Heirate lieber mich!

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"Stoppt die Hochzeit!" Erin traut ihren Ohren nicht, als die tiefe Stimme in der Kirche erklingt. O mein Gott, was macht Dimitri Makarov hier? Wer hat dem Milliardär verraten, dass sie heute heiratet und einen Sohn hat - seinen Sohn?


  • Erscheinungstag 24.12.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505062
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es hatte nichts zu bedeuten. Es war nur ein Mittel zum Zweck. Einige Worte, eine Unterschrift und danach …

Erin schluckte, als das weiße Seidenkleid ihre Beine umspielte. Danach würde sie sich eine bessere Zukunft aufbauen können. Und vor allem würde sie abgesichert sein – und genau darum ging es doch, oder?

Aber sie spürte, wie ihre Hände feucht wurden, als sie den Strauß umklammerte, den sie auf Wunsch ihres Bräutigams gekauft hatte, damit die Heirat glaubwürdiger wirkte. Und sie fragte sich, ob ihr gezwungenes strahlendes Lächeln diese tatsächlich glaubwürdig erscheinen ließ. Erin bezweifelte es.

Als sie auf den Schreibtisch der Standesbeamtin zuging und ihr Blick in einen Spiegel fiel, stellte sie fest, dass sie aschfahl im Gesicht war. Neben ihr stand ein guter Freund, den sie – zumindest bis zum Ende der Zeremonie – zu lieben vorgeben musste. Und das war das Schwierigste überhaupt.

Denn sie glaubte nicht an die Liebe. Sie hatte es früher einmal getan, doch es hatte sie nur in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Liebe etwas für Narren war. Und war sie nicht die größte Närrin von allen gewesen? Sie hatte sich einen Mann ausgesucht, der es ganz und gar nicht wert gewesen war, geliebt zu werden.

Die beiden Trauzeugen saßen schweigend da, und die Standesbeamtin, eine hübsche Frau mittleren Alters, lächelte auch, doch Erin glaubte einen argwöhnischen Ausdruck in ihren Augen zu erkennen.

Während die Frau zu sprechen begann, nahm Chico Erins Hand und drückte sie beruhigend.

„Wir sind hier zusammengekommen, um die Eheschließung von Chico und Erin …“

Die Standesbeamtin verstummte kurz, und Erin hörte, wie hinter ihr eine Tür geöffnet und geschlossen wurde. Ihr Herz klopfte allerdings zu heftig, als dass es sie interessierte, wer gerade hereingekommen war.

Und dann stellte die Standesbeamtin die Frage, vor der Erin am meisten graute.

„Sollte einer der Anwesenden einen berechtigten Einwand gegen diese Eheschließung haben, so möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.“

Da. Ich“, durchbrach eine Stimme die Stille.

Der russische Akzent ließ Erin erst erstarren und dann herumwirbeln. Sie wollte nicht glauben, was ihr Herz und ihr Körper bereits zu wissen schienen. Sie hoffte, dass es sich um einen Irrtum handelte.

Doch das war nicht der Fall. Denn sie begegnete dem Blick eisblauer Augen, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Dies hier passierte wirklich. Und wie immer beherrschte Dimitri Makarov mit seinem einzigartigen Sex-Appeal und der Aura der Macht, die ihn umgab, vollkommen den Raum.

Unwillkürlich verstärkte sie den Griff um den Brautstrauß, während sie ihn stumm und starr ansah. Dimitri trug einen silbergrauen Anzug, der seine muskulöse Statur unterstrich, und im künstlichen Licht schimmerte sein Haar golden. Er war jeder Zoll der privilegierte Milliardär, als er sie nun eisig musterte. Aber irgendetwas an ihm war anders. Die müden Augen und der obligatorische Dreitagebart hatten ihm früher etwas Anrüchiges verliehen. Dieser Mann hingegen war glatt rasiert, und seine Augen wirkten klar und … durchdringend.

„Dimitri“, flüsterte Erin.

Da“, erwiderte Dimitri mit einem spöttischen Unterton, doch sein Gesichtsausdruck ließ sie frösteln. „Freust du dich, mich zu sehen, Erin?“

Er weiß es, dachte sie. Aber das konnte nicht sein.

Seit ihrer letzten Begegnung, als er ihr klargemacht hatte, wie wenig sie ihm bedeutete, waren mehr als sechs Jahre vergangen. Mehr als deutlich hatte er sie spürenlassen, dass sie für ihn nie etwas anderes als eine Angestellte gewesen war, und dann hatte er sie einfach gehen lassen, weil sie ihm zu nahegekommen war – viel zu nahe.

Erin dachte an Leo und den Grund für diese Hochzeit. An alles, wofür sie gekämpft hatte. Erneut rang sie sich ein Lächeln ab, denn wenn sie Dimitri gegenüber auch nur die geringste Schwäche zeigte, würde er es gnadenlos ausnutzen.

„Kein besonders gutes Timing“, sagte sie betont lässig.

„Nein, mein Timing hätte nicht besser sein können.“

„Ich bin gerade im Begriff zu heiraten, Dimitri. Und zwar Chico.“

„Wohl kaum.“ Er ließ den Blick zu Chico schweifen, der ihn mit einem alarmierten Ausdruck in den Augen ansah.

„Gibt es ein Problem?“, erkundigte die Standesbeamtin sich freundlich, bevor sie zu dem Telefon auf ihrem Schreibtisch blickte.

„Ein Problem rein emotionaler Natur“, erwiderte Dimitri gewandt, während er langsam auf Erin zuzugehen begann.

Sie verspannte sich, und während ihr Körper automatisch auf ihn reagierte, wurde ihr die Ironie seiner Worte bewusst. Gefühle waren Dimitri Makarov völlig fremd.

„Miss Turner?“ Die Standesbeamtin sah sie fragend an, als würde sie neugierig auf das Ende der überraschenden Einlage warten.

Diese war allerdings längst nicht vorbei. Nun blieb Dimitri vor Erin stehen, und ihr stockte der Atem. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien oder weggestoßen, aber sie war zu nichts dergleichen imstande. Und dann war es zu spät, denn auf einmal zog er sie an sich und hielt sie fest umschlungen. Es schien ihr, als würde sie seine Finger auf der nackten Haut spüren. Tief einatmend blickte sie zu ihm auf, bemerkte das eisige Funkeln seiner Augen, bevor er den Kopf neigte, um sie zu küssen.

Obwohl sie seine Verachtung spürte, öffnete sie automatisch die Lippen und begann zu beben. Benommen gestand sie sich ein, dass Dimitri sie nicht küsste, weil er sie mochte oder begehrte, sondern einzig, um seine Besitzansprüche geltend zu machen. Und trotz allem konnte sie ihm nicht widerstehen und sehnte sich nach Dingen, die sie niemals bekommen würde.

Er zog sie noch enger an sich, sodass sie deutlich seine Erregung spürte. Und obwohl sie es unverschämt von ihm fand, sich hier vor allen Leuten derart aufreizend an sie zu drängen, genoss sie es zugleich und sehnte sich danach, ihn zu spüren. Heiße Wellen der Lust durchfluteten ihren Schoß, und ihre Brüste prickelten, während er fordernd ihre Zunge umspielte. Verzweifelt fragte sie sich, warum nur Dimitri solche Empfindungen in ihr weckten konnte.

Würde Chico etwas unternehmen? Doch selbst wenn, was konnte er schon tun? Wie konnte er Dimitri in die Flucht schlagen, wenn sie im Begriff waren, nur deswegen eine Ehe einzugehen, damit er seine Arbeitserlaubnis bekam?

Der Brautstrauß fiel zu Boden, und Erin fürchtete schon, das Gleichgewicht zu verlieren, als Dimitri sich unvermittelt von ihr löste. Seine Züge wirkten angespannt, und in seinen Augen lag ein warnender Ausdruck, dessen Bedeutung sie sofort verstand. Schließlich hatte sie jahrelang für ihn gearbeitet und wusste, wie er sich verhielt – zumindest meistens. Tu nichts Falsches, hieß es, und sofort rebellierte etwas in ihr.

Bildete er sich wirklich ein, er könnte nach allem, was er ihr angetan hatte, einfach wieder in ihrem Leben auftauchen und die Regie übernehmen? Denn Dimitri war ein Mensch, der nur nahm und nie etwas zurückgab. Und sie würde sich nie wieder etwas von ihm wegnehmen lassen. Es gab gute Gründe, warum er in ihrem Leben keine Rolle mehr spielte, und noch bessere dafür, dass es auch so bleiben sollte.

„Wie kannst du es wagen?“, fuhr sie ihn mit bebender Stimme an. „Was, zum Teufel, soll das?“

„Das weißt du ganz genau, Erin.“

„Das kannst du nicht tun.“ Herausfordernd hob Erin das Kinn.

Wieder funkelten seine Augen. „Und ob ich es kann!“

„Würde mir bitte jemand erklären, was hier los ist?“, erkundigte sich die Standesbeamtin, immer noch höflich, aber mit einem gereizten Unterton.

„Es wird keine Hochzeit geben“, antwortete Dimitri. „Stimmt’s, Erin?“

Alle betrachteten sie. Chico. Die beiden Trauzeugen, zwei Fremde, die sie auf der Straße angesprochen hatten. Die Standesbeamtin. Erin nahm allerdings nur Dimitris Gesicht und den drohenden Ausdruck in seinen Augen wahr. Und plötzlich wurde sie unsicher.

Dann blickte sie Chico an, der sie irritiert ansah. Ob ihm klar war, dass er alles riskierte, wenn er Dimitri die Stirn zu bieten wagte? Oder hatte der Russe ihn schon in seine Schranken gewiesen, indem er seine zukünftige Braut vor allen küsste?

Aber all das spielte keine Rolle. Nicht wirklich. Nur Leo war wichtig, und sie wollte seine Lebensgrundlage nicht aufs Spiel setzen. Eine Frau, die man vor Gericht stellte, weil sie eine Scheinehe eingegangen war, eignete sich nichts als Mutter, und womöglich drohte ihr sogar eine Haftstrafe. Energisch presste Erin die Lippen zusammen, denn so etwas sollte ihrem geliebten Sohn niemals widerfahren. Tat sie dies nicht, um ihm eine sichere Zukunft und Geborgenheit zu garantieren, etwas, was sie nie gehabt hatte?

„Ich fürchte, es sieht so aus, als müssten wir die Trauung verschieben“, versuchte sie sich zu entschuldigen, doch was hätte sie in einer so bizarren Situation auch sagen sollen? Nervös blickte sie sich um. „Dimitri ist …“

„Der einzige Mann, den sie wirklich will – wie ihre öffentliche Kapitulation gerade bewiesen hat“, warf der Russe ebenso kühl wie arrogant ein. „Stimmt’s, Erin?“

Und nun verriet der Ausdruck in seinen Augen noch mehr. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Dimitri wusste Bescheid! Hatte er von Leo erfahren?

In einem Anflug von Panik fragte sie sich, wie er reagieren würde, wenn sie ihr langes Kleid zusammenraffte und weglief. Sie könnte ihr Brautkleid in dem Secondhandladen zurückgeben, in dem sie es gekauft hatte. Sie konnte Leo selbst von der Schule abholen und ihm erzählen, dass seine Mummy doch nicht verreisen und sie nicht in ein großes Haus auf dem Land ziehen würden.

Wenn sie vor Dimitri weglief, würde sie irgendwie klarkommen, auch wenn sie ihre derzeitigen Probleme damit nicht löste. Doch er hatte ihr besitzergreifend die Hand auf den Rücken gelegt, was gleichzeitig Verlangen und Furcht in ihr weckte. Und sie wusste, dass sie in nächster Zeit nirgendwohin fliehen würde.

„So etwas kommt sicher ständig vor“, fuhr er gewandt fort. „Dass die Braut kalte Füße bekommt, wenn ihr klar wird, dass sie einen großen Fehler gemacht hat.“

Die Standesbeamtin legte ihren Stift weg. „Vielleicht möchten Sie für den Moment den Raum verlassen und Ihre Probleme woanders lösen?“, schlug sie leise vor.

„Gibt es hier irgendeinen Raum, in dem wir uns ungestört unterhalten können?“, fragte Dimitri freundlich, aber entschlossen. Dann lächelte er strahlend. „Bitte.“

Sofort verschwand ihr missbilligender Gesichtsausdruck. „Ja“, räumte sie widerstrebend ein. „Aber beeilen Sie sich bitte.“

„Oh, ich brauche nicht lange, um zu sagen, was ich sagen muss“, erwiderte Dimitri deutlich.

„Dann folgen Sie mir.“

Während sie der Standesbeamtin in den Flur folgten, verließen die beiden Trauzeugen das Gebäude. Erin bemerkte Chicos entgeisterte Miene, als Dimitri sie an ihm vorbeiführte. Die Frau öffnete die Tür zu einem spärlich möblierten Raum, und nun, da der erste Schock ein wenig abklang, gewann Erin allmählich ihr Gleichgewicht wieder. Vergiss nicht, dass du gute Gründe für diese Scheinehe hattest, rief sie sich ins Gedächtnis.

Und dort draußen stand ein verwirrter Mann, der für sie immer ein guter Freund gewesen war.

Sie löste sich von Dimitri und funkelte ihn an. „Ich muss mit Chico reden und ihm alles erklären“, funkelte sie ihn an, obwohl sie sich nicht sicher war, wie sie Chico alles erklären sollte. „Warte hier auf mich.“

Doch er umfasste ihr Handgelenk. „Okay, rede mit ihm, wenn es sein muss, aber mach es kurz. Und komm wieder, Erin“, fügte er eisig hinzu. „Denn wenn du wegläufst, werde ich dich finden.“

Nachdem sie sich von ihm gelöst hatte, ging sie zu Chico zurück und versuchte ihm beizubringen, warum es keine Hochzeit geben würde. Beim Anblick seiner Miene krampfte sich ihr Herz zusammen. Als sie jedoch zu Dimitri zurückkehrte, war ihre Bestürzung unverhohlenem Zorn gewichen. Bebend schloss sie die Tür hinter sich. „Dazu hattest du kein Recht!“, fuhr sie ihn an.

„Und ob ich das hatte!“, konterte er. „Und das weißt du auch. Außerdem hast du keinen nennenswerten Widerstand geleistet, stimmt’s?“

„Du Bastard!“

„Bin ich das, Erin?“

„Ja, und ob!“

„Meinst du nicht, dass du mit diesem Ausdruck lieber vorsichtig sein solltest?“

Plötzlich begann sie zu zittern. Er hat keine Macht über dich, sagte sie sich energisch. „Ich gehe jetzt“, erklärte sie und funkelte ihn dabei trotzig an. „Ich möchte nach Hause.“

Sein leises Lachen erfüllte sie mit Angst.

„Wir wissen beide, dass du nirgendwohin gehen wirst – jedenfalls nicht, bevor wir uns unterhalten haben. Also setz dich.“

Erin hätte gern rebelliert, doch insgeheim war sie dankbar, denn sie hatte ganz weiche Knie. Als sie ihm ins Gesicht sah und den entschlossenen Ausdruck bemerkte, verflog dieses Gefühl allerdings sofort. Sie hatte ganz vergessen, wie rücksichtslos Dimitri sein konnte. Wie er Menschen wie Schachfiguren auf einem Brett hin und her schob. Als seine Sekretärin war sie damals gegen seine Launen immun gewesen, weil er sie gemocht und respektiert hatte.

Starr blickte sie ihn an. „Und was jetzt?“

„Und jetzt erzählst du mir alles über deinen brasilianischen Liebhaber“, erklärte er langsam. „Ist er gut im Bett?“

„Chico ist nicht …“ Erin zögerte und fragte sich, wie viel er wusste. „Chico ist nicht mein Liebhaber, wie du bestimmt schon herausgefunden hast. Er ist schwul.“

Dimitri verzog den Mund. „Es ist also keine Liebesheirat?“

„Wohl kaum.“

„Du heiratest einen Schwulen“, meinte er. „Der dich vermutlich dafür bezahlt. Vielleicht braucht er eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis.“ Seine Augen funkelten. „Habe ich recht, Erin?“

Verriet ihre Miene sie etwa? Wirkte sie schuldbewusst?

„Und das ist strafbar“, fuhr er leise fort.

Erneut funkelte Erin ihn an und sagte sich, dass Angriff die beste Verteidigung war. „Bist du deswegen aus heiterem Himmel hier aufgetaucht – um mir das Gesetz zu erklären?“ Sie zwang sich, ihre Angst nicht zu zeigen, obwohl ihr das Herz bis zum Hals klopfte. „Geht es darum, Dimitri? Willst du mich anzeigen?“

Plötzlich veränderte sich seine Miene. Dimitri hatte es offenbar satt, Spielchen zu spielen, und wollte zum Kern der Sache kommen. Sie kannte ihn zu gut.

„Du kennst die Antwort auf diese Frage, Erin. Und zwar seit dem Moment, als du dich umgedreht und mich gesehen hast.“ Seine Augen funkelten kalt. „Oder hattest du vor, meinen Sohn für immer vor mir zu verstecken?“

2. KAPITEL

Als er beobachtete, wie Erin aschfahl wurde, verspürte Dimitri so etwas wie Befriedigung. Sie lehnte den Kopf an die Wand und betrachtete ihn argwöhnisch, die grünen Augen zusammengekniffen. Er wusste nicht, was am meisten wehgetan hatte. Nein, was ihn am meisten aufgebracht hatte. Dass sie es ihm nicht erzählt oder dass sie ihn angelogen hatte, denn früher hatte er Erin Turner für so ziemlich den ehrlichsten Menschen gehalten, der ihm je begegnet war. Und selbst jetzt war sie nicht ehrlich. Er merkte es daran, dass sie blass wurde und sich die Lippen befeuchtete. Sie wäre keine gute Pokerspielerin gewesen.

„Dein Sohn?“, fragte sie, als hätte sie dieses Wort noch nie gehört.

Dies machte ihn nun noch wütender, und Dimitri verspannte sich. Er wagte es nicht zu antworten, bevor er sich wieder im Griff hatte. Er war sechsunddreißig und konnte sich nicht entsinnen, je so zornig gewesen zu sein, nicht einmal seiner unehrlichen Mutter oder seinem korrupten Vater gegenüber. Am liebsten hätte er Erin angeschrien und sie gefragt, warum ausgerechnet sie ihn hintergangen hatte. Allerdings war er lange genug erfolgreich, um zu wissen, dass es viel wirkungsvoller war, seinen Zorn nicht zu zeigen, auch wenn Erin zu den wenigen Menschen gehörte, die ihm seine Gefühle anmerkten.

„Komm schon, Erin“, erwiderte er trügerisch sanft. „Spiel nicht die Unschuldige, denn damit beleidigst du meine Intelligenz. Du hättest dir eine Antwort auf diese Frage zurechtlegen sollen, denn du hast doch bestimmt damit gerechnet, dass ich irgendwann auftauche und sie dir stelle. Oder dachtest du wirklich, ich würde es nie herausfinden?“

Erin war wirklich der Inbegriff des schlechten Gewissens. Er erkannte sie kaum wieder, was ihm tatsächlich Sorgen bereitete. Diese blasse Frau in dem schlecht sitzenden Brautkleid war ganz anders als die Erin von damals. Die kluge, geradlinige Frau, die seit Beendigung ihrer Ausbildung zur Sekretärin jahrelang an seiner Seite gearbeitet hatte. Die anders als alle anderen niemals mit ihm geflirtet und ihm somit jede Menge Respekt abgenötigt hatte. Sie war der Mensch gewesen, dem er uneingeschränkten Zugang zu allen Bereichen seines Lebens gewährt hatte. Der einzige Mensch, dem er je vertraut hatte. Und ja, dieses eine Mal mit ihr zu schlafen war ein Fehler gewesen. Danach hatte er sehr bald festgestellt, dass es zwischen ihnen nie wieder so sein würde wie vorher. Aber trotzdem … Wie hatte sie es wagen können, ihm die Folgen jener Nacht so lange vorzuenthalten?

„Du wirst es doch nicht leugnen, oder, Erin?“, fuhr Dimitri spöttisch fort. „Das kannst du nämlich nicht.“

Erin öffnete die Lippen und erschauerte, woraufhin er instinktiv sein Jackett auszog und es ihr über die schmalen Schultern legte. Sie ertrank förmlich darin, und das helle Grau ließ sie noch fahler erscheinen, als sie es ohnehin schon war. Verärgert presste er die Lippen zusammen. Falls sie glaubte, sie könnte ihn aus ihren großen grünen Augen anblicken und damit sein Mitleid wecken, hatte sie sich getäuscht. Gründlich sogar.

Im nächsten Moment klopfte es an der Tür, und eine Frau steckte den Kopf herein. Nachdem sie sich entschuldigt hatte, verschwand sie wieder.

„Lass uns von hier verschwinden“, entschied Dimitri kühl.

Dann zog er Erin hoch und führte sie aus dem Gebäude, wo ihnen der kalte Herbstwind entgegenblies. Sofort fuhr sein Chauffeur in der schwarzen Limousine vor, Dimitri öffnete die Tür und dirigierte Erin in den Fond. Sobald er neben ihr saß, klopfte er an die Trennscheibe, und sein Chauffeur fuhr los.

„Wohin fahren wir?“ Alarmiert blickte sie sich um.

„Nicht so melodramatisch“, warnte er sie scharf. „Wir müssen uns unterhalten. Also, zu mir oder zu dir?“

Erin verzog das Gesicht, als hätte er sie gerade vor die Wahl gestellt, sich zwischen zwei Giftbechern entscheiden zu müssen. Sie biss sich auf die Lippe, und plötzlich wallte die Erinnerung an den Kuss im Standesamt in ihm auf. Mit diesem hatte er seinem Zorn und seinem Wunsch, die Kontrolle zu übernehmen, Ausdruck verleihen wollen. Und diesem Chico zeigen wollen, wer hier der Boss war – als hätte es eines solchen Beweises überhaupt bedurft. Zu seinem Leidwesen war allerdings großes Verlangen in ihm erwacht, und es fiel ihm schwer, Erin nicht wieder zu küssen. Sie nicht an sich zu ziehen und ihren wundervollen Körper zu spüren, der sich bei seinen Liebkosungen wie eine Blüte öffnete. Er hatte ganz vergessen, dass sie sofort in Flammen stand, wenn er sie nur berührte. Dass sich hinter ihrem eher durchschnittlichen Äußeren eine heißblütige Frau verbarg.

Nun schluckte Erin. „Warum können wir uns nicht einfach hier unterhalten?“

„Ich glaube, du kennst die Antwort darauf, Erin. Abgesehen davon, dass ich völlig ungestört sein möchte – und mein Fahrer spricht nicht nur fließend Englisch, sondern auch Russisch –, möchte ich nicht auf so engem Raum mit dir zusammen sein, wenn wir etwas besprechen, was ich immer noch nicht begreifen kann.“ Schroffer fuhr er fort: „Zu erfahren, dass ich einen Sohn habe und du ihn all die Jahre vor mir versteckt hast, ist schlimm genug, und ich könnte mich vielleicht zu etwas hinreißen lassen, was ich später bereue. Also entscheide dich, wohin wir fahren, sonst tue ich es.“

Erin zog das Jackett enger um sich. Sie war froh, dass sie nicht mehr fror, doch leider haftete ihm Dimitris markanter Duft an. Sie befand sich in einem Dilemma, denn sie wollte ihn nicht mit in die kleine Wohnung nehmen, die sie mit Leo und ihrer Schwester Tara teilte. Nicht weil sie sich der eher bescheidenen Unterkunft schämte, sondern weil sie Angst davor hatte, dass er Leo sah. Angst davor, dass er den Jungen einfach mitnahm und glaubte, es wäre sein gutes Recht. Denn hätte sie im umgekehrten Fall nicht etwas Ähnliches getan? Wenn sie herausgefunden hätte, dass jemand ihr selbst ihr Fleisch und Blut jahrelang vorenthalten hätte?

Verzweiflung erfüllte sie, als Erin überlegte, was vor ihr lag, und sie wusste, dass weitere Lügen und Ausflüchte sinnlos waren. Außerdem, wie oft in all den Jahren hatte sie zum Telefon gegriffen, um Dimitri von dem blauäugigen kleinen Jungen zu erzählen, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war? Hatte es ihr nicht manchmal das Herz zerrissen, weil sie Leo den Kontakt zu seinem Vater verwehrte? Bis sie sich gezwungen hatte, sich die Wahrheit über diesen Mann und seinen verwerflichen Lebensstil ins Gedächtnis zu rufen.

Sie erinnerte sich an die vielen Stunden, die er in Nachtclubs, Bars und Casinos verbracht hatte, wo er unter dem Einfluss von Wodka oder Whisky Millionen verspielt hatte, als wäre es Kleingeld. Sie erinnerte sich an all die Frauen, mit denen er im Bett gewesen war – Frauen in knappen Kleidern und mit hohen Absätzen, die eine gefährliche Art von Glamour ausstrahlten. Und auf keinen Fall sollte ihr Sohn in dem Glauben aufwachsen, dass solche Frauen die Norm waren. Wer wusste denn schon, ob die Kreise, in denen Dimitri verkehrte, ihren unschuldigen Sohn verderben würden?

Und sie erinnerte sich an die Kälte, die er ihr am Morgen nach jener Nacht entgegengebracht hatte – an seine schockierte Miene, als er die Augen öffnete und sah, wer neben ihm lag. Mit dem braunen Haar und dem eher knabenhaften Körper war sie das krasse Gegenteil von den Frauen gewesen, mit denen er normalerweise schlief. Kein Wunder, dass er es nicht hatte erwarten können, von ihr wegzukommen.

„Lass uns lieber zu dir fahren“, entschied Erin daher mit einem resignierten Unterton.

Dimitri presste die Lippen zusammen, bevor er an die Scheibe klopfte und auf Englisch mit seinem Chauffeur sprach, der daraufhin links abbog und in Richtung Docklands fuhr.

Als Dimitri dann einen Anruf erhielt und Russisch sprach, war sie zuerst perplex. Bis ihr einfiel, dass seine Fähigkeit, von einer Sprache in die andere zu wechseln, schon immer beeindruckend gewesen war. Und er manipulierte seine Mitmenschen – das war einer der Gründe für seinen geradezu beängstigenden Erfolg.

Schließlich hielt der Chauffeur vor dem Hochhaus, in dem sich Dimitris Penthouse mit Blick auf die Themse befand. Ein schreckliches Gefühl von Déjà-vu erfüllte Erin, als sie ihn in das beeindruckende Marmorfoyer begleitete. Früher war sie manchmal hierhergekommen, um Diktate aufzunehmen, wenn ihr Chef sich gerade auf eine Reise ins Ausland vorbereitete, und sie hatte diesen Ort immer gemocht – ein ebenso nüchternes wie luxuriöses Apartment, das so ganz anders war als ihre Mietwohnung. Sie hatte den Blick auf die Themse gemocht und es faszinierend gefunden, dass man die Jalousien per Knopfdruck hinunterlassen konnte. So ziemlich alles hier hatte ihr gefallen – bis zu dem Abend, als sie eine Grenze überschritten hatte. Als Dimitri zum ersten Mal verletzlich gewirkt und sie ihm Trost geboten hatte.

Und er hatte ihr auf seinem großen Esstisch die Unschuld geraubt, indem er ihr wie von Sinnen den Slip hinuntergerissen hatte und mit einem beinah animalischen Stöhnen in sie eingedrungen war.

Der Pförtner musterte sie von oben bis unten, als sie in ihrem schlecht sitzenden weißen Kleid und mit Dimitris Jackett über den Schultern das Foyer durchschritt. Für einen Moment fühlte sie sich wie eine Verrückte, vor allem als Dimitri sie schnell in den Aufzug schob.

„Schnell“, sagte er, während er auf den Knopf drückte. „Es schadet meinem Ruf, wenn man mich in Begleitung einer Frau in einem Brautkleid aus zweiter Hand sieht.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass dein Ruf noch schlechter werden kann!“

Autor

Sharon Kendrick
<p>Fast ihr ganzes Leben lang hat sich Sharon Kendrick Geschichten ausgedacht. Ihr erstes Buch, das von eineiigen Zwillingen handelte, die böse Mächte in ihrem Internat bekämpften, schrieb sie mit elf Jahren! Allerdings wurde der Roman nie veröffentlicht, und das Manuskript existiert leider nicht mehr. Sharon träumte davon, Journalistin zu werden,...
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