Die geheimnisvolle Viscountess
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Oktober 1818
Der Sturm tobte wie eine wilde Bestie. Unter seinen heftigen Attacken ächzte und knarrte das Schiff, als bettelte es um Gnade. Auch die Schreie der Mannschaft, die verzweifelt versuchte, die Takelage zu retten, ließen keinen Zweifel an der Bedrohlichkeit der Lage.
Adam Vickery, Marquess of Tannerton, von seinen Freunden nur Tanner genannt, sah ebenso wie die anderen Passagiere im Frachtraum des Postschiffs dem eigenen Ende entgegen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen geschlossen und zog Bilanz über sein Leben.
Er empfand es als unzulänglich. Er hatte keinerlei Spur in der Welt hinterlassen, keinen Sohn gezeugt, der seinen Titel und seine Ländereien erbte, kein Kind, das seinen Stammbaum fortführte. Er hatte nichts anderes getan, als das zu verwalten, was sein Vater, sein Großvater und all die Marquesses of Tannerton vor ihnen aufgebaut hatten. Wenn er ganz ehrlich war, konnte er nicht einmal behaupten, sich intensiv darum gekümmert zu haben. Andere erledigten diese Arbeit für ihn – seine Verwalter und Sekretäre. Sie schufteten, während er selbst sich mit Glücksspiel, Sport und Frauen vergnügte.
Ein lautes Krachen ertönte, und ein dumpfer Schlag erschütterte das ganze Schiff. Eine Frau wimmerte. Tanner öffnete die Augen und sah, dass sie ein Kleinkind und ein Baby an ihre Brust drückte. Der Frachtraum war voller Frauen, die wie sie vor Angst zitterten, und voller Männer, die wie er selbst ihre Hilflosigkeit verfluchten. Gegen den Sturm gab es kein Mittel, nichts, was die See beruhigt und die Balken des Schiffs zusammengehalten hätte.
Sein Blick fiel auf eine Frau, die nicht weinte und sich auch nicht ängstlich zusammenkauerte. Scheinbar furchtlos stand sie neben einem Bow Street Runner. Die Lederfesseln um ihre Handgelenke verrieten, dass sie eine Gefangene war. Schon vor Stunden, am Beginn seiner Reise von Dublin nach Holyhead, war sie ihm aufgefallen, weil sie trotz ihrer misslichen Lage eine solche Würde ausstrahlte. Welches Verbrechen mochte sie begangen haben, das ihre Eskortierung aus Irland rechtfertigte? Er war in zu düsterer Stimmung gewesen, um sie danach zu fragen. Jetzt wünschte er, mit ihr gesprochen oder sie wenigstens angelächelt zu haben. Sie machte einen ebenso einsamen Eindruck wie er.
Als der Wind immer heftiger wurde, hatte der Bootsmann alle Passagiere in den Frachtraum gebracht. Er hatte ihnen gesagt, dass sie in der Nähe der walisischen Küste seien. Die Küste war felsig und tückisch, darüber hatte der Mann allerdings kein Wort verloren.
Was ist schlimmer? überlegte Tanner. In den kalten Tiefen der Irischen See zu ertrinken oder gegen eine schroffe Felswand geschleudert zu werden?
Beides bedeutete den Tod.
Als der Sturm noch heftiger wurde, schaute der Bootsmann ein zweites Mal herein. „Alles wird gut“, beteuerte er. Keiner der Passagiere glaubte ihm. Tanner las es ihnen von den Augen ab. Es ging ihm ja selbst nicht anders. Er beobachtete einen Mann, der eine Miniatur aus der Tasche holte und sie betrachtete – das Porträt eines geliebten Menschen, den er nie wiedersehen würde, jemand der bald trauern würde.
Wer würde um den Marquess of Tannerton trauern? Sein Freund Pomroy würde ab und an in Erinnerung an ihn das Glas zu einem Trinkspruch erheben. Eine oder zwei ehemalige Geliebte behielten ihn vielleicht in guter Erinnerung. Möglicherweise dachten der Duke of Clarence und sogar der Prinzregent noch eine Weile an ihn. Algernon, seinem leichtlebigen Cousin, würde es davor grauen, den Titel und die damit verbundenen Pflichten zu erben. Tanner fuhr sich über das Gesicht und bedauerte, dass er Algernon nie an die Kandare genommen und ihm gezeigt hatte, wie einfach alles war.
Er bemerkte, dass der Bow Street Runner auf und ab ging, während die Gefangene dem Mann einen verächtlichen Blick zuwarf.
Hatte sie jemanden, der um sie trauerte?
Sie stand erhobenen Hauptes da, und ihre aufsehenerregenden Augen wirkten wach und aufmerksam. Der Gedanke, was das Meer ihr antun, wie es ihren Körper aufschwemmen und ihm jede Farbe nehmen würde, schien ihm unerträglich.
Tanner sah zur Seite und versuchte, das schreckliche Bild aus seinen Gedanken zu vertreiben, aber immer wieder wurden seine Blicke zu ihr hingezogen.
Sie war groß und schlank und hatte ebenso dunkles Haar und durchdringend blaue Augen wie die Frau, die ihn vor einem Jahr eine kurze Zeit lang fasziniert hatte. Hier endete die Ähnlichkeit allerdings auch schon. Rose O’Keefe hatte die richtige Wahl getroffen, als sie sich für seinen ehemaligen Sekretär Jameson Flynn entschieden hatte. Flynn hatte der Vauxhall-Sängerin angeboten, sie zu heiraten, was Tanner niemals getan hätte. Außerdem liebte Flynn sie.
Im Grunde klang es fast komisch. Sie hatte dem Sekretär gegenüber dem Marquess den Vorzug gegeben. Allerdings verspürte er keine Verbitterung darüber. Rose hatte den besseren Mann gewählt.
Er ließ den Kopf sinken. Es war ihm nicht um Roses Liebe gegangen, sondern darum, einem Rivalen ein Schnippchen zu schlagen. Am Ende waren deshalb drei Menschen gestorben. Drei Leben, die er auf dem Gewissen hatte.
Er hatte Flynn und Rose das Dublin Theatre gekauft. Auch wenn er damit die Zerstörung, die er in Gang gesetzt hatte, nicht wiedergutmachen konnte, stellte es dem Paar wenigstens die Mittel zur Verfügung, um ein neues Leben zu beginnen. Es war das Mindeste, was er tun konnte. Er war zu ihrer Eröffnungsvorstellung nach Dublin gereist, und jetzt überquerte er erneut die Irische See in diesem Holyhead-Postschiff, das auf England zusteuerte.
Planmäßig hätte es bereits vor Stunden anlegen sollen, aber der Sturm behinderte die Fahrt, und es wurde immer später. Er zog seine Uhr aus der Tasche. Es war schon fast neun.
Erneut war von oben ein erschütterndes Krachen zu vernehmen. Tanner schob die Uhr wieder in die Tasche und sah die Gefangene an. Ihre Existenz und sein eigenes leeres Leben schienen sich dem Ende zuzuneigen.
Die Tür sprang auf, und der durchnässte Bootsmann rief: „Alle an Deck! Zu den Booten! Frauen und Kinder zuerst!“
Die Totenglocke. Der Kapitän hielt das Schiff für verloren. Jetzt blieb keine andere Möglichkeit mehr, als zu versuchen, das Leben der Frauen und Kinder zu retten.
Es gab tränenreiche Abschiedsumarmungen. Ein paar Männer drängelten sich vor die Mütter und Kinder. Tanner stieß sie zurück. Mit vollem Körpereinsatz hielt er den Frauen den Weg frei. Die Gefangene war die letzte Frau, die aus der Tür ging. Der Bow Street Runner schob sie grob vor sich her. Der Mann hätte ihr wenigstens die Fesseln abnehmen können. Was spielte es jetzt noch für eine Rolle? Zumindest hätte sie dann in Freiheit sterben können.
Tanner kam als Letzter an Deck. Aus allen Richtungen peitschten ihm Wind und Regen entgegen. Der Schiffsmast stand nicht mehr stolz und aufrecht da, sondern lag wie ein umgeknickter Ast auf dem Deck.
Tanner stieg über Holzstücke und Überreste der Takelage. Ein Fass rollte auf ihn zu. Er sprang zur Seite und verlor auf der glitschigen Oberfläche beinahe das Gleichgewicht. Mehrmals musste er nach allem greifen, was in seine Nähe geriet, um nicht zu fallen.
Er bahnte sich seinen Weg zu den Beibooten. Sofort packte er mit an und half dabei, Frauen und Kinder über den Bordrand zu heben, wo sie von den Besatzungsmitgliedern, die in den Booten standen, in Empfang genommen wurden. Ein Blitz erhellte die Schatten des Ufers, das angesichts einer See, die wie ein Kessel giftigen Gebräus schäumte, unerreichbar schien. Die hilflosen Passagiere in den wild hin und her schwankenden Booten erwartete eine fürchterliche Fahrt.
Lass diese Leute überleben, betete er.
Er half einem Kind und dessen Mutter über den Bordrand. Dies war das letzte Boot, und die Besatzung begann bereits, es ins Wasser hinunterzulassen. Tanner streckte die Arme nach der gefangenen Frau aus, die den anderen den Vortritt gelassen hatte. Gerade wollte er sie über den Bordrand heben, als der Bow Street Runner sie beiseiteschubste, sodass sie auf das Deck fielen, und anstelle der Frau in das Boot sprang. Tanner rappelte sich hoch, doch es war zu spät. Das Boot war schon im Wasser, und die Besatzung ruderte aus Leibeskräften, um fortzukommen.
„Bastard!“, schrie Tanner. Der Wind heulte so laut, dass er sein eigenes Wort kaum verstand.
Zorn und Angst standen der Gefangenen ins Gesicht geschrieben. Tanner ergriff ihren rechten Arm und zog sie auf die Beine.
„Das Schiff bricht auseinander!“, schrie der Bootsmann im Vorbeilaufen.
Tanner sah sich rasch um. Einige Mitglieder der Mannschaft banden sich an Holzstücke.
„Kommen Sie!“, schrie er und zog die Frau mit sich.
Tanner riss Segeltuch von der Takelage und band sie an einem Teil des zerbrochenen Masts fest. Verdammt wollte er sein, wenn dieser Schurke von einem Bow Street Runner überlebte und sie nicht. Er knotete sich neben ihr am Holz fest und legte einen Arm um sie. Das Schiff stieß gegen Felsen.
Unter gewaltigem Krachen und Getöse brach das Schiff auseinander. Das Stück Mast, an das sie sich klammerten, wurde wie ein Federball in die Luft geschleudert, bevor sie in das schäumende Wasser stürzten.
Der Aufschlag betäubte Tanner, aber die eisige Kälte beim Eintauchen brachte ihn schockartig wieder zu Bewusstsein. Das Wasser war schwarz wie Tinte, und er wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Doch nach wie vor hielt er die Frau mit einem Arm fest. Er hatte sie nicht verloren.
Das Holz begann aufzusteigen, als ob es ebenso darum kämpfte, an die Oberfläche zu gelangen. Tanner stieß sich mit aller Kraft hoch. Seine Lungen brannten vor Atemnot.
Als sie die Wasseroberfläche durchbrachen, war der Schock beinahe so groß wie beim Eintauchen in die eisigen Fluten. Hustend rang Tanner nach Luft. Zu seiner Erleichterung hörte er, dass die Frau dasselbe tat. Sie hatte überlebt.
Dann brach eine Welle über ihnen zusammen und riss sie mit sich. Tanner gelang es noch, Atem zu holen, bevor sie wieder ganz vom Wasser umschlossen waren. Erneut tauchten sie auf, wurden weitergeschleudert und dann in die Tiefe gezogen.
Als sie wieder an die Oberfläche schnellten, rief Tanner: „Sind Sie verletzt?“
„Nein“, schrie sie.
Er hielt sie noch fester, als die nächste Welle auf sie zurollte. Wenn die See sie nicht verschlang, würde die Kälte sie umbringen.
Die Welle riss sie weit mit sich. Durch einen Schleier aus Regen und Meerwasser erspähte Tanner die Küste, doch dazwischen lagen zerklüftete Felsen, die wie spitze Zähne aus dem Wasser ragten. Eine weitere Welle überrollte sie und dann die nächste. Das Tuch löste sich und wurde fortgeschwemmt. Die Frau konnte sich nicht mehr am Maststück halten. Tanner musste sich zwischen dem Holz und der Frau entscheiden. Er ließ die Frau nicht los.
Ihre Röcke zogen sie beide nach unten, und die gefesselten Handgelenke machten ihr das Schwimmen unmöglich. Tanner kämpfte, um sie über Wasser zu halten, während sie den Felsen immer näher kamen.
Die nächste Welle schleuderte sie gegen einen schroffen Stein. Beim Aufprall schrie sie laut auf. Eine andere Welle schmetterte sie gegen den nächsten Felsen. Tanner versuchte, die Frau mit seinem Körper vor den Stößen abzuschirmen, aber das Wasser wirbelte sie zu schnell herum. Er verlor das Gefühl in Armen und Beinen und fürchtete, er könne sie nicht länger festhalten.
Nicht noch ein Menschenleben, dessen Ende ich zu verantworten habe! Das würde er nicht ertragen.
Er prallte gegen einen Felsen, und alles wurde schwarz.
Als Tanner die Augen öffnete, spürte er nassen Sand auf einer Wange. Das Rauschen der Wellen hallte in seinen Ohren wider, und die Schaumkronen schienen ihm zuzuzwinkern. Er befand sich auf festem Boden. Festem und zuverlässigem Boden.
Die Frau! Er hatte sie verloren. Fluch über ihn, er hatte sie losgelassen. Die Verzweiflung traf ihn mit derselben Wucht, wie es zuvor die sturmgepeitschten Wellen der Irischen See getan hatten. Seine Glieder waren schwer wie Blei, und seine Seele schmerzte vor Schuldgefühlen. Er hatte sie losgelassen.
Ein Licht leuchtete auf, das sich rasch hin und her bewegte. Plötzlich spürte er Hände, die seine Kleidung durchsuchten und in seinen Taschen wühlten.
Er packte eine der tastenden Hände, und der Dieb zog ihn bei dem Versuch, sich loszureißen, auf die Beine. Tanner konnte ihn nicht mehr festhalten und fiel in den Sand zurück. Der Mann trat ihm gegen die Rippen. Tanner rollte weg, um den Tritten auszuweichen, aber der Mann trat weiter zu.
„Dein Geld“, knurrte der Mann, während er nicht aufhörte, ihm Tritte zu versetzen.
An den englischen Küsten wimmelte es von Strandräubern – Leuten, die darauf hofften, dass ein Schiff zerschellte, sodass sie alles an sich reißen konnten, was an Land gespült wurde. Tanner hatte sich nie träumen lassen, jemals einem solchen Menschen zu begegnen.
Er rollte sich zusammen, um sich vor den gnadenlosen Stiefeltritten zu schützen. Plötzlich brach der Mann über ihm zusammen. Tanner schob ihn von sich und setzte sich aufrecht hin.
Vor ihm stand die Frau, ein langes Holzstück in den zitternden und nach wie vor gefesselten Händen.
Marlena Parronley starrte auf den niedergestreckten Unmenschen, der ihren Retter derartig brutal attackiert hatte. Sie hatte den Schurken mit all ihrer verbliebenen Kraft getroffen.
Vielleicht hatte sie diesmal tatsächlich einen Mann getötet.
Tannerton ging unter Schmerzen in die Hocke, sah zu ihr auf und hielt sich schwer atmend die Seiten.
Marlena hatte Tannerton sofort erkannt, als sie ihn an Bord des Schiffes gesehen hatte. Bei ihm hatte jedoch nichts darauf hingewiesen, dass er sich an sie erinnerte.
Gott sei Dank.
In ihrer ersten und einzigen Londoner Saison war er bei vielen Festivitäten zugegen gewesen, aber er war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Marquess, und sie war nur die Tochter eines Barons, noch dazu eines schottischen. Dennoch waren Eliza und sie in diesen berauschenden Tagen seinetwegen sehr aufgeregt gewesen. Sie hatten ihn Tanner genannt, als ob sie Aufnahme in jenen Zirkel engster Freunde gefunden hätten, der ihn umgab. Mit vorgehaltenen Fächern hatten sie nach dem attraktiven Marquess Ausschau gehalten, der so groß war und dessen braunes Haar immer ein wenig zerzaust wirkte. Und dann seine Augen! Seine moosgrünen Augen hatten es ihnen angetan. Eliza und sie hatten alle erdenklichen Möglichkeiten ersonnen, wie sie ihn treffen könnten, und hatten sich nicht getraut, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.
Freilich hatte sie sich damals nicht vorstellen können, dass sie sich eines Tages mit ihm inmitten eines Sturms auf einem auseinanderbrechenden Schiff befinden würde.
„Glauben Sie, dass ich ihn getötet habe?“
Tanner legte zwei Finger an den Hals des Mannes. „Er lebt.“
Erleichtert atmete sie auf.
Tanner rappelte sich hoch.
„Sind Sie verletzt?“, erkundigte er sich.
Marlena schüttelte den Kopf. Er schien sie tatsächlich nicht zu erkennen. Er versuchte, ihre Lederfesseln zu lösen. Schon auf dem Schiff waren ihre Handgelenke wund gescheuert. Jetzt waren sie von der Kälte so betäubt, dass sie keinen Schmerz spürte. Ihre Zähne klapperten, und sie zitterte am ganzen Körper.
Endlich fielen die Fesseln in den Sand, und sie war frei. Marlena rieb sich die Handgelenke, aber sie hatte kein Gefühl mehr in den Händen.
„Wir müssen dringend ins Warme.“ Er blickte sich um.
Sie befanden sich in einer Felsbucht mit ein wenig Sand. Steile schwarze Klippen umschlossen sie wie die Mauern eines Gefängnisses.
„Da dieser Kerl es geschafft hat, hierherzugelangen, kommen wir auch von hier weg“, sprach Tanner ihr Mut zu.
Sie nickte, aber mit einem Mal schien alle Kraft von ihr abzufallen. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, so tief war die Kälte in ihre Knochen gedrungen.
Tanner hob die Laterne des Strandräubers auf und ging an den Wänden ihres Felsengefängnisses entlang. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen. Eine gewaltige Welle wurde ans Ufer gespült und erfasste ihre Füße, aber sie starrte nur wie betäubt auf das schäumende Wasser, das ihre Knöchel umschloss. Er eilte zu ihr, ergriff sie am linken Arm und zog sie vom Wasser weg.
Ein Mal hatte er mit ihr getanzt. Eliza und sie hatten den Maskenball von Lady Erstine besucht, nachdem sie viele Stunden damit zugebracht hatten, Kostüme auszuwählen. Eliza war grün vor Neid, weil Tanner mit mir getanzt hat, erinnerte sich Marlena.
„Bleiben Sie bei mir“, forderte er sie auf.
Er entdeckte einen Spalt zwischen zwei Felsen, ergriff ihre linke Hand und zog sie hindurch. Dann kletterten sie kleinere Felsen hoch, die eine natürliche Treppe bildeten. Als sie zu guter Letzt den oberen Rand der Klippe erreichten, befanden sie sich auf grasigem Farmland. Der Sturm war endlich weitergezogen, aber in seinem Sog blies ein kalter Wind, der dafür sorgte, dass sich ihre Kleider wie Eis anfühlten.
In einiger Entfernung konnten sie ein Licht erkennen. „Ein Bauernhaus“, sagte Tanner. „Beeilen Sie sich.“
Marlena fühlte sich benommen. Sie mochte es, wenn er den Arm um sie legte, doch sie fand es gar nicht angenehm, wenn er sie drängte, weiterzugehen.
Sie näherten sich dem Licht, aber ihr Geist war wie vernebelt, und sie wollte nur noch schlafen. „Schlaf“, flüsterte sie.
„Nein.“ Unvermittelt legte er sie sich über die Schulter und trug sie.
Sie erreichten das Häuschen, in dessen Fenster eine einsame Kerze brannte. Tanner pochte gegen die Tür. „Helfen Sie uns! Machen Sie auf!“
Wenig später öffnete ein grauhaariger Mann im Nachthemd die Tür.
„Rasch. Sie muss dringend ins Warme“, erklärte ihm Tanner.
„Oh“, sagte der Mann. „Kommen Sie herein.“
Tanner trug sie ins Haus und stellte sie vor einem Kamin auf die Beine. Die Hitze, die von den glühenden Scheiten in der Feuerstelle ausging, fühlte sich nach der betäubenden Kälte schmerzhaft an.
„Bringen Sie Decken!“, befahl Tanner dem Mann. „Ich muss sie warm bekommen.“
Der Mann wankte in ein anderes Zimmer, und Tanner begann, ihr die Kleidung auszuziehen.
Plötzlich spürte Marlena, dass trockene Wolle ihre Schultern umgab und Tanner sie auf einen Lehnstuhl setzte.
Der alte Mann schürte die Glut, sodass es noch heißer wurde und sie vor Schmerzen zusammenzuckte.
„Meine Frau und mein Sohn sind beim Wrack“, sagte der Mann.
Ja, erinnerte sich Marlena dunkel, während sie von Schüttelfrost erfasst wurde. Sie war auf einem berstenden Schiff gewesen. Sie erinnerte sich an den Schock, im eisigen Wasser zu versinken.
Eine Katze strich schnurrend an ihren Beinen entlang. „Katze“, flüsterte sie, ohne jemanden direkt anzusprechen, und ihre Lider wurden immer schwerer.
Marlena erwachte unter dicken Decken in einem warmen Bett. Sie hatte keine Kleidung an, nicht einmal ein Unterhemd. Neben ihr, ebenfalls nackt und sie fest im Arm haltend, lag der Marquess of Tannerton.
Die Frau neben ihm fühlte sich endlich warm an, nachdem Tanner schon befürchtet hatte, die Kälte würde den Sieg davontragen. Er ließ die linke Hand an ihrem Rücken hinuntergleiten und genoss es, ihre seidige Haut unter seinen Fingerspitzen zu spüren. Er hatte sie aus den Fluten gerettet. Gott sei Dank.
Im Zimmer waren plötzlich Geräusche zu vernehmen, und mit einem Aufschrei löste sich die Frau von ihm.
Blitzartig richtete er sich auf.
Die Frau zog sich eine Decke bis zum Kinn hoch und umklammerte sie. Morgenlicht drang in das kleine Zimmer, und drei Augenpaare starrten sie und Tanner an. Es waren der runzlige Mann, der ihnen am Vorabend die Tür geöffnet hatte, eine ebenso runzlige alte Frau und ein stämmiger jüngerer Mann.
„Zum Teufel, was tun Sie hier?“, brummte Tanner.
Die Zuschauer wichen einen Schritt zurück. Der alte Mann lächelte unterwürfig. „Meine Frau und mein Sohn sind zurück.“
Tanner starrte sie an. „Sie stören unsere Privatsphäre.“
In Wahrheit waren er und die Frau die Eindringlinge. Tanner hatte dem alten Mann kaum eine andere Möglichkeit gegeben, als ihnen das Bett zu überlassen, das er sonst gewiss mit der alten Frau teilte. In der Nacht hatte Tanner an nichts anderes denken können, als die Frau in Decken zu hüllen und sie mit seinem Körper zu wärmen. Er hatte ihre Kleidung auf einem Haufen im ersten Zimmer liegen lassen und sie in die Schlafkammer getragen, nachdem er dem Alten befohlen hatte, ihm alle Decken zu bringen, die er besaß.
Der jüngere Mann rieb sich den Kopf und zuckte plötzlich zusammen. Tanner standen die Haare zu Berge. Er hätte schwören können, dass der Sohn des Alten der Angreifer vom Strand war. Er runzelte die Stirn. Ihr Zufluchtsort kam ihm mit einem Mal eher wie die Höhle des Löwen vor.
Rasch fasste er sich wieder. „Was tun Sie hier?“, fragte er erneut und überprüfte, ob er noch seinen goldenen Siegelring trug und ob sich die Geldbörse, die er klugerweise aus seinem nassen Gehrock gezogen hatte, noch neben ihm unter der Decke befand. Er hielt die Geldbörse hoch. „Suchten Sie danach?“
„Wir wollten nur nachsehen, ob Sie irgendwas brauchen.“ Die alte Frau lächelte einfältig.
„Alle drei auf einmal?“, spottete Tanner.
Der Sohn sah ihn verärgert an.
Tanner warf einen Blick auf seine Begleiterin, die noch immer zusammengekauert unter der Decke saß. Er wandte sich wieder den anderen zu. „Lassen Sie uns allein“, kommandierte er.
Die beiden Alten huschten auf die Tür zu. Ihr Sohn folgte ihnen widerwillig, wobei er sich erneut an den Kopf fasste.
„Wir brauchen unsere Kleidung“, fügte Tanner hinzu.
Die Frau blieb im Türrahmen stehen. „Ihre Sachen sind immer noch feucht, Mylord. Ich habe sie nach draußen in die Sonne gehängt. Da werden sie schnell trocken.“
„Gut.“ Tanners Ton wurde eine Spur versöhnlicher. „Behandeln Sie uns gut, dann werden Sie dafür belohnt.“
Der Sohn lächelte. „Haben Sie noch weitere Wünsche, Mylord?“
„Bereiten Sie uns etwas zu essen.“
Der Mann verbeugte sich und schloss die Tür hinter sich.
„Die dachten wohl, sie könnten meine Geldbörse stehlen“, murmelte Tanner und rieb sich das stoppelige Kinn. Er brachte es nicht über sich, die Frau mit dem Verdacht, den er gegen den Bauernsohn hegte, zu beunruhigen. „Wie geht es Ihnen, Miss? Ist alles in Ordnung?“
Sie bewegte sich unter der Decke, als müsse sie überprüfen, ob alle Körperteile noch funktionstüchtig seien. „Ich habe ein paar Schrammen, aber ansonsten bin ich unverletzt.“
Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und sah dann rasch zur Seite. Tanner wurde bewusst, dass er von der Taille aufwärts nackt war. Darunter ebenfalls, aber die Decken verhüllten seine untere Hälfte. Er griff nach der obersten Decke, zuckte zusammen und hielt sich eine Hand an die Rippen.
„Sie sind verletzt?“, fragte sie besorgt und streckte eine Hand aus, die sie jedoch sofort wieder zurückzog.
Er schaute an sich hinunter. Blaurote Flecken überzogen seinen Oberkörper. „Nichts von Belang“, widersprach er, obgleich ein stechender Schmerz ihm erneut fast den Atem nahm.
Tanner sah wieder zu ihr hin und musste über die eigenartige Situation grinsen. Immerhin wachte er nicht jeden Morgen nackt mit einer ebenfalls unbekleideten Frau in den Armen auf, deren Namen er nicht kannte. Er lächelte. „Ich glaube fast, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden.“ Er machte eine höfliche Verbeugung oder zumindest etwas Ähnliches, wenn man bedachte, dass er zur Hälfte unter einer Decke im Bett saß. „Ich bin Tannerton, der Marquess of Tannerton. Meine Freunde nennen mich nur Tanner, und Sie darf ich nun wohl zu diesem Kreis zählen.“ Er lächelte.
Ihre blauen Augen funkelten im Morgenlicht. „Marquess … Mylord …“ Sie senkte den Blick.
„Tanner“, korrigierte er sie freundlich. „Und Sie sind …?“
Er hatte den Eindruck, sie würde fieberhaft nach einer Antwort suchen.
„Ich bin Miss Brown, Sir.“
Das war ein weitverbreiteter Name, und er hätte schwören können, dass es nicht ihr richtiger Name war.
„Miss Brown“, wiederholte er.
Sie zog an ihrer Decke, als ob sie sicherstellen wollte, dass nichts von ihrem Körper zu sehen war. „Wissen Sie etwas über die anderen auf dem Schiff? Hat jemand überlebt?“
Er sah sie fest an. „Sie meinen den Bow Street Runner?“
Sie schaute zur Seite und nickte.
Er gab einen verächtlichen Laut von sich. „Ich hoffe, der Teufel hat ihn geholt.“
Sie sah ihn wieder an. „Hat jemand überlebt?“
„Ich weiß nichts von den anderen“, antwortete er und versuchte, nicht an die Frauen und Kinder zu denken. „Wir waren allein am Strand, bis auf den Mann, der versucht hat, mich auszurauben.“ Der Mann, der vermutlich gerade das Zimmer verlassen hat. „Wir haben es bis hierher in dieses Bauernhaus geschafft. Ich brachte den Alten dazu, uns das Bett zu überlassen, und muss eingeschlafen sein.“
„Ich verdanke Ihnen mein Leben, Sir“, flüsterte sie.
Sie sah ihn mit ihren blauen Augen an, und es war, als ob ihr Blick etwas in ihm veränderte. Er zog die oberste Decke zur Seite und band sie sich um die Taille. Dann stand er vom Bett auf. „Ich werde nach unserer Kleidung sehen.“ Er drehte sich zur Tür.
„Einen Augenblick, Sir“, sagte sie atemlos. „Was wissen diese Leute über uns?“
„Ich habe ihnen nicht erzählt, dass Sie eine Gefangene waren, wenn Sie das meinen.“
Erleichtert atmete sie auf.
„Gestern Abend habe ich nur den alten Mann gesehen. Ich fürchte, ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Meine Manieren lassen wirklich zu wünschen übrig.“
„Gut“, sagte sie.
„Gut?“ Er hob die Brauen.
„Sagen Sie ihnen nicht, wer Sie sind. Ein Marquess ist wertvoll. Es könnte sein, dass Sie sich freikaufen müssen.“
Sie ist scharfsinnig, dachte er bei sich. Er hatte überlegt, diese Leute mit seinem Titel einzuschüchtern, aber jetzt sah er ein, dass es klüger war, seine Identität nicht preiszugeben.
Er drehte seinen Siegelring nach innen und legte eine Hand auf den Türknauf. „Ich werde schweigen wie ein Grab.“ Die Anspannung wich aus ihrem hübschen Gesicht.
Sie lächelte, und er ging aus dem Zimmer, wobei er die Decke an der Hüfte festhielt.
Als er den Raum verlassen hatte, brauchte Marlena einen Moment, um sich zu sammeln. Es war, als ob seine Präsenz noch nachwirkte. Eliza und sie waren zu naiv gewesen, um sich den Marquess of Tannerton ohne Kleidung vorzustellen, aber jetzt konnte sie nur feststellen, dass er spektakulär aussah. Sie hatte beim Aufwachen lediglich einen flüchtigen Blick auf seinen Körper geworfen, doch der Anblick ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Er war wie eine zu Leben erwachte griechische Statue, aber nicht marmorkalt, sondern warmherzig und freundlich.
Gewiss erkannte er in ihr nicht die berüchtigte verschwundene Viscountess, die für so viele Schlagzeilen gesorgt hatte. Und sicherlich erinnerte er sich auch nicht an die kindliche Miss Parronley, die ihm vor langer Zeit bei Almack’s vorgestellt worden war.
Solange er sie nicht erkannte, war sie frei. Und so sollte es auch bleiben.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie angeschwemmt worden waren, aber vermutlich war sie Schottland näher, als sie je zu hoffen gewagt hatte. Dort wollte sie untertauchen. Natürlich musste sie in eine Stadt gehen, um nicht aufzufallen. Edinburgh schien ihr groß genug. Wer würde dort nach der verschwundenen Viscountess suchen? Alle würden sie für tot halten. Verschollen auf dem Grund des Meeres.
Zunächst hatte sie geglaubt, in Irland sicher zu sein. Eliza und sie hatten sich diesen Plan ausgedacht, wobei sie die Rolle der Gouvernante für Elizas Kinder spielte. Nicht einmal Elizas Ehemann hatte Verdacht geschöpft. Drei Jahre lang hatte sie ein sicheres Leben geführt, bis Elizas Bruder zu Besuch kam. Die Schuldeneintreiber im Nacken, war Geoffrey gekommen, um seine Schwester anzubetteln.
Marlena hätte sich vor ihm versteckt oder wäre geflohen, wenn Eliza und die Kinder nicht schwer krank zu Bett gelegen hätten. Sie brachte es nicht über sich, sie im Stich zu lassen. Als Geoffrey sie bei der Pflege der Kranken sah, erkannte er sie sofort. Er verschaffte sich das benötigte Geld, indem er den Aufenthaltsort der verschwundenen Viscountess verriet.
Längst war Geoffrey nach London zurückgekehrt, als Marlena vor Elizas frischem Grab auf dem Friedhof stand und die richterlichen Beamten und der Bow Street Runner kamen, um sie festzunehmen.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Wenigstens haben wir die Kinder wieder gesund gepflegt, Eliza.
Sie erhob sich vom Bett und wickelte sich eine der Decken wie eine Tunika um den Körper. Das Zimmer war winzig und karg. Da es keinen Spiegel gab, versuchte sie, sich im Fensterglas zu sehen, doch die Sonne blendete sie. Sie spürte, wie zerzaust ihr Haar war und wie stark es nach Meerwasser roch. Bestimmt sehe ich furchtbar aus, dachte sie. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Locken.
Die Tür öffnete sich, und die alte Frau trat ein, wobei der Geruch von kochendem Haferbrei ins Zimmer drang.
„Ihr Mann wies mich an, Ihnen Kleidung zu geben, Madam. Ihre Kleider sind zerrissen und lassen sich nicht mehr flicken.“ Sie reichte Marlena die Strümpfe, die als Einzige heil geblieben waren. „Ich habe genau das Richtige für Sie.“ Die Frau wühlte in einer hölzernen Truhe, die in einer Zimmerecke stand. „Außerdem habe ich einen guten Haferbrei für Sie gekocht.“
Marlena zog die Strümpfe an. Haferbrei klang in ihren Ohren wie Ambrosia.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie zu der Frau. „Wie heißen Sie?“
„Ich bin Mrs Davies, Madam.“ Die Frau beugte sich noch immer über die Truhe.
„Mrs Davies, wo befinden wir uns, wenn ich fragen darf?“
Die Frau schaute hoch. „Ungefähr eine Meile von Llanfairynghornwy entfernt.“
Marlena blinzelte. Sie hatte keine Ahnung, wo dieser Ort lag, und sah sich auch außerstande, den Namen zu wiederholen. „Hält dort die Postkutsche?“
„Nein, den nächsten Postgasthof gibt es in Cemaes.“
„Wie weit ist das weg?“, erkundigte sich Marlena.
„Etwas mehr als fünf Meilen, Madam.“
Fünf Meilen schaffe ich zu Fuß, dachte Marlena.
„Wollen Sie denn nicht nach Holyhead?“, fragte die Alte.
Holyhead war der Zielhafen des verunglückten Schiffs.
„Doch. Wie weit ist es bis nach Holyhead?“, erkundigte sich Marlena.
„Etwa zehn Meilen in die andere Richtung geht’s zu einer Fährstation. Sie werden eine Fähre brauchen, um nach Holyhead zu gelangen, Madam.“
Marlena nickte. Nach Holyhead wurden vermutlich alle gebracht, die das Unglück überlebt hatten. Daher war es der letzte Ort, an den sie wollte.
Die Alte zog ein Unterkleid und ein Schnürmieder hervor und warf ihr die beiden Kleidungsstücke zu. Marlena begann sofort, sich anzuziehen. Als Nächstes reichte ihr die Frau ein verwaschenes blaues Kleid.
Das Kleid war aus feiner Wolle und stammte gewiss nicht aus den Beständen der Bäuerin. Obgleich Marlena größer war als die meisten Frauen und Mrs Davies um mehr als einen Kopf überragte, war das Kleid lang genug. „Vielen Dank. Es passt gut“, sagte sie.
Mrs Davies ging auf die Tür zu.
Marlena hielt sie mit einer weiteren Frage auf. „Ich würde mich sehr gern waschen. Würde es Ihnen große Mühe bereiten, mir Wasser zu bringen?“
Die Alte verdrehte die Augen, nickte jedoch und verließ das Zimmer.
Was hätte Marlena nicht alles für ein heißes Bad gegeben, um sich das Salz von der Haut zu waschen! Sie würde sich wohl oder übel mit einer kurzen Waschung über einer Schüssel begnügen müssen. Nachdenklich durchschritt sie die Kammer. Sie konnte noch heute bis Cemaes laufen. Aber was würde sie dann tun? Sie besaß nichts.
Ich muss Tanner um Geld bitten, entschied sie. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie war sich nicht sicher, wie er reagieren würde.
Es klopfte an der Tür. Tanner kam mit einer Waschschüssel herein. Dabei hatte er sich wie ein Diener ein Handtuch über den rechten Arm gelegt. Er trug seine eigene Kleidung.
„Sind Ihre Sachen schon trocken?“
„Trocken genug.“ Er stellte die Schüssel auf der kleinen Kommode ab und zog einen Kamm aus der Tasche. „Ich dachte mir, Sie würden sich vielleicht darüber freuen. Ich habe ihn gewaschen, obwohl ich den Eindruck habe, dass diese Leute recht reinlich sind.“
Sie nahm ihn entgegen. „Oh, vielen Dank!“ Sofort begann sie, ihre Haare zu kämmen. „Haben die Leute Ihnen etwas über das Schiffswrack erzählt?“
Er schüttelte den Kopf. „Unsere Gastgeber sind sehr verschwiegen. Der Sohn ist wieder aus dem Haus. Ich vermute, diese Leute sind Strandräuber.“
Wie der Mann, der Tanner angegriffen hatte, der Mann, dem sie auf den Kopf geschlagen hatte. Plötzlich erinnerte sie sich ganz genau daran, und dennoch war es wie ein düsterer Traum.
Er begab sich zur Tür. „Benötigen Sie sonst noch etwas?“
„Meine Schuhe“, erwiderte sie. „Aber bitte gehen Sie noch nicht.“ Sie holte tief Luft. „Ich muss Sie fragen … oder genauer gesagt bitten, mich ziehen zu lassen.“
Er hob die Brauen.
Sie fuhr rasch fort: „Mrs Davies – die alte Frau – sagt, dass es einen Ort mit einem Postgasthof gibt, der nur fünf Meilen entfernt liegt. Sie können nach Holyhead weiterreisen, aber bitte lassen Sie alle glauben, ich sei tot. Bitte, ich will nur nach Hause, das ist alles, was ich mir wünsche.“ Es war nicht alles, was sie sich wünschte. Sie brauchte Geld, aber sie würde nur danach fragen, wenn er ihrer Flucht zustimmte.
Er lehnte sich gegen die Tür. „Wo ist Ihr Zuhause?“
„Schottland“, antwortete sie wahrheitsgemäß, und sofort stand ihr das Bild von Parronley House vor Augen, das Sinnbild einer sorgenfreien Kindheit.
Er sah sie durchdringend an. „Sie klingen gar nicht wie eine Schottin.“
„Ich war in England auf der Schule.“ Das stimmte ebenfalls. Sie hatte das Belvedere House in Bath besucht, wo sie auch Eliza kennengelernt hatte. Ebenso wie viele andere Mädchen hatte sie sich eifrig bemüht, alle Spuren eines schottischen Akzents aus ihrer Sprache zu verbannen.
Er hielt sich eine Hand gegen die Rippen. „Sagen Sie mir, weshalb der Bow Street Runner Sie nach England bringen sollte.“
Marlena dachte sich rasch eine Geschichte aus, wobei sie Anleihen bei einem Roman machte, den Eliza und sie einst gelesen hatten. „Ich war die Gesellschafterin einer alten Dame und wurde beschuldigt, ihren Schmuck gestohlen zu haben.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Aber Sie waren es nicht?“
„Natürlich war ich es nicht.“ Weder hatte sie Schmuck gestohlen noch sonst ein Verbrechen begangen. „Ich wurde zu Unrecht beschuldigt, aber ich konnte meine Unschuld nicht beweisen. Ihr Sohn hat die Juwelen in meinem Zimmer versteckt.“ Wie sehr sie sich wünschte, nur des Diebstahls von Schmuck und nicht des Gattenmords bezichtigt zu werden. „Ich floh nach Irland, aber man hat diesen Bow Street Runner hinter mir hergeschickt.“