, schlagfertig und ihm lagen die Dinge am Herzen, die wichtig waren. Als irischer Abgeordneter nutzte er seine Position, um sich für die Menschen einzusetzen, die zu oft übergangen wurden.

Von allen Gentlemen, die Elise umworben hatten, und es hatte viele gegeben, war Michael der einzige gewesen, der ihr Interesse geweckt hatte. Er war genau der Richtige für sie. Sie konnte sich vorstellen, seine Frau zu sein, an seiner Seite zu stehen, wenn er die Gier und die Arroganz der Mächtigen bekämpfte.

Außerdem hatte sie geglaubt, dass er sich auch in sie verliebt hätte. Er war schließlich immer aufmerksam zu ihr gewesen und hatte niemals abfällige Bemerkungen gemacht, wenn sie ihre Meinung gesagt hatte. Stattdessen hatte er ihr zugehört.

Allein dafür hätte sie ihm alles gegeben – ihren Geist, ihren Körper, es hätte alles ihm gehören können. Es war kein unbedeutendes Geschenk. Schließlich behaupteten alle, sie wäre die Schönheit der Familie. Sie war auf jeden Fall am belesensten. Sie war diejenige, die große Gedanken bewunderte, vor allem seine Gedanken.

Doch statt für Elise hatte er sich für Dara entschieden. Schlimmer noch, er schien glücklich mit seiner Entscheidung zu sein. Er benahm sich sogar, als ob er sie lieben würde.

Und das war es, was Elise an dieser kleinen Tragödie am meisten wehtat – Dara, die Schwester, die ihr am nächsten stand, hatte gewusst, was Elise für ihn empfand. Sie hatte es gewusst und sie hatte ihn trotzdem geheiratet.

Jetzt wurde Michael als einziger Mann, weil die Gesellschaft in Geschlechterfragen so lächerlich albern war, als rechtmäßiges Oberhaupt der Familie betrachtet. Es wurde von ihm erwartet, dass er für seine unverheirateten Schwägerinnen sorgte, und Michael war ein Mann, der seinen Verpflichtungen nachkam. Er hatte ein großes Haus gemietet, das dicht an Mayfair gelegen war, und hatte Gwendolyn, Elise und Tweedie bei sich und Dara einziehen lassen.

Deswegen musste Elise tagein, tagaus mit ansehen, wie die beiden Frischvermählten wie die Turteltauben gurrten, bis sie es nicht mehr ertragen hatte. Sie würde sich das nicht länger ansehen. Sie hatte ihren Stolz. Und sie hatte eine Wahl.

Sie wollte sich lieber ihrem holzköpfigen Cousin Richard unterordnen, als zuzusehen, wie Michael und Dara sich gemeinsam das Leben aufbauten, das ihr hätte gehören sollen. Zumindest konnten Richard und seine Frau Caroline einander kaum ertragen. Sie würde ihnen nicht beim Turteln zuhören müssen. Sie stritten sich ständig …

Ein Donnerrollen war die einzige Vorwarnung. Gleich darauf schlug ganz in ihrer Nähe der Blitz ein. Selbst Regen und Wind schienen aufzuhören. Gespenstisches Licht erhellte die Nacht. Sie hörte, wie ein Baumstamm zersplitterte. Die Pferde wieherten panisch. Der Kutscher fluchte heftig, aber seine Befehle verhinderten nicht, dass die Kutsche hin und her geschleudert wurde, als das Gespann aus dem Takt kam. Sie schienen von einer Straßenseite zur anderen zu schlingern – und dann wurde die Waffe des Wächters abgefeuert.

Bei dem Knall machte die Kutsche einen Satz nach vorn, und dann schienen sich die Räder vom Boden abzuheben. Die Pferde gingen durch. Sie ließen sich auch mit allen Flüchen der Welt nicht wieder unter Kontrolle bringen.

Elise streckte beide Hände nach dem Halteriemen aus. Sie verfehlte ihn, als sich das Gefährt nach hinten auf zwei Räder stellte. Die Gewalt dieses Rucks schleuderte sie durch die Kutsche und gegen den soliden Körper des Grobians. Einen Wimpernschlag bevor die Kutsche auf den Boden aufschlug, legten sich zwei starke Arme um sie. Das Gefährt überschlug sich. Überall um sie herum flogen Holzsplitter.

Elise öffnete den Mund, um zu schreien, aber was auch immer sie schreien wollte, blieb ihr bei dem plötzlichen Aufschlag im Halse stecken.

Die Kutsche versank abrupt im Schlamm. Das Hufgetrappel, das jetzt zu hören war, klang, als ob die Pferde ohne die Kutsche weiterliefen.

Und dann – Stille … vom Regen abgesehen.

Elise rührte sich nicht. Sie war nicht mehr sicher: War es vorbei? War sie noch am Leben?

Seltsamerweise brannte über ihr in dieser sturmgepeitschten Nacht immer noch eine der Öllaternen, die normalerweise außen an der Kutsche hingen. Bei diesem Anblick wurde ihr klar, dass das, was sie für den Boden der Kutsche gehalten hatte, in Wirklichkeit eine ihrer Seiten war. Die Tür neben dem Platz, auf dem sie gesessen hatte, war verschwunden. Durch diese Öffnung fiel das schwache Licht der Lampe ins Innere der Kutsche.

Sie war dem Tod noch nie so nahe gewesen. Ihr Gesicht war nass, sie wusste nicht, ob von Tränen oder vom Regen. Sie schluckte.

Sie war sicher, dass sie sich etwas gebrochen hatte, deswegen wackelte sie versuchsweise mit den Zehen an einem Fuß. Es war alles gut. Sie konnte sogar die behandschuhten Finger bewegen. Ihr raubeiniger Begleiter hatte ihren Fall gebremst. Er hatte sie wieder einmal gerettet, dieses Mal, indem er sich selbst geopfert hatte. Sie lag auf seinem regungslosen Körper.

Vorsichtig rutschte Elise von ihm herunter. Er war wie ein Granitfelsen, ebenso unbeweglich. Ihre Röcke und ihr Umhang waren unter seiner Hüfte eingeklemmt. Sie zog sie vorsichtig heraus, ehe sie einen Handgriff suchte, mit dessen Hilfe sie sich aufsetzen oder sogar aufstehen konnte, ohne sich an den Holzsplittern zu verletzen.

Als sie endlich ihr Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, fragte sie: „Sir? Geht es Ihnen gut?“

Er antwortete nicht.

Vielleicht war er bewusstlos.

Vielleicht war er auch …

Elise wagte es nicht, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Sie beugte sich vor, um ihm ins Gesicht zu sehen. Allen Widrigkeiten zum Trotz saß der Hut immer noch auf seinem Kopf. Sie lauschte auf das Geräusch von Atemzügen. Sein Kopf war von ihr abgewandt und wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht das Bedürfnis, seine Augen zu sehen, falls diese vom Tod geweitet waren. Oder seine Haut zu berühren, um seinen Puls zu fühlen.

„Warten Sie, ich hole den Kutscher“, sagte sie, als ob er etwas zu ihr gesagt hätte.

Er konnte nicht tot sein. Er durfte nicht tot sein.

„Sir?“ Sie schrie ihm das Wort entgegen. Immer noch keine Antwort.

Er hatte ihr gerade das Leben gerettet. Und sie kannte noch nicht einmal seinen Namen.

Tränen brannten ihr in den Augen. Sie unterdrückte sie. Eine Lanscarr weinte niemals, nicht wenn es eine Aufgabe zu erfüllen gab, zumindest hatte ihr Papa das so gesagt.

Sie hatte die Orientierung wiedererlangt. Sie bewegte sich und versuchte dabei, nicht auf Mr. Grobians Körper zu treten. Ja, sie konnte ihn in Gedanken so ansprechen. Jemanden, der einen mehr als einmal gerettet hatte, musste man mit ein wenig Respekt behandeln.

Elise packte die beiden Seiten der Türöffnung, stützte sich mit einem Fuß auf die Kante des Sitzes und schob sich auf diese Weise hoch, aus der Kutsche hinaus. Sie war eine hochgewachsene Frau. Nicht so groß wie Gwendolyn, aber sie war stark und schaffte es, sich auf die Kante der Türöffnung zu setzen. Der Regen machte jede einzelne Bewegung noch schwieriger als sonst. Das Wasser rann ihr in Bächen über das Gesicht. Sie spürte das Gewicht ihres durchweichten Umhangs.

Elise nahm ihren Hut ab – er war nicht mehr zu retten. Sie warf ihn beiseite. Er landete im Schlamm. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf.

Der Regen ließ nach, wurde zu einem leichten Nieseln. Sogar der Wind ebbte ab. Elise stieß einen zitternden Seufzer aus. Im flackernden Licht der Öllampe sah sie sich das ganze Ausmaß des Unheils an.

Links und rechts der Straße warfen Bäume im Zwielicht dunkle Schatten.

Ihr Verdacht, dass die Deichsel, mit der die Pferde vor die Kutsche gespannt gewesen waren, gebrochen war, schien sich zu bestätigen. Es war ein Segen, dass die Tiere noch am Leben waren. Sie waren mitsamt ihren Geschirren weiter gelaufen. Die armen Kreaturen. Sie betete, dass sie sich nicht in den Leinen verfangen hatten.

Sie konnte weder den Kutscher noch den Wächter entdecken. „Hallo? Kutscher? Wächter? Können Sie uns helfen?“ Sie wartete auf eine Antwort. Die feuchte Luft schluckte jeden Laut. Es war alles still, bis sie brüllte: „Wir brauchen Hilfe!“

Dann, genau hinter dem flackernden Lichtschein der Wagenlaterne, der bis zum Straßenrand reichte, sah sie ein Paar Stiefel, die zu Beinen gehörten, die in einem unnatürlichen Winkel zueinander standen. Den Rest seines Körpers konnte sie als dunkleren Umriss im Schatten der Bäume ausmachen. Ihr blieb vor Entsetzen beinahe das Herz stehen. Die Schwere des Todes wollte sie erdrücken.

Sie wandte sich ab, der Straße hinter ihnen zu, und entdeckte den Wächter. Er lag zusammengerollt im Schlamm, als wäre er dort von der Hand eines Riesen hingeworfen worden. Selbst aus dieser Entfernung war sie sicher …

Nein, daran durfte sie nicht denken. Der Gedanke war viel zu schrecklich.

Und ihr wurde klar, dass sie vollkommen allein war.

Allein und irgendwo auf der Straße nach Liverpool gestrandet. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wann oder ob überhaupt Hilfe auf dem Weg war.

Und das Gewitter war noch nicht vorbei. Sie konnte spüren, dass es gerade seine Kraft sammelte, um ihr erneut mit Gewalt zuzusetzen.

Sie hätte nicht weglaufen sollen. Dara hatte recht. Frauen aus der vornehmen Gesellschaft durften sich nicht allein in die Welt hinaus wagen. Vielleicht war all das nur wegen ihres Trotzes geschehen. Vielleicht hatte sie mit ihrem Eigensinn den Tod dieser Männer heraufbeschworen.

In diesem Augenblick wünschte sich Elise nichts sehnlicher, als wieder in London in ihrem Bett zu liegen, wo sie nichts weiter auszustehen hatte, als sich wieder einen Tag lang das glücklich verheiratete Paar anzusehen …

Sie wurde mit einer starken Hand am Knöchel gepackt.

Sie zog an ihr, drohte sie nach unten zu reißen. Entsetzt hielt Elise sich fest, so gut sie konnte, um nicht in den dunklen Schlund der Kutsche hineingezogen zu werden.

2. KAPITEL

Es gibt nur drei Kreaturen, die nicht zu bändigen sind – ein Schwein, ein Maultier und eine Frau.

Irisches Sprichwort

Erschrocken schnappte Christopher Fitzhugh-Cox, der Duke of Winderton, nach Luft, als er wieder zu sich kam.

Er lag für einen Augenblick orientierungslos still. Es tat weh, wenn er atmete, es tat weh, wenn er sich bewegte, und er begriff nicht, warum.

Zuerst glaubte er, dass er auf Smythson in seinem Bett läge – nur dass er nicht auf einer mit Baumwolle gefüllten Matratze lag. Es gab keine feine Bettwäsche, kein Feuer im Ofen. Interessant. Er war schon länger nicht mehr so verwirrt aufgewacht. In letzter Zeit hatte er immer ganz genau gewusst, wo er sich befand – in einer Hölle, die er selbst geschaffen hatte. Dort gab es keine weiche Bettwäsche.

Aber dieses Mal hatte er sich offenbar selbst übertroffen. Die Frage war: War er nüchtern?

Das war immer die erste Frage, die er sich morgens stellte.

Jetzt war nicht Morgen.

Um ihn herum war alles nass und grau. Sein Kopf dröhnte im gleichen Rhythmus, in dem das Blut durch seine Adern rauschte.

Irgendetwas rann über seine Schläfe und kitzelte ihn. Er wollte eine behandschuhte Hand danach ausstrecken, um es zu befühlen, merkte dabei aber, dass er dazu zu eingeklemmt war. Außerdem lag er auf der Seite. Offenbar drang das Wasser von allen Seiten auf ihn ein und durchweichte seine Kleider überall dort, wo sein Ölzeug ihn nicht schützte.

Langsam kehrte sein Verstand zurück, ein Zeichen, dass er nicht ganz und gar verwirrt war. Kit machte eine Bestandsaufnahme seiner Situation. Erstens war er seit fast einem Jahr nicht mehr auf Smythson gewesen. Außerdem konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal friedlich in einem Bett geschlafen hatte. Und heute Nacht würde es offenbar auch nicht dazu kommen.

Stattdessen umgab ihn eine unheimliche Stille.

Wo zum Teufel war er?

Er versuchte sich zu bewegen und begegnete weiteren Schmerzen und Qualen …

Der Blitzeinschlag.

Seine Erinnerung kehrte zurück: die wild schlingernde Kutsche, der Unfall und das Gefühl, dass er hier sterben würde …

Kit zwang sich, zu schlucken, einmal ganz tief durchzuatmen. Seine Rippen waren gequetscht, er verspürte einen scharfen Schmerz in der Seite. Falls er sich vor Kurzem noch gefragt hatte, ob er am Leben war, war dieser Schmerz die Antwort. Glücklicher- und schmerzvollerweise war er am Leben.

Die schmerzenden Rippen und Blessuren waren der Preis, den er dafür bezahlen musste, dass er sein Schicksal herausgefordert hatte. Und dass er in eine Kutsche gestiegen war, die alle anderen verlassen hatten, weil ihm eine Bande von Männern auf der Spur war, von der er sich nach Möglichkeit nicht erwischen lassen wollte. Dass er ihnen bis jetzt immer voraus gewesen war, erfüllte ihn mit Stolz.

Doch Kit war nicht gerade guten Mutes gewesen, als er beschlossen hatte, diese Postkutsche zu nehmen, ganz gleich wohin sie fahren mochte. Sein Pferd hatte gelahmt. Das Tier war im Grunde genommen ein Klepper, aber er hatte das freche Ding gemocht. Er hatte den Wallach beim Stallmeister gelassen und gedacht, dass er ihn vielleicht wieder abholen würde.

Vielleicht auch nicht.

So war sein Leben das ganze letzte Jahr über gewesen.

Kit war auf der Flucht – vor Erwartungen, vor Frauen, die ihn zurückwiesen, vor Frauen, die ihm zu viel von sich gaben. Er hatte diese Reise mit der Schnapsidee begonnen, eine Geschichte wie die von Prinz Heinrich zu erleben. Das hatte sich nach großem Spaß angehört und Kit hatte etwas unternehmen müssen. Er war eine große Schande für seine Familie und seinen Titel. Er hatte sich von einem oberflächlichen, aber folgsamen Duke zu einer Art Frauenheld entwickelt, aber ohne die zweifelhaften angenehmen Eigenschaften, die normalerweise dazugehörten.

Vor einem Jahr, als er sich auf eine handgreifliche Auseinandersetzung mit dem Arzt des Dorfes eingelassen und verloren hatte, war Kit bewusst geworden, dass er nicht mehr tiefer sinken konnte. Die einzige Frau, die er je geliebt hatte, hatte seinen Onkel geheiratet, er hatte angefangen, zu viel zu trinken, und er war von allen im Stich gelassen worden, die er als Freunde betrachtet hatte. Das Schlimmste aber war, dass seine wundervolle Mutter der einzige Mensch war, dem er etwas bedeutete, und sie hatte etwas Besseres verdient.

Also hatte Kit einen Plan ausgebrütet, wie er sich selbst retten wollte. Prinz Heinrich war kein schlechter Gedanke gewesen. Als Schuljunge war das seine Lieblingsgeschichte gewesen. Es hieß, dass Prinz Heinrich unerkannt unter dem gemeinen Volk gelebt hatte, bevor er König Heinrich V. geworden war. Er hatte sich mit Dieben und Verbrechern umgeben. Er hatte die Klassenunterschiede am eigenen Leib erfahren. Und er hatte dabei seinen Spaß gehabt.

Genau wie Kit.

Es hatte ihm gut gefallen, ganz auf sich allein gestellt zu sein. Er hatte seinen Namen geändert, vom wuchtigen Christopher in Kit, und sich an eine einzige Regel gehalten – er durfte weder seinen Titel noch sein Geld nutzen. Wenn er dieses Experiment machen wollte, dann auch richtig.

Würde diese Erfahrung etwas aus ihm machen? Kit war sich nicht sicher. Er hatte sich immer unzulänglich gefühlt. Dass er seinen Titel in so jungen Jahren geerbt hatte, hatte die Sache für ihn nicht gerade besser gemacht.

Über die Jahre hatte man ihm gesagt, dass er zu unerfahren war, zu alt, zu jung, nicht sein Vater, zu sehr wie sein Vater, ein Schwachkopf, zu ernst – die endlose Liste von Kritikpunkten war ermüdend.

Doch auf seinem Weg durch das ganze Land hatte er herausgefunden, dass die meisten Menschen, ob sie aus den vornehmsten Kreisen des Hochadels stammten oder die Ärmsten der Armen waren, eigentlich alle gleich waren. Es gab vielleicht Unterschiede in der Bildung, aber sie wollten alle ihre eigenen Interessen wahren. Die Gier war die treibende Kraft der Menschheit, hatte er für sich festgestellt, und kam sich aufgrund dieser Erkenntnis sowohl schmutzig als auch weltgewandt vor.

Plötzlich fiel Kit „das Mädchen“ wieder ein.

Sie hatten zusammen in der Kutsche gesessen. Wo war sie?

Wahrscheinlich war sie die Ehefrau eines Bauern oder die Tochter oder vielleicht eine Magd. Zum Teufel noch mal, sie konnte genauso gut eine Nonne sein! Sie war von Kopf bis Fuß in ihren Umhang gewickelt gewesen und hatte sich so weit weg von ihm in einer Ecke verkrochen, wie sie konnte, obwohl er sie vor diesem verdammten Bastard beschützt hatte, der auf dem Kutschbock saß.

Ja, sie hatte sich bei ihm bedankt, aber mit so leiser Stimme, als ob sie mehr Angst vor ihm hätte als vor dem Lustmolch. Und lief das nicht immer so?

Wenn Kit ehrlich war, musste er zugeben, dass er nicht gerade ein Held war. Er hatte sich nicht eingemischt, weil der Kutscher ordinär geworden war. Alle Kutscher waren ordinär. Genau genommen waren Männer im Allgemeinen ordinär. Kit selbst war öfter ordinär gewesen, als er sich selbst eingestehen wollte.

Nein, er war eingeschritten, weil er von Bastarden die Nase voll und keine Lust mehr hatte, über so etwas hinwegzusehen. Die junge Frau hatte das Recht, hinzugehen, wo sie wollte, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass sie vielleicht vergewaltigt wurde.

Hätte sie unter dem Schutz von Männern stehen sollen? Auf jeden Fall, aber so war es eben nicht.

Deswegen hatte er sie angewiesen, in die Kutsche zu steigen, die Tür geschlossen und den Kutscher beim Kragen gepackt, bis der Mann es sich anders überlegt hatte und ihr kein zusätzliches Fahrgeld mehr abknöpfen wollte. Es war eine einfache Willenseinigung. Weit weg von herzoglichem Handeln, aber bei Weitem wirkungsvoller.

Genauer genommen hätte Christopher der Duke es nicht einmal gemerkt, wenn ein Kutscher einer Unschuldigen ein widerwärtiges Angebot gemacht hätte … also wurde Kit vielleicht wirklich zu einem besseren Menschen?

Zweifelhaft.

Vor allem, wenn man seine Machenschaften im letzten Monat dafür als Anhaltspunkt nahm. Er war erschöpft. Die Bastarde aus dem Dorf Birkhuhn waren ihm auf den Fersen und seine Last aus Reue und Ängsten ließ sich auch nicht abschütteln. Heute Nachmittag war er zu einer Schlägerei aufgelegt gewesen. Der Kutscher hatte ihm nur den Anlass geboten.

Hinterher war er in das Gefährt geklettert, hatte sich nicht darum gekümmert, dass das Mädchen ihn anstarrte, als wäre er der Leibhaftige, und versucht zu schlafen, obwohl ihm der Regen durch die Schlitze an den Seiten der Fenster ins Gesicht gepladdert war.

Dann war der Unfall passiert.

Kit erinnerte sich noch daran, dass die Frau gegen ihn geprallt war. Er hatte die Arme um sie geschlungen, genauso um seiner selbst willen als ihretwegen. Wenn ihrer beider Körpergewicht zusammenkam, wurden sie vielleicht nicht aus dem Gefährt geschleudert. Er hatte keinen Wert darauf gelegt, sich den Hals zu brechen.

Offensichtlich war sein Plan aufgegangen. Seinem Hals ging es gut, aber jetzt war er zwischen den Sitzen der Kutsche eingeklemmt, lag halb auf dem Rücken und halb auf der Seite. Der Boden war nass vom Regen und wahrscheinlich auch dem Schmutz von wer weiß wie vielen Reisenden.

Das allein reichte schon aus, um ihn dazu zu bringen, dass er sich aufrichtete.

Er stützte sich mit einer Hand ab und stemmte sich hoch, um seinen anderen Arm zu befreien. Unbeholfen versuchte er, sich herauszuwinden, seine Rippen beklagten sich heftig über die allerkleinste Bewegung … aber er konnte atmen. Das war doch schon etwas.

Er hob einen Arm und suchte nach einem Handgriff. Seine Finger stießen an einen baumelnden Gegenstand und er schlang die Hand um ihn.

Zuerst gab er ein wenig nach und dann zog sich der Gegenstand zurück. Er packte fester zu.

„Loslassen, loslassen. Was soll denn das?“, sagte eine wütende Frauenstimme. Da erst wurde ihm klar, dass er das Fußgelenk des Mädchens in der Hand hatte.

Es war gut zu wissen, dass sie auch noch am Leben war – aber wo war sie?

Er löste seinen Griff und das Bein verschwand durch die Tür der Kutsche. Das Gefährt lag auf der Seite. Natürlich. Jetzt begriff er, was seine Lage war.

Sie hatte in der Türöffnung gesessen. Er war so mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, was über seinem Kopf vor sich ging. Er hörte, wie sie über die Seitenwand der Kutsche krabbelte, und dann ein Geräusch, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen, gefolgt von einem weiblichen „Uff.“

Kit kam auf die Füße und stand auf. Er war so groß, dass er mit Kopf und Schultern aus der Türöffnung ragte. Keine Knochenbrüche – nun ja, vielleicht eine Rippe, dachte er triumphierend.

Ein leichter, nebelhafter Regen schlug ihm ins Gesicht. In der Ferne hörte er Donnerrollen. Er zog seinen Handschuh aus und drückte mit dem linken Handrücken an seine Schläfe. Das Klebrige war Blut. Er hatte eine Platzwunde, aber er war nicht mehr orientierungslos. Stattdessen hatte er das Bedürfnis, seine augenblickliche Situation zu verfluchen – was er ohne zwischendurch Luft zu holen und mit großem Nachdruck tat. So viel zum Abenteuer.

Und dann wurde ihm klar, dass nichts zu hören war. Nicht die Pferde, weder der Postwächter noch der Kutscher oder die Magd.

Wo in drei Teufels Namen war sie geblieben? Oder lag sie mit gebrochenen Knochen irgendwo auf der Erde? Hatte das „Uff“ zu bedeuten, dass sie in Schwierigkeiten steckte?

Die Sorge gab ihm Kraft. Er packte die Kanten der Türöffnung und wollte sich hochstemmen, um aus der Kutsche herauszukommen, als sich plötzlich über seinem Kopf in der Luft etwas Hartes, Nasses bewegte. Wie ohne sein Zutun duckte er sich gerade noch rechtzeitig zurück in die Kutsche und verhinderte so, dass ihm der Kopf abgeschlagen wurde.

Er steckte den Kopf wieder durch die Tür hinaus. „Was machen Sie denn da?“

„Mich verteidigen.“ Die Magd klang verzweifelt. Sie stand dicht bei der Gepäckklappe der Kutsche, auf einem Tritt oder etwas Ähnlichem. Er konnte den dunklen Umriss eines abgebrochenen Asts erkennen, den sie in den Händen hielt, als wolle sie gleich noch einmal damit zuschlagen.

Zum Glück waren seine Arme länger. Er riss ihr die unhandliche Keule aus den Händen und warf sie auf die andere Seite der Kutsche. „Gegen mich brauchen Sie sich nicht zu verteidigen“, erwiderte er. „Ich sitze genauso in der Tinte wie Sie.“

Sie schrie erschrocken auf, ehe sie von ihrem Tritt heruntersprang und nicht mehr zu sehen war.

Früher einmal hatte Kit Frauen für die zerbrechlichsten Geschöpfe gehalten. Man hatte ihm beigebracht, dass sie vor dem Leben beschützt werden mussten, dass man sie mit äußerster Sorgfalt behandeln musste. Darüber war er inzwischen hinweg.

Inzwischen philosophierte er, dass das weibliche Geschlecht einen ganz eigenen Willen hatte, der dem von Katzen ähnelte. Sie taten, was sie wollten, wann sie es wollten und egal, wie man sie zu locken oder mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen versuchte, man konnte sie zu nichts bewegen. Er traute Katzen nicht über den Weg und Frauen genauso wenig.

Er war dieser jungen Frau nur freundlich begegnet und zum Dank wollte sie ihm den Schädel einschlagen.

Er zog sich nach oben, um sich auf die Seite der Kutsche zu setzen, von der sie gerade verschwunden war. Seine Beine baumelten noch in der Türöffnung, aber er entdeckte sofort den leblosen Körper auf der Erde. Mit grimmiger Sachlichkeit stellte er fest, dass der Mann tot sein musste. Der Postwächter hatte wahrscheinlich auch nicht überlebt. Es gab keine Hilfeschreie.

Es waren nur noch Kit und die Magd übrig.

„Was für ein verfluchter Schlamassel“, brummte er. Dann sah er sich um. „Die Pferde sind weg.“

Er machte eine Feststellung, die er laut aussprach.

Die Stimme der Magd kam von woanders als eben, einer anderen Seite der Kutsche, als wolle sie sich vor ihm verstecken. „Der vordere Teil der Kutsche ist zerstört. Die Deichsel ist zersplittert. Sie müssen durchgegangen sein. Wer weiß, wo sie jetzt sind!“

Sie war Irin.

Die Erkenntnis war überraschend, auch wenn Kit sich nicht erklären konnte, wieso. Es gab viele Haushalte mit irischem Personal. Ihr Akzent gefiel ihm. Aus ihrem Mund hörte sich die Beschreibung von Verzweiflung und Chaos beinahe musikalisch an. Er wusste zu schätzen, dass …

Eine Welle von Schwindel überkam ihn. Er schwieg, legte eine Hand an die Seitenwand der Kutsche, um sich abzustützen, und wartete, bis sie vorüber war.

„Stimmt irgendetwas nicht?“, fragte sie. Ihre Stimme kam jetzt von direkt vor der Kutsche. Offenbar umkreiste sie ihn, als ob sie auf der Jagd nach ihm wäre.

Er grunzte als Antwort.

Ihr Kopf tauchte wieder neben der Gepäckklappe auf. „Geht es Ihnen gut?“ Es hörte sich an, als wäre sie außer sich vor Angst.

Er war drauf und dran, eine sarkastische Bemerkung darüber zu machen, warum sie sich jetzt plötzlich Sorgen um ihn machte, wo sie doch gerade versucht hatte, ihn zu erschlagen. Aber er musste leider annehmen, dass sie dann in einen Wortschwall ausbrechen würde, um die Widersprüche in ihrem Handeln zu erklären. So machten Frauen das. „Ging mir niemals besser.“

Seine Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren unverständlich. Um seine Feststellung zu beweisen, zog er die Beine aus der Kutsche. Zum Glück schienen sie es noch zu tun. Nun ja, seine Rippen waren nicht begeistert, aber damit konnte er leben. Ein Mann brauchte seine Beine dringender als seine Rippen.

Die Wolken, die schnell über den Himmel zogen, teilten sich und hinter ihnen kam der Rest des Sonnenuntergangs zum Vorschein, als wollte der Himmel seine Beine segnen. Jetzt konnte Kit das ganze Ausmaß der Zerstörung um sie herum erkennen. Es war ein Wunder, dass sie noch am Leben waren. Offenbar hatten die Sitze in der Kutsche sie vor dem Schlimmsten bewahrt.

„Der Postwächter liegt hinter uns“, sagte die Magd. Dieses Mal kam ihre Stimme von der hinteren Ecke der Kutsche her. Sie schwieg, summte ein wenig vor sich hin und flüsterte dann: „Er rührt sich nicht.“

„Oh, der ist tot“, sagte Kit eine Spur fröhlicher, als unter diesen Umständen angemessen war. „Und können Sie nicht mal stehenbleiben? Sie sind nervtötend wie eine Schmeißfliege, wenn Sie so hin und her summen.“

Sie kletterte wieder auf ihren Platz neben der Gepäckklappe und machte dabei ein sehr finsteres Gesicht. „Wir haben eine verunglückte Kutsche, wir haben Tote zu beklagen und Sie ärgern sich über mich?“

„Mehr als nur ein wenig“, versicherte er ihr. Kit rutschte von dem kaputten Gefährt herunter. Er landete schwerfällig im Schlamm, hielt aber das Gleichgewicht. Aber dennoch, seine Knie.

Sie lehnte sich an die Kutsche und beobachtete ihn misstrauisch. In ihrem langen schwarzen Umhang sah sie aus wie eine Geistererscheinung. Sie stand auf einem abgebrochenen Brett von der Gepäckklappe und schien bis auf die Haut durchnässt zu sein. Die Kapuze war ihr vom Kopf gerutscht und ihr Haar klebte an ihrem Kopf. Er sah wahrscheinlich auch nicht besser aus.

Festen Boden unter den Füßen zu haben schien ihm zu helfen, im Gleichgewicht zu bleiben. Das Schwindelgefühl ebbte ab. Er ging zu dem Platz hinüber, wo der Kutscher lag. Seine Stiefel quatschten im Schlamm. Durch die Nähte sickerte das Wasser hinein. Er wünschte sich, dass er kein Loch in seiner einen Socke gehabt hätte. Direkt über dem großen Zeh an seinem linken Fuß, und dann lachte er im Stillen. Er war ein schöner Duke. Es hatte eine Zeit gegeben, als sein Herrendiener nicht einmal zugelassen hätte, dass ein loser Faden seinen Ärmel verunstaltete.

„An der Seite läuft Ihnen Blut über das Gesicht“, stellte sie fest.

Er wischte ihre Sorge mit einer Handbewegung fort.

Vom Rand des Waldes, der die Straße säumte, stieg langsam ein gespensterhafter Nebel auf. Kit war außerdem sicher, dass der Regen noch nicht vorbei war. Das Donnerrollen in der Ferne machte ihm Sorgen.

Es klang, als ob es auf dem Weg zu ihnen war.

Ihnen blieb nicht viel Zeit, um zu tun, was zu tun war.

Er kniete sich neben den leblosen Körper. Das Genick des Kutschers war gebrochen.

Der andere war genauso tot, auch wenn Kit den genauen Grund aus der Ferne nicht ausmachen konnte, und es war ihm auch vollkommen egal.

„Was können wir für die beiden tun?“, fragte sie.

Kit machte ein finsteres Gesicht. „Tun?“ Er schüttelte den Kopf. Glaubte sie vielleicht, dass sie wieder lebendig werden konnten? Frauen. So unmöglich. „Für sie beten“, erwiderte er und hob den Kutscher hoch. Die Rippen auf seiner rechten Seite beklagten sich, aber nicht so heftig, wie er zuerst gefürchtet hatte. Vielleicht waren sie nur geprellt. Er würde es schaffen. Er hob den Kutscher auf seine Schultern und ging auf die Kutsche zu.

Die Magd stieß einen Laut aus, der ungeduldig klang. Offensichtlich war ihr die Herablassung in seiner Stimme nicht entgangen. „Ich wollte damit sagen, sollen wir sie begraben?“

„Dafür ist es viel zu nass. Und es ist auch bald zu dunkel.“ Kit hob die Leiche auf die Kutsche und kletterte neben ihr hinauf. „Ich verstaue sie in der Kutsche, bis wir jemandem berichten können, was passiert ist.“ Er ließ den Mann vorsichtig in das Gefährt hinunter. „Tut mir leid, Mann. Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun.“ Der Kutscher war ein echtes Schwein gewesen, aber deswegen verdiente er noch lange nicht so einen Tod.

Kit musste sich beeilen, seine bittere Aufgabe zu erledigen. Das Gewitter hatte schnell wieder an Kraft gewonnen. Die Wolken ballten sich und hielten die Reste des Tageslichts ab. Er sprang von der Kutsche herunter und ging zu dem Wächter hinüber.

„Und was ist mit uns?“, fragte die Magd. „Wo sollen wir hin?“ Sie schwieg und dann, als würde sie ein großes Scheitern zugeben müssen, gestand sie ihm: „Ich weiß nicht, ob ich das Gewitter mit toten Männern in derselben Kutsche abwarten kann.“

„Ich weiß, dass ich das nicht tun werde.“ Kit hievte den Wächter auf seine Schultern. „Vor allem, weil der Regen noch lange nicht vorbei ist. Wir müssen einen trockeneren Platz finden.“

Er hatte es geschafft, den toten Männern nicht in die Gesichter zu sehen. Das hier war eine grausige Aufgabe. Noch vor einem Jahr wäre er zu zimperlich gewesen, um sie zu bewältigen.

Als er die Kutsche erreicht hatte, kletterte er mit seiner zweiten Last hinauf. Er wollte den Wächter gerade ins Innere hinablassen, als er im schwächer werdenden Licht der Öllampe seinen Hut entdeckte. Er war ihm vom Kopf gefallen, als er sich aufgerappelt hatte, und lag jetzt schwankend auf der Sitzkante.

Kit mochte den breitkrempigen Hut. Er fühlte sich mit ihm wie ein Mann des Volkes.

Er rollte die Leiche des Wächters zur Seite und streckte den Arm aus, bis er die lederne Krempe mit zwei Fingern fassen konnte. Es war sehr befriedigend, ihn wieder aufzusetzen. Dann ließ er die zweite Leiche vorsichtig in die Kutsche hinab. Der eine Mann kam auf dem anderen zu liegen. Es war nicht zu ändern. Morgen früh, wenn es hell war und ihm hoffentlich jemand half, würde er dafür sorgen, dass sie die Würde zurückbekamen, die sie verdienten.

Er richtete sich auf. Der Nebel ging schnell in Regen über. „Ich schlage vor, dass wir uns einen Unterschlupf suchen.“

Die Magd stand neben der Kutsche. „Und wie sollen wir das machen?“

„Wir befinden uns auf einer Hauptstraße. Es muss in der Nähe einen Hof oder ein Herrenhaus geben.“

„Ich weiß nicht“, erwiderte sie in sorgenvollem Ton.

„Aber ich“, entgegnete er selbstbewusst. Sie waren in England. Mit Sicherheit wohnte jemand in der Nähe dieser Straße.

„Vielleicht sollten wir hierbleiben?“, schlug sie vor.

„Bei den Leichen?“, fragte er.

Ihr Gesicht war ein weißes Oval in der zunehmenden Dunkelheit, ihr Ausdruck war angespannt vor Sorge. „In welche Richtung sollen wir gehen?“, fragte sie schließlich.

„Macht das irgendeinen Unterschied?“ Er sprang auf die Erde. Die Sohlen seiner Socken waren inzwischen vollkommen durchweicht, was verdammt unangenehm war. „Kommen Sie“, sagte er. „Wir brauchen sicher nicht weit zu laufen.“ Er hielt ihr eine behandschuhte Hand hin. „Sind Sie mit Ihrem Umhang wenigstens trocken geblieben?“ Er war dankbar für sein Ölzeug.

„Einigermaßen“, erwiderte sie, sah aber über seine Hand hinweg. Sie machte sich auf in die Richtung, in die sie mit der Kutsche gefahren waren.

So viel zur Freundlichkeit. Kit folgte ihr achselzuckend und ein wenig erleichtert, dass er keine Richtung zu bestimmen brauchte. Leichen zu schleppen war nicht nur eine abstoßende Aufgabe, sondern sie hatte ihn auch daran erinnert, wie knapp Kit und die Magd dem Tod von der Schippe gesprungen waren. Er war nur zu gerne bereit, Abstand von dem Unfall zu gewinnen. Er hoffte, dass sie schnell ein sicheres Obdach fanden. Ein freundliches Kaminfeuer und ein heißer Grog würden die Härten des Tages abmildern. Er suchte den Wald nach irgendeinem Anzeichen von Zivilisation ab.

Er war so sehr in diese Aufgabe vertieft, dass er sie beinahe niedergetrampelt hätte.

„Können Sie nicht aufpassen?“, fragte sie empört.

„Können Sie nicht ein bisschen schneller gehen?“, entgegnete er scharf. „Ich würde gerne einen Unterschlupf finden, bevor wir wieder im Regen stehen.“

Sie prustete nur empört. Sie setzte sich vor ihn, den Kopf hoch erhoben, die Schultern gereckt. Nicht einmal eine Königin konnte die Nase so weit in die Luft erheben. Ihre Füße machten bei jedem Schritt schmatzende Geräusche.

Kit grinste. Sagte man nicht, dass irische Mädchen starrköpfiger waren, als gut für sie war? Seine Begleiterin bestätigte diese Feststellung.

Nur dass in diesem Augenblick der Himmel alle Schleusen öffnete. Der Regen strömte auf sie herab und aus der Ferne hörten sie das laute Knacken eines Blitzschlages.

Es war genug mit den Spielchen. Kit streckte die Hand nach der Magd aus, packte ihren Arm und zog sie hinter sich her unter die Bäume in den Wald.

3. KAPITEL

Der Feenwind weht jedem Mann den Hut vom Kopf.

Irisches Sprichwort

„Was soll das werden?“, blaffte Elise und grub die Fersen in den Boden. Dabei versuchte sie, Mr. Grobian ihren Arm zu entreißen.

Er lockerte seinen Griff. „Ich will Ihnen nichts tun“, sagte er. „Ich will nur, dass wir so trocken wie möglich bleiben.“

Dagegen war nichts zu sagen. Elise freute sich nicht gerade darüber, dass er vielleicht recht hatte. Sie machte einen Schritt auf den Stamm eines riesengroßen Baumes zu, dankbar für jeden Schutz, den ihr die belaubten Äste vor dem heftigen Regen bieten konnten.

Es war allerdings nicht viel.

„Hier können wir nicht bleiben“, sagte Mr. Grobian. „Es muss irgendwo einen Unterschlupf geben.“

Sie war sich nicht sicher, ob er damit recht hatte. Zudem hatte sie entschieden, dass das hier eine schreckliche Reise war. Und auch wenn sie mit dem Weglaufen an sich ihren Schwestern mitteilen wollte, dass sie nicht unter einem Dach mit Dara und Michael leben konnte oder würde … jetzt gerade war der Gedanke daran dennoch ein kleiner Trost.

Eigentlich kam sie sich vollkommen albern vor. Was, wenn sie hier draußen umkam? Oder von den Wassermassen fortgerissen wurde …

„Warum reisen Sie ganz allein mit der Postkutsche? Haben Sie keine Familie?“ Seine mürrische Stimme störte sie in ihren unheilvollen Gedanken.

Sie hatte jede Menge Familie. Und die würde entsetzt darüber sein, was sie getan hatte.

Aber sie hatte nicht vor, ihm das anzuvertrauen. Er war niemand … und genau die Art von Mann, die ihren Ruin bedeuten konnte, wenn in London jemand davon Wind bekam, dass sie sich gemeinsam herumgetrieben hatten. Elise hatte Feinde. Die anderen Debütantinnen der Saison beneideten sie um das, was sie als ihren gesellschaftlichen Erfolg ansahen. Ob sie in Irland blieb oder nach London zurückkehrte, niemand durfte jemals irgendetwas von dieser schrecklichen Nacht erfahren.

Ohne ein Wort stieß sich Elise von dem Baumstamm ab und zog sich die feuchte Kapuze ihres Umhangs über den Kopf. „Wenn wir hier herumstehen, werden wir keinen Unterschlupf finden.“ Sie machte einen Schritt in Richtung Straße, blieb aber stehen, als der Regen plötzlich in einem Schwall vom Himmel zu fallen schien. Sie machte einen Satz nach hinten, direkt in Mr. Grobian hinein. Sie stieß mit den Schulterblättern an seine Brust. Sie wankte ein wenig, auf dem weichen Boden unter ihren Füßen verlor sie das Gleichgewicht. Er legte seinen starken, festen Arm um sie, um sie zu stützen.

Elises erste Reaktion war Entsetzen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so dicht hinter ihr war. Sie wäre ihm beinahe mit dem Absatz auf den Fuß getreten.

Und dann spürte sie seine Gegenwart. Ein gefährliches Gefühl. Wie groß er war. Wie muskulös. Wie er ihre Bewegung unterbrochen hatte, als wäre er eine Ziegelmauer.

Eine Ziegelmauer, die in ihr ein Gefühl erweckte, als würde sich etwas zusammenziehen. Überraschend tief in ihr. An ihren intimsten Stellen.

Das plötzlich aufgeflammte Gefühl versetzte Elise von Neuem in Verwirrung. Sie war nicht dazu aufgelegt, sich mit Männern zu befassen. Man hatte ihr das Herz gebrochen, und das ließ sich niemals wieder reparieren. Aber dennoch regte sich etwas in ihr, und das nicht einmal in der Nähe ihres Herzens.

In diesem Augenblick sah sie klar: Sie hatte einen Fehler gemacht. Sie hätte nicht weglaufen sollen. Sie hätte nicht mit einem so groben Kerl allein sein sollen, dessen Anwesenheit sie beunruhigend fand. Sie musste nach London zurückkehren. Sofort.

Elise stürmte hinaus in den Regen, als wären ihr alle Bestien der Hölle auf den Fersen. Sie begriff nicht ganz, warum sie sich ebenso ungefragt zu Mr. Grobian hingezogen gefühlt hatte, aber sie wollte diesem Gefühl auch keine weitere Nahrung geben …

Sie rutschte mit einem Fuß im Schlamm und dem nassen Gras aus. Sie taumelte vorwärts. Sie streckte die Arme aus, um sich aufzufangen, aber dann zog etwas an ihrem Umhang und stellte sie wieder auf ihre Füße. 

Mr. Grobian. Schon wieder.

„Vorsicht“, mahnte er und dabei rann ihm das Wasser über die Hutkrempe. „Es ist viel zu dunkel geworden, um einfach loszurennen.“

Das waren keine romantischen Worte. Es waren auf jeden Fall keine blumigen Allgemeinplätze wie die ihrer Londoner Verehrer, die ihren Mantel auf den Boden geworfen hätten, damit sie darauf gehen konnte. Zugegeben, sie machte gerade nicht den besten Eindruck, aber Männer kümmerten sich um sie. Manchmal sogar nur ihrer Jugend wegen. Offenbar hielt Mr. Grobian nichts von ihr. Er benahm sich, als ob sie eine dumme Gans wäre.

Elise raffte ihren Umhang und ihre Röcke und versuchte, weiterzumarschieren. Dabei schwor sie sich, in Zukunft umsichtiger zu sein. Es war ihr egal, was er dachte. Er bedeutete ihr gar nichts. Sie ging weiter in den Wald hinein, wo das Blätterdach der Bäume ein wenig Schutz vor dem Wetter bot.

„Jawohl, Prinzessin“, murmelte er, während er ihr folgte.

Prinzessin? Was redete er denn da?

Männer waren ein solches Ärgernis. Sie ging weiter.

Und er machte weiter. Sie bahnte sich ihren Weg am Waldrand entlang, wo der Regen sie am Fortkommen hinderte. Er ging hinter ihr und murmelte dabei spöttisch: „Vielen Dank, Prinzessin. Ich lebe, um zu dienen, Prinzessin. Kann ich irgendetwas für Sie tun, Prinzessin …“

Elise wirbelte herum und pikste ihn mit dem Finger in die Brust. „Genug jetzt. Ich habe Sie nicht um Ihre Hilfe gebeten. Sie brauchen mir nicht einmal nachzulaufen …“

Ein Blitz zuckte durch den Himmel. In seinem Licht zeichnete sich der Schatten eines Baumes in der Ferne ab. Für einen kurzen Augenblick betonte das blendende Licht, wie dunkel es im Wald wirklich war.

Seine Miene änderte sich. „Wir müssen uns in Sicherheit bringen“, brüllte er. Ehe sie etwas erwidern konnte, legte er einen Arm über ihre Schulter und zog sie in die beinahe vollkommene Dunkelheit der schützenden Bäume.

Er trug sie gewissermaßen mehrere Schritte weit in den Wald hinein, ehe Elise sich besinnen und etwas sagen konnte. Sie warf den Arm nach hinten, so dass sie sich abwenden konnte. „Ich brauche keinen …“, fing sie an, als sie mit der ausgestreckten behandschuhten Hand auf etwas stieß.

Es gab ein lautes, schmerzliches Heulen.

Jetzt sprang Elise Mr. Grobian gleichsam in die Arme. Ihre Gedanken überschlugen sich vor Angst. Was hatte sie berührt, was so einen Laut von sich geben konnte? Sie dachte zuerst an die Geschichte von dem Löwen, der in Exeter aus einem Wanderzirkus ausgebrochen war und Kutschpferde angefallen hatte. Hatten sie es hier draußen mit einem Löwen zu tun?

„Was ist?“, brüllte er sie durch den Regen an. „Was ist denn los?“

Ein Bellen, ein Knurren, scheinbar ganz in ihrer Nähe. „Das ist los“, erwiderte sie. Konnte der Dummkopf nicht sehen? Da war irgendetwas.

Er drehte sich so, dass er sie von der unsichtbaren Bedrohung abschirmte, und machte einen Schritt vorwärts. Donner rollte über ihren Köpfen, die Ankündigung eines Blitzschlags, der nicht lange auf sich warten lassen würde.

Jetzt war ein Wimmern zu hören.

„Was zum …?“, flüsterte Mr. Grobian, und dann kniete er sich hin. „Das ist ein Hund.“ Der Blitz zuckte durch den Himmel, ehe der Himmel zu knistern begann und die feuchte Nase des Tieres zu sehen war, nur eine Handbreit von Mr. Grobians ausgestrecktem Arm entfernt. Der Hund kauerte sich bei dem Krach zusammen. Mr. Grobian sagte sanft: „Ist schon gut, mein Junge. Es kann dir nichts tun.“

„Eigentlich schon“, musste Elise einwerfen. „Vor allem, wenn es diesen Baum da trifft.“

Der Hund bellte, als wollte er ihr zustimmen.

Mr. Grobian stand auf. „Er will, dass wir ihm folgen.“

„Das können Sie doch nicht wissen“, erwiderte Elise. Sie mochte Hunde und vermisste die von Wiltham, aber sie konnte sich nicht mit ihnen verständigen. Und sie würde keinem in einem Gewitter hinterherlaufen. „Hunde sind bei Gewitter zu nichts zu gebrauchen.“

Anstatt auf sie zu hören, lief er dem Hund hinterher, der bereits losgerannt war … beinahe als hätte er verstanden, was Mr. Grobian gesagt hatte.

Elise wartete einen Augenblick, ließ sich von der Dunkelheit umschließen, doch dann gab es eine Reihe von zuckenden Blitzen. Sie war sich nicht sicher, ob ihr hier, wo sie stand, weniger Gefahr drohte, oder wenn sie dem Hund folgte. Dann nahm ihr ein besonders heftiges Krachen wie von einem Ast, der ganz in ihrer Nähe abgebrochen war, die Entscheidung ab. Hier war sie in Gefahr. Sie war vielleicht auch bei Mr. Grobian in Gefahr, aber zumindest war sie da nicht allein.

Sie folgte ihrem unangenehmen Begleiter.

Es war nicht schwer, ihm zu folgen. Sie brauchte nur dem Krachen und den unterdrückten Schmerzensschreien zu folgen, als Mr. Grobian über irgendetwas auf dem Waldboden stolperte.

Dann, gerade als sie den Mann und den Hund eingeholt hatte, traten sie auf eine Lichtung.

Ein Blitz erhellte den Wald und auf der Lichtung war eine kleine, zweifelhaft aussehende Hütte zu erkennen. Der Hund verschwendete keine Zeit, sondern rannte zur Tür hinein, die von ledernen Scharnieren gerade noch gehalten wurde.

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