Verruchte Ladies und unwiderstehliche Gentlemen

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EINE LADY AUF ABWEGEN VON LOUISE ALLEN
"Nein und nochmals nein!" Lord Rhys Denham fällt aus allen Wolken: Nicht nur, dass Lady Thea ihn als Mann verkleidet zu später Stunde aufsucht – sie bittet ihn auch noch um einen Gefallen, der sie beide ihren Ruf kosten könnte! Wird Rhys es schaffen der ebenso temperamentvollen wie attraktiven Thea ihren Wunsch abzuschlagen?

DAS VERLANGEN DER STOLZEN LADY von MARGARET MCPHEE
Die zierliche Kate Medhurst hat ein gefährliches Geheimnis: Sie befehligt eine Piratencrew in der Karibik. Als sie an Bord des Schiffes von Captain Kit North genommen wird, einem furchtlosen Piratenjäger, sollte sie ihn hassen. Er ist ihr Todfeind! Doch das ist bei dem ebenso charmanten wie schneidigen Kapitän unmöglich ...

EINE VERFÜHRERISCH SÜNDIGE LADY von DIANE GUSTON
Hugh Westleigh ist Daphnes Held, seit er sie bei einem Brand gerettet hat. Aufopferungsvoll pflegt sie den Erblindeten – und verzehrt sich nach seinen erregenden Küssen. Doch kann Hugh ihr vergeben, wenn er von ihrer dunklen Vergangenheit im Masquerade Club erfährt?

ZÄHMUNG EINER WIDERSPENSTIGEN LADY von ELIZABETH BEACON
Es ist die Sensation des Sommers: Der unwiderstehliche Duke of Dettingham begibt sich auf Brautschau! Nur eine Dame hält sich zurück: Miss Jessica Pendle. Sie ist überzeugt, dass sie nie für ihn in Frage käme ... und dass sie ohnehin niemals heiraten will! Doch da hat sie die Rechnung ohne den hartnäckigen Duke gemacht ...

DIE RACHE DER SCHÖNEN LADY von VIRGINIA HEATH
Sein schlechter Ruf? Darauf gibt Ross Jameson keinen Penny! Nur zu gern spielt der Charmeur den rücksichtslosen Halunken. Da ist die Eroberung seiner rätselhaften Hausdame natürlich Pflicht! Die er teuer bezahlen muss, denn Hannahs Küsse betören ihn so sehr, dass er beinahe nicht bemerkt, was sie im Schilde führt ...


  • Erscheinungstag 19.05.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514576
  • Seitenanzahl 650
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Louise Allen, Margaret Mcphee, Diane Gaston, Elizabeth Beacon, Virginia Heath

Verruchte Ladies und unwiderstehliche Gentlemen

IMPRESSUM

Eine Lady auf Abwegen erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2014 by Melanie Hilton
Originaltitel: „Unlacing Lady Thea“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 31 - 2015 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Renate Körting

Umschlagsmotive: lavendertime/GettyImages, angelinast/GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733729479

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

London, 3. Juni 1814

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug viermal. Es war sinnlos, noch schlafen zu gehen. Abgesehen davon, war er betrunken, wenn auch leider nicht genug, um sich nicht zu fragen, was ihn auf die hirnrissige Idee dieser Reise gebracht hatte. Aber jeder würde denken, dass er nicht wusste, was er wollte, wenn er jetzt alles absagte.

„Stimmt ja auch“, teilte Rhys Denham dem struppigen, fuchsroten Kater mit, der ihn vom Kaminvorleger aus mit dem herablassendem Blick einer Herzoginwitwe beobachtete. „Dass ich nicht weiß, was ich eigentlich will.“

Bisher war der Mäusejäger noch nie aus der Küche nach oben gekommen, schon gar nicht in das Studierzimmer des dritten Earl of Palgrave. Es war unerhört. Vermutlich waren alle im Haus mit der bevorstehenden Abreise ihres Herrn zum Kontinent beschäftigt gewesen, sodass niemandem eine offene Tür an der Dienstbotentreppe aufgefallen war.

„Es schien mir ein guter Plan zu sein“, sagte Rhys laut. Der Brandy in seinem Glas schimmerte im Kerzenlicht. Er goss noch etwas nach und schüttete alles hinunter. „Ich bin betrunken wie seit Jahren nicht mehr.“ Nicht mehr, seit er eines Nachmittags mit der Erkenntnis aufgewacht war, dass Alkohol die Erinnerung an seinen katastrophalen Hochzeitstag nicht auszulöschen vermochte. Ebenso wenig würde davon sein Vertrauen in die Menschen wieder aufleben oder sein Glaube an die wahre Liebe.

Der Kater wandte seine Aufmerksamkeit nunmehr dem Teller mit den Resten von Fleisch, Käse und Brot zu, der neben der Karaffe stand. „Und du kannst aufhören, dir die Schnurrhaare zu lecken.“ Rhys griff nach dem Teller. „Ich brauche das jetzt mehr als du. In drei Stunden muss ich mehr oder weniger nüchtern sein.“ Dass er dieses Ziel erreichen würde, kam ihm selbst in seinem benebelten Zustand eher unwahrscheinlich vor.

„Du musst zugeben, dass ich einen Urlaub verdient habe. Mein Landbesitz ist in bester Ordnung, um meine Finanzen könnte es nicht besser bestellt sein, ich bin zutiefst gelangweilt von der Stadt und Bonaparte ist schon seit einem Monat auf Elba kaltgestellt“, teilte er dem Kater mit vollem Munde mit. „Denkst du etwa, ich bin zu alt für die Kavalierstour? Finde ich nicht. Mit achtundzwanzig weiß ich sogar alles besonders gut zu schätzen.“ Der Kater grinste höhnisch, hob ein Hinterbein und begann, sich an seinen intimsten Stellen zu lecken.

„Hör damit auf. Ein Gentleman tut so etwas nicht im Studierzimmer.“ Rhys warf dem Tier ein Stückchen Speck zu. „Aber ein ganzes Jahr? Was habe ich mir dabei gedacht?“ Selbstverständlich konnte er jederzeit zurückkommen, aber aus einer Laune heraus alles abzusagen, wäre kein verantwortungsvolles Verhalten. Es würde anderen Menschen Umstände bereiten und sie im Stich lassen. Rhys Denham verachtete Leute, die andere im Stich ließen.

„Nein, ich muss das jetzt durchstehen“, erklärte er dem Kater. „Der Szenenwechsel wird mir guttun, und dann finde ich auch irgendwann ein hübsches, bescheidenes, gut erzogenes und häusliches Mädchen mit gebärfreudigem Becken. Ich werde vor meinem dreißigsten Geburtstag verheiratet sein.“ Und mich zu Tode langweilen. Vor seinem inneren Auge sah er eine Reihe appetitlicher Frauen vorbeiziehen, die bisher verhindert hatten, dass er der Langeweile zum Opfer fiel. Sie hatten auf Treue keinen Wert gelegt, aber eine Ehefrau würde es tun. Rhys seufzte.

Die Freunde, die gemeinsam mit ihm im Club Abschied gefeiert hatten, waren alle verheiratet oder zumindest verlobt. Einige von ihnen hatten sogar schon Kinder. Und alle waren sich einig in ihrer Meinung über ihn: „Es wird Zeit, dass ein Schwerenöter wie du nicht nur am Käse knabbert, sondern einen großen Bissen davon nimmt und endlich selbst in die Falle geht, Denham.“

„Und warum ist das ein so verdammt deprimierender Gedanke?“

„Das kann ich nicht sagen, Mylord.“ Griffin stand in der Tür, sein Gesicht zeigte die ausdrucklose Maske, mit der er seine Missbilligung auszudrücken pflegte.

Rhys hievte sich aus dem Sessel. In seinem eigenen Hause durfte ein Mann doch wohl ein Glas zu viel trinken, verflucht noch mal. „Ich habe zu dem Kater gesprochen, Griffin.“

„Wenn Sie es sagen, Mylord.“

Rhys schaute zum Kaminvorleger. Das rötlichbraune Biest war verschwunden und hatte nur seinen Abdruck auf dem Stoff hinterlassen.

„Jemand möchte Sie sehen, Mylord.“ Das war wohl auch der Grund für seinen versteinerten Gesichtsausdruck.

„Wer ist es?“

„Eine junge Person, Mylord.“

„Ein Knabe? Ich bin nicht zu Ratespielchen aufgelegt, Griffin.“

„Wie Sie meinen, Mylord. Es scheint ein Knabe zu sein. Darüber hinaus möchte ich mich nicht festlegen.“

Scheint zu sein? Meint Griffin das, was ich befürchte? „Nun, wo ist … er?“ Sie?

„Im kleinen Empfangszimmer. Er kam zur Vordertür, weigerte sich, den Lieferanteneingang zu benutzen, und meinte, er sei sicher, dass Ihre Lordschaft ihn zu sehen wünschten.“

Rhys schaute blinzelnd zu der Karaffe. Wie viel hatte er getrunken, seit er von White’s zurück war? Ziemlich viel, das ja, aber trotzdem bildete er sich den leicht verzweifelt klingenden Ton in Griffins Stimme nicht ein. Dieser Mann wurde normalerweise mit allem fertig, ohne mit der Wimper zu zucken, ob es diebische Dienstboten waren oder porzellanwerfende ehemalige Mätressen.

Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Mätressen. Hatte Georgina den Abschied doch nicht so einfach hingenommen, wie es gestern den Anschein erweckt hatte? Rhys stand vom Sessel auf und zerrte sich das bereits gelockerte Tuch vom Hals, seinen Rock ließ er auf dem Sofa liegen. Lächerlich. Es stimmte zwar, dass er sein Vergnügen ohne emotionale Verstrickungen bevorzugte, aber er war kein Lord Byron, der ständig auf der Flucht war vor überreizten, als Knaben verkleideten Frauen. Er achtete darauf, sich nur an fest verheiratete Frauen oder Professionelle zu halten, die wussten, worum es ging. Auf keinen Fall suchte er die Gesellschaft alleinstehender Damen und schon gar von solchen, die sich als Männer verkleideten.

„Nun gut, dann schauen wir mal, wer dieser geheimnisvolle Knabe ist.“ Erstaunlicherweise gehorchten ihm seine Beine, wofür er dankbar war, als er Griffin leicht schwankend den Gang hinunterfolgte. Morgen früh – nein heute Morgen – würde er einen monumentalen Kater haben.

Griffin öffnete die Tür zu dem Raum für diejenigen Besucher, die nach seinen strengen Maßstäben nicht in den Chinesischen Salon gehörten. Die Person auf dem harten Stuhl an der hinteren Wand erhob sich. Sie war klein, gekleidet in den schlecht sitzenden Anzug eines Bürogehilfen, und hatte zwei Koffer zu ihren Füßen stehen. Ein zerbeulter Biberhut lag auf einem Stuhl.

Rhys blinzelte. So betrunken war er nun doch nicht. „Griffin, wenn das ein Knabe ist, dann sind Sie und ich Eunuchen am Hofe des Großen Khans.“

Die junge Frau in den Männerkleidern seufzte verzweifelt, stemmte die Fäuste in die runden Hüften, die ihr Geschlecht verrieten, und sagte: „Rhys Denham, du bist betrunken – gerade als ich mir sicher war, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

Thea?

Lady Althea Curtiss, die Tochter des Earl of Wellingstone aus erster Ehe, eine unscheinbare kleine Göre, die ihm auf Schritt und Tritt gefolgt war, als er noch ein Junge gewesen war. Sie war ihm eine gute Freundin geworden, aber seit dem Tag, als seine Welt zerbrochen war, hatte er sie kaum gesehen. Doch hier stand sie nun am frühen Morgen, als Knabe verkleidet, in seinem Junggesellenhaushalt. Ein Skandal auf zwei Beinen – die Situation war so brenzlig, als hätte jemand eine rauchende Granate in den Raum geworfen. Fast hörte er die Lunte zischen.

Rhys war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, härter, männlicher, als er in Hemdsärmeln an der Tür auftauchte. Sein Kinn wies einen dunklen Bartschatten auf, die dunklen Haare, die er von seiner walisischen Mutter hatte, hingen ihm unordentlich in die blauen Augen. Alkohol und Schlafmangel hatten seinen Blick offenbar vernebelt. Ein gefährlicher Fremder. Doch dann fiel ihr wieder ein dass sie ihn seit sechs Jahren nicht mehr aus der Nähe gesehen hatte. Natürlich hatte er sich verändert.

„Thea?“ Er kam steifbeinig zu ihr herüber und packte sie an den Schultern. Sein Blick war wieder scharf, trotz des Brandys, den sie in seinem Atem riechen konnte. „Was zum … Was tust du hier? Und in diesen Kleidern?“ Er zog ihren mausbraunen Zopf aus dem Kragen ihrer Jacke. „Wen wolltest du damit täuschen, du kleiner Dummkopf? Bist du von zu Hause ausgerissen?“

Rhys presste ärgerlich die Lippen aufeinander. Thea trat zurück, um sich seinem Griff zu entwinden, aber ihre Knie schlotterten. „Ich bin so angezogen, weil diese Aufmachung in einer dunklen Postkutsche lüsterne Männer fernhält. Es ist mir klar, dass ich bei hellem Licht nicht als Knabe durchgehen würde. Und ich bin von zu Hause fortgegangen, nicht ausgerissen.“

Rhys bewegte die Lippen. Sie konnte sehen, dass er auf Walisisch bis zehn zählte. Als er noch ein Junge gewesen war, hatte er das schon getan, und sie hatte die Zahlen gelernt. Un, dau, tri

„Griffin, mehr Brandy. Tee und etwas zu essen für Lady Althea. Die selbstverständlich nicht hier ist.“

Thea ließ sich von ihm in das Studierzimmer führen. Rhys warf ihre Koffer auf den Kaminvorleger und schob eine hässliche rotbraune Katze von einem der Stühle vor dem Kamin. „Setz dich. Katzenhaare können deinen Aufzug nicht noch schlimmer machen.“ Der Kater fauchte sie beide an und legte die Ohren flach am Kopf nach hinten.

Als Thea mit den Fingern schnipste, stellte das Tier den Schwanz wie ein Fragezeichen nach oben und stolzierte davon. „Ist das deine Katze?“

Rhys sah sie mit halb zusammengekniffenen Augen an. „Es ist der Küchenkater, und er glaubt wohl, dass er hier der Herr im Haus ist.“ Er ließ sich ihr gegenüber auf einen der Stühle sinken und fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare. „Sage mir, dass es nicht um einen Mann geht. Bitte. Um sieben Uhr fahre ich los nach Dover und würde die Abreise nicht gern verschieben, um mich mit irgendeinem Kerl zu duellieren, in den du glaubst verliebt zu sein.“

Wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte man darüber nachdenken können. Aber Thea befürchtete, dass er in diesem Zustand nicht einmal ein Scheunentor mit einer Donnerbüchse treffen würde. „Sei nicht albern. Natürlich geht es nicht um einen Mann.“ Eigentlich doch, aber wenn ich dir die Einzelheiten erzähle, bringt uns das nicht weiter. „Und warum solltest du meinetwegen ein Duell ausfechten, bitte schön?“ Erstaunlicherweise fiel es ihr schwer, ihre Stimme ruhig zu halten. Sie musste müder sein, als sie angenommen hatte.

„Früher habe ich dich immer verteidigt“, sagte Rhys und lächelte plötzlich. Er zeigte auf seine Nase, deren perfektes, klassisches Profil beim Kampf mit ein paar Dorfjungen sehr gelitten hatte. Sie hatten Thea Schimpfworte nachgerufen, als sie sechs gewesen war und er zwölf. Er wurde wieder ernst. „Wenn es also nicht um einen Mann geht …“

„Irgendwie schon.“ Sie hatte sich ihre Worte zurechtgelegt, während sie stundenlang in der muffigen dunklen Postkutsche gesessen hatte. Keine glatten Lügen, aber auch nicht die volle Wahrheit. „Vielleicht weißt du, dass ich drei Saisons mitgemacht habe. Nein, woher solltest du das wissen? In der Stadt haben sich unsere Wege nie gekreuzt. Du hast nicht an diesen grässlichen ‚Heirats-Basaren‘ teilnehmen müssen. Von mir wurde es verlangt.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Dumm und taktlos, vom Heiraten zu sprechen. Es ist ihm immer noch nicht gleichgültig, es muss ihn immer noch schmerzen. „Jedenfalls war Papa der Meinung, es sei Geldverschwendung, und dass eine weitere Saison mit all den jüngeren Mädchen meine Chancen nicht verbessern würde. Also schickte er mich zurück nach Longley Park und machte sich persönlich daran, mir dort einen Ehemann zu suchen.“

„Willst du damit sagen, dass du gar keine Anträge bekommen hast …?“ Rhys verstummte, als Griffin ein Tablett hereinbrachte. Dann bedeutete er Thea, sich zu bedienen, und goss eine dunkle Flüssigkeit in sein Glas. „Ich meine, da deine Mutter …“

„Oh ja. Mehrere sehr passende junge Männer aus gutem Hause machten mir Angebote. Meine Mitgift ist respektabel, und außerdem gibt es ja noch den Treuhandfonds.“ Beides waren durchaus Anreize, die alles andere ausgleichen konnten – ihre Offenheit, den intellektuellen Enthusiasmus, ihr durchschnittliches Aussehen. Ganz abgesehen von ihrer Mutter, die Schauspielerin gewesen war und mit ihrem Vater in wilder Ehe gelebt hatte, bevor sie unüberlegt heirateten. Sie verstarb im Kindbett. „Ich habe sie alle abgewiesen.“

„Warum?“ Rhys blinzelte erneut und schaute sie dann über sein Glas hinweg an. Offenbar hatte er Schwierigkeiten, seinen Blick zu fokussieren.

„Keinen von ihnen habe ich geliebt.“ Keiner hat sich in mich verliebt … nicht ein Einziger. „Papa entschied sich für Sir Anthony Meldreth.“ Würde Rhys sie verstehen, wenn sie ihm erklärte, warum sie sich betrogen fühlte? Warum sie fortgehen musste? Der alte Rhys hätte Verständnis gehabt, aber dieser Mann hier? In diesem Zustand? Nein, lieber ein bisschen schummeln. „Wir passen nicht zusammen, aber Papa sagt, wenn ich Anthony nicht heirate, muss ich für den Rest meines Lebens in Longley bleiben und meiner Stiefmama Gesellschaft leisten.“

„Hölle.“ Offenbar erinnerte sich Rhys noch an ihre Stiefmutter und deren Neigung zu eingebildeten Krankheiten, Überspanntheit und absolut selbstsüchtigem Verhalten. Er rieb sich die Stirn mit seinen langen, schmalen Fingern, als wollte er die Kopfschmerzen dahinter vertreiben, um zusammenhängend denken zu können. „Ich verstehe dein Problem.“

Versteht er mich wirklich? Wahrscheinlich nicht, denn von einem Mann wie Rhys konnte man nicht erwarten, dass er die enervierende Eintönigkeit nachvollziehen konnte, in der eine unverheiratete alte Jungfer dahinschwand. Es war so, als wäre man lebendig begraben. Ebenso wenig konnte sie von ihm erwarten, dass er die Schrecken verstand, die die Vorstellung auslöste, sich in einer Ehe mit einem Mann wiederzufinden, den sie weder mochte noch ihm vertraute, und mit dem sie keinerlei Gemeinsamkeiten hatte.

„Aber wegzulaufen …“ Er sah sie unfreundlich an. „Ich bin gerade dabei, zu einer Reise auf den Kontinent aufzubrechen.“

„Ich weiß, Papa hat es mir erzählt. Er findet, es ist eine lobenswerte Kulturbeflissenheit, die er dir bislang nicht zugetraut hätte. Bitte, höre mir zu, Rhys. Ich bin zweiundzwanzig und damit volljährig. Ich laufe nicht davon, ich nehme mein Leben selbst in die Hand.“

„Zweiundzwanzig? Unsinn. So siehst du nicht aus.“ Es war kein Kompliment.

Thea biss die Zähne zusammen und fuhr fort. „Ich benötige lediglich das Einverständnis von zwei bis drei meiner Treuhänder, um über mein Geld frei verfügen zu können und damit unabhängig zu sein.“ Es war kein Vermögen, aber es würde ihr Freiheit verschaffen und ihr die Möglichkeit gewähren, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Wenn ich deren Zustimmung nicht bekomme, erhalte ich gar nichts. Ebenso wenig, wenn Papa mit meiner Wahl nicht einverstanden sein sollte, wenn ich mir selbst einen Ehemann aussuche.“

„Dein Vater ist vermutlich einer der Treuhänder.“ Rhys nahm die Karaffe, betrachtete sie einen Moment und setzte sie dann ab.

„Ja, das ist er“, bestätigte sie. „Und Großmutter wusste ziemlich genau, wie er ist.“ Es hatte keinen Sinn, kindlichen Respekt vorzutäuschen. Ihren Vater hatte sie in ihrer Kindheit nur aus der Ferne gesehen, und er hatte erst begonnen, sie zur Kenntnis zu nehmen, als sie bereits zu alt gewesen war, um in ihr Kinderzimmer verbannt zu werden. Eine Tochter war schlimm genug, aber dieses Mädchen, das keinen Schimmer der legendären Schönheit und des Charmes ihrer Mutter hatte, war wertlos, wenn es nicht eine gute Partie machte. Thea kannte ihren Vater kaum und vermisste ihn auch nicht.

Wenn ihr Plan nicht aufging und ihr Vater mitbekäme, was sie vorhatte, würde er den dritten Treuhänder, Mr Heale, unter Druck setzen. Dann saß sie in der Falle. Sie schauderte, wenn sie an das kalte, lieblose Heim ihrer Kindheit dachte. Die Saison war eine Abwechslung gewesen, aber hatte ihr auch keinen Ausweg geboten, und die Mauern um sie herum wuchsen immer höher.

„Großmutter musste Papa als Treuhänder einsetzen, denn es hätte sehr seltsam ausgesehen, wenn sie es nicht getan hätte. Um ihn umgehen zu können, fügte sie dem Vertrag die Klausel hinzu, dass ich die Zustimmung von nur zwei Treuhändern benötige, wenn es gilt, eine wichtige Entscheidung zu treffen.“

Sie goss sich eine zweite Tasse Tee ein, denn sie merkte jetzt erst, wie hungrig und durstig sie war. „Einer der beiden anderen Treuhänder ist der jüngere Mr Heale, der Sohn von Großmutters Anwalt. Ich habe mit ihm gesprochen und er hat nichts dagegen einzuwenden, dass ich mich ab jetzt selbst um meine finanziellen Angelegenheiten kümmere. Ich habe einen Brief von ihm als Beweis dabei. Solange Papa nicht genau weiß, was ich plane, und versucht, ihn zu beeinflussen …“ Sie tastete nach dem Schriftstück über ihrem Herzen und fühlte das beruhigende Knistern des Pergaments. Würde unter dem Druck ihres Vaters dieser Brief seine Gültigkeit verlieren? „Mein anderer Treuhänder ist meine Patin Agnes.“

„Unsere Patin. Nun, sie findet es sicher gut, dass du die Kontrolle über dein Vermögen bekommst.“ Der Brandy schien dankenswerterweise keine ernsthafte Auswirkung auf Rhys’ Denkvermögen zu haben. „Obwohl ich nicht verstehe, was du in deinem Alter damit anfangen willst.“

Er hörte ihr also zu, obwohl er sie anscheinend immer noch für sechzehn hielt, unfähig, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Thea fühlte sich besser nach einem weiteren Schluck Tee und griff nach einem Scone. Seit ihrem Frühstück in Longley Park waren viele Stunden vergangen, und in der Zwischenzeit hatte sie nur beim Pferdewechsel ein Rosinenbrötchen ergattert.

„Ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, was für ein Glück wir mit unserer Patin haben?“, fragte Rhys. Beim Gedanken an Lady Hughson musste er sogar ein wenig lächeln.

„Jeden Tag“, sagte Thea zustimmend. „Als wir noch Kinder waren, dachte ich nicht darüber nach, aber heute begreife ich, was für ein Glück wir hatten, dass sie sich immer trotz ihrer Trauer mit so viel Freude ihren Patenkindern gewidmet hat.“ Nur bei ihr und in Großmamas Haus hatte sie Liebe und Wärme erfahren.

„Die fünfzehn Lämmchen in Agnes’ Herde.“

„Genau. Sie muss ihren Gatten sehr geliebt haben, doch sie verlor ihn, als sie noch jung war und bevor sie eigene Kinder haben konnte.“

Rhys nickte. „Aber das ist Geschichte. Als du weggelaufen bist – entschuldige: fortgegangen –, wolltest du sicher zu ihr, aber sie ist nicht in London. Bist du deswegen zu mir gekommen?“ Er musterte sie aus schläfrigen blauen Augen.

„Ich wusste, dass sie nicht in der Stadt ist, aber ich wagte es nicht, ihr zu schreiben, weil ich Angst hatte, ihre Antwort würde Papa in die Hände fallen. Sie ist in Venedig. Darum bin ich geradewegs hierher gefahren. Sobald ich herausfand, wo sie ist und was du vorhast …“ Jetzt wurde es heikel.

Er war nicht betrunken genug, um sie falsch zu verstehen. Vielleicht kannte er sie auch zu gut. „Oh nein. Nein, nein, nein. Du kommst nicht mit mir auf den Kontinent. Es ist unmöglich, unnötig und empörend.“

„Bist du so feige und zimperlich geworden, dass du einer alten Freundin nicht helfen willst?“, fragte sie herausfordernd. Der alte Rhys hätte diesen Köder geschluckt.

„Ich bin nicht feige.“ Rhys verstand sehr wohl, dass ihre Worte beleidigend gemeint waren, und knallte sein Glas auf den Tisch, wobei er Brandy auf das glänzend polierte Mahagoni vergoss. Der intensive Geruch breitete sich im Raum aus. „Und auch nicht zimperlich. Ein abstoßendes Wort …“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine Gedanken wieder auf den richtigen Kurs bringen. „Du kannst unmöglich durch Europa reisen mit einem Mann, mit dem du nicht verheiratet bist. Denke an den Skandal.“

„Es ist nur dann ein Skandal, wenn man mich erkennt, und wer sollte das tun? Ich werde mich nur verschleiert in die Öffentlichkeit begeben, und jeder wird denken, dass ich deine Mätresse bin.“ Er konnte nur noch die Augen verdrehen. Sie eignete sich nicht zur Mätresse, egal ob mit oder ohne Schleier. „Ehrlich gesagt, ist es mir auch gleichgültig, denn für mich kann es nicht noch schlimmer werden. Rhys, ich bitte dich nicht, mich herumzuführen wie auf einer Vergnügungsreise. Ich brauche nur eine Transportmöglichkeit, weil ich nicht allein reisen kann. Wenn du mir nicht helfen willst, werde ich einen Reisebegleiter und eine Zofe einstellen und es auf eigene Faust versuchen.“

„Mit welchem Geld?“, fragte er. „Oder erwartest du von mir, dass ich dir die Mittel zur Verfügung stelle, um dich zu ruinieren?“

„Durchaus nicht. Aber wenn ich hierbleibe, gleicht mein Leben ohnehin einem Trümmerhaufen.“ Er sah nicht überzeugt aus. „Ich habe das Taschengeld für achtzehn Monate bei mir.“ Die Banknoten und Münzen, die sie in ihre Unterwäsche eingenäht hatte, hatten ihr auf der langen Fahrt ein beruhigendes Gefühl gegeben.

„Ich vermute mal, dein Vater hat es dir ausgehändigt, ohne Fragen zu stellen?“ Seine Mundwinkel zuckten. Es ließ sie hoffen, dass der alte Rhys, der leichtsinnige, unbekümmerte Junge, der für jeden Spaß zu haben war, immer noch irgendwo in diesem respekteinflößenden Mann steckte.

„Natürlich nicht. Ich habe in den letzten drei Monaten kaum etwas von meinem Geld verbraucht. Den Rest habe ich aus der Geldschatulle in Papas Studierzimmer genommen. Aber ich habe eine Quittung dagelassen.“

„Und woher weißt du, wie man Schlösser knackt, Madam?“

„Von dir gelernt.“

„Zum Teufel. Stimmt.“ Jetzt lächelte er wieder. „Du warst ziemlich gut darin. Weißt du noch, wie du die Schreibtischschublade unserer Patin aufgebrochen und meine Steinschleuder gerettet hast? Und ich hatte ein perfektes Alibi, weil ich in der Zeit unter Aufsicht des Gärtners das Glashaus aufräumen musste, nachdem ich drei Fenster eingeworfen hatte.“

„Du sagtest, du stündest für immer in meiner Schuld.“ Sie machte nicht den Fehler, triumphierend zu lächeln.

„Ich glaube, ich war damals dreizehn“, entgegnete Rhys. „Ich würde sagen, meine Schuld ist verjährt.“

„Ein Gentleman vergisst niemals eine Schuld, besonders nicht bei einer Lady.“ Sie räusperte sich. „Du hast drei Möglichkeiten, Rhys. Entweder du nimmst mich mit, oder du überlässt mich meinem Schicksal in London, oder du schickst mich zurück zu Papa.“ Thea lächelte, um ihre Forderung abzumildern. „Betrachte es als ein letztes Abenteuer. Oder traust du dich nicht?“

Er schüttelte den Kopf. Dann zuckte er zusammen, als sich ihre Blicke trafen. „Glaube nicht, dass du mich auf solche Weise provozieren kannst, Thea. Ich bin achtundzwanzig, viel zu alt für diesen Unsinn.“

Rhys ist für gar nichts zu alt, dachte sie und bemühte sich, eine offene, treuherzige Miene zu bewahren. Sie konnte sich hervorragend vorstellen, mit ihm ein letztes Abenteuer zu erleben, einen letzten Traum. „Bitte, lieber Rhys!“

Das hatte immer funktioniert. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum von allen Patenkindern, die die langen Sommer bei Lady Hughson verbracht hatten, sie die Einzige gewesen war, die Rhys stets hatte alles abschmeicheln können. Sie, die gewöhnliche kleine Althea, weder die anderen Jungen noch Serena, die blauäugige Schönheit, in die er damals verliebt gewesen war.

„Ich muss verrückt geworden sein.“ Sie hielt den Atem an, als er einen großen Schluck Brandy trank. „Nun gut, ich nehme dich mit. Aber du benimmst, dich, du Gör, oder ich verfrachte dich auf das nächste Schiff nach Hause.“

2. KAPITEL

Rhys war zwar überrumpelt worden, aber er konnte seine Angelegenheiten immer noch mit Charme und Autorität regeln. Was Seine Lordschaft befahl, wurde sofort ausgeführt. Thea lief mit einem müden Zimmermädchen auf der Treppe nach oben, um sich umzukleiden, und bald saß sie in der Kutsche. Sie trug jetzt ein schlichtes, leicht zerknittertes Kleid und einen Umhang, beides hatte sie in ihrer Reisetasche mitgebracht. Das verwirrte Zimmermädchen war zu ihrer Zofe befördert worden und schwatzte aufgeregt mit Rhys’ Diener Hodge, während das übrige Gepäck in die Kutsche gepackt wurde.

Thea zupfte noch einmal an der Jalousie des Seitenfensters, obwohl sich niemand auf der dämmerigen Straße aufhielt, der sie in der Kutsche hätte sehen können. Außerdem hatte sie ihr Gesicht mit einem dichten Schleier bedeckt, den sie jetzt hochschlug. Sie gähnte und wackelte mit den Zehen. Mit dem dicken Teppich und den Sitzpolstern war es hier sehr viel bequemer als in der spartanisch ausgestatteten Postkutsche. Ihre neue Zofe – Molly, Polly? – fuhr sicher in ihrem Wagen mit, und vermutlich reiste Rhys in der anderen Kutsche mit seinem Diener.

Das war auch gut so. Thea hatte nicht geahnt, was für eine Wirkung der Anblick des erwachsenen Rhys auf sie haben würde. Während ihrer Saison hatte sie ihn nur gelegentlich von Weitem gesehen, und ihre letzte Erinnerung an ihn war die an einen jugendlichen, arglosen Zweiundzwanzigjährigen, der mit weißem Gesicht am Altar stand, als die Welt für ihn zusammengebrochen war. Danach war er in London geblieben, und als sie in ihrer ersten Saison in die Gesellschaft eingeführt wurde, hatten sich die Wege des reichen, eleganten Lebemannes nicht mit denen der heiratsfähigen jungen Dame gekreuzt.

Die Tür ging auf, und ein Diener schaute herein. „Entschuldigung, Mylady, soll ich Ihren Sitz in die Schlafposition bringen?“ Sie hatte schon von Schlafsitzen gehört, aber sie hatte noch nie einen gesehen.

„Nein danke.“ Sie war zu aufgeregt, um sich hinzulegen. Wieder öffnete sich die Tür. „Rhys?“

„Schläfst du noch nicht?“ Er war frisch rasiert, aber seine Augen wirkten müde. Er stieg an ihr vorbei in den Wagen, entledigte sich seines Rocks und klappte das zweite Bett herab. „Wecke mich, wenn wir zum Frühstücken anhalten.“ Er schloss die Augen und rollte sich auf der Liegefläche zusammen. „Oder bei einem Überfall.“

Ohne die Jacke konnte Thea ungehindert seine breiten Schultern, die muskulösen Oberschenkel und – sie machte keinen Versuch, den Blick abzuwenden – sein festes, gut geformtes Hinterteil ansehen.

Sie betrachtete ihn genau, denn immerhin war sie auch nur eine Frau. Oh ja, ihr alter Freund aus Kindertagen war erwachsen geworden. Er war immer noch Rhys, aber er war auch ein Mann. Ein erwachsener Mann. Und ihm eilte ein gewisser Ruf voraus.

Während die Kutsche losfuhr, dachte Thea daran, wie sie ihn einmal in einer Theaterloge in Covent Garden gesehen hatte, wo er einer schönen Frau Champagner spendierte. Alle verheirateten Damen in ihrer Gesellschaft hatten darüber getuschelt.

Nach wenigen Minuten öffnete sie die Jalousie, weil es weniger aufwühlend war, aus dem Fenster zu schauen, als den schlafenden Mann neben sich anzustarren. Er schnarchte leise, was vermutlich kein Wunder war nach all dem, was er getrunken hatte. Irgendwie wirkte es beruhigend auf sie.

Sie sah Wasser glänzen und wusste, dass sie gerade über die Westminster Bridge fuhren. Neben ihr murmelte Rhys leise im Schlaf und drehte sich mit geschlossenen Augen herum. Seine Haare waren modisch kurz geschnitten, aber eine dunkle Locke fiel ihm in die Stirn und erinnerte sie an den Jungen von früher. Thea streckte die Hand aus, um sie zurückzustreichen, doch dann faltete sie die Hände im Schoß. Manchmal sollte man es vielleicht besser bei Träumen und Erinnerungen belassen. Nach ein paar Minuten zog sie den Reiseführer aus ihrem Retikül und breitete die Karte aus. Sie näherten sich Southwark.

In Gedanken zählte sie auf, was sie schon erreicht hatte. Tagelang hatte sie unauffällig alles, was sie für ihre Reise brauchte, zusammengetragen. Nachdem sie ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatte, war sie aus dem Haus geschlichen und zum King’s Head gegangen, wo sie die Postkutsche nach London genommen hatte. Dort angekommen, war sie in einer Mietdroschke zu Rhys’ Haus gefahren und hatte ihn überredet, sie mitzunehmen. Das war der schwierigste Teil gewesen.

Ob er sich wohl dazu bereit erklärt hätte, wenn er nicht betrunken gewesen wäre? Oder wenn ihm aufgefallen wäre, dass sie jetzt eine erwachsene Frau war? Sie schaute auf sein Gesicht hinunter, das auf seinen angewinkelten Arm gebettet lag. Die blauen Augen waren geschlossen, die dichten Wimpern lagen auf den Wangen auf. Seine Lippen bewegten sich ein wenig im Schlaf. Unter dem Ohr hatte er eine kleine Narbe. Die war neu.

Thea wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Karte und dem Blick aus dem Fenster zu. Enttäuscht sah sie nur schmutzige Straßen voller Menschen. Die Kutsche holperte auf den Pflastersteinen, aber zu ihrer Erleichterung wachte Rhys nicht auf. Wenn er später verkatert erwachte, würde er dann seine Meinung über ihre gemeinsame Reise ändern?

Sie hatten London verlassen, und die Straße führte jetzt bergauf von Deptford nach Blackheath. Thea fragte sich, wo er wohl den ersten Zwischenstopp angeordnet hatte. Hoffentlich nicht zu nah an der Stadt, denn dann war die Gefahr größer, dass er sie zurückschicken würde. Sie ratterten an mehreren Gasthäusern vorbei auf dem Shooter’s Hill nach oben, und Thea entspannte sich ein wenig.

Dann verlangsamte sich die Fahrt, und die Kutsche bog in den Hof des Red Lion ein. Stallburschen rannten heraus, um sich um die Pferde zu kümmern, und der Wirt trat an die Kutsche heran.

Thea öffnete das Fenster. „Psst! Seine Lordschaft schläft“, flüsterte sie dem Mann zu. Hodge kam dazu, und sie sagte leise: „Sie können etwas essen, wenn Sie wollen, aber wecken Sie Seine Lordschaft nicht.“

Hodge zeigte keine Überraschung, denn er kannte den Zustand seines Herrn. Er nickte und ging in den Pub, Theas Zofe folgte ihm. Thea schloss das Fenster und blieb sitzen, um Rhys zu bewachen. Doch trotz des Lärms bei der Ankunft einer weiteren Kutsche, des schrillen Gelächters einer Magd und einer Auseinandersetzung zwischen zwei Hunden vergrub Rhys seinen Kopf nur noch tiefer in die Armbeuge und wachte nicht auf. Wahrscheinlich würde er den ganzen Morgen verschlafen. Bald nickte auch Thea ein.

Als Hodge die Tür öffnete, wachte sie ruckartig auf. Er reichte ihr einen Becher mit Kaffee und ein mit gebratenem Speck belegtes Brötchen, eingewickelt in eine Serviette. Er warf einen Blick auf seinen tief schlafenden Herrn.

„Schläft er immer so fest?“, flüsterte Thea.

Der Diener schüttelte den Kopf. „Nein, Mylady.“ Er nahm ihr den leeren Becher ab, und schloss leise die Wagentür. Sie blieb nachdenklich zurück. Es beunruhigte sie, dass Rhys den Brandy hinuntergegossen hatte, als handelte es sich um Limonade.

Nach der gescheiterten Hochzeit gingen Gerüchte um, er sei ohnehin ein leichtfertiger Mann, der froh sei, keine Verantwortung für eine Ehefrau übernehmen zu müssen, und dass er sich bereitwillig in ein ausschweifendes Leben gestürzt habe.

Aber natürlich war es ein harter Schlag für ihn gewesen. Sie hatte sein Gesicht gesehen, als er begriff, dass sein Vertrauen missbraucht worden war. Sie hatte gefühlt, wie seine Hände zitterten, als sie ihm ihr Taschentuch zusteckte, und als sie ihn kurz umarmte, war er ganz starr gewesen. Doch dann hatte er sich vom Altar abgewandt und entschuldigend lächelnd gesagt, er habe schon geahnt, dass seine Braut durchbrennen werde, und er wünsche den beiden viel Glück.

Es war eine bemerkenswerte Vorstellung für einen Mann gewesen, der Unehrlichkeit verabscheute. Er hatte damit die Klatschmäuler verwirrt und sie ein wenig von dem schändlichen Verhalten von Serena und Paul abgelenkt. Wahrscheinlich war er auch zu stolz gewesen, um als bemitleidenswertes Opfer dazustehen.

Als sie während ihrer ersten Saison in London gewesen war, hatte sie nur in Erfahrung bringen können, dass er seinen Sitz im Oberhaus eingenommen hatte und seine Güter mit fester Hand bewirtschaftete. Und dass er einen furchtbar schlechten Ruf im Umgang mit Frauen hatte. Es lag ihm offenbar fern, eine neue Braut zu suchen, stattdessen flirtete er auf Teufel komm raus. Dabei hielt er sich eine Mätresse nach der anderen, die alle – laut Gerüchteküche – sehr schön und sehr kostspielig waren. Entweder wurde er zu den Veranstaltungen nicht eingeladen, die für junge Damen schicklich waren, oder er zog es vor nicht hinzugehen.

Die Mütter hoffnungsvoller junger Damen nahmen ihm dieses Verhalten sehr übel – ein junger, ansehnlicher Earl mit Vermögen sollte an seine künftigen Erben denken. Jedes dieser Mädchen war besser erzogen als die flatterhafte Lady Serena Haslow. Wenn Lord Denham irgendwann aufhörte, die Freuden des Fleisches und der Spielsäle zu genießen, hofften sie, er würde sich besinnen und eine ihrer Töchter ehelichen.

Die Kutsche fuhr klappernd aus dem Hof und auf die Straße in Richtung Dartford. Niemand hatte Rhys gezwungen, diese Europareise zu unternehmen. Bis vor Kurzem hatte sich der Kontinent noch im Krieg befunden, und er hätte nicht einmal daran denken können. Warum tat er es ausgerechnet jetzt?

Das holpernde Bett kippte plötzlich zur Seite. Im Halbschlaf tastete Rhys vergeblich nach der Kante, rutschte ab und stieß mit dem Stiefel gegen ein Hindernis. Stiefel im Bett? Ein Gentleman sollte immer wenigstens die Stiefel ausziehen. „Wo zum Hades …?“

„Wir befinden uns auf dem West Hill in Richtung Dartford. Im Reiseführer steht, dass die Strecke ungewöhnlich steil ist.“ Die sachliche Stimme ließ ihn abrupt wach werden.

„Thea?“ Rhys richtete sich auf, strich sich die Haare aus den Augen und stöhnte im hellen Sonnenlicht. Wenn dies ein Traum war, dann ein besonders unbequemer. „Was zum Teufel machst du in meiner Kutsche?“

„Du sagtest, ich dürfe mit dir auf den Kontinent fahren. Bestimmt warst du gestern Abend nicht so betrunken, dass du dich nicht an dein Versprechen erinnerst?“ Wie aus dem Ei gepellt, so saß sie da, gekleidet in dunkle, braune Wolle, und so gewöhnlich wie ein Londoner Spatz. Sie sah ihn mit offener Missbilligung an.

„Ich hatte gehofft, dass es nur ein Albtraum war. Und warum schaust du mich so an?“ Er klappte den Sitz in die aufrechte Position und setzte sich hin. „Mein Mund fühlt sich an wie der Boden einer Hahnenkampfarena.“

„Das wundert mich nicht – du warst völlig hinüber. Ich schlage vor, du gibst dem Kutscher die Anweisung, hier für dein Frühstück zu halten. Alle Übrigen haben bereits auf Shooter’s Hill gegessen.“

Wenn er jetzt darauf beharrte, selbst entscheiden zu wollen, wo sie anhielten, würde es sie in ihre Kindheit zurückwerfen. Obwohl Thea eigentlich nie gezankt hatte. Nicht einmal gequengelt. Sie riss nur ihre unscheinbaren braunen Augen weit auf, bis er das Gefühl hatte, sie irgendwie enttäuscht zu haben. Außerdem musste er wirklich etwas essen und eine große Kanne Kaffee trinken, und wenn er Glück hatte, schlug ihn dann jemand über den Kopf, damit er die schrecklichen Schmerzen darin loswurde.

Rhys öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und rief: „Zum nächsten ordentlichen Gasthof.“

„Das müsste The Bull sein.“ Thea schaute in ihr Buch.

„Ist mir egal, wie der Pub heißt, Hauptsache, ich bekomme dort einen anständigen Kaffee. Was zum Teufel soll ich nur mit dir anfangen?“ Er musste mehr als betrunken gewesen sein, um dem Mädchen nachzugeben. Verschwommene Bilder eines grauenhaften Männeranzugs tauchten in seinem Gedächtnis auf.

„Mich zu unserer Patin bringen.“ Sie sah ihn aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. „Wie du es versprochen hast.“

„Du hast meinen Zustand ausgenutzt“, gab Rhys zurück.

„Passiert es dir öfter, dass Frauen dich ausnutzen?“, erkundigte sie sich mit süßer Stimme.

„Wenn ich Glück habe“, murmelte Rhys und Thea lachte. Wie hatte er dieses boshafte Lächeln vergessen können? Er biss sich auf die Unterlippe. „Dies ist eine höchst unpassende Unterhaltung und eine äußerst anstößige Situation. Wenn das bekannt wird, bist du ruiniert.“ Er blinzelte sie an. „Du bist kein Kind mehr.“ Oder doch? Sie sah höchstens wie siebzehn aus.

„Nein, bin ich nicht. Und was das Ruinieren betrifft …“ Thea zuckte die Achseln, während die Kutsche langsamer wurde. „Gut. Dann hört Papa wenigstens auf, mich jedem hinterhältigen Mitgiftjäger als Ehefrau anzubieten … Ich will damit sagen, dass ich dann die Freiheit habe, mein Leben so zu verbringen, wie ich es möchte, und nicht als alte Jungfer verkümmern muss.“

Was stimmt nicht mit ihr? Jedes Mädchen will einen Ehemann, Punkt. Warum muss Thea eine Ausnahme bilden? „Ist das bevor oder nachdem dein Vater mich erschießt?“, erkundigte er sich, als sie anhielten und ein Pferdeknecht an den Wagen trat. Rhys öffnete die Tür. „Wir brauchen keinen Pferdewechsel, nur ein Frühstück.“

„Wenn ich so darüber nachdenke, möchte ich auch etwas essen.“ Thea sprang aus der Kusche, bevor Rhys ihr seine Hand reichen konnte. „Ein Brötchen mit Speck und warmer Kaffee wären schön.“ Sie hatte ihr Gesicht wieder mit dem Schleier bedeckt.

Sie betraten den Gasthof und bekamen einen Raum für sich. Thea setzte sich. „Wenn dies eine Theaterkomödie wäre, würde jemand durch die Tür hereinstürmen, wenn ich gerade meinen Schleier abgenommen hätte, um zu essen. Und durch einen scheußlichen Zufall wüsste derjenige genau, wer ich bin, und würde es sofort überall herumerzählen.“

„Du hast wahrscheinlich zu viele Komödien gesehen … Hast du nicht vielleicht Freunde in Kent oder Sussex, bei denen du unterkommen könntest?“

„Habe ich nicht, und du hast es versprochen.“ Das hatte er. Trunkenheit war keine Entschuldigung – ein Gentleman sollte sich immer unter Kontrolle haben. Und er schuldete es ihr. Nicht wegen der Geschichte mit dem aufgebrochenen Schloss, sondern für die vielen Jahre der Freundschaft, die in dem Moment gipfelten, als sie ihm in der Kirche ihr Taschentuch zugesteckt, ihn kurz umarmt und ihn nur ruhig angesehen hatte.

Thea hatte damals nichts gesagt und ihn sofort losgelassen, als hätte sie gewusst, dass er sonst zusammengebrochen wäre. Die Sechzehnjährige hatte ihm das Einzige angeboten, was sie ihm geben konnte – Verständnis. Ihre ruhige Gegenwart hatte verhindert, dass er etwas Unüberlegtes getan hatte.

Was wäre geschehen, wenn sie nicht dort gewesen wäre? Hätte er die beiden verfolgt, seinen besten Freund zum Duell gefordert? Ihn erschossen und drei Leben zerstört statt nur sein eigenes?

„Ja, das habe ich. Wie du meinst. Ich werde nicht mehr davon sprechen.“

„Danke.“ Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die Tasse hob.

Sie war schon immer ein tapferes kleines Ding gewesen. Rhys hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht mit ihr in Verbindung geblieben war, aber Gentlemen schrieben nicht an junge Mädchen.

„Warum warst du …?“ Thea zögerte. „Ach nichts.“

„Warum ich gestern so betrunken war? Das weiß ich selbst nicht. Ich sagte mir wohl, dass ich noch einen Urlaub verdient hätte, bevor …“ Fast hätte er den Satz nicht beendet, aber er hatte Thea immer alles sagen können. „Bevor ich mir in der nächsten Saison eine Ehefrau suche.“

Und ich verachte mich dafür, dass ich eine Ausrede benutze, um die Suche um ein weiteres Jahr aufzuschieben. Darum habe ich getrunken. Feigling. Die Geschichte würde sich nicht wiederholen. Sein Verstand wusste das, aber offenbar seine Gefühle nicht. Es gab wohl doch einige Dinge, die er Thea nicht gestehen wollte.

„Du hast doch immer einen Plan“, sagte sie mit so kühler Stimme, dass er sprachlos war. Aber was hatte er erwartet? Dass sie entsetzt sein würde, weil er Serena vergessen hatte?

„Und dazu gehört, dass wir nun wieder aufbrechen sollten. Um halb fünf Uhr müssen wir in Dover sein, dann habe ich genug Zeit, um die Wagen aufzuladen und die Flut zu nutzen.“

„Du nimmst die Wagen nach Frankreich mit? Wie machst du das?“ Ihre Stimme klang gedämpft hinter dem Schleier, als sie ihre Haube wieder aufsetzte. Oder hatte er sie verärgert?

„Ich habe ein Schiff gemietet. Ich möchte nicht ohne Komfort reisen.“

„Ausgezeichnet.“ Theas klang aufrichtig erfreut. Er musste sich geirrt haben. „Ich liebe Luxus. Und so gibt es viel mehr Platz für meine Einkäufe.“

„Einkäufe?“ Die Thea von früher hatte sich nicht für Einkäufe interessiert. Aber damals war sie noch ein Kind gewesen, und dazu noch ein ziemlicher Wildfang. Wenn er sich ihr abscheuliches Kleid ansah, fragte er sich unwillkürlich, was sie sich wohl unter Einkäufen vorstellte. Undeutlich erinnerte er sich daran, dass Thea von mehreren Saisons gesprochen hatte. Und von Anträgen … und irgendeinem Mann, den sie heiraten sollte. Nein. Sicher nicht.

„Natürlich. Das ist doch der Grund, warum man nach Paris fährt.“

Rhys wimmerte innerlich.

3. KAPITEL

Dartford, Greenhithe, Northfleet. Die nächsten fünf Meilen reisten sie in vollkommenem Schweigen weiter. „Warum bist du gerade errötet?“, fragte er plötzlich ohne Vorwarnung.

Sie wünschte sich, sie hätte ihren Schleier wieder angelegt. „Ich dachte gerade an einen Mann.“

„Tatsächlich?“ Rhys sah sie fragend an. „Es ist vermutlich ein sehr romantischer Mann.“

„Nein.“ Er behandelte sie immer noch wie eine Sechzehnjährige. „Männer werben nicht auf romantische Weise um mich. Sie wollen nur wissen, ob ich eine einfältige Gans bin und ob ich noch alle meine Zähne habe und nicht zu viel kichere. Dann ziehen sie ab und reden mit Papa darüber, wie hoch meine Mitgift sein wird.“

„Thea, jetzt übertreibst du aber. Nur weil du noch niemanden gefunden hast, heißt das nicht, dass du nicht noch vernünftige Angebote bekommen wirst.“

„Rhys, ich bin keine Schönheit. Ich bin nicht mal hübsch oder auch nur interessant aussehend, sondern ganz gewöhnlich. Mittlere Größe, durchschnittliches Gesicht, normale Augen und mausbraune Haare, die nicht in üppiger Lockenpracht meinen Rücken hinabwallen, wenn ich sie offen trage. Wenn jemand ein Gedicht über meine Augenbrauen schreiben würde, würde ich ihn auslachen und ihn fragen, ob er eine Brille braucht. Wenn ich lache, vergleicht niemand es mit dem Trillern einer Lerche. Meine Singstimme ist durchschnittlich, und ich spiele ganz passabel Klavier, aber niemand ist so töricht, mich um eine Zugabe zu bitten.“

Rhys sah ziemlich verdattert aus. „Aber du …“

„Wenn du jetzt sagst, dass ich einen wundervollen Sinn für Humor habe, verliere ich meinen Respekt vor dir“, warnte sie ihn.

„Den hast du aber. Doch eigentlich wollte ich sagen, dass du ein besonderes Talent für Freundschaft hast.“

„Oh.“ Er hatte sie überrascht. Sie hatte nicht geahnt, dass er diese Eigenschaft an ihr schätzte, und sie war gerührt. „Nun werde ich wieder rot“, sagte Thea möglichst unbekümmert. „Ich hoffe, ich bin eine gute Freundin. Wo sind wir jetzt?“

„Gravesend. In Strood werden wir noch einmal die Pferde wechseln. Aber du bist vom Thema abgekommen. Wer ist der Mann, der dich zum Erröten bringt, wenn du nur an ihn denkst? Hat er dir das Herz gebrochen?“

Thea lächelte gequält. „Nicht bewusst. Er hatte keine Ahnung von meinen Gefühlen, und außerdem war er in eine andere verliebt.“

„War?“

„Vermutlich ist er es noch. Er war nicht flatterhaft. Aber schau nicht so entrüstet. Es ist Ewigkeiten her.“

Es lag zum Glück hinter ihr. Dieses Mädchen und diesen Jungen gab es nicht mehr, außer manchmal in ihren Träumen. Es war gefährlich, sich an diese Erinnerung zu klammern. Wenn sie das damals schon begriffen hätte, wäre sie nicht auf Anthony hereingefallen, als er begonnen hatte, ihr den Hof zu machen. Er war fantasielos und vernünftig, aber sie hielt ihn wenigstens für treu und aufrichtig. Umso größer war ihre Enttäuschung, als sie mit anhören musste, wie ihr Vater ihre Mitgift mit ihm erörterte. Er hatte Anthony dafür entschädigen wollen, dass er ihm seine unansehnliche Tochter abnahm.

Rhys war so taktvoll, sie nicht weiter auszufragen, aber sie hatte ohnehin schon viel zu viel von sich preisgegeben. „Schau“, sagte sie und zog den Schleier herunter. „Das muss Strood sein.“

Um Viertel vor fünf Uhr erreichten sie Dover, und Rhys brachte seine kleine Gesellschaft im Queen’s Head am Kai unter. „Ich gehe jetzt zum Schiff und lasse euch in einer Stunde holen.“

Thea wollte ihn begleiten. Die Aussicht, in einem muffigen Salon auf ihn zu warten, erschien ihr nicht sehr verlockend. Sie hakte sich bei ihm unter, und sie gingen am Kai entlang. Hohe Wellen schlugen gegen das Mauerwerk. „Der Wind ist ziemlich stark, und das Meer sieht aufgewühlt aus, selbst hier im Schutze des Hafens.“

„Wirst du leicht seekrank?“

„Ich weiß es nicht. Bestimmt ist es eine reine Willensfrage.“

„Oder eine des Magens.“

Plötzlich schaute er sie genauer an. „Thea, wie alt bist du jetzt eigentlich?“

Rhys’ Lächeln wirkte auf sie wie ein Glas Champagner. Sie war beruhigt. Er würde seine Meinung nicht ändern. „Zweiundzwanzig, sechs Jahre jünger als du, wie schon immer.“ Sie lachte und schaute ihn an, dabei passte sie nicht auf und stolperte über ein Schiffstau.

Rhys fing sie auf, bevor sie auf die harten Pflastersteine fiel. „Vorsicht! Alles in Ordnung?“

„Oh ja.“ Thea lag in seinen Armen, atemlos an seinen Körper gepresst. Sie schaute lächelnd nach oben in seine strahlend blauen Augen.

Dann wurde er ganz still, und er hielt sie noch fester, seine Augen wurden ganz dunkel. Es dauerte eine Sekunde … eine Stunde … Hitze, Kraft, Intensität. Ein harter, sehr erwachsener Körper an ihrem. Ein erregter Körper.

Dann ließ er sie los, trat zurück und starrte sie entsetzt an. „Oh Gott, es tut mir leid, Thea! Ich hatte nicht vor, dich so zu … behandeln.“

Rhys sah so durcheinander aus, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Ist es so schrecklich, mich in deinen Armen zu halten? „Oh, keine Ursache, es ist doch nichts geschehen. Du hast mich doch nur festgehalten.“ Früher hätte ich alles dafür gegeben, wenn du mich so in die Arme genommen hättest.

„Du solltest besser achtgeben“, sagte er gereizt. Als wenn es meine Schuld gewesen und ich absichtlich gestolpert wäre … „Ich muss dich um Verzeihung bitten. Ich bringe dich jetzt besser zurück in den Gasthof.“ Er bot ihr seinen Arm und sie glitt mit den Fingern unter seinen Ellenbogen. Durch das dünne Leder des Handschuhs konnte sie seine Wärme und seinen Herzschlag fühlen. So aufgeregt, weil dir allmählich klar wird, dass ich eine Frau bin?

„Ich würde sehr gern zusehen, wie die Kutschen auf das Schiff geladen werden.“ Sie musste aufhören, an den Körper zu denken, der sich an sie gepresst hatte und so … männlich war.

Rhys ignorierte sie, als wollte er sie so schnell wie möglich loswerden. Aber als sie sich gerade von ihm lösen wollte, meinte er: „Männer sind leider ihren Trieben unterworfen. Wenn man so plötzlich den Arm voller Frau hat … Es ist keine Entschuldigung, aber du darfst es nicht persönlich nehmen. Es bedeutet nicht, dass ich dich nicht respektiere.“ Er räusperte sich.

Er hat gemerkt, wie hochtrabend er sich anhört. Ein Wüstling predigt über Anstand, fürwahr! Gerade hat er zugegeben, dass er erregt war. Und er weiß, dass ich es bemerkt habe, und das ist ihm jetzt äußerst peinlich.

„Also ist es wie bei einer Katze, die einem Bällchen nachjagt, oder einem Hund, der ein Kaninchen verfolgt?“, erkundigte sich Thea ein wenig enttäuscht. Sie wusste nicht, über wen sie sich mehr ärgerte: über Rhys, der so gestelzt daherredete, oder über sich selbst, weil sie sich dadurch verletzt fühlte.

„Leider ist es so, darum gibt es die Regeln. Um junge Ladies zu beschützen. Bitte, habe keine Angst, es wird nicht wieder vorkommen. Ich werde ab jetzt mit deiner Zofe den Platz in der Kutsche tauschen. Oder ich könnte dich zu einem Freund bringen. Bist du ganz sicher, dass du niemanden hier kennst?“

Mache dir keine Hoffnungen, du abscheulicher Mann. „Es gibt niemanden, außerdem will ich wirklich unbedingt zu Agnes.“ Sie spürte, dass er sie von der Seite her ansah, aber sie schaute nur nach vorn. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was für ein emotionales Gefängnis daheim auf sie wartete. Männer hatten ihre Freiheit, Frauen nicht. „Sei beruhigt. Ich habe nicht die Absicht, mich noch einmal an deine männliche Brust zu werfen.“

Nachdem er sie auf direktem Wege zum Gasthof gebracht hatte, wartete Thea nur noch, bis sich die Tür des Salons geschlossen hatte, um sich auf das weiche Plüschsofa fallen zu lassen.

„War der Anblick des Meeres zu viel für Sie, Mylady?“ Polly sammelte Theas verstreute Kleidungsstücke ein und faltete sie säuberlich zusammen. „Ich bin daran gewöhnt, aber ich kenne eine Menge Leute, denen schon beim bloßen Anblick übel wird.“ Theas Schweigen machte keinen Eindruck auf sie, und sie schnatterte weiter. „Mr Hodge sagt, Seine Lordschaft will die Wagen an Deck bringen lassen. Dann können Sie ja dort schlafen, in der Kutsche und bei offenem Fenster. Sie brauchen frische Luft. Ich bin auf dem Frachtkahn meines Vaters auf der Themse aufgewachsen. Mir ist es unter Deck lieber, wo es muffiger, aber gemütlicher ist.“

„Tatsächlich?“ Thea bemühte sich, ihr zuzuhören. Es war lächerlich, hier zu sitzen und sich zu ängstigen. Außerdem hatte Polly wahrscheinlich recht mit dem, was sie sagte. „Ja, das werde ich tun. Man kann die Sitze zu Liegen umbauen.“

„Hören Sie auf meinen Rat, Mylady. Am besten waschen Sie sich jetzt hier und lassen danach die Korsage weg, wenn Sie sich wieder anziehen. Dann können Sie sich gemütlicher hinlegen.“

Keine Korsage? Das klang ein wenig … unziemlich. Doch sie konnte den Umhang um sich wickeln, dann würde niemandem etwas auffallen. Mit ihrer Figur war alles in Ordnung, der feste Halt durch die Korsage war nicht unbedingt notwendig. Ihre Figur war nett, ganz normal, alles so, wie es sein sollte. Nicht zu dick und nicht zu dünn. Ganz gewöhnlich …

„Das war ein dicker Seufzer, Mylady. Sie werden müde sein, möchte ich wetten. Ich lasse heißes Wasser kommen, und Sie ruhen sich ein bisschen aus.“

Polly eilte hinaus. Thea blieb ganz still sitzen und hielt die Hände im Schoß gefaltet. Ihre Lippen prickelten, als hätte Rhys sie mit dem Mund berührt.

Von allen Dummheiten stand diese Umarmung ganz weit oben auf seiner Liste. Was war in ihn gefahren? Nur gut, dass er sie wenigstens nicht geküsst hatte. Rhys ging mit finsterer Miene an ein paar Hafenarbeitern vorbei.

Dann verlangsamte er seine Schritte. Armes Mädchen, sie musste angewidert sein, weil ihr alter Freund sie derart unmoralisch angefasst hatte. Kein Wunder, dass sie mit so gereizter Stimme gesprochen hatte. Er hatte noch niemals auf diese Weise an sie gedacht, aber plötzlich hatte sie in seinen Armen gelegen, und er hatte nur noch gewusst, dass ein warmer weiblicher Körper sich an ihn drückte. Er sah ihren lächelnden Mund, roch den leichten Rosenduft und sein verräterischer Körper reagierte prompt.

Und sie hatte es gemerkt und sofort verstanden, was geschah. Zweiundzwanzig! Er konnte immer noch nicht begreifen, dass sie jetzt erwachsen war. Thea war so entsetzt gewesen, dass sie sich nicht bewegt hatte. Sie hatte nicht einmal das Gesicht weggedreht. Ihr Mund war … Genug! Selbst jetzt noch erregte es ihn, wenn er nur daran dachte. Thea. Hölle, er hätte sie beinahe geküsst. Zwar war er ein notorischer Verführer, aber einer Jungfrau hatte er sich bisher noch nie genähert. Niemals.

„Lord Palgrave?“

Rhys stand neben einem stabilen Hafenkahn, dessen Deck bei Flut auf derselben Höhe war wie die Ufermauer. Tom Felling, der Kutscher, beaufsichtigte die Männer, die die Zugpferde wegführten und die Achsen abkoppelten. Ein Mann im blauen Mantel stemmte die Hände in die Hüften und musterte Rhys.

„Ja, der bin ich. Sind Sie Captain Harris?“

„Richtig, Mylord, und dies ist die Nancy Rose, auf der Sie in einer Stunde nach Dieppe abfahren werden.“

„Wie lange dauert die Überfahrt voraussichtlich?“

Der Kapitän kniff die Augen zusammen und schaute zum Himmel. „Vierundzwanzig Stunden, mehr oder weniger.“ Er ging zu den Männern hinüber, die an der Kutsche dicke Taue befestigten, um sie an den Kran zu hängen.

Nach einer halben Stunde waren beide Wagen an Deck, wo sie fest verzurrt wurden, und die Pferdegeschirre und Achsen wurden sicher vertäut. Rhys ging zurück zum Gasthof, um seine Reisegesellschaft abzuholen.

Er stellte fest, dass Thea eine ebenso gute Schauspielerin war wie er ein guter Schauspieler. „Polly hat Schiffserfahrung“, bemerkte sie, als sie den Gasthof verließen. Ein Junge zog auf einem Karren ihr Handgepäck hinter ihnen her. „Sie hat mir geraten, dass ich in der Kutsche schlafen soll, um frische Luft zu haben. Ich hoffe, es stört Sie nicht, Mylord?“

Er antwortete vor den Dienstboten in dem gleichen, förmlichen Ton. „Überhaupt nicht, Lady Althea. Wird die Zofe bei Ihnen schlafen?“

„Sie möchte lieber unter Deck bleiben. Es sind doch keine weiteren Passagiere an Bord, oder, Mylord? Ich bin dort hoffentlich in Sicherheit?“

„Ich schlafe gemeinsam mit Hodge in dem anderen Wagen. Sie müssen nur rufen, wenn Sie sich unsicher fühlen, aber das wird sicher nicht geschehen.“

„Entschuldigung, Mylord, aber ich wäre sehr dankbar, wenn ich die Nacht unter Deck verbringen dürfte. Mir ist nicht ganz geheuer, wenn ich oben bin.“ Hodge hatte sein übliches Pokerface aufgesetzt, und Rhys fragte sich, ob er Angst vor dem Meer hatte oder die Gesellschaft von Polly suchte.

„Wie Sie wollen, Hodge. Bitte sorgen Sie dafür, dass Lady Althea Decken und Kissen bekommt.“

Er half Thea auf den Landungssteg, und oben reichten die Seeleute ihr die Hand und zogen sie an Deck. Dieselbe alte Thea, dachte er voller Zuneigung. Vernünftig, gleichmütig und tapfer genug, um nicht vor den schmalen Planken des Steges zurückzuschrecken, die sich über dem Wasser hoben und senkten.

Es war lächerlich, dass sie von dem Moment auf dem Kai betroffen gewesen sein sollte. In den vergangenen sechs Jahren hatte er fast vergessen, wie sie war – intelligent und loyal, immer zu einem Spaß aufgelegt und durch und durch rational. Wenn sie nicht gerade von irgendeiner völlig verrückten Idee wie besessen war – denn dann konnte man sie nicht aufhalten.

Selbst in den unangenehmen Jahren, als alle kleinen Mädchen um ihn herum sich verändert hatten und zu beunruhigenden Wesen geworden waren, die seine Gedanken heimsuchten, war Thea für ihn ein halber Junge geblieben, selbst in langen Röcken und mit hochgesteckten Haaren.

Sie hatte nie über ihn gekichert oder an ihm ihre Verführungskünste ausprobiert, ihn nicht mit einem Blick unter flatternden Wimpern dazu gebracht, unzusammenhängend zu stammeln. Guter alter Kumpel Thea. Kein Wunder, dass sie keine Anträge bekommen hat. Rhys lehnte sich neben sie gegen die Reling. „Auf geht’s in unser großes Abenteuer.“

Das Lächeln, mit dem sie antwortete, war nicht so unbekümmert wie das der jungen Thea. Er konnte es nicht deuten, es lag eine Gespanntheit darin, die vermutlich auf Ängstlichkeit und Ermüdung zurückzuführen war. Wenn sie erst einmal den Kanal überquert hatten und sie eine Nacht geschlafen hatte, würde alles gut sein. Unscheinbare kleine braune Maus. Was war eigentlich mit ihm los, dass sie ihn in solche plötzliche Erregung versetzen konnte? Bestimmt lag es an dem Kater, der ihn noch immer quälte.

Thea studierte Rhys’ Profil von der Seite. Seine Augenlider sahen schwer aus, vermutlich hatte er immer noch einen Kater.

Wie lange war es eigentlich her, dass sich ihre Gefühle für den Jungen verändert hatten, der so lange ein Teil ihrer Kindheit gewesen war? Und wie kam es, dass er, der sie immer so gut verstanden hatte, nicht merkte, dass sie sich bis über beide Ohren in ihn verliebt hatte?

Es mussten über sechs Jahre sein. Rhys hatte ihr immer gesagt, dass sie hartnäckig sei, und damit mochte er recht haben. Ganz sicher war ihre Verehrung hartnäckig gewesen, denn sie hielt über viele Monate an, gedieh trotz seiner fröhlichen Unwissenheit und überstand sogar die ständige Trennung. Am Ende war sie jedoch zu sich gekommen, war älter geworden und aus der Liebe herausgewachsen.

Als sie erfahren hatte, dass er auf den Kontinent reisen wollte, war es ihr wie eine gute Idee erschienen, zu ihm zu gehen. Jede Europarundfahrt führte auch in die großen Städte Italiens. Nicht für einen Augenblick wäre sie darauf gekommen, dass es gefährlich sein könnte, mit ihm allein zu sein. Ihre kindliche Schwärmerei war schon lange vorbei, und sie vergaß nie, dass dieser Mann in eine andere Frau verliebt war. Sonst hätte er doch sicher inzwischen geheiratet.

Aber sie hatte nicht bedacht, dass etliche Jahre vergangen waren. Sie war herangewachsen, und auch Rhys hatte sich verändert. Auch wenn sie von kühlem Verstand war, reagierte ihr Körper auf empörende Weise auf seinen. Es juckte sie in den Fingern, diesen faszinierenden, atemberaubenden Mann zu berühren. Bei dem Gedanken an ihn prickelte es auf ihrer Haut, und sie wollte ihn erforschen …

Niemals hatte sie etwas Ähnliches empfunden bei einem der langweiligen, pflichtbewussten Männer, die während der Saison um ihre Hand angehalten hatten. Selbst Anthony … Nein, an den wollte sie jetzt nicht denken.

Nun war sie allein mit einem Mann, der nicht langweilig und vermutlich alles andere als pflichtbewusst war, aber er war es nicht, der die Gefahr darstellte. Es war ihre eigene Sinnlichkeit, die plötzlich hervorbrach, jetzt, nachdem sie die Hoffnung aufgegeben hatte, für einen Mann je so etwas zu fühlen.

Und dann fiel ihr seine Zurückweisung ein, als er sie plötzlich in seinen Armen gehalten hatte. Nein, sie war in Sicherheit. Es war nur möglich, dass sie sich gründlich blamierte, indem sie ihn merken ließ, dass sie ihn als Mann wahrnahm.

4. KAPITEL

Auf dem Meer war es viel angenehmer, als Thea gedacht hatte. Die Sonne schien, ihr schwerer Umhang hielt den Wind ab, und es war interessant, das Treiben auf dem Schiff zu beobachten. Als sie sich erst einmal an das Schaukeln gewöhnt hatte, begann Thea die Überfahrt zu genießen.

„Nimm meinen Arm“, drängte Rhys.

Es war eine törichte Schwäche, sich an ihm festzuhalten. Aber sie genoss es, dass er sich um sie kümmerte und ihr seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. So fühlten schöne Frauen sich immer: umsorgt, gehätschelt und wie etwas Zerbrechliches und Wertvolles behandelt.

„Wir könnten gemeinsam wie Betrunkene auf dem Deck herumschwanken“, fügte er hinzu, und brachte sie damit zum Lachen. Nein, als zerbrechliche Blume betrachtete Rhys sie offensichtlich nicht. Thea, der gute alte Wildfang.

Eine Unterhaltung war schwierig, weil der Wind ihre Worte davontrug. Darum sagten sie nichts, sondern deuteten nur gelegentlich auf etwas, um den anderen darauf hinzuweisen – die berühmten White Cliffs of Dover, die im Licht der Nachmittagssonne strahlten, oder den Schiffsjungen, der in der Takelage herumturnte wie ein Affe.

Sie dachte über die Vergangenheit nach.

Sie war vierzehn, erst seit wenigen Monaten zur Frau gereift und noch nicht ganz im Reinen mit den Veränderungen ihres Körpers. Rhys war gerade zwanzig und hatte in den beiden letzten Jahren den Sommer fast ausschließlich mit seinen männlichen Freunden verbracht. Doch wenn er da war, behandelte er sie genau wie früher wie einen jüngeren Freund und nicht wie ein lästiges kleines Mädchen. Rückblickend vermutete sie, dass er sie ganz einfach nicht als weibliches Wesen wahrgenommen hatte.

Sie wusste noch, wie erleichtert sie gewesen war, dass er sich offenbar in den Monaten, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, kaum verändert hatte. Doch eines Tages trat Serena Halstow ins Zimmer. Sie war siebzehn, blond und hübsch, und Rhys blickte sie auf eine Weise an, wie er noch nie zuvor jemanden angesehen hatte. Thea verstand nicht ganz, was da vor sich ging, aber sie war eifersüchtig. Am liebsten hätte sie Serena dafür geschlagen, wie sie ihre Augenlider mit den dichten, dunklen Wimpern über den großen blauen Augen senkte und dann an der Unterlippe knabberte, bevor sie die Augen wieder aufschlug. Er schaut sie an wie ein betäubter Dorsch, dachte Thea damals boshaft.

Sie zog schmollend ab in das Sommerhaus, doch die beiden bemerkten es gar nicht. Als sie sich ein bisschen beruhigt hatte und wieder bei Verstand war, begriff sie, dass Rhys völlig vernarrt war in Serena, und die schöne Blonde war ganz und gar nicht abgeneigt. Jetzt wurde Thea auch klar, dass ihre eigenen Gefühle für Rhys sich in etwas Neues verwandelt hatten. Sie liebte ihn. Sie war nicht ganz sicher, was das bedeutete, aber sie hatte ihm ihr Herz geschenkt. Wenn man vierzehn ist, währt die Liebe ewig. Heute wusste sie es besser.

Das wundervolle Gefühl der Schmetterlinge im Bauch hatte so lange angehalten, bis sie beim Abendessen neben Serena stand und ihr Bild im Spiegel über der Anrichte sah. Obwohl sie gefühlsmäßig erwachsen sein wollte und ihr Körper in den peinlichen, verwirrenden Prozess der Veränderung eingetreten war, war sie immer noch ein Kind. Serena war jedoch zweifellos bereits eine junge Lady.

Thea lehnte es ab, eine Frau zu werden. Sie gab nicht nach und bekämpfte alles, was damit zusammenhing – ihre weiblicher werdenden Formen, das monatliche Elend ihrer Regel, die Einschränkungen und Vorschriften. Serena hingegen war auf all das mit offenen Armen zugegangen und begeistert davon, eine schöne junge Frau zu werden.

Thea war schon immer mehr am Charakter eines Menschen interessiert gewesen als am Aussehen. Ständig predigte ihre Stiefmutter: „Halte dich gerade. Spüle dein Haar mit Essig, davon glänzt es. Trage diese Creme auf die Sommersprossen auf.“ Doch meistens seufzte sie nur, wenn sie Thea ansah.

Als sie damals neben Serena vor dem Spiegel stand, ging ihr plötzlich ein Licht auf. Sie war unscheinbar. Nicht völlig unansehnlich, und nicht einmal auf interessante Art und Weise hässlich. Nur Feld-Wald-Wiesen-normal. Reizlos. Männer fanden Schlichtheit nicht attraktiv. Nicht dass sie die Männer im Allgemeinen wollte, nur ihren Rhys. Und der hatte nur noch Augen für Serena.

An diesem Abend fand sie sich mit der Realität ab – sie passte nicht zu dem hübschen, begehrten jungen Mann ihrer Träume, weil der eine schönere Frau verdiente. Sie war auch eine Enttäuschung für Papa. Und Rhys sah sie nicht einmal als Frau an.

Den ganzen Sommer über war sie sehr still, aber selbst ihre Patin, die sonst immer alles verstand, schob es darauf, dass sie in einem schwierigen Alter sei. Als Thea dann später Rhys wieder begegnet war, hatte sie die kindliche Schwärmerei überwunden und gelernt, mit der Wahrheit zu leben. Am Ende war es besser so – Träumereien führten nur dazu, dass man verletzt wurde.

„Ein Penny für deine Gedanken.“ Rhys’ warmer Atem traf auf ihre kühle Haut.

„Mehr nicht?“ Ihr Lachen klang so schrill wie die Schreie der Möwen, aber es fiel ihm offenbar nicht auf. „Mindestens zehn Guineas, Mylord. Es sind sehr tiefschürfende Gedanken über alte Geschichten.“

„Bist du ein Blaustrumpf, Thea?“, fragte er neckend.

„Ich fürchte, dafür bin ich nicht ernsthaft genug.“

„Gott sein Dank“, sagte Rhys. „Das habe ich immer an dir geliebt, Thea. Du bist so intelligent, und trotzdem macht es großen Spaß, mit dir zusammen zu sein.“

Ihr Magen schien nach oben zu schwappen, aber das hatte nichts mit den Wellen unter dem Schiffsrumpf zu tun. „Und ich hatte immer angenommen, es läge daran, dass ich dir mit haarsträubenden Lügengeschichten oftmals aus der Klemme geholfen habe.“

Er liebt mich? Natürlich als gute Freundin. Rhys war immer ein loyaler Freund gewesen. Wie es wohl wäre, wenn er ihr solche Worte sagen und ernst meinen würde, so wie damals bei Serena? Er hatte sich in Serena Halstow verliebt und sie erobert. Das hatten zumindest alle gedacht. Und dann war Serena an ihrem Hochzeitstag mit Paul Weston durchgebrannt, Rhys’ bestem Freund. Erst auf den Stufen des Traualtars hatte Rhys die Nachricht erhalten. Thea und Rhys war sofort klar gewesen, dass Serena Rhys’ Werben nur benutzt hatte, um dahinter ihre Liebesaffäre mit dem anderen Mann zu verbergen, der wenig Geld und schlechte Zukunftsaussichten hatte.

Eine Sekunde lang – eine beschämende Sekunde lang – begann Theas Herz zu hüpfen. Rhys war frei. Dann begriff sie, dass er zwar frei sein mochte, aber sein Herz war gebrochen, selbst wenn er es überspielte. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war seine linkische kleine Freundin. Thea hatte sich auf die Unterlippe gebissen und die Tür zu dem einfältigen, romantischen Mädchen, das sie vorher gewesen war, fest zugeschlagen.

Nun war sie erwachsen. Als sie in die Gesellschaft eingeführt wurde, bestätigten die Männer, die um sie warben, alles, was ihre Stiefmutter gesagt hatte. Männer waren an unscheinbaren Mädchen nicht interessiert, außer wenn sie Beziehungen und Geld hatten. Von beidem hatte sie genug, aber ihre Verehrer waren dumm genug gewesen, sie merken zu lassen, dass dies ihre einzigen Vorzüge waren. Ihr Sinn für Humor war für sie ebenso wenig von Belang gewesen wie ihr Verstand oder ihr Talent für Freundschaft.

Sie hatte Rhys nur deshalb gebeten, sie mitzunehmen, weil sie ihre törichten Gefühle für ihn längst für überwunden gehalten hatte. Nur hatte sie nicht im Traum daran gedacht, dass er sie an ihrem ersten Tag so berühren würde.

„Erschöpft?“ Rhys stützte sich mit beiden Ellenbogen auf die Reling. Sein Umhang wurde nach hinten geweht und enthüllte seine muskulösen Reiterbeine, den breiten Oberkörper und den flachen Bauch, darüber hing die Uhrkette über der Seidenweste. „Du siehst müde aus.“

Ihr Körper schmerzte, die Lider waren schwer. Nach einer erholsamen Nacht in einem ordentlichen Bett würde es ihr aber sicher schnell besser gehen. Dann würde sie auch ihre Gefühle wieder im Griff haben, denn sie war schließlich eine intelligente und vernünftige Frau.

„Es muss die Seeluft sein“, murmelte Thea. Dieselbe Seeluft, die Rhys’ Hemd an seinen Körper drückte und ihm die Haare aus dem Gesicht wehte. Er war von einem Jungen zu diesem breitschultrigen Mann mit den markanten Gesichtszügen herangewachsen.

Sie fühlte sich aber nicht nur körperlich zu ihm hingezogen. Er strahlte Sicherheit aus, denn er wusste, wer er war. Er war Herr seines Hauses, und jeder brachte ihm Respekt entgegen. Sein Ruf als Landbesitzer war untadelig. Er verbrachte seine Zeit im Haifischbecken der Gesellschaft, in dem niemand toleriert wurde, der nicht selbstsicher war und ausgezeichnete Manieren hatte. Wie kam es, dass ein junger Mann ein solches Auftreten hatte? Wahrscheinlich hatte er nie an sich zweifeln müssen, niemals solche Furcht und Unsicherheit empfunden wie sie.

Sie war jedoch kein Mädchen mehr, das sich von ihm aus der Fassung bringen ließ. Sie hatte viele Bücher gelesen und von Weitem einige Techtelmechtel beobachtet. Auch hatte sie Anthony gewisse Freiheiten gewährt, die sich allerdings als Enttäuschung herausgestellt und sie nichts gelehrt hatten.

Aber ganz deutlich empfand sie körperliches Verlangen, und sie sagte sich, dass es keinen Sinn hatte, einer Lady solche Gefühle zu verbieten. Wenn sie nicht die einzige lüsterne Ausnahme von der Regel war, dann bekamen wohlerzogene junge Frauen nichts als Lügen über diese Dinge aufgetischt.

„Seeluft und Schlafmangel seit mindestens zwei Tagen“, diagnostizierte Rhys. Offenbar konnte er einige ihrer Gedanken lesen, aber hoffentlich nicht alle. „Wenn dich das Schaukeln nicht stört, solltest du heute Nacht ein paar Stunden schlafen können.“

„Du hast recht, ich finde dieses sanfte Auf und Ab sehr angenehm.“ Sie leckte sich über die salzigen Lippen.

„Mylord und Lady Althea, das Dinner ist unter Deck serviert“, kündigte Hodge an.

Polly hatte schon gesagt, dass es unter Deck nicht besonders gut roch. Die Bewegungen des Schiffs waren auch viel unangenehmer, wenn man den Horizont nicht sehen konnte. Thea nahm ihren Teller mit Brot und Käse und einen Becher Tee, dann ging sie zurück an Deck und genoss die frische Luft.

Rhys setzte sich zu ihr auf ein Fass. „Viel besser als unter Deck“, sagte er und biss in eine Scheibe Fleischpastete.

„Rhys, warum suchst du dir eigentlich nicht sofort eine Frau?“ Er schaute sie entgeistert an, und ein Brocken seiner Pastete fiel auf den Boden. Oh mein Gott, warum habe ich das gesagt? Zu spät. Thea machte weiter. „Bald ist doch die Saison der Hauspartys. Oder du könntest nach Brighton fahren, wo es sehr viele Gelegenheiten gibt, eine infrage kommende junge Dame zu finden, und dann könntet ihr auf dem Kontinent eure Hochzeitsreise machen.“

„Es ist noch zu früh“, entgegnete er. Plötzlich wirkte er unnahbar.

Zu früh? Sechs Jahre? Wie lange braucht man, um ein gebrochenes Herz zu kitten? Aber wenn Rhys mich vor dem Altar stehen gelassen hätte, würde ich dann sechs Jahre später einen anderen Mann heiraten können? Vermutlich nicht. Also liebt er sie wohl noch.

Es ist, als hätte ich meinen Lieblingshund aus Versehen getreten, dachte Rhys. Thea zog sich kaum merklich von ihm zurück.

„Es war nicht besonders feinfühlig von mir zu fragen“, sagte sie. „Du bist nicht unbeständig. Du liebst Serena immer noch. Dir fällt es schwer, aus Pflichtgefühl zu heiraten.“

Immer noch verliebt in Serena? Gewiss nicht. Beinahe hätte er es laut ausgesprochen, aber das hätte Thea gewiss enttäuscht. Sie hielt ihn für treu und beständig und für einen Mann, der seiner Liebe ergeben war bis zum Tod. Irgendwie wollte er nicht, dass sie geringer von ihm dachte.

Es hatte sechs Monate, nicht sechs Jahre, gedauert, bis er zur Vernunft gekommen war. Sechs Monate, in denen er ständig betrunken war und eine Reihe unbefriedigender Liebesabenteuer durchlebte. Er dachte damals, er sei es nicht wert, geliebt zu werden. Niedergeschmettert wie er war, begann er seine Güter zu vernachlässigen und sich von allen Freunden zurückzuziehen.

Eines Morgens wachte er auf und fragte sich, warum er sich eigentlich selbst bestrafte. Er hatte Serena nicht in Pauls Arme getrieben – sie war die ganze Zeit dort gewesen. Sie hatte ihn betrogen, belogen und benutzt. Daraufhin hatte er beschlossen, sich nicht wegen einer Frau, die ihn nie geliebt hatte, in sein frühes Grab zu trinken.

„Ich wollte sagen, dass ich eine Auszeit brauche. Ich habe hart gearbeitet an der Musterfarm, den Veränderungen an den Häusern der Pächter und den Verbesserungen bei Getreideanbau und Viehzucht. Ich brauche Urlaub und eine andere Umgebung.“ Außerdem fühlte er sich ausgebrannt, und er hatte genug von Frauen und Glücksspiel … Aber das konnte er Thea nicht sagen.

Rhys trank einen Schluck von seinem Ale und beobachtete Thea aus dem Augenwinkel dabei, wie sie ihr Brot kaute und seine Worte auf sich wirken ließ.

Was würde sie sagen, wenn sie die Wahrheit wüsste? Ich muss meinen ganzen Verstand beisammen haben, dann suche ich mir eine Frau, die mich nicht betrügt und ihren Teil der Abmachung einhält. Sie sollte eine freundliche, anspruchslose Person sein, mit der ich für den Rest meines Lebens zusammenleben kann. Aber das Ganze fühlt sich so verdammt kalt an … so leer.

Thea brauchte er nicht erst nach ihrer Meinung zu fragen. Er wusste, wie sie lauten würde. Sie würde ernst dreinblicken und eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen bekommen, die eine Spur dunkler waren als ihre Haare. Dann würde sie mit einer losen Haarsträhne herumspielen und nachdenken. Schließlich würde sie ihm sagen, dass er auf die Frau warten solle, die er liebte und die ihn auch liebte. Ihre große Vorliebe für Liebesehen war das einzig Unvernünftige, das ihm je an Thea aufgefallen war.

Wenn er darauf wartete, dass Amors Pfeil ihn traf, würde er als Junggeselle sterben. Nein, seine Entscheidung für eine Ehefrau würde er aufgrund ihrer Eignung als Countess und Mutter seines Erben treffen. Sie sollte zudem intelligent genug sein, damit ihre Gesellschaft ihm nicht unangenehm war, und attraktiv genug, um keine Strafe daraus zu machen, mit ihr das Bett zu teilen. Sein Ehegelübde würde er ernst nehmen, aber darüber hinaus würde er diese Angelegenheit ganz geschäftsmäßig betrachten.

Die infrage kommenden Frauen – oder vielmehr ihre Väter – würden ihrerseits ihre Entscheidung aufgrund seines Titels, seiner Abstammung und seines Landbesitzes treffen. Alles würde vertraglich geregelt und damit für beide Seiten sicher sein. Keine klebrigen Gefühle, keine Liebesbeteuerungen. Er hatte nicht die Absicht, noch einmal einer Frau sein Herz zu Füßen zu legen, damit sie darauf herumtrampeln konnte. Daher war er sehr zurückhaltend und vermied alles, was eine junge Frau dazu bringen konnte, sich einzubilden, in ihn verliebt zu sein.

„Ja. Ach so“, Thea nickte. „Es ist vernünftig, Urlaub zu nehmen, wenn man eine Veränderung braucht.“

„Ist dir kalt? Du zitterst ja.“ Sie waren beide warm eingepackt, aber der Wind fuhr heftig über das Deck. Die Böen lösten einige von Theas Haarsträhnen und ließen sie in der Luft tanzen. Eigentlich ganz hübsch, dieses zarte Braun. Nicht auffallend, aber … irgendwie niedlich. Es war ihm vorher noch nie aufgefallen. Rhys beugte sich vor und strich eine Strähne hinter ihr Ohr. Sie zitterte wieder. Ich sollte sie lieber nicht berühren, dachte er und runzelte die Stirn.

„Ich bin müde. Ich glaube, ich werde schlafen gehen.“

„Hodge hat die Kutsche schon vorbereitet.“ Der Diener zog gerade die Rollos herab und stieg rückwärts aus dem Wagen.

„Ich muss noch mit Polly sprechen.“ Thea stand auf und glättete die Röcke des praktischen Reisekleides, das sie anhatte. „Gute Nacht, Rhys.“ Sie beugte sich vor, und bevor er reagieren konnte, gab sie ihm einen keuschen Kuss auf die Wange. „Ich danke dir, dass du mich mitgenommen hast. Ich werde versuchen, dir nicht zur Last zu fallen.“

Dass ich mich im Hafen ihr gegenüber nicht im Griff hatte, ist durchaus verständlich, dachte er, als er ihr nachsah, wie sie über das schwankende Deck ging und ihre Röcke schürzte, damit der Wind sich nicht darin verfing. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sie sehr weibliche Formen entwickelt. Die Erinnerung daran, wie sie sich an ihn geschmiegt hatte, war … stimulierend.

Rhys fluchte leise und erhob sich. Dann ging er nachsehen, was Hodge getan hatte, um den Wagen für die Nacht herzurichten. Verdammt. Was war mit ihm los? Wenn ein paar Tage ohne eine Frau diese Wirkung auf ihn hatten, sollte er sich besser eine entgegenkommende Frau suchen, wenn sie in Paris waren. Thea … also wirklich!

Hodge hatte ein kuscheliges Nest aus Kissen und Decken für sie vorbereitet. Thea entledigte sich ihrer Schuhe und Strümpfe, faltete den Umhang zusammen und legte sich hin. Wie klug der Vorschlag von Polly gewesen war, das Mieder auszuziehen, dachte sie und suchte die bequemste Schlafposition. Es gab keinen Grund, warum sie nicht sehr gut schlafen sollte im beruhigenden Rhythmus des Schiffes.

Keinen Grund außer den dummen Gedanken an Rhys und seine Heiratspläne. Sie klopfte ein Kissen in Form. Rhys war viel zu leidenschaftlich, zu kompliziert, zu … lebendig, um sich auf eine lieblose Vernunftsehe einzulassen, oder? Sie überlegte, welche Art von junger Frau zu ihm passen würde. Natürlich keine Blondine. Aber hübsch muss sie sein, und … Warm eingekuschelt und von den Wellen gewiegt, sank Thea in den Schlaf.

„Au!“ Thea stieß einen erschrockenen Schrei aus, mehr aus Verwirrung als aus Schmerz. Es war dunkel, und ihre ganze linke Seite tat weh, weil sie gegen etwas Hartes geprallt war und keine Ahnung hatte, wo in aller Welt sie war. Ihr Bett hob und senkte sich, und sie krachte wieder herunter, wobei sich ihre Beine in den Decken verhedderten.

Der Wagen. Ich bin in dem Wagen auf dem Schiffsdeck, und wir müssen einen Felsen gerammt haben. Hinaus …

Sie versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie ging nicht auf. Ich werde ertrinken … „Rhys!“

5. KAPITEL

Thea?“ Die Tür wurde schwungvoll geöffnet, und plötzlich war Rhys da. „Geht es dir gut? Ich habe dich schreien gehört.“

„Gehen wir unter?“ Sie krallte sich an seinem Hemd fest.

„Durchaus nicht, wir sind hier ganz sicher.“ Seine Worte endeten mit einem Schmerzlaut. „Verdammt, ich habe mir auf die Zunge gebissen.“ Er stützte sich in einer Ecke ab und zog Thea an sich. Seine Arme legte er beruhigend um sie, bis ihre Angst nachließ, obwohl sie weiter herumgeschleudert wurden.

„Der Kapitän hat den Kurs geändert, und wir kreuzen einige hohe Wellen. Es hat mit der Windrichtung zu tun und mit den Gezeiten. Ist dir übel?“

„Ich habe geschlafen, aber dann wachte ich plötzlich auf, weil es auf und ab ging und ich nicht wusste, was los war. Darum bekam ich Angst, aber übel ist mir nicht.“ Sie schmiegte sich in seine Arme. „Wie sollen wir denn so schlafen?“

„Warte einen Moment.“ Rhys wühlte in der Dunkelheit in den Decken herum. „Wenn ich mich quer lege, kann ich mich gut abstützen. Du legst dich direkt vor mich und ich halte dich.“

Er streckte die Hand aus und zog sie wieder an sich. Thea wurde gegen ihn geschleudert.

„Dreh dich mit dem Rücken zu mir und versuche, mir nicht wieder den Ellenbogen in den Magen zu rammen.“

„Tut mir leid. Besser so?“ Er war warm und fest, und als er erneut seine Arme um sie schloss, um sie festzuhalten, blieb sie ruhig liegen. Allerdings ging es immer noch auf und ab.

„Ja, genau so.“ Seine Stimme dicht an ihrem Ohr klang so, als müsste er ein Lachen unterdrücken.

„Was ist denn so komisch?“, erkundigte sie sich bissig.

„Das Ganze hier.“

„Ja, gewiss. Da, schon wieder … au!“

„Versuche dich zu entspannen.“ Rhys ignorierte ihr unwirsches Schnauben. „Wir gewöhnen uns schon noch daran. Du brauchst deinen Schlaf!“

„Unmöglich! Wie soll ich denn in dieser Haltung schlafen?“

„Zähle Delfine, die über Hürden springen“, murmelte Rhys ihr ins Ohr. „Schäfchen würden nass.“

„Idiot“, sagte sie leise. Eins, zwei, drei … hier kommt ein Tümmler …

Rhys seufzte und legte seinen Mund gegen den Kopf der Frau in seinen Armen. So sollte man immer aufwachen. Warm, sanft geschaukelt, die Arme voll weicher, kurviger Weiblichkeit.

Sie duftete nach Rosen, aber es war ihm entfallen, wer sie war. An die Nacht konnte er sich auch nicht erinnern, aber es musste gut gewesen sein. Sein Körper war jedenfalls wach und interessiert.

Als er sie näher an sich zog, kuschelte sie sich mit einer kleinen, erotischen Bewegung an ihn, wodurch sofort sein Begehren entflammt wurde.

„Hmm.“ Rhys liebkoste das feine, seidige Haar und ließ seine rechte Hand über ihren Körper gleiten. Sie waren beide mehr oder weniger bekleidet, nur ihre nackten Füße berührten sich. Unter der feinen Wolle konnte er fühlen, dass sie kein Korsett trug. Dann erreichte er mit der Hand die süße Fülle einer Brust, und als er mit dem Daumen über die Spitze strich, wurde sie hart. Er lächelte.

Seine Gefährtin begann sich zu bewegen und rekelte sich. Sie gähnte und wurde offenbar endlich ganz wach. Nun fiel ihm plötzlich alles wieder ein. Er war im Kutschwagen, auf dem Schiff unterwegs nach Frankreich, und in seinen Armen, dicht an seine harte Männlichkeit gedrückt, lag Lady Althea Curtiss, ihre Brust in seiner Hand.

Rhys schluckte das Wort hinunter, das ihm auf der Zunge lag, und wurde ganz still. War sie jetzt wach? Hatte sie etwas gemerkt? Vorsichtig nahm er die Hand von ihrer Brust, dann die andere von ihrer Hüfte und versuchte, seinen Unterkörper so weit wie möglich von ihr zu lösen. Wenn er versuchte, den Arm unter ihr wegzuziehen, würde sie wahrscheinlich aufwachen.

Verdammt. Thea, die unschuldige, respektable Freundin, die er schon vorher mit seiner Umarmung am Kai durcheinandergebracht hatte. Wenn doch nur seine offenkundige Erregung sich endlich legen würde, das wäre schon eine Hilfe gewesen. Aber er war hart wie ein Stück Teakholz.

Rhys dachte an Kutteln mit Zwiebeln, lateinische Vokabeln und Schneiderrechnungen, aber es funktionierte nicht. Sein Gehirn war blutleer, hatte alles an seine untere Region abgegeben. Seit wann hatte Thea eigentlich diese weiblichen Formen, wann hatte sie begonnen, nach Rosen zu duften, und warum fühlte sich ihre mausbraune Haarmähne so seidenweich an?

„Rhys?“ Sie gähnte erneut.

„Ja. Würdest du bitte meinen Arm freigeben? Er ist eingeschlafen.“

„Oh, entschuldige.“

Endlich Erleichterung. Im Dämmerlicht des frühen Morgens schnappte sich Rhys eine Decke, warf sie über seinen Schoß und setzte sich auf.

Thea richtete sich ebenfalls auf und reckte sich auf eine Art und Weise, die ihn beim Anblick ihres Busens stöhnen ließ. „Geht es wieder? Soll ich ihn reiben?“

Was? Ach, du meinst meinen Arm. Nein, alles ist wieder gut.“ Rhys bewegte ihn zum Beweis und deutete auf die Tür. „Ich steige aus. Dann kannst du dich anziehen.“ Er sprang auf das Deck und packte die Decke zurück in den Wagen. Verdammt, er klang wie ein unbeholfener Siebzehnjähriger. „Man kann schon das Ufer sehen. Wir werden bald an Land anlegen, glaube ich.“

„Oh, gut.“ Theas Stimme kam gedämpft durch die geschlossene Tür. „Ich brauche nicht lange.“

Oh je. Rhys torkelte zum Hauptmast, hielt sich an einem Seil fest und sog kalte Meeresluft tief in seine Lunge ein. Worauf habe ich mich eingelassen? Das ist nicht mehr die kleine Thea, das ist Lady Althea, sie ist erwachsen und … Stopp. Um Himmels willen, er war ein gebildeter Mann mit beträchtlicher sexueller Erfahrung. Normalerweise kam er mit jeder Frau zurecht. Und warum nicht mit dieser? Hoffentlich wurde sein Zustand besser, wenn sie angekleidet war und wieder wie Thea aussah. Wenn sie dieses graubraune Kleid anhatte und ihn mit ihrem fröhlichen, intelligenten, ganz normalen Gesicht anlächelte. Und wenn sie ihr Korsett trug.

Thea streifte die Strümpfe über, befestigte die Strumpfbänder und suchte nach ihren Schuhen. Alles ganz normal wie an jedem Morgen. Nur war heute alles anders gewesen. Als sie heute aufwachte, lag sie eng umschlungen mit dem Körper eines lebensstrotzenden, erregten Mannes. Das war äußerst interessant, wenn auch nicht gut für ihren Seelenfrieden. Vermutlich ahnte Rhys nicht, wie hellwach sie gewesen war, oder dass sie genau wusste, warum er so eilig die Kutsche verlassen und dabei ein Laken umgebunden hatte.

Auf einem Ball in ihrer ersten Saison hatte sie ihre erste Begegnung mit einem übereifrigen Schwerenöter gehabt, und danach hatte sie beschlossen herauszufinden, was es mit der körperlichen Liebe eigentlich auf sich hatte.

Sie hörte ihren verheirateten Bekannten zu und durchstöberte die Bibliothek, außerdem sah sie sich gewisse griechische Vasen genauer an, die oben auf dem höchsten Regal ganz hinten standen. Und sie war natürlich auch oft auf dem Hof ihres Vaters. Kein Mädchen vom Lande war völlig unwissend, obwohl jedes hoffte, der künftige Ehemann würde etwas mehr Zartgefühl beweisen als Hector, der Zuchtbulle. Oder Anthony, dachte sie jetzt schaudernd.

Thea war also durchaus informiert. Sie hatte sogar die interessante Tatsache aufgeschnappt, dass Männer oft beim Aufwachen bereit waren für den Akt. Das war offenbar heute Morgen auch der Fall gewesen. Alles völlig natürlich und normal. Nichts, worüber man sich aufregen musste. Es hatte nichts mit ihr persönlich zu tun, so wie Rhys’ Hand auf ihrer Brust auch nur das unbeabsichtigte Ergebnis ihrer besonderen Nähe gewesen war. Vermutlich war auch ihre eigene körperliche Reaktion auf diese schläfrige Liebkosung völlig normal gewesen. Aber … du meine Güte, er war so groß … Das war ihr gestern auf dem Kai noch nicht aufgefallen.

Sehnsüchtig dachte sie an ihre unschuldige Kindheit. Da klopfte es, und Polly schaute herein.

„Ich habe hier Ihre Bürsten, Mylady, und Wasser und ein Handtuch. Möchten Sie Ihr Frühstück hier einnehmen oder an Deck? Der Schiffskoch hat leckeren Brathering zubereitet.“

„Nur Tee, Brot und Butter bitte, Polly. Ich esse an Deck. Hast du letzte Nacht gut geschlafen?“

Das Schiff schaukelte nur noch wenig, sodass das Wasser in der Waschschüssel nicht überschwappte und Thea ihr Gesicht waschen konnte.

„Mir geht es gut, Mylady, aber Mr Hodge fühlt sich heute Morgen nicht besonders wohl.“ Polly schüttelte energisch die Decken aus. „Grün wie Erbsensuppe und in seiner Würde gekränkt, wenn ich darüber einen Scherz mache. So, jetzt müssen nur noch die Sitze zurückgeschoben werden. Haben Sie denn schlafen können, Mylady?“

Thea warf einen Blick auf die Zofe. War die Frage ernst gemeint? „Ich bekam Angst, als das Schiff so stark schwankte“, sagte sie. „Ich muss sogar laut geschrien haben, weil Seine Lordschaft plötzlich auftauchte und mich mit den Decken eingekeilt hat.“

„Oh, war er denn nicht …?“ Die Zofe verstummte und biss sich auf die Unterlippe.

„Ob er die ganze Zeit hier war? Du nimmst an, dass ich die Mätresse Seiner Lordschaft bin, Polly?“

„Oh, Mylady, ich wollte nicht … ich meine, es geht mich nichts an.“

Thea hob eine Augenbraue und wartete.

„Nun ja, Mylady. Ich dachte, Sie brennen durch oder so, und heiraten im Ausland. Obwohl … bisher hat er noch nie Frauen – ich meine Ladies – mit nach Hause gebracht.“ Sie verstummte allmählich. „Es tut mir leid, Mylady. Sie entlassen mich jetzt doch nicht, oder?“

„Nein, selbstverständlich nicht. Ich bin nicht die Geliebte Seiner Lordschaft, und wir brennen auch nicht zusammen durch. Ich bin von zu Hause fortgegangen, und er begleitet mich nach Venedig zu meiner Patin. Wir sind nur alte Freunde. Er ist wie ein Bruder für mich, mehr nicht.“

Selbst in ihren eigenen Ohren hörte es sich wie eine vorbereitete Erklärung an, und auch Pollys Gesichtsausdruck zeigte, dass sie nicht ganz überzeugt war. „Selbstverständlich, Mylady.“ Sie sammelte die Kissen ein. „Ich bin sehr diskret, Mylady.“

„Ich bin froh, das zu hören. Wenn du den Wunsch hast, auf Dauer Kammerzofe bei einer Lady zu sein, ist das unerlässlich.“

Dicht in den Umhang gehüllt, folgte sie der Zofe auf das Deck. Dort stand Rhys mit einer dampfenden Tasse in der Hand. Er lehnte sich an den Großmast und schaute zu der vorbeiziehenden Küste hinüber. Frankreich … dort wird das Abenteuer weitergehen.

„Ich wusste gar nicht, dass es hier Klippen gibt“, bemerkte Thea und stellte sich neben ihn. Zum Glück klang ihre Stimme ganz normal, obwohl sie vermutlich etwas errötet war. Irgendwie war es unwirklich, seinen Körper so intim kennengelernt zu haben. Noch seltsamer war das Wissen, dass er ihre Brust liebkost hatte.

„Sie sind nicht ganz so hoch wie die in Dover. Bald sind wir in Dieppe.“ Auch Rhys’ Stimme hörte sich ganz normal an. Wahrscheinlich hatte er nicht bemerkt, dass sie wach gewesen war, oder vielleicht dachten Männer über derartige Dinge ganz anders.

Andererseits war ihm der kurze Augenblick im Hafen von Dover offenbar nicht ganz gleichgültig gewesen. Sie nahm sich vor, alle körperlichen Reaktionen zu ignorieren und Rhys zu behandeln, als wäre er nichts als ein alter Freund für sie.

Polly brachte ihr einen Becher voll Tee, und Thea betrachtete die französische Küste. „Es sieht eigentlich aus wie in England“, meinte sie, als sie in den Hafen einliefen.

„Das ist es aber nicht.“ Rhys wies auf ein lebensgroßes Kruzifix am Kai. „Und sieh dir die Kleidung der Frauen an. Glaubst du, es sind Fischweiber?“

„Wenn es welche sind, sehen sie ganz besonders sauber aus“, meinte Thea, als sie die Menschen am Hafen besser erkennen konnte. „Nicht wie die in Billingsgate!“ Die Frauen trugen eng anliegende Leibchen und weite Röcke, die so kurz waren, dass man darunter ihre Knöchel in den weißen Strümpfen sehen konnte. Ihre Hauben mit den breiten weißen Bändern, die bis auf die Schultern hingen, waren blütenweiß.

„Es sind viele Soldaten darunter“, stellte sie fest. In der Menschenmenge standen viele Männer in militärischer Kleidung. Thea war nun sehr dankbar, dass sie diese Reise nicht auf eigene Faust machte, denn England hatte jahrelang im Krieg gegen Frankreich gelegen. „Ich dachte, die Armee sei aufgelöst worden“, fügte sie hinzu.

„Das wurde sie weitgehend auch. Die Männer dort sind keine Soldaten, jedenfalls nicht mehr. Viele wurden zum Kriegsdienst eingezogen und sind erst kürzlich heimgekehrt. Sieh dich um, dann erkennst du, dass im Grunde jeder hier Teile alter Uniformen trägt, selbst manche der Frauen. Die armen Teufel sind viele Jahre im Krieg gewesen und besitzen wahrscheinlich wenig anderes.“

„Gibt es denn ein Hotel, in dem wir wohnen können?“ Thea sah die sich drängelnden Gepäckträger und ein paar Jungen mit Karren.

„Natürlich. Es ist alles arrangiert. Man wird uns abholen – ich glaube, da vorne steht schon unser Vermittler.“ Rhys hob die Hand, und ein großer, dünner Mann im schwarzen Anzug erwiderte den Gruß.

Das Schiff legte längsseits am Kai an. Taue wurden ausgeworfen und festgezurrt, eine Leiter bis zum Deck herabgelassen. Rhys stieg hinauf, dann half er Thea nach oben, doch vorher zog sie sich noch ihren Schleier vor das Gesicht.

„Monsieur le Comte!“ Der Mann drängte sich durch die Menge.

„In Frankreich gibt es keine Earls“, stellte Rhys fest. „Mir scheint, ich bin hier ein Comte, ein Graf.“

„François le Brun, zu Ihren Diensten, Monsieur le Comte.“ Er riss sich den Hut vom Kopf, als er Thea erblickte. „Und Madame la Comtesse! Diese Ehre hatte ich nicht erwartet.“

„Non, Monsieur, je suis …“

„Dies ist Madame Smith“, sagte Rhys mit fester Stimme. Sein Französisch war deutlich besser als Theas. „Sie ist eine Freundin der Familie, die ich nach Paris begleite.“

„Aber natürlich!“ Le Brun gestikulierte wild mit den Händen, um seine Bereitschaft, ihnen gefällig zu sein, zu unterstreichen. Die reichen Engländer, die endlich wieder hier ankamen, brachten Hoffnung auf Beschäftigung nach den schweren Zeiten. „Ein weiteres Zimmer ist kein Problem. Ich habe das ganze Hotel für Monsieur le Comte reserviert.“

Er schnipste mit den Fingern, und ein halbes Dutzend Männer standen bereit. „Wir kümmern uns zunächst um Ihre Kutschwagen. Ich habe zwei Fahrer und gute Pferde für Sie besorgt.“ Er schnitt eine Grimasse. „Jedenfalls so gute, wie man heutzutage bekommen kann. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Sichtlich unbeeindruckt davon, dass sich die Gepäckträger darum prügelten, wer die Koffer auf die Karren laden durfte, drehte er sich um. Hodge beaufsichtigte und organisierte die ganze Aktion, und es stellte sich heraus, dass sein Französisch fast so gut war wie das seines Herrn. Thea hakte sich bei Rhys ein, und er geleitete sie durch die Menge.

„Alle starren uns an“, sagte sie leise.

„Natürlich. Für sie ist es etwas ganz Besonderes, uns zu sehen.“

„Wie lange bleiben wir hier? Ich brauche unbedingt mindestens ein neues Kleid. Dieses triste alte Ding kann ich nicht mehr lange tragen.“

„Es ist doch völlig in Ordnung, oder?“ Rhys warf einen Blick auf ihre Röcke, die unter ihrem Umhang zu sehen waren.

„Nein, es ist nicht in Ordnung. Ich habe es nur mitgenommen, weil es so unauffällig und abgetragen ist und weil ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Es ist mein Gartenkleid, und für Papa wäre es unvorstellbar, dass ich mich damit in der Öffentlichkeit sehen lasse.“

„Könntest du trotzdem deine alten braunen Röcke noch bis Rouen ertragen? Ich wollte hier nur eine Nacht verbringen, aber zwei Nächte dort. Es gibt da sicher auch bessere Läden.“

„Na gut, das klingt vernünftig. Aber Monsieur le Brun wird arg enttäuscht sein, ein ganzes Hotel nur für eine einzige Nacht reserviert zu haben.“ Der Franzose blieb einen Moment stehen und winkte sie mit einer großartigen Geste weiter. Hinter ihnen hörte sie, wie Hodge die Gepäckträger zur Vorsicht mit den Koffern Seiner Lordschaft ermahnte. Sie hatte schon weniger auffällige Zirkusparaden gesehen.

„Monsieur le Brun hat eine üppige Entlohnung versprochen bekommen, darum sollte es ihm eigentlich egal sein, ob ich mich zehn Minuten oder zehn Tage hier aufhalte.“ Mit kritischen Blicken beobachtete Rhys die übertriebenen Gesten des französischen Reiseleiters. „Hoffentlich ist das Hotel wirklich gut.“

„Er nimmt uns nicht ab, dass ich wirklich nur eine Freundin bin“, flüsterte Thea. „Vielleicht nimmt der Hotelier Anstoß …“

„Das sollte er besser sein lassen“, sagte Rhys so schneidend, dass Thea zusammenfuhr. „Es geht ihn auch verdammt nichts an. Ich bin Palgrave, und er sollte wissen, was das bedeutet.“

Ich bin Palgrave. Das hätte er vor sechs Jahren noch nicht gesagt. Noch nie hatte er in ihrem Beisein so gesprochen, und mit einem Male sah sie ihn so wie andere: ein Earl, ein mächtiger Mann, der seinen Willen immer durchzusetzen vermochte. Entmutigt stotterte sie: „E…es ist nur so, dass ich nicht überlegt hatte, was die Leute denken würden, die mich nicht kennen. Und nun fühle ich mich ein klein wenig … Ich möchte nicht peinlich für dich sein.“

„Für mich?“ Rhys blieb stehen und schaute unfreundlich von seinen über 1,90 Metern verärgerter Männlichkeit auf sie herunter. „Ich bezweifle, dass irgendetwas mir peinlich sein könnte, aber ich bin jetzt für dich verantwortlich.“

„D…danke.“ Thea musste fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten, als er auf dem Kopfsteinpflaster ausschritt. „Ich möchte dir nicht zur Last fallen.“

„Darüber reden wir, wenn wir allein sind“, sagte Rhys. „So, gib mir deinen Arm, sonst verstauchst du dir noch den Knöchel auf diesen Steinen.“

Mit anderen Worten – ich bin ihm lästig. Sie fühlte sich ähnlich wie früher, wenn ihr Vater sie für eine Strafpredigt in sein Arbeitszimmer beordert hatte. Hinter dem schützenden Schleier verzog Thea das Gesicht, verstummte gehorsam und wünschte sich den jungen Rhys zurück.

6. KAPITEL

Das Hotel war groß und halb verfallen, einige Fenster waren sogar mit Brettern vernagelt.

„Das ist ja eine Ruine“, sagte Rhys zu le Brun.

„Für die heutigen Verhältnisse ist es zu groß und die Instandhaltung ist teuer. Vor der Revolution gehörte es … einer Familie. Sie brauchten es nicht mehr, darum wurde es von einem Citoyen übernommen, einem Bürger der Revolution, Sie verstehen? Dasselbe geschah in der ganzen Stadt.“ Er zuckte die Achseln. „Überall in Frankreich.“

„Sie brauchten es nicht mehr? Sie meinen, dass sie guillotiniert wurden?“ Hatte der Gastwirt auch zu dem Mob gehört, der „Tod allen Aristokraten“ gerufen hatte? Thea fröstelte.

Madame, was für ein unerfreuliches Thema.“ Er spitzte die Lippen, als hätte sie eine höchst unpassende Bemerkung gemacht. Er sagte etwas in sehr schnellem Französisch zu dem untersetzten Mann, der ihnen zur Begrüßung entgegengekommen war, und zwei Mägde wurden mit Bettwäsche nach oben geschickt. „Sie bereiten ein weiteres Zimmer für Madame vor“, erklärte le Brun. „Ich zeige Ihnen jetzt den Salon der Suite.“ Sie folgten ihm nach oben.

Die Kofferträger stritten derweil mit Hodge darüber, wie viel es extra kosten würde, das Gepäck nach oben zu tragen.

„Voilà!“ Wieder mit großartiger Geste stieß le Brun für sie eine Tür auf. Sie standen nun in einem Zimmer, das früher einmal ein eleganter Empfangsraum gewesen sein musste. Jetzt waren die Wände weiß gekalkt und abgetretene Teppiche lagen verstreut auf dem hellroten Ziegelsteinboden. Auch die willkürlich verteilten Möbel hatten schon bessere Tage gesehen.

Monsieur le Comte, dort ist Ihr Zimmer.“ Le Brun zeigte auf eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. „Madame, für Sie wird hier vorn ein Zimmer hergerichtet.“

Er schlief auf der anderen Seite, Gott sei Dank. „Wir brauchen sofort ein heißes Bad und dann ein Frühstück.“ Sie warf den Schleier zurück und lächelte le Brun an. „Wenn ich bitten darf.“

Die Reaktion des Franzosen war merkwürdig. Er lächelte viel freundlicher als zuvor, dann schaute er Rhys mit leichtem Schmunzeln an. „Ich kümmere mich sofort darum, Madame.“

Thea prustete, als er die Tür hinter sich zugemacht hatte. „Er hat begriffen, dass ich wirklich nicht deine Mätresse bin.“

„Wie kommst du darauf?“ Rhys wandte den Blick von der Aussicht auf die Straße ab.

„Er hat mich unverschleiert gesehen und entschieden, dass ich respektabel bin. Mit dir hat er Mitleid, weil du die unangenehme Aufgabe hast, mich zu begleiten.“

„Ach du meine Güte! Der Mann sollte sich lieber um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.“ Rhys blickte sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Bitte setze dich, Thea.“ Dies war nicht mehr derselbe Mann, der sie kurz nach dem Erwachen mit seinem hastigen Ausstieg aus der Kutsche zum Lächeln gebracht hatte. Dies war ein höchst erwachsener Mann, den sie im Grunde kaum kannte.

„Nun gut.“ Sie strich ihre Röcke glatt und setzte sich auf einen Stuhl, der früher einmal einem mittlerweile exekutierten Aristokraten gehört hatte. Bei dem Gedanken schüttelte sie sich ein wenig.

„Dir ist kalt.“

„Nein, ich bin nur … verwirrt. Bitte sage mir, was du mir zu sagen hast, und dann versuche ich mich zu ändern.“

„Du hättest niemals zu mir kommen sollen, und ich hätte dich niemals mitnehmen dürfen“, stellte Rhys ohne Einleitung fest.

„Dann hatte ich wohl unrecht damit, dass ein alter Freund mir helfen würde.“

„Du hättest darauf vertrauen sollen, dass ein alter Freund das Richtige tun würde. Wenn ich halbwegs nüchtern gewesen wäre, hätte ich dich niemals mitgenommen. Aber es ist leider geschehen, und es gibt keinen Weg zurück. Ich werde dich zu unserer Patin bringen.“

„Vielen D…“

„Ich bin noch nicht fertig. Jeder hier missversteht den Grund deiner Anwesenheit, ob Diener oder andere Leute. Ich möchte nicht, dass eine Lady unter meinem Schutz beleidigt oder beschämt wird. Darum wäre ich dir dankbar, wenn du nichts tun würdest, das Aufmerksamkeit auf dich zieht, denn sonst wird unsere Reise ziemlich stürmisch.“

„Wirklich?“ Thea sprang empört auf. „Abgesehen davon, eine Frau zu sein, habe ich nichts getan, um Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich bedauere, dass ich diesen schweren Fehler nicht berichtigen kann – oder möchtest du, dass ich mich wieder wie ein Knabe anziehe? Ich habe die Kleider noch.“

„Als Knabe siehst du grässlich aus – du hast nicht die passende Figur dafür.“ Rhys schien den geschnitzten Kaminsims faszinierend zu finden.

„Ich könnte ein Band wickeln um meine …“

„Es liegt nicht an deinen … Kein Knabe hat solche Hüften, und die kann man nicht verstecken.“

„Hüften? Willst du damit sagen, dass ich ein fettes Hinterteil habe?“

„Nein! Thea, diese Bemerkung ist höchst ungebührlich.“ Rhys sah sie wütend an. „Du hast weibliche Rundungen, das ist alles, was ich sagen wollte.“

„Das hoffe ich doch.“

„Früher hattest du aber keine.“ Rhys lächelte widerwillig.

„Ich war sechzehn, als wir uns das letzte Mal trafen, um Himmels willen! Ich war eine Spätentwicklerin“, fügte sie störrisch hinzu.

„Nun, jetzt bist du voll entwickelt, und das ist ein Problem.“

„Für Stiefmama nicht. Sie findet, dass ich endlich die richtige Figur habe.“ Rhys schien mit den Zähnen zu knirschen. „Jedenfalls habe ich nicht die Absicht, Aufmerksamkeit zu erregen oder mit irgendwelchen hergelaufenen Schwerenötern zu schäkern. Bist du jetzt beruhigt?“

„Durchaus. Danke, Thea.“ In argwöhnischem Schweigen beäugten sie einander für eine Minute, dann sagte Rhys: „Ich bin es nicht gewöhnt, mich um ein unverheiratetes Mädchen zu kümmern.“

„Ich bin aber kein Mädchen mehr.“ Seine Worte mochten als Friedensangebot gemeint gewesen sein, aber ihr Temperament ging wieder mit ihr durch. „Immerhin bin ich alt genug, um verheiratet zu sein und mein eigenes Geld zu erben, und das macht mich schließlich zur Frau, oder?“

„Ja, natürlich. Aber genau darin liegt das Problem. Wenigstens verstehen wir einander jetzt.“

Tun wir das? Sie öffnete gerade den Mund, um diese Frage zu stellen, als Polly eintrat.

„Das Zimmer ist für Sie bereit, Mylady, und die Wanne ist gefüllt. Allerdings hatte ich meine Schwierigkeiten mit den Dienstboten. Spinnweben wirklich überall, keine vernünftigen Kissen, nur scheußliche, klumpige Nackenrollen.“ Sie nahm Theas abgelegte Haube zur Hand. „Erstaunlich, wie gut sie einen hier verstehen, wenn man nur nett und laut und langsam spricht, finde ich.“

„Französische oder englische Diener?“, meinte Thea leise und folgte der Zofe nach draußen. Aus dem Augenwinkel konnte sie noch sehen, dass Rhys’ Mundwinkel nach oben gingen. Also hatte er sie gehört. Auch gut, wenn dieses Lächeln bedeutete, dass sie wieder Freunde waren.

Eigentlich ist er doch charmant, dachte sie, als sie ihre Strümpfe hinunterrollte. Galant. Bisher hatten die Gentlemen nie darüber nachgedacht, ob sie Hilfe auf einer Landungsbrücke oder Rettung in peinlichen Situationen brauchte. Selbst als Anthony sie so vermeintlich heiß umworben hatte, hatte er sie nie wie eine zerbrechliche Blüte behandelt.

Nicht dass sie wirklich Hilfe brauchte. Sie würde es hassen, eine hilflose Frau zu sein, aber angenehm war es doch, sich gelegentlich umsorgt zu fühlen. Ein kleiner Schauder überlief sie bei dem Gedanken daran, wie sicher sie sich neben Rhys’ Körper gefühlt hatte. Und vielleicht war sicher nicht das richtige Wort, wenn sie an den beunruhigenden Druck seiner erregten Männlichkeit an ihrem Hinterteil dachte, oder an die Wärme seines Körpers. Doch das war lediglich ein männlicher Reflex gewesen und hatte nichts mit ihr als Frau zu tun gehabt.

Alles würde gut werden, wenn Rhys einmal aufhörte, ihr Vorschriften zu machen. Selbst wenn sie entdeckt und ihr Ruf ruiniert würde, hätte das keine große Bedeutung für sie. Das Einzige, wovor sie Angst hatte, war gezwungenermaßen heimzukehren in ein Leben voller Eintönigkeit und Aussichtslosigkeit. Wieder schauderte sie. Diese Vorstellung war ihr unerträglich.

Polly half ihr beim Ausziehen, und Thea stieg in die Wanne. „Himmlisch.“ Jetzt würde das Frösteln aufhören. „Ein heißes Bad und ein weiches Bett, das sich nicht unter mir bewegt. Es ist doch hoffentlich weich?“

„So weich, dass Sie darin versinken“, sagte Polly fröhlich und reichte ihr die Seife. „Ich schlafe dort drüben.“ Sie zeigte auf eine Tür. „Schönes großes Zimmer. Und Mr Hodge wohnt auf der anderen Seite, gleich neben Seiner Lordschaft. Aber richtig gemütlich ist es hier nicht, oder?“

„Nein, wirklich nicht. Ich glaube, es war früher ein großes Stadthaus, und hier muss der Empfangsbereich gewesen sein. Dies sind keine richtigen Schlafzimmer.“

„Und der Besitzer? Er sieht nicht wie ein Gentleman aus.“ Polly schüttelte Theas Kleider aus. Das Korsett war auch wieder dabei, wie Thea feststellte.

„Vermutlich ist der wahre Eigentümer mit seiner Familie auf der Guillotine gelandet“, sagte Thea und unterdrückte einen erneuten Schauder.

„Oh, das hatte ich vollkommen vergessen.“ Pollys Augen sahen riesig aus. „Mordlüsterne Franzosen. Möglicherweise beobachten sie bereits Seine Lordschaft und wetzen die Klinge …“

„Wir leben in Frieden mit Frankreich“, meinte Thea. „Der König sitzt wieder auf dem Thron, und Bonaparte ist in der Verbannung auf Elba im Mittelmeer.“

„Gut so“, murmelte Polly. „Leider müssen Sie heute wohl in dem blauen Nachthemd schlafen.“ Missbilligend wedelte sie mit dem ausgeleierten Gewand, und Thea beschloss, so schnell wie möglich neue Kleidung zu kaufen.

Rhys setzte sich in die Wanne, Hodge goss einen Krug mit heißem Wasser über seinen gesenkten Kopf. Thea ist genauso scharfzüngig wie früher. Aber sie wollte nie jemanden verletzen. Nur ein bisschen necken, um andere zum Lachen zu bringen und ihre Meinung zu vertreten.

Dieses Lachen und Foppen hatte er bei den anderen Frauen vermisst. Mit seinen männlichen Freunden lachte er oft genug, aber die Mätressen hatten immer verführerisch sein wollen, nicht amüsant. Das hatte ihn auch nie gestört, weil es das war, was er von ihnen erwartete – Schönheit, Erfahrung im Bett und elegante Unterhaltung.

Sie waren teure Luxusgeschöpfe, und für Qualität bezahlte Rhys gern. Doch es gab auch Dinge, die man nicht kaufen konnte, wie Freundschaft, Lachen und Loyalität. Mit Thea würde er das alles für ein paar Wochen haben. Er begann zu lächeln.

„Mehr heißes Wasser, Mylord?“

„Hm?“ Er war ins Träumen geraten. „Ja, bitte mehr heißes Wasser, mehr Seife.“ Thea. Du musst immer bedenken, dass sie noch unschuldig ist. Fröhlich und klug und eigenständig. Aber unschuldig. Wie gut, dass sie so halsstarrig war, diese Heiratsanträge abzuweisen. Sie ist nicht für die Ehe geboren, und es würde sie nur unglücklich machen, wenn man versuchen würde, sie in das Schema einer perfekten Ehefrau zu pressen.

Hodge reichte ihm eine Bürste für den Rücken, und Rhys schrubbte sich genussvoll die Schultern.

Aber sie musste aufpassen, erkannte er bei weiterem Nachdenken. Als reiche alleinstehende Frau würde sie ein sorgenfreies Leben haben, aber sie konnte auch zur Außenseiterin werden, wenn sie nicht die volle Anerkennung der Gesellschaft hatte. Darüber musste er mit ihr sprechen, damit sie die richtigen Entscheidungen traf.

„Also was hast du mit deinem Geld vor, wenn du darüber verfügen kannst?“, fragte Rhys. Thea und er gingen auf den Klippen spazieren.

„Was ich plane? Nun, ich möchte eigenständig sein.“

„Das weiß ich, aber was genau willst du dann tun?“ Rhys blieb stehen, lehnte sich gegen eine verfallene Mauer und betrachtete die unter ihnen liegende Stadt und den Hafen. Aus dem Augenwinkel schaute er Thea dabei zu, wie sie auf dem Gras hin und her marschierte.

„Leben natürlich! Lächerliche Frage.“

„Wo? Mit wem? Wer wird deine Finanzen verwalten? Wofür wirst du dein Geld ausgeben?“ Er drehte sich rasch zu ihr um, sie blieb stehen und sah ihn an. „Was für ein Ziel hast du im Leben?“

„Freude … meine Freiheit.“

„Selbstsüchtig.“ Unten im Hafen liefen Fischerboote mit der Flut aus, und Rhys gab vor, sie zu beobachten. „So bist du doch gar nicht.“ Oder vielleicht doch? Sechs Jahre waren eine lange Zeit. Wenn er sich verändert hatte, konnte auch sie eine andere geworden sein.

„Ich möchte das tun, was mir lohnenswert erscheint.“ Sie sprach so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. „Ich möchte Geld stiften, das würde mich befriedigen …“

„Also als gütige Lady die Armen beglücken?“ Ungläubig zog er die Augenbrauen nach oben. Wie früher schon, fiel sie auf den spöttischen Tonfall herein und sah ihn aus wütend funkelnden Augen an.

„Nein, gewiss nicht. Ich will mich nicht als Wohltäterin aufspielen, sondern ich werde etwas Sinnvolles finden und darin investieren. Vielleicht helfe ich Frauen, ein kleines Unternehmen aufzubauen, oder ich versorge aufgeweckte Jungen mit einer Lehrstelle. Ich habe viele Ideen und genug Verstand, um sie umzusetzen. Wenn ich das nicht tue, wenn ich mich nicht frei entscheiden kann, werde ich ersticken.“

Er fühlte sich etwas unwohl angesichts der Heftigkeit ihrer Gefühle. „Es klingt nicht gerade so, als hättest du schon alles genau durchdacht.“

„Natürlich nicht.“ Thea baute sich vor ihm auf und versperrte ihm die Aussicht auf den Hafen. „Erst muss ich wissen, wie hoch mein Einkommen ist, und ich muss lernen, es zu verwalten und hoffentlich zu vermehren. Überhaupt“, meinte sie herausfordernd, „was ist eigentlich so wichtig daran, alles vorher genau zu planen? Du hast früher auch aus dem Bauch heraus gehandelt und improvisiert.“

„Das tue ich heute nicht mehr.“ Er machte einen Schritt auf sie zu und stand plötzlich beunruhigend dicht vor ihr. Thea wich ein wenig vor ihm zurück. „Heutzutage plane ich alles – meinen Besitz, meine Investitionen, mein politisches Leben.“

„Das dachte ich mir“, gab Thea zurück. „Langweilig. Und der Besuch bei deinen Mätressen ist auch ein Tagesordnungspunkt?“

„Das ist Verantwortung“, erwiderte er und überhörte ihren letzten Kommentar. Rhys plante alles sehr genau, damit niemand mehr die Chance bekam, ihn im Stich zu lassen, aber er sah keine Veranlassung, sich dafür zu rechtfertigen. Er sagte nur kühl: „Werde erwachsen, Thea.“

„Das bin ich.“ Ihre Wangen röteten sich vor Ärger. „Ich verstehe allerdings nicht, warum man als verantwortungsvoller Erwachsener nicht mehr spontan sein darf, keine Freude, keine Überraschungen, keine Abenteuer mehr erleben sollte.“ Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet, ganz langsam als alte Jungfer zu verkümmern? Oder wie es ist, mit einem Mann verheiratet zu werden, den man nicht ausstehen kann, ja noch nicht einmal respektiert?“

Nein, das konnte er nicht, und er fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, dass ausgerechnet Thea sich vor diesen Dingen fürchtete. Sein Gewissen plagte ihn. Sie war seine Freundin gewesen, aber er hatte nicht mehr an sie gedacht, seit er sein Leben neu aufgebaut hatte. „Es geht hier nicht um mich, Thea. Du besitzt zwei Vorzüge, die dir dein Leben lang helfen werden, falls du nicht heiratest.“

Neugierig hielt sie den Kopf schräg. „Ich habe mein Erbteil, das ist alles“, meinte sie nachdenklich.

„Das hast du, und du musst dir genau überlegen, wen du als Berater in finanziellen und juristischen Dingen auswählst, wenn du deine Unabhängigkeit bewahren möchtest.“

„Und was ist der andere Vorzug?“ Sie kniff ihre intelligenten, haselnussbraunen Augen mit den schwarzen Wimpern gedankenvoll zusammen.

„Dein guter Ruf. Respektable alleinstehende Frauen mit guter Erziehung und Vermögen werden bis zu einem gewissen Grad akzeptiert, wenn sie ein bisschen exzentrisch sind. Denk an unsere Patin. Aber wenn ein Schatten auf deine Reputation fällt, werden sich alle Türen vor dir verschließen.“

„Was verstehst du unter einem ‚Schatten‘?“ Thea schnaubte höchst undamenhaft.

„Wie zum Beispiel ohne Anstandsdame auf dem Kontinent herumzuziehen mit einem Mann, der kein Verwandter ist?“

Die charmante Röte verblasste. „Unsinn. Das wird niemand erfahren. Unsere Patin und ich werden uns eine gute Geschichte ausdenken, irgendetwas mit einem Boten und einer passenden Begleiterin, du wirst schon sehen.“ Doch hinter dem Selbstvertrauen spürte er auch ihre Furcht. Vor dem, was sie erwartete, wenn sie nach Hause zurückkehren musste?

„Das hoffe ich. Aber es wird kalt. Lass uns hinuntergehen und nachsehen, was es zu essen gibt.“ Er stand auf und bot ihr seinen Arm an, den sie sofort ergriff.

„Hoffentlich gibt es Jakobsmuscheln. Dieppe ist bekannt dafür.“

„Das klingt gut“, sagte Rhys zustimmend. „Ich persönlich hoffe allerdings mehr auf einen dicken Hummer.“

Sie verließen ihren Platz auf der Klippe und gingen wieder auf den ausgetretenen Pfad. Erst hier fragte er sie: „Wäre es nicht doch am Ende besser, wenn du einen Ehemann finden würdest? Jemanden, der sich um dich kümmert – und auch um dein Erbe?“

Sein Erbe, meinst du wohl. Wenn ich heirate, verliere ich jede Verfügungsgewalt über mein eigenes Geld.“

„Deswegen bist du wohl so gegen die Ehe.“

Irgendetwas verheimlichte sie ihm, aber er würde es schon noch aus ihr herausbekommen, auch wenn sie nicht wollte.

7. KAPITEL

Ich habe nichts gegen die Ehe als solche“, erklärte Thea. „Aber eine Frau riskiert so viel dabei. Darum bin ich entschlossen, nur aus Liebe zu heiraten, denn das wäre für mich der einzige Grund, diesen Sprung zu wagen. Aber ich kann dir versichern, dass es unwahrscheinlich ist.“

„Was ist mit Sir Anthony Meldreth?“

„Ich sagte bereits, dass wir nicht zusammenpassen.“

Offenbar hatten ihre Worte ihn nicht überzeugt, denn Rhys blieb plötzlich stehen und sah sie scharf an. „Was ist passiert?“

Zum Donner, ich werde schon wieder rot. „Nichts.“

„Thea …“ Sie hörte an Rhys’ Tonfall, dass er nicht lockerlassen würde. „Setze dich hier hin und erzähle es mir.“ Er zeigte auf eine Bank am Wegesrand.

„Musst du denn wirklich jede Kleinigkeit wissen?“ Thea plumpste unelegant auf die Bank und blickte auf ihre Schuhspitzen. „Er machte mir vor, dass er mich liebte, an meinen Interessen interessiert sei und meine Meinung respektiere. Angeblich wollte er eine gleichgestellte Frau.“

„Hast du ihn geliebt?“

„Irgendwie schon. Ich dachte, er würde ein guter Gefährte sein, und glaubte ihm, als er beteuerte, mich nur um meiner selbst willen zu wollen.“

„Aber so war es nicht?“

„Ich musste mit anhören, wie er über die finanziellen Vereinbarungen mit meinem Vater diskutierte. Anthony sollte mein Erbe ausgezahlt bekommen und außerdem ein Stück Land erhalten, auf das er schon lange ein Auge geworfen hatte. Bisher hatte sich mein Vater geweigert, es ihm zu verkaufen.“

„Wie hast du reagiert? Hast du sie damit konfrontiert?“

„Nein. Ich sagte Anthony, ich hätte meine Meinung geändert, weil wir nicht zueinanderpassten. Er antwortete darauf, ich sei frigide und nichts von dem wert, was mein Vater ihm für mich bieten konnte.“

Frigide? Hat er dich zu irgendetwas gezwungen?“

„Nein.“ Ihr Gesicht war jetzt so rot geworden, dass es in Flammen zu stehen schien. „Ich hatte ihm gewisse … Freiheiten erlaubt, verstehst du, als ich glaubte, in ihn verliebt zu sein.“ Thea starrte ihre gefalteten Hände an.

Gewisse Freiheiten? Was zum Teufel bedeutet das?“ Rhys klang sehr wütend. Thea warf einen kurzen Blick in seine Richtung. Er war wütend.

„Rhys, um Himmels willen, ich kann darüber nicht mit dir sprechen!“

„Warum nicht? Du stehst unter meinem Schutz. Ich befasse mich mit diesem Bastard, wenn ich wieder in England bin.“

„Du willst ihn herausfordern? Um Himmels willen, Rhys – mit welcher Begründung?“

„Ich finde schon etwas. Sicher kann ich Anstoß an seinem Hut nehmen, oder an der Art, wie er lacht.“

„Oh Rhys.“ Er war zwecklos, mit ihm zu diskutieren, außerdem war Sir Anthony weit weg. Bis sie nach Hause kamen, hatte sich Rhys’ Ärger sicher gelegt. Er hatte sich aufgeregt, weil er ihre missliche Lage als seine Ehrensache ansah. Doch er konnte nicht verstehen, wie grauenvoll die Vorstellung war, in ein Leben zurückzukehren, in dem sie nichts als eine hilflose Schachfigur oder ein Werkzeug war.

„Liebe ist nur eine Illusion“, meinte Rhys abrupt. „Das siehst du nun vermutlich ein.“

„Nein. Ich habe mich in ihm und in meinen Gefühlen für ihn getäuscht, das ist alles. Du weißt, dass es die Liebe gibt“, sagte Thea sanft. Sie streckte die Hand aus und legte sie für einen Moment auf seinen Unterarm. „Liebe tut weh – darum wissen wir, dass es sie gibt.“

Sie vermied es, ihn anzusehen, zog den Schleier herunter und erhob sich. Da er jetzt seine Neugier befriedigt hatte, war dieses Thema für Rhys hoffentlich erledigt.

„Morgen möchte ich einkaufen gehen“, sagte Thea mit fester Stimme, als sie drei Tage später am Esstisch saßen. Sie wohnten jetzt im privaten Salon des Plume d’Or neben dem Louvre. „In Rouen war es gut, aber ein Tag reichte nicht.“ Es war Polly und ihr nicht gelungen, dort mehr als frische Unterwäsche, ein Paar Strümpfe und einige Taschentücher aufzutreiben.

„Bist du denn nicht müde von der Reise?“ Rhys nahm das Tranchiermesser und begann, ein Huhn mit chirurgischer Präzision zu zerteilen.

„Müde? Ganz und gar nicht. Ich liebe Reisen.“

Thea zerschnitt das Fleisch, das er ihr auf den Teller gelegt hatte, und untersuchte die dampfenden Schüsseln auf dem Tisch. „Für wie viele Leute hat man das denn gekocht? Es sieht köstlich aus.“ Sie aß ein Häppchen und nippte dazu an ihrem Glas Wein. „Rhys …“

„Ja? Wenn du so beginnst, habe ich das Gefühl, ich sollte besser vorsichtig sein.“

„Vollkommen unnötig. Ich habe nur gerade überlegt, ob du den Gastwirt nach einem Stadtführer für morgen fragen könntest. Mein Französisch reicht nicht aus, um mich zurechtzufinden, und ich weiß nicht, wo sich die besten Geschäfte befinden.“

„Ich kann dich begleiten.“

„Vielen Dank, aber sicher hast du deine Zeit bereits verplant.“ Sie studierte seinen Gesichtsausdruck. „Ich muss dir wirklich lassen, dass du es schaffst, ganz ruhig auszusehen, obwohl ich genau weiß, wie viel Angst dir die bloße Vorstellung macht, hinter einer Frau her durch die Pariser Läden geschleift zu werden.“

„Sehr wahr. Ich zittere geradezu.“ Sie wollte gerade protestieren, aber Rhys lächelte. „Nein. Ich werde mich dir nicht aufdrängen. Nimm Hodge mit. Sein Französisch ist ausgezeichnet, und er war im letzten Frieden schon einmal in Paris.“

So, sagte sich Thea, während sie ihr Abendessen mit gutem Appetit vertilgte. Ich bin jetzt in einem guten Hotel untergebracht. Rhys und ich gehen miteinander um wie früher. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen.

„Warum schaust du so mürrisch?“, fragte er mit derselben spöttischen Stimme wie früher. „Befürchtest du, dass in der Schüssel Frösche sein könnten?“

„Solange es keine lebendigen sind, so wie damals an meinem zehnten Geburtstag, kann mich nichts aus der Ruhe bringen“, erwiderte sie. Siehst du wohl? Alles beim Alten.

„Bitte sage mir, dass du nicht alle Läden in Paris leer gekauft hast.“

Thea trat mit Hodge, Polly und zwei Hoteldienern, die ihre vielen Pakete trugen, in den privaten Salon zu Rhys. Er war zum Ausgehen gekleidet und sah makellos aus in der schwarzen Abendkniehose und dem mitternachtsblauen Frackmantel.

„Aber natürlich. Das hier sind nur ein paar Sachen, die mir helfen zurechtzukommen, bis die bestellten Kleider fertig sind.“ Er rollte mit den Augen, als sie zwei Hutschachteln auf den Tisch stellte. „Du siehst sehr elegant aus. Schönes Halstuch. Wohin wirst du gehen?“

„Danke. Ich habe Karten für die Opéra. Von der Sopranistin habe ich schon viel Gutes gehört.“

„Viel Spaß“, rief Thea ihm nach, als er Hut und Stock nahm und aufbrach. „So, und was sollen wir heute den ganzen Abend mit uns anfangen?“

Wir, Mylady?“, fragte Hodge, der gerade die letzten Pakete nach oben in ihr Zimmer gebracht hatte.

„Sind Sie müde, oder wollen wir nach dem Dinner zu dritt ausgehen?“

„Wohin, Mylady? Ich muss zugeben, dass ich noch gar nicht müde bin. Es ist sehr anregend für mich, wieder in Paris zu sein, aber möglicherweise würde Seine Lordschaft es nicht …“

„Papperlapapp! Was soll Schlimmes daran sein, in eins der bekannten Lokale zu gehen? Zum Beispiel am Palais Royale.“

„Früher war es dort ziemlich … gewagt, Mylady.“

„Ich habe nicht vor, in eine Spelunke zu gehen, Hodge. Aber es gibt dort nette kleine Cafés, mit Tischen davor – viele Ladies finden es offenbar ganz akzeptabel, sich dort hinzusetzen.“

Cafés, Mylady?“

„Ja. Wir suchen eines, das abends geöffnet hat, und schauen dem Treiben auf der Straße zu.“

„Sie könnten das pfauenblaue Kleid anziehen, und dazu das kleine schwarze Strohhütchen mit dem Schleier“, schlug Polly vor. „Es wäre perfekt, Mylady.“

Perfekt, in der Tat. So sollte es für eine eigenständige Frau sein.

Die als La Belle Seraphina bekannte Opernsängerin stützte sich mit den Ellenbogen so auf dem kleinen Tisch im Café ab, dass Rhys einen guten Ausblick auf ihr Dekolleté erhielt.

So hatte er Gelegenheit, ihre ansprechenden Vorzüge ausgiebig zu bewundern, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie möglicherweise in der kommenden Saison in London auftreten würde. Sie sandte unmissverständliche Signale aus, dass nicht nur dieser Vorschlag ihr Gefallen finden würde.

Eine Nacht der gemeinsamen Freuden wäre ihm auch mehr als willkommen. Rhys fragte sich, warum er eigentlich so verdammt viel Lust verspürte. Er hatte sich doch erst vor einer Woche von seiner Mätresse verabschiedet. Alles in ihm verlangte danach, dass er endlich zur Sache kam und der Frau neben sich den Vorschlag machte, auf den sie sicher wartete, und doch zögerte er seltsamerweise den Zeitpunkt hinaus.

Sein Blick glitt über den grünen Grasstreifen mit den gestutzten Sträuchern bis zum Café gegenüber. Eine kleine Gesellschaft nahm dort gerade Platz. Eine verschleierte Frau in weiten, pfauenblauen Röcken setzte sich gerade neben ihre Begleiter, eine einfach gekleidete Zofe und einen Mann in düsterem Schwarz. Sie hatte eine gute Figur und anmutige Bewegungen. Sehr hübsch dachte er gedankenverloren. „Hodge!“

„Monseigneur?“ Die Frau neben ihm legte schnurrend eine Hand auf seinen Unterarm und drückte ihre üppige Oberweite dabei auffällig gegen ihn, um seine Aufmerksamkeit zurückzuerobern.

„Bitte um Verz… Excusez-moi.“ Rhys erinnerte sich nur noch mühsam an sein Französisch. „Ich sehe gerade jemanden, den ich kenne.“ Seinen Kammerdiener, Theas Zofe und … die elegant gekleidete Person mit dem kurzen Spitzenschleier, der provozierend kurz war und nur bis zur Oberlippe reichte … das musste Thea sein. Thea?

„Ich dachte, ich hätte jemanden erkannt.“ Rhys versuchte, zusammenhängende französische Sätze zu formulieren. Er lehnte sich im Stuhl zurück, um den anderen Tisch besser beobachten zu können.

Was dachte Hodge sich dabei, Thea ausgerechnet hierherzuführen? Tagsüber war es hier völlig ungefährlich, aber nachts war es ein Spielplatz für Erwachsene, ein Ameisenhaufen aus Spielhöllen, Edelbordellen und intimen Speiselokalen. Für elegante französische Paare, die wussten, worauf sie sich einließen, bestand kein Risiko, ebenso wenig für eine Frau in Begleitung einer kleinen Gesellschaft, aber auf eine unschuldige Frau wie Thea lauerten viele Gefahren.

Angestrengt unterhielt er sich weiter über die Londoner Theater, obwohl er am liebsten zu Thea marschiert wäre, um sie sich über die Schulter zu werfen und ins Hotel zurückzubringen. Und Hodge zu entlassen. Aber ihr jetzt eine Szene zu machen, würde ihren Ruf nicht schützen.

Er merkte, dass sie ihn erkannte. Ihr ganzer Körper erstarrte, dann hielt sie den Kopf schräg, um ihn zu betrachten – und zweifellos auch die Frau an seinem Tisch. Diese für Thea typische Haltung bei einer eleganten, nach der neuesten Pariser Mode gekleideten Lady zu sehen, war irgendwie merkwürdig. Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht ausmachen.

„Rhys!“

„Verzeihung, Mylady?“ Hodge, der steif hinter ihr stand, beugte sich zu ihr.

„Dort drüben ist Lord Palgrave.“

Sie glaubte zu hören, dass der Diener „Oh Gott“ murmelte, aber laute Musik und Gelächter machten es schwierig, etwas zu verstehen. Polly meinte anerkennend: „Die Frau neben ihm sieht wirklich gut aus.“

Thea vermutete, dass es sich um eine Lebedame handelte, obwohl sie noch nie bewusst eine gesehen hatte. Ihr Kleid war hochmodern und hatte einen Ausschnitt, der gerade noch an der Grenze des Erlaubten war. Haare, Zähne, Schmuck – alles glänzte verheißungsvoll, und sie strahlte eine Sinnlichkeit aus, die ihr die Aufmerksamkeit aller Männer in ihrer Umgebung garantierte.

Thea tadelte sich selbst für ihre kritischen Gedanken. Sie war den ganzen Tag zum Einkaufen unterwegs gewesen, und Rhys hatte das Recht auf Abwechslung. Und dies war es nun mal, was Männer zur Zerstreuung suchten: schöne, elegante, raffinierte Frauen, mit denen sie sich amüsieren konnten. Darüber brauchte man sich nicht aufzuregen, wenn man selbst eine erwachsene, gebildete, intelligente Frau war.

Aber musste er sich ausgerechnet so eine auffällige Person aussuchen? Die Frau, die ihre üppigen Formen an ihn presste, hatte wallende blonde Locken, große blaue Augen und ein spektakuläres Dekolleté. Nun legte sie auch noch ihre Fingerspitzen auf seine Wange und drehte sein Gesicht zu sich, und dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr.

„Bestellen Sie mir bitte ein Glas Champagner, Hodge.“

„Mylady?“ Der Diener hörte sich leicht entrüstet an.

Nun, sie war auch entrüstet, und sie ärgerte sich, dass sie sich davon durcheinanderbringen ließ. Bisher hatte sie sich nicht für so zimperlich gehalten. „Auch für Sie und Polly.“

„Aber, Mylady …“

„Hören Sie schon auf, sich Gedanken zu machen! Garçon!“ Sie schnippte mit den Fingern, und der Mann eilte herbei. „Champagne, s’il vous plaît. Pour trois. Setzen Sie sich endlich, Hodge. Sie sind nicht im Dienst.“

„Ich bin nicht sicher, was Seine Lordschaft sagen würde.“ Doch er setzte sich auf die Kante eines kleinen Metallstuhls. Rhys hatte sie sicher noch nicht entdeckt, sonst hätte er ihnen doch wohl ein Zeichen gegeben, oder?

„Ich bin sicher, dass Seine Lordschaft sich sehr gut amüsiert.“ Nuckelt gerade an den Fingerspitzen dieses Flittchens, wie es aussieht.

Der Champagner wurde gebracht. „Bitte schenken Sie uns ein, Hodge“. Das Getränk perlte in den Gläsern, und Thea hob das Glas. „Auf Paris!“

„Auf die Schönheit“, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr auf Englisch. Erschrocken vergoss sie ein wenig von dem Champagner, als sie sich umdrehte. Ein großer, dunkler Mann beobachtete sie mit anerkennendem Lächeln. Er hob grüßend sein Glas. Ein Engländer, aber dem Himmel sei Dank keiner, den sie kannte. Hodges Stuhl schrammte über den Boden, als er aufstand, aber der massige Fremde war viel größer.

„Sir, wir sind einander nicht vorgestellt worden“, sagte Thea kalt und abweisend. Mit trockenem Mund wandte sie sich wieder ab. In ihrem ganzen behüteten Leben war sie noch nie so belästigt worden.

„Aber wir haben noch den ganzen Abend, um das nachzuholen, Madame.“

„Sir, Mylady hat Ihnen doch gesagt …“, begann Hodge, aber der Fremde setzte sich einfach auf den leeren Stuhl, nachdem er Hodge einen Stoß zur Seite versetzt hatte.

„Würden Sie sich bitte entfernen, Sir!“

Danach wirbelte plötzlich ein schwarzer Abendmantel vor ihnen, der Tisch geriet ins Wanken, und der Fremde gab ein erstauntes Grunzen von sich, als er vom Stuhl gezerrt wurde.

Polly stieß einen kleinen Schrei aus, aber Thea konnte nur stumm zusehen, wie Rhys dem Fremden einen Kinnhaken verpasste, der ihn zu Boden warf. Es war ein abstoßendes Schauspiel. Eine Prügelei zwischen zwei Engländern auf einem der beliebtesten Plätze in Paris, und entsetzt stellte sie fest, dass sie nur daran denken konnte, wie großartig Rhys aussah.

Groß, schlank, muskulös … und furchtlos. Thea klammerte sich mit einer Hand an den Tisch, mit der anderen an Pollys zitternden Arm.

„Die Lady hat Ihnen gesagt, dass sie Ihre Bekanntschaft nicht wünscht. Soll ich Ihnen das noch näher erklären?“ Rhys’ Stimme klang tödlich gelassen.

„Nur ein Missverständnis.“ Der Mann stand vom Boden auf, rieb sich den Kiefer und zog sich zurück.

Rhys wandte sich zu Thea und den Dienern um. „Zeit für den Heimweg“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Selbstverständlich, Mylord. Ich rufe eine Droschke …“, begann Hodge.

„Sie begleiten Polly, ich kümmere mich um Ihre Ladyschaft.“ Als sie den Gesichtsausdruck ihres Herrn sah, schreckte die Zofe zurück. „Ihr beide fahrt sofort zurück zum Hotel, sonst entlasse ich euch gleich hier und jetzt.“

„Mylady?“ Hodge blickte zur Bestätigung zu Thea.

„Tun Sie, was Seine Lordschaft sagt.“ Thea erhob sich und schaute zu Rhys’ Tisch. „Deine … Freundin ist gegangen. Es tut mir leid.“

„Tatsächlich?“ Mit hartem Blick sah er in die Runde, und plötzlich interessierten sich die Leute an den übrigen Tischen wieder für etwas anderes. Die Unterhaltungen wurden wieder aufgenommen, und es wurde lauter, als nichts Aufregendes mehr passierte.

„Natürlich. Sie sah … kostspielig aus.“ Thea bereute ihre Worte sofort. Damit hatte sie nicht nur bewiesen, dass sie wusste, um was für eine Art von Frau es sich gehandelt hatte, sondern möglicherweise hatte sie auch eifersüchtig gewirkt. Was für einen Grund sollte es für sie denn geben, eifersüchtig zu sein, um Gottes willen? Oder empört. Rhys war ein sehr männlicher Mann, natürlich wollte er … brauchte er …

„Diese Lady“, sagte er und verzog seine Lippen zu etwas, das mit Wohlwollen als Lächeln interpretiert werden konnte, „ist Opernsängerin. Eine Sopranistin, bekannt als La Belle Seraphina. Ich habe auf Bitte meines Cousins Gregory mit ihr darüber gesprochen, ob sie vielleicht in der kommenden Saison in London auftreten würde.“ Er nahm Theas Umhang von der Stuhllehne und legte ihn um ihre Schultern.

„Ich meinte nicht … Oder eigentlich doch“, gab Thea zu, als sie mit steifen Fingern die Schleife am Hals zuband. „Aber es tut mir leid, ich hätte so etwas nicht sagen sollen.“

„Es war eine durchaus korrekte Schlussfolgerung“, sagte Rhys verdächtig ruhig. Er ergriff ihren Arm und führte sie zu einem der schmalen Bogengänge, die aus den Gärten hinausführten. „Aber wir hatten diese Stufe der Verhandlungen noch nicht erreicht.“ Er hörte, wie sie scharf einatmete. „Warum so entrüstet, meine Liebe? Du hast mit dem Thema angefangen, und du musstest auch wissen, was hier nachts vor sich geht.“

Thea blieb stehen. „Nein, das wusste ich nicht! Hodge erzählte, es sei sehr viel los hier, dass man aber schlechtes Benehmen nicht beachten solle. Es klang wie ein Abend in Vauxhall, nicht wie das Vorzimmer zu einem Bordell!“ Als Rhys nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Ich werde mich in Zukunft besser vorsehen.“

„Es wird keine Zukunft geben, du kleiner Dummkopf. So etwas wird nie wieder passieren. Weißt du eigentlich, in welcher Gefahr du dich befunden hast?“

Die Tränen standen ihr in den Augen, weil sie wusste, dass sie im Unrecht war. Sie wollte diesen katastrophalen Abend aber nicht damit beenden, dass sie sich vor Rhys die Augen ausweinte. Diesen Rhys hatte sie noch nie kennengelernt. Als sie jung gewesen waren, hatte er ihr des Öfteren aus der Patsche geholfen, aber diese Wut, dieser Einsatz seiner körperlichen Überlegenheit, war ihr völlig neu. Trotzdem reagierte etwas in ihr darauf, und sie erschrak davor, wie primitiv dieses Gefühl war. „Du willst sagen, in Gefahr vor Gentlemen wie dir?“

„Nein. Ein Gentleman akzeptiert ein Nein als Antwort. Ein Kerl wie dein Freund von vorhin ist durchaus imstande, andere Mittel zu gebrauchen. Was wäre passiert, wenn Hodge gerade zur Toilette gegangen wäre? Glaubst du etwa, deine kleine Zofe hätte dich beschützen können?“

„Vor was?“, sagte Thea protestierend. „Wir waren doch von vielen Leuten umgeben.“

„Davor“, sagte Rhys und stieß sie aus dem Bogengang in eine menschenleere Gasse.

8. KAPITEL

Thea war in einer Ecke gefangen. Hinter ihrem Rücken war eine Mauer, und Rhys versperrte ihr mit seinem Körper den Weg. Die Hände stützte er rechts und links von ihrem Kopf an die Wand, mit seinen großen Füßen klemmte er ihre Füße ein.

„Lass mich los. Du tust mir weh.“ Sie hob trotzig den Kopf, aber das war ein Fehler.

„Ich berühre dich nicht“, gab er zu bedenken. Nur der nach Wein riechende Hauch, der über ihre Lippen strich, verriet, dass sein Atem schneller ging.

„Ich werde schreien“, drohte sie.

„Ich brauche dich nur zu küssen, um das zu verhindern“, sagte er gelassen. „Und weißt du, was so ein Bock wie dein Freund von vorhin dann tun würde?“ Sie versuchte weiter zurückzuweichen, aber die Mauer hinter ihrem Rücken gab nicht nach. „Er würde deine Röcke hochschieben und dich gleich dort nehmen, wo du jetzt stehst.“ Er drängte ein Knie zwischen ihre Beine und schob sie auseinander. Sie spürte, dass ihr Rock nach oben rutschte und fühlte den Druck seines Schenkels. Schamvoll musste sie sich eingestehen, dass sie davon erregt wurde. Dass ihr Körper dies wollte … und noch mehr. Er kann fühlen, wie bereit ich bin. Wie … feucht.

„Du machst mir keine Angst.“ Obwohl es so war. Es war Rhys, der ihr nie etwas antun würde, aber gleichzeitig ein zorniger Mann, der erregt war und voll angestauter Lust.

„Dann muss ich mir noch mehr Mühe geben“, erklärte er, und sie sah seine weißen Zähne blitzen, als er mit dem Kopf noch näher auf sie zukam.

Dabei senkte er auch das Bein. Thea ließ sich zwischen seinen Armen hindurch fallen, rutschte nach unten und rollte sich zur Seite. Dann sprang sie schnell auf, und er drehte sich herum, um sich auf sie zu stürzen. „Das würde ich nicht tun“, warnte sie ihn und zog eine lange Nadel aus ihrem Hut. Drohend hielt sie sie ihm entgegen, und das Licht der Laterne am Ende der Gasse glänzte auf dem Metall.

Es war verdächtig still. Der Mann, den sie so gut zu kennen glaubte, stand vor ihr, bereit zum Sprung. Ein Furcht einflößender Fremder. Was ist mit uns geschehen?

Dann sprach Rhys, und sie konnte die Belustigung in seiner tiefen Stimme hören. „Den Trick hast du von mir gelernt.“

„Ich weiß.“ Alles ist gut. Er hat sich doch nicht in einen Fremden verwandelt.

„Ich bin beeindruckt von deiner Schnelligkeit, aber ich würde mich besser fühlen, wenn ich überzeugt wäre, dass du auch einem anderen Mann so einfach entkommen könntest.“ Sein Ärger schien verraucht zu sein, und das Gefühl von Angst in ihrer Brust legte sich. „Nimmst du bitte die Nadel wieder weg? Sonst bringst du damit noch jemanden um.“

„Es war nur aus Notwehr. Ich hätte die Nadel nie gegen dich verwendet.“ Thea steckte sie wieder in ihren Hut.

„Die Chance hättest du nicht gehabt“, meinte Rhys und kam wieder näher.

„Ich wünschte, du würdest nicht so dicht vor mir stehen.“ Sie musste sich sehr zusammennehmen. Rhys hatte sie erschrecken wollen, und obwohl sie es nicht zugeben wollte, war es ihm gelungen. Das machte sie wütend, denn es hatte Empfindungen in ihr geweckt, die sie verunsicherten. „Oh je, mein neues Kleid.“ Sie strich die Röcke glatt.

„Gestattest du mir jetzt, dich wie eine Lady nach Hause zu begleiten?“

„Ja, Rhys, ich danke dir“, erwiderte Thea. Sie hoffte, fügsam zu klingen. Ihr Ärger war besänftigt, aber ihr Herz hämmerte laut, und das Blut schien in ihren Adern zu rauschen. Irgendwie fühlte sie sich sogar seltsam glücklich.

„Da sind wir“, sagte sie, als die Lampen vor dem Hotel in Sicht kamen. „Versprich mir, dass du es nicht Hodge ausbaden lässt. Es war alles nur meine Schuld.“

„Guten Morgen!“ Theas Stimme klang widerwärtig fröhlich, als sie zum Buffet schlenderte, um die dampfenden Gerichte zu begutachten.

Rhys schaute nur kurz von seiner Zeitung auf, als er aufstand. Dann sank er wieder auf seinen Stuhl zurück, um sich hinter den Blättern zu verschanzen. „Morgen.“

Er war kein Frühaufsteher, außerdem hatte er in der letzten Nacht beunruhigende und höchst merkwürdige erotische Träume gehabt. Aus irgendwelchen Gründen hatte er vergeblich eine Frau verfolgt, die braune Haare hatte, nicht blonde.

Im hellen Tageslicht verschwammen die Träume zu einem verwirrenden Durcheinander, das er lieber vergessen wollte. Gestern hatte er bei Thea vollkommen überreagiert, das war ihm nun klar. Er hätte sie einfach vor dem aufdringlichen Fremden retten und dann in eine Droschke setzen und zum Hotel schicken sollen.

Seine Laune verbesserte sich auch nicht beim Anblick von Hodge. Der Mann zuckte jedes Mal zusammen, wenn Rhys ihn ansprach. Er konnte es wohl kaum glauben, dass er nicht entlassen worden war.

„Noch etwas Kaffee, Rhys?“

„Ja, bitte.“ Da er sich auf die Zeitung konzentrierte, achtete er nicht besonders auf seine Umgebung. Geruch nach frischem Kaffee, klapperndes Geschirr, raschelnde Röcke, als Thea sich an den Tisch setzte, dezenter Rosenduft …

Rascheln? Duft? Thea? Rhys faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben seinen Teller, um Thea genauer anzusehen. Das mausbraune Haar war sorgfältig in Zöpfen und Wellen aufgesteckt, kleine Perlenohrringe hingen an ihren Ohrläppchen, und kein Lampenschwarz oder Reispuder verschönerte ihr schmales Gesicht. Aus ihren haselnussbraunen Augen schaute sie ihn fragend an, weil er sie so anstarrte.

Und doch … sie war seltsam soigniert. Dieses Wort hätte er vorher nie in Verbindung mit Thea gebraucht, aber heute passte es perfekt. Sie war gut frisiert, stilvoll gekleidet und vollkommen … elegant, ohne aufgetakelt zu wirken. Der weiche Wollstoff schimmerte matt, der schmale Rand an ihrem Schultertuch war mit Brüsseler Spitze versehen und die kleinen Perlenohrringe glänzten. Theas glatte, milchweiße Haut errötete langsam unter seinem intensiven Blick.

Sie bewegte sich langsam, und da war wieder das weiche Rascheln – Seide vermutlich. Große Güte, was trug sie wohl unter diesem eleganten, aber schlichten Morgenkleid?

„Du hast eingekauft“, sagte er anklagend. Schlimm genug, sich beim Frühstück unterhalten zu müssen, ohne auch noch einer verstörend verändert aussehenden Thea gegenüberzusitzen.

„Das weißt du doch. Gestern Abend hast du auch schon eins der Abendkleider gesehen.“

„Ich war nicht imstande, irgendetwas außer deiner Hutnadel zu sehen“, entgegnete er brummig.

„Ich bin von zu Hause mit den kleinsten Handkoffern aufgebrochen, die ich finden konnte, und darin waren nur zwei alte Kleider.“

„Du siehst äußerst … elegant aus.“

„Vielen Dank.“ Offenbar unbeeindruckt von dem Kompliment, griff Thea nach der Butter. „Vor meiner ersten Saison machte Stiefmama viel Aufhebens um mein Aussehen, meine Figur und alles andere, da kam ich zu der Überzeugung, dass mir Rüschen und andere Verzierungen nicht stehen. Ich werde nie hübsch sein, aber ich weiß, dass ich elegant aussehen kann, wenn ich es will. Und ich gebe zu, dass ich Luxus liebe. Schöne Stoffe, gut gearbeitete Kleider, Schuhe und Handschuhe aus weichem Leder, gute Düfte und Seifen …“ Sie widmete sich genussvoll ihrem Omelette.

„Wie hast du das alles an einem einzigen Tag auftreiben können?“ Wie kommt es, dass du dich aus einem Wildfang in so ein feminines Wesen verwandeln konntest? Er versuchte, dieses vornehme Geschöpf mit seinem Bild von Thea in Übereinstimmung zu bringen.

„In Paris ist es einfacher, fertig genähte Kleider zu finden, als in London. Es ist noch nicht alles geliefert worden, weil einiges geändert werden muss, aber es scheint wohl zu helfen, dass ich so eine Durchschnittsfigur habe.“

Aus taktischen Gründen trank Rhys noch einen Schluck Kaffee, damit er sich nicht zu Theas Figur äußern musste.

„Nur mit dem Reitkleid bin ich nicht zufrieden. Ich hätte mein eigenes mitnehmen sollen.“

„Es ist unwahrscheinlich, dass du überhaupt zum Reiten kommen wirst.“ Rhys hingegen plante, ein Reitpferd zu mieten, um nicht mit ihr in der Kutsche sitzen zu müssen.

„Nicht?“ Sie krauste die Nase, und das passte so wenig zu ihrer damenhaften Aufmachung, dass Rhys lachen musste. Doch, seine Thea war immer noch da. Sie lächelte zurück. „So ist es besser! Ich überlegte schon, warum du so ernst ausgesehen hast. Übrigens habe ich mit Hodge gesprochen, und ich danke dir, dass du ihn nicht für gestern Abend verantwortlich machst.“

Rhys zuckte die Achseln. „Ich hätte nicht erwarten dürfen, dass du auf ihn hören würdest. Unten im Hotel steht dir ab sofort ein großer und kräftiger Lakai zur Verfügung, wenn du ausgehen willst. Mit Hodge, Polly und einem Leibwächter solltest du eigentlich vor unerwünschter Aufmerksamkeit geschützt sein.“

„Danke.“ Sie lächelte ihn warm, aber auch ein wenig spitzbübisch an, und Rhys entspannte sich. „Hoffentlich hast du heute einen schönen Tag.“

„Ich beabsichtige, zu einem Antiquitätenhändler zu gehen, der ein Paar Globen anbietet, die ausgezeichnet in die Bücherei von Palgrave Hall passen würden. Danach gehe ich ein paar Hemden kaufen.“

„Und wirst du deine Opernsängerin überreden, deinem Wunsch zu entsprechen?“ Aus klaren, unschuldigen Augen betrachtete Thea ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg.

„Ist dir eigentlich gar nichts peinlich?“, fragte Rhys mit heiserer Stimme und hustete, weil er sich an seinem Croissant verschluckt hatte.

„Ich meinte nur das Engagement im Opera House“, stellte Thea nüchtern fest, während er immer noch hustete. „Soll ich dir auf den Rücken klopfen, oder meinst du, ein Glas Wasser würde dir helfen?“

„Nein, danke. Ich werde ihr eine Entschuldigung schreiben, weil ich sie so plötzlich habe sitzen lassen.“ Das war alles. Rhys wischte sich die tränenden Augen und versuchte, streng zu klingen. Er hatte sich geirrt, als er Thea auch nur ein kleines bisschen anziehend fand. Dieser Fratz war heute genauso wenig zu bändigen wie mit sechzehn.

„Soll ich uns Karten für die Oper heute Abend besorgen?“

„Für uns?“ Ihr Gesicht begann vor Freude zu strahlen.

„Ziehe etwas Unauffälliges an und trage einen Schleier, wir sitzen im Parkett. So wird sich niemand für uns interessieren.“

„Ich danke dir.“ Thea sprang auf und küsste ihn auf die Wange. „Du bist ein Engel. Jetzt gehe ich und überlasse dich deiner Zeitung.“

Das war schwesterlich. Rhys wandte sich wieder der Zeitung zu, blätterte eine Seite um und versuchte, sich wie ein nachsichtiger Bruder zu fühlen. Trotzdem – morgen wollte er auf jeden Fall reiten.

Thea schaute aus dem Fenster auf die schöne Landschaft der Bourgogne. Vor drei Tagen waren sie aus Paris aufgebrochen, und Rhys legte die Strecke zu Pferd zurück, während sie einsam in der Kutsche saß.

So hatte sie genügend Gelegenheit, einen athletisch gebauten Gentleman in gut sitzenden Hosen zu beobachten, und das war natürlich nicht unangenehm. Als Knabe und junger Mann war er lang und dünn gewesen, aber jetzt war er breitschultrig und muskulös. Wie sorgte so ein Gentleman eigentlich dafür, in guter körperlicher Verfassung zu bleiben? Vermutlich trieb er Sport. Sie gebot ihrer Fantasie, seinen Körper sofort wieder mit Kleidern zu bedecken.

Eine sittsame Dame sollte nicht so gaffen und erst recht nicht in wilden Tagträumen schwelgen. Ihr Problem war, dass sie ihn nicht mehr so unschuldig anhimmelte wie mit vierzehn, sondern mit den Gefühlen einer wissbegierigen, gereiften jungen Frau. Es war ihr genau bewusst, was ihr Körper wollte, und sie bedauerte es sehr, dass sie es nie ausleben würde.

Aber warum sollte sie nicht wenigstens ihren Fantasien nachhängen? Sie war sich ganz sicher, dass sie keinen Mann finden würde, der sie liebte wie sie ihn. Das bedeutete, dass sie wahrscheinlich nie heiraten würde. Thea unterdrückte einen Anflug von Angst und dachte schnell wieder an die Gegenwart. Denn wenn sie nicht heiratete, führte diese Entscheidung unerbittlich zu dem Schluss, dass sie nie erfahren würde, wie es war, nackt bei einem Mann zu liegen. Sie fühlte nicht die geringste Scham darüber, dass sie sich wünschte, die körperliche Liebe kennenzulernen.

Die Kutsche fuhr ratternd an den Weinhängen der Côte d’Or vorbei. Die Rast in Beaune war bedauerlich kurz gewesen. Die Stadt war farbenfroh und exotisch und hatte sehr einladend ausgesehen, aber Rhys wollte unbedingt noch heute Abend Lyon erreichen. Theas Frage nach dem Grund seiner Eile hatte er nicht beantwortet, sondern nur schweigend die Lippen aufeinandergepresst.

Thea richtete ihre Aufmerksamkeit von der Landschaft wieder auf den Reiter auf dem breiten Grünstreifen am Straßenrand. Er lenkte sein Pferd zur Seite, um dort einen gefallenen Baum zu überspringen, und Thea stockte der Atem beim Anblick der fließenden Bewegungen von Mann und Tier.

Wie würde sich seine Haut wohl unter ihren Händen anfühlen? Wie würde es sich anfühlen, wenn er in sie eindrang? Ob es wohl wehtat? Wahrscheinlich, denn bei Anthony war es so gewesen. Weniger klar war ihr, was danach im Bett geschehen würde, wenn der Liebesakt in gegenseitigem Geben und Nehmen vollzogen wurde.

Als Kind hatte sie Rhys beim Schwimmen im See nackt gesehen, aber der Körper eines erwachsenen Mannes sah gewiss anders aus. Ob er wohl Haare auf der Brust hatte? Würden sie an ihren Brüsten kratzen oder kitzeln? Bei dem Gedanken begann ihre Haut zu prickeln. Sie würde mit den Fingerspitzen …

„Brr!“, rief Tom Felling den Zugpferden zu. Der Kutschwagen ruckelte und rutschte zur Seite, als die Pferde zum Stehen kamen.

Eine Diligence, so hießen die schwerfälligen französischen Postkutschen, war umgekippt und lag in dem tiefen Graben am Wegesrand. Auf der Straße standen ein halbes Dutzend Passagiere, und sie schienen vom Schreck noch ganz benommen zu sein. Der Fahrer und der Wachmann kämpften mit den Zugpferden, die sich in den verhedderten Strängen vor Angst hin- und herwarfen.

Thea stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen, Rhys stieg vom Pferd und rief dem Kutscher zu: „Felling, geh und hilf dabei, die Zugpferde zu befreien.“ Nun fiel sein Blick auf Thea. „Thea, geh sofort zurück in den Wagen, du hast hier nichts zu suchen.“

„Das werde ich nicht tun. Es gibt Verletzte.“ Sie rannte zu einer beleibten Frau, um ihr aufzuhelfen, dann löste sie ihr eigenes Halstuch und drückte es einem schlanken jungen Mann auf die Stirn, der mit blutüberströmtem Gesicht an der Böschung lag.

„Es ist nur ein Kratzer“, begann sie auf Englisch. „Die bluten am Kopf immer besonders stark. Oh, pardon, c’est …“

„Ich bin Engländer“, sagte der junge Mann mit schwacher Stimme und hob die Hand, um das zusammengeknüllte Tuch an seine Stirn zu pressen. „Vielen Dank, Ma’am. Es geht mir gut. Bitte, schauen Sie nach, ob noch jemand anders Ihre Hilfe braucht.“

Eine junge Frau schrie, aber wahrscheinlich eher vor Schreck als vor Schmerzen. Thea rannte zu ihr. Die Frau zeigte zitternd auf den breiten Graben. „Mon fils, mein Sohn!“

Die Diligence war nur deswegen noch nicht ganz abgerutscht, weil sie von den Speichen eines zerbrochenen Rades und einem struppigen Dornbusch gerade noch gehalten wurde. Aber langsam gab alles unter dem Gewicht des Wagens nach. Es krachte und knackte bereits bedrohlich.

Zuerst verstand Thea nicht, warum die Frau so aufgewühlt war, aber dann hörte sie ein leises Wimmern und sah ein kleines zappelndes Bündel aus weißem Stoff unter der zusammenbrechenden Kutsche.

„Rhys, da ist ein Baby!“

„Ich sehe es.“ Er sprang hinunter in den Graben, duckte sich unter die Seitenkante der Kutsche und stützte sie mit Schulter und Rücken ab. Die Füße stemmte er fest in die Böschung. Das krachende Geräusch hörte auf, aber wie lange konnte er den Wagen so halten? Thea kletterte auf der anderen Seite hinunter und bückte sich, um etwas zu erkennen. Die Adern an Rhys’ Stirn pochten deutlich sichtbar, die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor. Sie kroch heran und versuchte das Baby zu erreichen.

„Geh weg“, zischte Rhys zwischenzusammengepressten Zähnen hindurch. „Ich weiß nicht, wie lange ich das Ding noch halten kann.“

„Du kannst es“, sagte sie zuversichtlich, legte sich auf den Bauch und kroch weiter. In diesem Moment vertraute sie ihm absolut. Er konnte die Welt tragen, wenn ein Leben davon abhing. Das Baby schrie, als sie es näher zu sich zog. Das Rad gab ein Stück nach, Rhys fluchte und verlagerte sein Gewicht.

An Theas Fuß bewegte sich etwas, jemand stieß gegen ihr Bein und entschuldigte sich auf Englisch. „Verzeihung. Könnten Sie unter mir herauskriechen?“ Es war der verletzte Engländer, der jetzt die andere Seite des Wagens hielt.

Mit dem Baby in den Armen kroch Thea zurück, so schnell sie konnte.

„Sie ist draußen!“, rief der Engländer. Ein paar Hände wurden ihr entgegengestreckt, und man half ihr mit ihrer Last nach oben auf die Böschung.

„Sie können loslassen. Wir können es nicht mehr aufhalten“, rief Rhys mit angespannter, matter Stimme. „Auf mein Kommando. Eins, zwei, drei …“

Der junge Mann landete ungraziös in einem Brennnesselbusch. Thea legte das Baby in die Arme seiner weinenden Mutter, da krachte es laut, die Diligence gab nach und rutschte tiefer in den Graben. Holz splitterte und zerbarst. „Rhys!“

Es schien Minuten zu dauern statt Sekunden, bis Thea zu der Seite des Kutschwagens gelangte, an der Rhys den Wagen gehalten hatte. Er lag mit geschlossenen Augen daneben, mit dem Rücken im Schlamm. Seine Hände bluteten, das Gesicht war kreidebleich. Thea kniete sich neben ihn und presste das Ohr an seine Brust. Sie spürte, dass er atmete, also war er Gott sei Dank am Leben. „Rhys, Rhys, wach auf.“

„Thea?“ Mit einem Ruck kam er plötzlich wieder zu sich. Er streckte die Arme nach ihr aus und sah sie forschend aus weit aufgerissenen Augen an, die sehr dunkel aussahen in seinem blassen Gesicht. Er drückte ihre Handgelenke. „Bist du verletzt?“

„Nein, nur schrecklich schmutzig. Als der Wagen fiel, dachte ich, du lägst darunter.“ Sie ließ sich auf ihn herabsinken und umarmte ihn.

„Hmm“, murmelte Rhys. „So gern ich auch kuschle, aber mitten im Morast ist es nicht so schön. Ich glaube, ich zerquetsche gerade einen Frosch unter mir.“

„Idiot! Ich dachte … ich fürchtete …“

„Wage es nicht, mir etwas vorzuweinen“, sagte er mild. „Was denkst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich dich in die tödliche Falle hineinkriechen sah, du verrückte Person?“

Thea stand auf, wobei sie versuchte, nicht auf ihn zu treten. „Wer hätte es denn sonst tun sollen?“, erwiderte sie streitlustig, um ihre Gefühle nicht zu zeigen. „Die Passagiere waren zu benommen oder zu groß. Bist du verletzt?“

Rhys setzte sich aufrecht hin, zuckte zusammen, aber es gelang ihm, sich aus dem Graben zu befreien. „Ich fühle mich zwar, als hätte dein geschätzter Prinzregent mich getreten, aber abgesehen davon, geht es mir gut.“

Thea nickte. „Dann sehe ich jetzt nach dem Engländer. Er hatte eine hässliche Wunde am Kopf, bevor er uns zu Hilfe kam.“

Als sie ihn fand, suchte er gerade sein Gepäck zwischen den verstreuten Sachen am Straßenrand zusammen. „Sir? Sie sollten noch nicht so viel herumlaufen.“

Aus ihrem Halstuch hatte er einen improvisierten Verband gemacht, den er schräg um den Kopf gewickelt hatte. Dadurch sah sein sympathisches Gesicht mit den regelmäßigen Zügen einem blassen Seeräuber ähnlich. Er bewegte sich, als schmerzten ihn alle Knochen. Vermutlich war es auch so.

„Danke für Ihre Anteilnahme, Ma’am. Ich habe gehört, dass ungefähr in einer Meile ein Gasthaus ist. Dort nehme ich mir ein Zimmer.“

„Erlauben Sie uns wenigstens, Sie dorthin zu bringen. Tom!“ Sie gab dem Kutscher ein Zeichen. „Bitte bringen Sie das Gepäck des Gentlemans hinten an unserer Kutsche unter.“

Rhys kam durch die Menge der weinenden und gestikulierenden französischen Passagiere auf sie zu. Niemand schien ernsthaft verletzt zu sein.

„Mylord, dies ist der Gentleman, der die Kutsche von der anderen Seite gestützt hat. Er muss mit uns mitfahren bis zu einem Gasthaus, wo er sich ausruhen kann.“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, aber ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten. Mein Name ist Giles Benton, ich müsste noch eine Karte haben.“ Er zog eine aus der Brusttasche.

„Sie bereiten mir durchaus keine Umstände. Reverend Benton, wie ich sehe“, sagte Rhys und schaute auf. „Ich bin Palgrave.“

„Mylord. Ich erkenne Sie natürlich vom Ober…“

„Keine Politik, bitte. Und nennen Sie mich Denham“, sagte Rhys mit ausgestreckter Hand. „Darf ich Ihnen meine Cousine vorstellen, Miss Smith.“ Er ignorierte Theas fragend hochgezogene Augenbrauen, öffnete für sie die Wagentür, schwang sich auf sein Pferd und rief dem Kutscher weitere Anweisungen zu.

Nun saß Thea in der Kutsche mit einem Engländer, der ein Gentleman war und obendrein noch Vikar. Vermutlich ging er in Gedanken gerade die Liste aller Adligen des Landes durch und kam sicher bald zu dem Schluss, dass der Earl of Pelgrave keine Cousine namens Smith hatte. Wenn er eins und eins zusammenzählen konnte, würde er zu einem skandalösen Ergebnis kommen.

Doch was für eine andere Wahl hatten sie, als ihn mitzunehmen? Sie konnten ihn nicht blutend am Straßenrand liegen lassen. Zum ersten Mal seit sie von zu Hause geflohen war, sah Thea sich mit der Tatsache konfrontiert, dass ein Skandal demütigend, schmutzig und ganz und gar nicht lustig war.

9. KAPITEL

Thea atmete tief ein und zwang sich zur Ruhe, um nicht Mr Bentons Verdacht zu erregen.

Beunruhigt warf sie einen Blick aus dem Fenster zu Rhys. Dann wandte sie sich ihrem neuen Gefährten zu. „Unternehmen Sie eine weite Reise, Sir?“ Dies war eine unverfängliche Frage, die nur seine Person betraf.

„Zur Küste des Mittelmeeres.“ Er lächelte. „Ein klares Ziel habe ich nicht. Ich nutze die gegenwärtige Friedenszeit für eine Reise in den Süden, bevor ich meine neue Stelle antrete.“

„Eine neue Gemeinde?“

„Nein. Mir wurde schnell klar, dass ich nicht für die Seelsorge geschaffen bin. Ich wollte lieber meine Talente in den Dienst einer gesellschaftlichen Reformbewegung stellen. Darum habe ich einen Posten als Sekretär von Lord Carstairs angenommen.“

„Macht er sich nicht für die Abschaffung der Sklaverei stark?“ Sie hatte viel darüber gelesen, zur Missbilligung ihres Vaters, der Interessen auf den Karibischen Inseln hatte. „Es muss befriedigend sein, an dieser Aufgabe mitzuarbeiten.“

„Ja, selbstverständlich. Ich hätte wissen müssen, dass Sie mit der Materie vertraut sind“, sagte er. Thea war etwas verwirrt. Doch Mr Benton fuhr fort, bevor sie nachfragen konnte. „Er macht sich auch für Gefängnisreformen stark, und seine Frau, Lady Carstairs, fördert die Bildung von Frauen. Ich hoffe, mich an allem beteiligen zu dürfen. Ich hatte Glück, dass mein älterer Bruder, Lord Fulgrove, gut mit Lord Carstairs bekannt ist und mich ihm empfehlen konnte.“

„Lord Fulgrove?“ Thea musste ihre Gedanken sammeln.

Mr Benton lehnte sich zurück. „Kenne ich Sie nicht vielleicht? Ich dachte gleich, dass mir Ihr Gesicht bekannt vorkommt, aber woher …? Jetzt fällt es mir ein. Ich habe Sie im Gespräch mit meinen Schwestern Jane und Elspeth im Park gesehen.“

Thea starrte ihn an und zermarterte sich das Gehirn, um eine gute Ausrede zu finden. „Ich habe sie ein paarmal getroffen.“ Nicht nur drohte ein Skandal, sondern jetzt bestand auch noch die Gefahr, dass ihr Vater von ihrem Aufenthaltsort erfahren würde.

„Ich werde ihnen sofort berichten, wie sehr Sie mir geholfen haben“, erklärte Mr Benton. „Ich schreibe ihnen fast jeden Tag. Sie werden entzückt sein, wenn sie erfahren, dass ihre Freundin Miss Smith so ein guter Samariter ist.“

„Oh, ich, hm … Wir sind beim Gasthaus angekommen. Es sieht aber ziemlich heruntergekommen aus.“ Sie öffnete das Fenster, als Rhys zu ihnen trat. „Ich finde nicht, dass es hier gut aussieht. Seht doch, wie schmutzig die Fenster sind, und der Hof ist voller Unrat.“

„Ja, es ist nur eine Schenke und nicht auf Reisende eingestellt, so wie es aussieht.“

„Wir können Mr Benton nicht hier zurücklassen.“ Je früher sie sich verabschiedeten, desto besser wäre es, aber sie wollte seine Gesundheit nicht gefährden, nur um ihre dunklen Geheimnisse zu wahren. Ein Schlag auf den Kopf konnte sehr gefährlich sein, und er hatte viel Blut verloren, schon vor seinen heldenmütigen Anstrengungen bei der Diligence. „Er ist unterwegs nach Süden. Wir könnten ihn nach Lyon bringen und einen Arzt suchen, der seine Verletzung behandelt.“ Sie drehte sich um und betrachtete sein bleiches Gesicht. „Ich fürchte, es muss genäht werden, Sir.“

Beide Männer begannen gleichzeitig zu sprechen, aber Polly öffnete die hintere Tür und unterbrach sie, um eine kleine Tasche auf den Boden zu stellen. „Hier ist die Tasche für medizinische Notfälle. Mr Hodge dachte, der Verband des Gentlemans sollte erneuert werden, Lady Althea.“

Mr Benton warf Thea einen erstaunten Blick zu und presste die Lippen fest zusammen. Das sprach deutlicher als alle Worte. Rhys verdrehte die Augen.

Thea schaute von einem Mann zum anderen, und ihr Mut sank. Er war ein Geistlicher und konnte als solcher keine Unmoral dulden. „Darf ich Sie um Diskretion bitten, Mr Benton?“

„Es handelt sich also um eine Flucht?“, erkundigte er sich steif. „Natürlich geht es mich nichts an.“

„Nein, wir sind nicht auf der Flucht!“

„Gott bewahre“, fügte Rhys mit wenig schmeichelhaftem Nachdruck hinzu, wie Thea fand. „Ich begleite Lady Althea zu unserer Patin, Lady Hughson in Venedig. Wir sind Jugendfreunde.“

Mr Bentons undurchdringliche Miene wurde freundlicher. „Lady Hughson? Ich kenne sie gut. Welch eine Erleichterung! Nachdem ich Ihr selbstloses Verhalten am Unfallort erlebt habe, hätte ich natürlich nichts Schlimmes vermuten dürfen. Ich entschuldige mich! Lady Althea …?“

„Curtiss“, ergänzte sie, weil ihr Gewissen sie plagte. Sie hatte bisher noch keine Sünde begangen, aber ihre Gedanken waren skandalös genug, um sie in den Augen jedes Geistlichen zu verurteilen. „Leider haben die Umstände uns gezwungen, auf diese Weise zu reisen, die man missverstehen könnte. Ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich Sie bitte, unsere Begegnung nicht zu erwähnen.“

„Aber natürlich“, versicherte Mr Benton. „Meine Lippen sind versiegelt.“

„Wenn es so ist“, sagte Thea, „lege ich Ihnen einen ordentlichen Verband an, und dann fahren wir nach Lyon. Lord Palgrave, würden Sie so freundlich sein, den Liegesitz für Mr Benton herrichten zu lassen? Ich denke, er sollte sich hinlegen.“

„Auf keinen Fall, Lady Althea“, sagte Mr Benton protestierend. „Ich versichere Ihnen, dass ich sehr wohl im Sitzen fahren kann. Es wäre vielleicht auch angebracht, dass ich bei den Dienstboten in dem anderen Wagen mitreise, nicht wahr? Immerhin, mit einer Lady allein in einer Kutsche …“

„Den größten Teil der Reise habe ich an der Seite von Lord Palgrave verbracht“, sagte Thea und entfernte den notdürftigen Verband von seinem Kopf. „Wenn schon, denn schon. Außerdem glaube ich nicht, dass die Anwesenheit eines Geistlichen meinem Ruf schadet.“ Sie inspizierte die Wunde. „Die Blutung hat aufgehört, und ich will nichts riskieren, indem ich Sie mit dem Wasser von dieser schmutzigen Schänke säubere. Wenn Sie bitte ganz still halten würden …“

Als sie abends um sieben Uhr endlich in Lyon ankamen, dachte Rhys, er könne nie mehr vom Pferd absteigen und erst recht nicht zu seinem Zimmer gehen. Die Prellungen und Schürfwunden auf Rücken und Schultern waren zu einem einzigen großen, brennenden Schmerz geworden, und die abgeschürften Hände steckten voller Holzsplitter. Er konnte kaum noch die Zügel halten.

„Hodge“, rief er, als der Kammerdiener aus der Kutsche stieg. „Begleiten Sie Ihre Ladyschaft und Mr Benton in das Gasthaus. Ich muss noch mit Felling sprechen.“

Er wartete, bis sie hinter der eindrucksvollen Tür des Chapeau Rouge verschwunden waren, bevor er den Kutscher zu sich beorderte. „Tom, komm her und hilf mir vom Pferd. Ich will, verdammt, nicht auf die Nase fallen vor diesen französischer Stallburschen.“

Es war wenig elegant und äußerst schmerzvoll, aber das Manöver gelang, obwohl Rhys ein paarmal laut fluchte. „Du erzählst Ihrer Ladyschaft oder ihrer Zofe kein Sterbenswort davon, verstehst du?“

„Ja, Mylord. Ich schätze mal, dass Sie eine Menge Salbe für den Rücken brauchen werden. Ich habe genau das Richtige in meiner Tasche.“

„Pferdesalbe etwa? Willst du mir die Haut vom Rücken abziehen, Mann?“

„Wenn es Ihren Vollblütern hilft, wird es Ihnen auch nicht schaden, Mylord“, meinte der Kutscher. „Aber für den anderen Gentleman wird ein Doktor geholt, und der wird Ihnen bestimmt gern ein paar raffinierte Tränke verschreiben, die Sie eine ordentliche Stange Geld kosten.“

„Ich brauche nur ein heißes Bad“, brummte Rhys. Erst als er den gesamten Innenhof überquert hatte, konnte er halbwegs gerade gehen, aber er schaffte es, die Treppe zu dem privaten Salon emporzusteigen, den er im Voraus gebucht hatte. Dort befanden sich auch Althea und Mr Benton, die sich bereits mit dem Vornamen anredeten.

„Der Wirt hat schon nach dem Doktor geschickt und bereitet das freie Gästezimmer dieser Suite für Giles vor. Wie gut, dass wir so viel Platz hier haben.“ Thea drehte sich nicht herum, sondern versuchte Benton in einen Sessel zu drücken, während sie stehen blieb. „Giles, es ist töricht, an der Etikette festzuhalten. Sie müssen sich schonen, und ich bin so gut mit Ihren Schwestern befreundet, dass Sie mich genauso behandeln können wie eine von ihnen.“

Rhys warf einen kurzen Blick auf Benton, der einen geschwächten Eindruck machte. Das mochte aber ebenso an Theas Fürsorge liegen wie an seiner Kopfwunde. Oder es steckt mehr dahinter, dachte er. Versucht Thea etwa, einen Geistlichen zu betören? Doch wohl nicht.

„Worüber lachst du?“, erkundigte sich Thea, ohne sich von ihrem Patienten abzuwenden.

„Es ist nur die Vorfreude auf ein heißes Bad. Ich sehe euch dann beide beim Abendessen“, erklärte Rhys. Er erblickte sein eigenes graues Gesicht in einem Spiegel. Oh Gott, er sollte besser schnell wieder draußen sein, bevor sie merkte, dass er wie eine wandelnde Leiche aussah.

„Hier ist Ihr Zimmer, Mylord.“ Hodge hatte wenigstens so viel Anstand, bei seinem Anblick nicht entsetzt aufzuschreien. „Ich schicke Ihnen sofort den Doktor.“

„Auf keinen Fall. Mir fehlt nichts, was ein gutes Bad und Basilikumpuder nicht in Ordnung bringen könnte“, entgegnete er, als Hodge seinen Mantel hochhielt, der hinten völlig ramponiert war.

Das heiße Wasser brannte in den Wunden beim Eintauchen, aber nach einer halben Stunde hatten sich Rhys’ Muskeln etwas gelockert, und er fühlte sich wieder fast wie ein Mensch, als er aus der Wanne stieg und sich ein großes Badetuch um die Hüften schlang.

Hodge betupfte vorsichtig seinen Rücken mit einem Handtuch, während Rhys seine zerschrammten Hände voller Holzsplitter betrachtete. „Ich brauche eine Nadel, um die Splitter herauszuholen, Hodge. Könnten Sie mir eine besorgen?“

„Aus meinem Gepäck nebenan, Mylord. Ich bin gleich zurück.“

Die Tür hinter ihm ging auf und Rhys fügte hinzu: „Eine Pinzette wäre auch gut.“

„Rhys Denham! Wie sieht denn dein Rücken aus!“

„Thea“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Du dürftest gar nicht hier sein. Ich bin nicht angezogen.“ Er war, verdammt noch mal, sogar halb nackt. Rhys griff nach einem Handtuch, um es sich über die Schultern zu werfen.

„Lieber nicht“, meinte Thea mit scharfer Stimme. „Das muss richtig verbunden werden. Warum hast du denn nicht gesagt, wie schlimm es um dich steht?“

„Ich hasse Getue“, brummte Rhys. „Gehst du bitte …“

„Hodge, würden Sie freundlicherweise dem Doktor sagen, dass er hierherkommen möge, sobald er mit dem Nähen der Wunde an Mr Bentons Kopf fertig ist.“

Rhys holte tief Luft und wartete, bis die Tür geschlossen wurde, bevor er sagte: „Thea, geh bitte.“

„Du konntest es schon früher nicht zugeben, wenn du krank oder verletzt warst“, erwiderte sie. Rhys hörte ihre Röcke rascheln, dann wurde ein Tuch sanft auf seinen Rücken gelegt. „Ich trockne dich jetzt ab, dann kannst du dir etwas anziehen, bevor der Doktor kommt.“

Er hätte sie am liebsten nach draußen befördert, aber leider war er nur mit einem dünnen Handtuch bedeckt. „Wenn ich verspreche, den Doktor meinen Rücken versorgen zu lassen, gehst du dann endlich?“

„Gewiss.“ Thea trat vor ihn und musterte seinen nackten Oberkörper. „Vorne bist du zum Glück nicht verletzt.“

Rhys hielt sich ein Handtuch vor, damit sie nicht sah, dass sich seine Brustspitzen zusammenzogen. Er wagte auch nicht, nach unten zu sehen und zu überprüfen, ob das Handtuch um seine Hüften seine plötzliche Erregung verbarg. „Ich brauche nur ein bisschen Salbe auf dem Rücken“, sagte er, aber sie nahm plötzlich seine Hand.

„Ach du meine Güte! Wie konntest du überhaupt die Zügel halten? Ich hole Nadel und Pinzette und ziehe dir die Splitter heraus, während der Doktor deinen Rücken verarztet.“ Endlich ließ sie ihn los. „Ich lasse dich gleich allein, damit du dir eine Hose anziehen kannst, und dann komme ich zurück.“

„Thea, hat dir noch nie jemand erklärt, dass eine junge Dame eher in Ohnmacht fällt, als die Hose eines Mannes zu erwähnen?“ Er war nicht sicher, ob er eher erleichtert war, weil sie seinen halbnackten Körper offenbar nicht zur Kenntnis nahm, oder ob er sich darüber ärgerte, von ihr herumkommandiert zu werden.

„Durchaus“, meinte sie leise lachend. „Armer Rhys, bist du meinetwegen verlegen?“

„Eher entsetzt.“ Aber da war sie bereits gegangen.

Ganz offensichtlich behandelte sie ihn mit nicht mehr Zurückhaltung als früher den Vierzehnjährigen. Das Positive an ihrer vertrauensvollen Unschuld war, dass nur er allein eine körperliche Anziehungskraft empfand, wenn er ihr nahe kam. Er griff nach seiner Hose. Wenn sie ihn als sexuelles Wesen wahrnähme, wäre sie bestimmt nicht so offen und unbefangen.

Zehn Minuten später kam sie mit dem Arzt zurück, der meinte: „Ah, Monsieur le Comte braucht einen Verband auf den Abschürfungen und zwei bis drei Tage Ruhe.“

„Ich will verdammt sein, ehe ich …“, sagte Rhys auf Englisch zu Thea, die vor ihm saß und mit Stopfnadel und Pinzette seine Hände behandelte.

„Du musst jetzt vernünftig sein“, entgegnete sie vorwurfsvoll und konzentrierte sich auf ihre Tätigkeit.

Rhys bemühte sich still zu sitzen, während der Arzt seinen verletzten Rücken verband. Er schaute auf ihren gebeugten Kopf, den ordentlichen Mittelscheitel und die kompliziert verschlungenen Haare. Wie lang sie wohl sind? Wenn ich jetzt die Haarnadeln herausziehen würde …

Thea schimpfte immer noch mit ihm. „… sonst sage ich ihm, er soll dich zur Ader lassen. Übrigens ist es in Lyon ganz entzückend – warum die große Eile, in den Süden zu kommen?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Könnten wir nicht Giles vorschlagen, uns zu begleiten? Es wäre nicht gut für ihn, in einer Diligence zu reisen, bevor er wieder ganz gesund ist. Was meinst du?“

Fast hätte Rhys geantwortet, dass seine Kutsche kein öffentliches Verkehrsmittel sei, aber dann biss er sich auf die Zunge. „Du magst ihn?“, fragte er vorsichtig.

„Ja, sehr. Er ist intelligent und unterhaltsam, und er war sehr tapfer bei dem Unfall. Obwohl sicherlich nicht so mutig wie du“, fügte sie mit sachlicher Stimme hinzu.

„Danke.“ Er hatte nicht an die Gefahr für sich selbst gedacht und nur verhindern wollen, dass der Wagen weiter abrutschte. Zu seiner Überraschung fühlte er plötzlich so etwas Absurdes wie Stolz. Eitler Fatzke, tadelte er sich selbst. Ein Gentleman tut ganz einfach, was nötig ist, ohne darüber nachzudenken.

Benton hingegen hatte die Gefahr einschätzen können, bevor er sich ihr aussetzte. Er war offensichtlich ein Mann von Mut und Entschlossenheit. Und aus guter Familie, selbst wenn er nur ein jüngerer Sohn ist. Ein Gedanke formte sich in Rhys’ Kopf. Thea wollte jemanden heiraten, den sie selbst wählte. Der Mann sollte Prinzipien haben und sie für das schätzen, was sie war, nicht für ihre Beziehungen und ihr Geld. Es war närrisch, dass sie sich unbedingt verlieben wollte. Das würde sie schnell feststellen, wenn sie einen sympathischen und heiratswürdigen Mann fand.

Rhys würde Benton dezent ermutigen. Es war ein brillanter Plan, fand er. Thea verheiratet mit einem passenden Mann, kein drohender Skandal – ihre Patin konnte verbreiten, dass die beiden sich während des Aufenthalts in Venedig kennengelernt hätten.

Der Doktor war fertig, und Hodge begleitete ihn hinaus. Thea legte die Pinzette auf den Tisch und sah Rhys’ Hände prüfend an. „So, das sollte genügen!“, rief sie aus. Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzuschauen. „Und warum lächeln Sie jetzt so selbstzufrieden, Mylord?“

„Erleichterung, weil es vorbei ist.“ Erleichterung darüber, dass niemand mehr in seinen Wunden herumstocherte – und dass er einen guten Plan hatte.

10. KAPITEL

Und du wirst dich wirklich zwei Tage lang ausruhen?“ Thea schaute Rhys misstrauisch an.

„Wir bleiben zwei Nächte. Du kannst mit Benton die Stadt erkunden, wenn er sich gut genug fühlt. Ich werde morgen in meinem Zimmer bleiben“, fügte Rhys hinzu. „Wahrscheinlich werde ich verrückt vor Langeweile, aber es ist das Vernünftigste.“

Das klang gar nicht wie Rhys. Vielleicht hatte er sich doch mit den Jahren verändert.

„Giles sagt, seine Kopfschmerzen seien bereits viel besser geworden. Also wenn du uns nicht brauchst, werden wir gern die Stadt besichtigen.“ Sie griff nach einem Tuch, um seine Hände trocken zu tupfen.

Rhys riss es ihr aus den Händen. „Schluss damit, Thea. Ich bin unverwüstlich, das müsstest du doch wissen.“

Und gibst doch so schnell nach und ruhst dich aus? „Sage das nicht, du forderst das Schicksal heraus.“ Sie blickte ihm in die Augen, konnte den Ausdruck darin aber nicht ergründen. „Es tut mir leid, dass ich hier so hereingeplatzt bin, als du gerade nichts anha… gerade aus der Wanne gestiegen warst. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“ Rhys hob eine Augenbraue, und Thea lachte.

Sie hatte sich selbst auch unbehaglich gefühlt. Es war so schrecklich gewesen, seinen muskulösen Rücken zu sehen und zu begreifen, wie sehr ihn die grausamen Schürfwunden und Prellungen schmerzen mussten. Sie hatte eine Mischung aus Verlangen, Schrecken und Bewunderung für Rhys’ stoischen Gleichmut empfunden.

Thea stand auf und trat zu dem Bett, wo sein Hemd ausgebreitet lag. Sie zitterte. War das noch eine verspätete Reaktion auf den Unfall? Sie strich mit den Fingerspitzen über den weichen Leinenstoff. Ja, möglicherweise, aber vor allem war es die Folge davon, dass sie allein gewesen war mit Rhys, als er halb nackt war.

„Du solltest das jetzt besser anziehen. Ich helfe dir, damit der Verband nicht verrutscht.“ Sie nahm das Hemd und kämpfte um Selbstbeherrschung, bevor sie sich zu ihm herumdrehte.

Rhys saß auf der Tischkante, was sie beide beinahe auf gleiche Augenhöhe brachte. Er neigte den Kopf, damit sie ihm das Hemd überziehen konnte, dann half sie ihm, vorsichtig die Hände in die Ärmel zu schieben. Aus irgendeinem Grund schwammen ihre Augen plötzlich in Tränen. Ich hätte ihn verlieren können.

Thea schluckte und hob die Hände, um seinen Kragen zurechtzurücken. Sie war ihm jetzt so nah, dass sie die Wärme seiner Haut spürte und die hellen Lachfältchen in der leicht gebräunten Haut an seinen Augenwinkeln erkennen konnte. Worüber hatte er gelacht? Welche Sorgen hatten die dünnen Linien zwischen seinen Brauen und an den Mundwinkeln eingegraben? Rhys hatte ein ganzes Leben, von dem sie nichts wusste. Sie streifte seine Haarspitzen, als sie den Kragen berührte.

Ihre Selbstbeherrschung brach zusammen, als hätte er an einer Schnur gezogen, obwohl er sich weder bewegt noch etwas gesagt hatte. „Ich war so besorgt deinetwegen“, murmelte Thea. Bevor sie weiter nachdenken konnte, drückte sie sich an ihn, schlang die Arme um seinen Hals und barg das Gesicht an seiner Brust. „Entschuldigung“, wisperte sie in den Stoff seines Hemds. „Als die Diligence zusammenbrach, fürchtete ich, du lägst darunter.“

Rhys schloss seine Arme um sie und zog sie an sich. Es muss ihn schmerzen, mich so zu halten, dachte sie. Sie atmete den Duft seiner feuchten Haut und der Olivenölseife ein, die er beim Baden benutzt hatte. Er legte seine Wange auf ihren Kopf, und Thea machte die Augen zu.

Als er mit leiser Stimme sprach, spürte sie es bis in die Fußsohlen. „Als du durch den Schlamm unter meinen Füßen gekrochen bist, sagtest du, dass du mir zutrautest, den Wagen zu halten.“

„So war es auch. Ich war sicher, du würdest es schaffen, solange noch jemand darunter lag. Ich wusste es einfach. Aber als wir dann draußen waren …“

„Ganz ruhig.“ Rhys wiegte sie so zärtlich, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Alle Willenskraft floss aus ihr heraus. Gleich würde sie anfangen zu weinen, und sie musste doch stark sein. „Wir sind alle gerettet worden. Denke nicht daran, was hätte passieren können, sonst bekommst du Albträume.“

„Ich weiß.“ Thea schnüffelte. Er durfte nicht merken, wie sehr die Berührung seines Körpers und seine Umarmung sie aufwühlte.

„Du darfst jetzt nicht weinen, Thea.“

„Tue ich nicht.“

„Du schnüffelst.“ Er lachte leise. „Jede andere Frau würde eher sterben, als in meinen Armen so etwas Prosaisches zu tun.“ Jede andere Frau läge in seinen Armen, weil er sie begehrte. „Keine Frau, die ich kenne, wäre so mutig gewesen wie du, als du das Baby gerettet hast. Alles in Ordnung?“

„Hmm.“ Sie lockerte den Druck ihrer Arme um seinen Hals und lehnte sich zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen. Seine Anerkennung war beinahe zu viel für sie. „Danke“, sagte sie und unterdrückte die Tränen.

Sein Mund war ihrem ganz nah. Wie war das geschehen? Sein Atem duftete nach Kaffee und Honig, und seine Lippen waren halb geöffnet. Seine Augen funkelten hell und entschlossen, sie neigte sich ihm zu. Eine seiner Hände hob er an ihr Haar und tastete nach den Nadeln darin. Was hatte er vor? Ungeschickt benutzte er seine zerschrammten, verletzten Finger, und die Haarnadeln fielen klirrend zu Boden. Thea spürte, wie ihre elegante Frisur sich auflöste. Mit den Handflächen fing er die Haarpracht auf.

„Weich, braun, wie duftende Seide“, murmelte er.

„Rhys?“

„Thea.“ Sie sah, dass seine Kehle sich bewegte, weil er schluckte. Seine Stimme klang rau, als er sagte: „Ich wollte wissen, wie sie offen aussehen. Wunderschön, ganz lebendig.“

„Mausbraun“, sagte sie protestierend.

„Hübsche Maus.“

Sie holte tief Luft und stellte fest, dass sie den Atem angehalten hatte, seit er ihre Haare berührt hatte. Was geschieht hier? Einer von uns muss vernünftig sein. „Ich glaube, wir haben heute beide einen gehörigen Schrecken davongetragen. Vielleicht sind wir noch nicht wieder richtig zu uns gekommen und sollten uns vor dem Dinner hinlegen.“

Einen Augenblick lang las sie die Gedanken in seinen Augen. Er glaubte für einen Moment, dass sie vorschlug, sich gemeinsam auf sein Bett zu legen und … Bitte. Hatte sie das laut gesagt?

Rhys’ Gesicht erstarrte zur ausdruckslosen Maske. Sie trat einen Schritt zurück, und er nahm seine Hände aus ihren Haaren, die ihr nun offen über den Rücken fielen.

„Das ist eine gute Idee“, meinte Rhys.

Thea bückte sich, um die Haarnadeln aufzusammeln, und warf ihre Haare über die Schultern. Hübsche Maus … Was bedeutet das? Oh Rhys …

Was hätte er wohl getan, wenn sie sich nicht zurückgezogen, sondern ihre Lippen auf seine gelegt und einen Kuss gefordert hätte?

Sie drehte sich um, aber er schaute ihr nicht nach, als sie das Zimmer verließ. Thea zwang sich dazu, würdevoll zu gehen, anstatt schnell davonzurennen.

Das Dinner verlief anders als sonst. Wahrscheinlich deshalb, weil sie noch nie mit Rhys in der Gesellschaft von jemand anderem gegessen hatte. Es fühlte sich an, als wären sie ein Paar, das einen Gast unterhält, und das kam ihren törichten Tagträumen gefährlich nahe. Darum widmete Thea ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich Giles, dem es nach der ärztlichen Behandlung erstaunlich gut ging.

Sie tauschten ihre Eindrücke von Paris aus, und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er bei einem Unfall einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte und dann unter einer Kutsche fast zerquetscht worden wäre. Er musste zäher sein, als seine schlanke Figur es erahnen ließ.

„Werden Sie bei Carstairs eine dauerhafte Anstellung bekommen, Benton?“, fragte Rhys. Er war etwas blasser als gewöhnlich, seine Hände waren mit Schrammen übersät, aber ansonsten schien er sich etwas erholt zu haben. Vielleicht bildete sie sich die seltsame Wachsamkeit in seinem Verhalten nur ein.

„Ja, ich kann wirklich von Glück sagen. Da ich im letzten Jahr bereits als sein Assistent gearbeitet habe, weiß er, dass ich der Richtige für diese Aufgabe bin.“

„Er ist ein einflussreicher Mann. Haben Sie selbst auch politische Ambitionen?“

„Ich hoffe irgendwann auf einen Sitz im Parlament, wenn ich Seine Lordschaft und die Partei davon überzeugen kann. Wie Sie selbst wissen …“

„Lassen Sie uns nicht über mich diskutieren.“ Thea hätte schwören können, dass Rhys Giles einen warnenden Blick zuwarf. Worum ging es hier? „Und werden Sie in seinem Haus wohnen?“

Thea schüttelte fast unmerklich den Kopf, aber Rhys nahm es nicht zur Kenntnis.

„Ich habe ein eigenes kleines Haus in der Stadt, obwohl Lady Carstairs mir sowohl in ihrem Stadthaus als auch auf dem Landsitz eine Wohnung zur Verfügung stellt.“

„Es ist bewundernswert, dass Lord und Lady Carstairs so viele Interessen teilen“, bemerkte Thea, bevor Rhys fragen konnte, wie hoch das Gehalt war oder etwas ähnlich Aufdringliches. „So viele gesellschaftlich hochstehende Ehepaare leben distanziert voneinander.“

„Ist das denn so schlecht?“, meinte Rhys. „Die meisten Ehen werden doch aus Gründen der Zweckmäßigkeit geschlossen, nicht wegen gemeinsamer Interessen. Oder aus Leidenschaft“, fügte er sardonisch hinzu. „Mir würde es nicht gefallen, meine Frau ständig um mich zu haben.“

„Das sehe ich ganz anders“, widersprach Thea. „Dies ist ein weiterer Grund, warum ich nicht ohne … Zuneigung heiraten würde. Denken Sie auch so, Giles?“

„Ich stimme Ihnen voll und ganz zu, Althea. Da ist noch die Frage der Gefängnisreform, für die Lady Carstairs sich einsetzt …“

Zehn Minuten später räumten die Diener den Tisch ab, um das Dessert zu servieren. Es fiel Thea auf, dass sie sich die ganze Zeit sehr ernsthaft unterhalten hatten, Rhys jedoch ganz offensichtlich nicht über Fragen der Sozialpolitik diskutieren wollte.

Ein bisschen schuldbewusst schaute sie zu Rhys hinüber. Sein Gesichtsausdruck sah merkwürdig zufrieden aus, fand sie, obwohl er eigentlich von dieser Unterhaltung sehr gelangweilt sein müsste. Als er ihren forschenden Blick bemerkte, machte Rhys ein unschuldiges Gesicht. Sie hätte beinahe gelacht.

Diesen Blick kannte sie nur zu gut. Er führte irgendetwas im Schilde. Aber was mochte er planen? Sie begnügte sich damit, tadelnd den Kopf zu schütteln. „Können wir morgen etwas für dich mitbringen? Giles und ich möchten die Kathedrale besuchen und dann die Stadt besichtigen.“

„Und die Geschäfte?“

„Aber Rhys, wir sind in Lyon. Seide! Du erwartest doch wohl nicht von mir, die feinste Seide von ganz Frankreich, wenn nicht von ganz Europa, zu ignorieren?“

„Ich erwarte, dass Benton unter dem Gewicht deiner Einkäufe wankt, wenn ihr zurückkommt.“ Er sprach in ernsthaftem Ton zu Giles. „Ich rate Ihnen, mindestens einen kräftigen Diener mitzunehmen, sonst werfen Sie Ihre Genesung um Tage zurück.“

„Vermutlich haben Sie recht, Denham. Ich interessiere mich sehr für Gewerbe und Wirtschaft und beabsichtige deshalb, mir Notizen zu machen, während Lady Althea ihre Einkäufe erledigt.“

„Sie sollten ihr vielleicht Ratschläge geben, welches Grün am besten zu ihren Augen passt“, bemerkte Rhys. Thea verstummte überrascht, Giles schaute ihn nur verwirrt an.

Obwohl Rhys es bis Lyon so eilig gehabt hatte, verzögerte er jetzt ihre Weiterreise. Thea schien es, als kämen sie nur noch im Schneckentempo voran. Zuerst verstand sie den Grund dafür nicht, aber als sie in Valence ankamen, fragte sie Rhys danach. Widerstrebend gab er zu, dass ihn die Wunden noch schmerzten.

„Wenn du nicht immer nur reiten würdest, ginge es dir sicher etwas besser“, meinte sie und überlegte, ob sie ihn wohl zu einem Blick auf seinen Rücken überreden konnte. Es war so untypisch für Rhys, eine Schwäche zuzugeben.

„Sollte ich den Anstandswauwau spielen?“, erkundigte er sich.

„Wovon sprichst du? Du bist sehr willkommen in der Kutsche! Ich habe wohl kaum zu Giles ein Verhältnis, bei dem du stören würdest.“

Er hob eine Hand, um ihren Protest abzuwehren. „Ich habe nicht gesagt, dass du einen Aufpasser brauchst.“ Er sah sie scharf an, und Thea errötete.

„Du bist ausgesprochen lächerlich“, murrte Thea. „Selbstverständlich flirte ich nicht mit Giles, sondern freue mich über seine Gesellschaft und die Gespräche mit ihm. Selbst wenn ich es versuchen würde, wäre Giles viel zu ernsthaft für so etwas“, fügte sie hinzu.

Giles war tatsächlich sehr ernsthaft und intelligent, und sie hatte ihn mittlerweile ins Herz geschlossen. Aber niemand glaubte doch wohl, dass sie sich in Giles verliebte? Wie konnte irgendeine Frau Giles Benton bevorzugen, wenn ein Rhys Denham neben dem Wagen ritt?

Autor

Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
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