Heißkalte Angst

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Vier spannende Thriller der internationalen Bestsellerautorin Tess Gerritsen!

Der Anruf kam nach Mitternacht

Auf der Suche nach dem Mörder ihres Mannes hat Sarah nur einen Verbündeten: den verführerischen Nick O`Hara. Noch bevor sie verstehen, was passiert, sind sie jedoch Gejagte in einem riskanten Spiel, in dem Informationen alles und Menschenleben nichts bedeuten.

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  • Erscheinungstag 10.03.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766092
  • Seitenanzahl 672
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tess Gerritsen

Heißkalte Angst

PROLOG

Berlin

Um einen Menschen bewusstlos zu machen, ist zwanzig Sekunden lang ein starker Druck auf die Halsschlagader notwendig. Bei zwei Minuten tritt bereits unweigerlich der Tod ein. Simon Dance benötigte kein medizinisches Handbuch, um diese Informationen nachzuschlagen – er wusste es aus Erfahrung. Er wusste auch, dass man die Schlinge ganz fest zuziehen muss, denn wenn der Strang nicht ganz straff ist, wenn auch nur das geringste bisschen lebenswichtige Blut in das Gehirn des Opfers gelangen sollte, dann würde der Todeskampf unnötig hinausgezögert, ja, die Situation sogar gefährlich werden. Niemand kämpft verbissener als ein sterbender Mensch.

In der Dunkelheit lauernd wickelte sich Dance die Schlinge zweimal um die Hände und warf einen Blick auf die Leuchtziffern seiner Uhr. Zwei Stunden waren verstrichen, seit er das Licht ausgemacht hatte. Sein Mörder war offensichtlich ein vorsichtiger Mensch, der sichergehen wollte, dass Dance auch tief schlief. Wenn der Mann ein Berufskiller war, dann würde er wissen, dass die ersten zwei Stunden Schlaf die intensivsten waren. Jetzt war die Zeit für den Angriff gekommen.

Draußen im Korridor war plötzlich ein Schritt zu hören. Dance stand vorsichtig und angespannt auf und wartete neben der Tür. Es war stockdunkel. Dance ignorierte sein eigenes Herzklopfen. Er spürte, wie der gewohnte Adrenalinstoß seine Reflexe hellwach sein ließ, und er spannte die Schlinge zwischen seinen Händen.

Ein Schlüssel wurde vorsichtig in das Türschloss gesteckt. Dance vernahm das metallische Geräusch des Bartes, der über das Metall kratzte. Der Schlüssel wurde umgedreht, und das Schloss sprang mit einem Klicken auf. Langsam wurde die Tür geöffnet, und das Licht des Korridors fiel durch den Spalt. Ein Schatten bewegte sich durch den Raum auf das Bett zu, wo jemand zu schlafen schien. Der Schatten hob einen Arm. Drei Kugeln wurden aus dem Schalldämpfer in die Kissen abgefeuert. Als die dritte Kugel einschlug, sprang Dance hervor.

Er warf die Schlinge um den Hals des Eindringlings, riss sie nach oben und sofort zurück. Sie drückte genau auf den kritischsten Punkt der Halsschlagader, direkt unter dem Unterkiefer. Die Waffe fiel zu Boden. Der Mann wand sich wie ein Fisch an der Angel und versuchte, seine Hände in Dance’ Gesicht zu krallen. Seine Arme und Beine gehorchten ihm jedoch nicht mehr, ruckten und schlugen in alle Richtungen. Dann sackten ihm langsam die Beine weg, er griff noch einmal nach Dance, ehe seine Arme schlaff herabsanken. Während Dance die Sekunden zählte, spürte er die letzten Zuckungen des Körpers, das Aufbäumen des gewürgten Gegners. Er hielt die Schlinge fest zusammengezogen.

Nach drei Minuten lockerte er die Schlinge, und der Körper sackte zu Boden. Dance machte das Licht an und sah auf den Mann hinunter, den er soeben getötet hatte.

Das blau angelaufene Gesicht war ihm irgendwie vertraut. Rasch durchsuchte er die Sachen des Mannes, aber er fand nur Geld, Autoschlüssel und weitere Arbeitsutensilien: Ersatzmunition, ein Schnappmesser, einen Dietrich. Ein namenloser Killer, dachte Dance und überlegte, wie viel man dem Mann wohl gezahlt hatte.

Er zerrte den Körper auf das Bett und warf die drei Kissen beiseite, mit denen er eine unter der Decke liegende Gestalt vorgetäuscht hatte. Er schätzte die Größe des Toten auf einen Meter dreiundachtzig. Also ungefähr meine Größe, dachte er, das ist gut. Dance wechselte mit der Leiche die Kleider, wahrscheinlich war das unnötig, aber er war ein gründlicher Mensch. Dann nahm er seinen Ehering ab und versuchte, ihn dem Toten aufzusetzen, doch der Ring ging nicht über den Knöchel. So ging er ins Badezimmer, seifte den Ring ein und zwang ihn auf diese Weise auf den Finger des Mannes.

Dann setzte er sich hin und rauchte, während er angestrengt überlegte, ob er irgendein Detail übersehen hatte. Natürlich – die drei Kugeln! Er wühlte in den Kissen herum, untersuchte sie aufs Gründlichste und fand endlich auch zwei davon wieder. Die dritte war vermutlich tief in die Matratze eingedrungen. Ehe er noch weiter nachsehen konnte, hörte er plötzlich im Korridor Schritte. Hatte der Mörder noch einen Komplizen?

Dance griff hastig zu seiner Waffe, zielte auf die Tür und wartete. Die Schritte gingen jedoch weiter und verklangen im Korridor. Falscher Alarm. Trotzdem, ich sollte jetzt lieber gehen, sagte er sich. Länger hierzubleiben wäre sehr unklug.

Aus der Schublade der Kommode holte er eine Flasche Methanol. Es würde schnell brennen und keine Spuren hinterlassen. Er schüttete den Alkohol über die Leiche, das Bett und den davorliegenden Teppich. Im Zimmer gab es weder einen Rauchmelder noch eine Sprinkleranlage. Aus diesem Grunde hatte Dance sich für dieses alte Hotel entschieden. Er stellte den Aschenbecher neben das Bett, suchte die Habseligkeiten des Toten zusammen und steckte sie, zusammen mit der leeren Methanolflasche, in eine Mülltüte. Dann setzte er das Bett in Brand.

Zischend loderten die Flammen auf und hüllten Sekunden später die Leiche völlig ein. Dance wartete nur so lange, bis er sicher sein konnte, dass nichts Erkennbares übrig blieb.

Er nahm die Mülltüte, verließ das Zimmer, schloss die Tür ab und ging den Korridor hinunter zum Feuermelder. Er wollte keine unschuldigen Menschen gefährden, schlug deshalb das Glas ein und betätigte den Alarmhebel. Dann eilte er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.

Aus einer der Straße gegenüberliegenden Gasse sah er zu, wie die Flammen aus seinem Fenster schlugen. Das Hotel wurde geräumt, und die Straße war kurz darauf voller schläfriger, notdürftig in Decken gehüllter Leute. Innerhalb von zehn Minuten trafen drei Löschzüge ein. Zu dem Zeitpunkt war Dance’ Zimmer bereits ein loderndes Inferno.

Es dauerte eine Stunde, bis das Feuer gelöscht war. Eine schaulustige Menge hatte sich zu den zitternden Hotelgästen gesellt, und Dance betrachtete ihre Gesichter, um sie sich einzuprägen. Falls er je wieder einem von ihnen begegnen sollte, wäre er gewarnt.

Dann entdeckte er eine schwarze Limousine, die sich langsam einen Weg durch die Menschenmenge bahnte. Er erkannte den im Fond sitzenden Mann. Also auch der CIA war hier. Wie interessant!

Er hatte genug gesehen. Es war schon spät, und er musste sich sofort auf den Weg machen, zurück nach Amsterdam.

Drei Häuserblocks weiter warf er die Tüte mit der leeren Methanolflasche in einen Mülleimer. Damit hatte er sich auch des letzten Beweises entledigt. Er hatte getan, weshalb er nach Berlin gekommen war – er hatte Geoffrey Fontaine getötet. Jetzt war es an der Zeit, zu verschwinden. Leise vor sich hin pfeifend ging er in die Dunkelheit davon.

* * *

Amsterdam

Der alte Mann wurde nachts um drei Uhr mit der Neuigkeit geweckt.

„Geoffrey Fontaine ist tot.“

„Wie?“, fragte der Alte.

„Ein Hotelbrand. Man sagt, er habe im Bett geraucht.“

„Ein Unfall? Unmöglich! Wo ist die Leiche?“

„Im Berliner Leichenschauhaus. Stark verbrannt.“

Natürlich, dachte der alte Mann. Man konnte sich denken, dass die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sein würde. Wie üblich hatte Simon Dance beim Verwischen seiner Spuren hervorragende Arbeit geleistet. Er war ihnen also wieder entwischt.

Doch der Alte hatte noch einen Trumpf im Ärmel. „Du hast mir erzählt, seine Frau sei in Amerika“, sagte er. „Wo lebt sie?“

„In Washington.“

„Ich möchte, dass sie beschattet wird.“

„Aber warum? Ich sagte dir doch gerade, der Mann ist tot.“

„Er ist nicht tot. Er lebt, davon bin ich überzeugt. Und diese Frau könnte wissen, wo er ist. Behaltet sie im Auge.“

„Ich werde meinen Leuten …“

„Nein. Ich werde meinen eigenen Mann schicken. Jemanden, auf den ich mich verlassen kann.“

Eine Pause trat ein. „Ich werde dir ihre Adresse beschaffen.“

Nachdem er aufgelegt hatte, konnte der alte Mann nicht mehr einschlafen. Fünf Jahre hatte er nun gewartet. Fünf Jahre lang hatte er gesucht. Dann war er so kurz davor gewesen, und wieder war es schiefgegangen! Jetzt hing alles davon ab, was diese Frau in Washington wusste.

Er musste sich in Geduld fassen und darauf warten, dass sie sich selbst verriet. Er würde Kronen schicken, einen Mann, der ihn noch nie im Stich gelassen hatte. Kronen hatte seine eigenen Methoden, sich Informationen zu verschaffen – Methoden, denen man schwer widerstehen konnte. Das war nämlich Kronens besondere Begabung – Überredungskraft.

1. KAPITEL

Washington

Mitternacht war schon vorbei, als das Telefon klingelte. Sarah hörte es in ihren Schlaf hineinläuten. Der Klang schien von unendlich weit her zu kommen, als sei es ein Wecker, der in einem anderen Zimmer zu schrillen begonnen hätte. Sie kämpfte mit sich, um munter zu werden, aber sie war in dem Zustand zwischen Tiefschlaf und Halberwachen gefangen. Sie musste ans Telefon gehen. Sie wusste, es war ihr Mann Geoffrey, der anrief.

Sie hatte den ganzen Abend darauf gewartet, seine Stimme zu hören. Es war Mittwochnacht, und auf seinen monatlichen Reisen nach London rief Geoffrey immer mittwochs bei ihr an. Heute Abend war sie allerdings verschnupft und hustend eher zu Bett gegangen, denn in Washington ging mal wieder ein Grippevirus um. Es war die Hongkong-Grippe, eine besonders unangenehme Krankheit, die sie jetzt mit der Hälfte ihrer Kollegen im mikrobiologischen Laboratorium teilte.

Eine Stunde lang hatte sie lesend im Bett gesessen und tapfer darum gekämpft, munter zu bleiben. Aber die Kombination aus einer Antigrippekapsel und der letzten Ausgabe des „Mikrobiologie Journals“ hatten schneller gewirkt als jede Schlaftablette. Innerhalb von Minuten war sie in ihre Kissen gesunken, die Brille immer noch auf der Nase.

Sarah hatte sich vorgenommen, nur ein wenig zu ruhen, nur ein ganz kleines Schläfchen zu halten … Am Ende wurde sie jedoch immer müder, und der Schlaf überfiel sie.

Sie schreckte aus einem Traum hoch und stellte fest, dass die Nachttischlampe noch brannte und das „Mikrobiologie Journal“ auf ihrer Brust lag. Sie konnte nichts richtig im Zimmer erkennen. Sarah schob ihre Brille zurecht und sah auf den Wecker. Zwölf Uhr dreißig. Das Telefon gab keinen Mucks von sich. Hatte es etwa im Traum geläutet?

Sie schrak hoch, als das Telefon erneut klingelte. Hastig nahm sie den Hörer ab.

„Mrs Sarah Fontaine?“, fragte eine männliche Stimme.

Es war nicht Geoffrey, und plötzlich hatte sie eine schreckliche Vorahnung. Irgendetwas stimmte nicht. Sie setzte sich kerzengerade auf und war mit einem Mal hellwach. „Ja. Am Apparat“, sagte sie knapp.

„Mrs Fontaine, hier spricht Nicholas O’Hara vom Außenministerium. Ich bedaure, Sie zu so später Stunde stören zu müssen, aber …“ Er schwieg. Es war dieses Schweigen, das Sarah am meisten erschreckte, weil es zu bewusst eintrat, zu routiniert, gekonnt eingesetzt, um den nachfolgenden Schock zu mildern. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten“, fuhr er fort.

Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Am liebsten hätte sie geschrien: Nun sagen Sie es schon! Erzählen Sie mir, was passiert ist! Aber alles, was sie herausbrachte, war ein Flüstern. „Ja. Ich höre.“

„Es geht um Ihren Gatten Geoffrey“, sagte er. „Es hat einen Unfall gegeben.“

Ich träume, dachte Sarah und schloss die Augen. Wenn Geoffrey etwas passiert wäre, hätte ich es gefühlt. Irgendwie hätte ich es gewusst …

„Es ist vor ungefähr sechs Stunden geschehen“, sprach der Mann weiter. „Im Hotel Ihres Mannes brach ein Feuer aus.“ Er machte eine erneute Pause. Dann fragte er besorgt: „Mrs Fontaine? Sind Sie noch am Apparat?“

„Ja. Bitte, sprechen Sie weiter.“

Der Anrufer räusperte sich. „Es tut mir leid, Mrs Fontaine, es Ihnen sagen zu müssen. Ihr Gatte … ist nicht durchgekommen.“

Der Mann ließ Sarah einen Augenblick der Besinnung, einen Augenblick, um ihren Schmerz zu fassen. Um ihr Schluchzen zu unterdrücken, presste sie sich die Hand vor den Mund. Dieser Schmerz war zu intim, als dass sie einen Fremden davon wissen lassen wollte.

„Mrs Fontaine?“, fragte er dann sanft. „Ist alles okay?“

Schließlich konnte Sarah zitternd wieder sprechen. „Ja“, flüsterte sie.

„Machen Sie sich über die Formalitäten keine Gedanken. Ich werde die Einzelheiten mit unserem Berliner Konsulat klären. Natürlich wird es etwas dauern, aber sobald die deutschen Behörden die Leiche freigegeben haben, müsste eigentlich …“

„Berlin?“, unterbrach Sarah ihn.

„Es liegt in ihrem Zuständigkeitsbereich, müssen Sie wissen. Es wird einen genauen Bericht geben, wenn die Berliner Polizei …“

„Aber das ist doch unmöglich!“

Nicholas O’Hara bemühte sich um Geduld. „Es tut mir leid, Mrs Fontaine. Seine Identität wurde bestätigt. Es gibt wirklich keinen Zweifel an …“

„Aber Geoffrey war in London“, unterbrach sie ihn aufgeregt.

Ein langes Schweigen folgte. „Mrs Fontaine“, sagte der Mann dann mit irritierender Ruhe, „der Unfall ist in Berlin passiert.“

„Dann muss hier ein Irrtum vorliegen. Geoffrey war in London, das weiß ich ganz sicher. Er kann gar nicht in Deutschland gewesen sein!“

Wieder trat eine Pause ein, diesmal länger, und jetzt spürte Sarah, dass der Anrufer verwirrt war. Sie hatte den Hörer so fest an ihr Ohr gedrückt, dass sie einen Augenblick nur das Klopfen ihres eigenen Herzens vernahm. Da musste ein Irrtum vorliegen. Ein völliges Missverständnis. Geoffrey konnte nicht tot sein. Sie sah ihn vor sich, wie er über die absurde Meldung seines eigenen Todes lachen würde. Ja, sie würden darüber lachen, wenn er wieder zu Hause war.

„Mrs Fontaine, bitte“, sagte der Mann schließlich. „In welchem Hotel war Ihr Mann in London abgestiegen?“

„Im … im Savoy. Ich muss die Telefonnummer hier irgendwo haben … Ich muss schnell nachsehen …“

„Schon gut, ich werde sie selbst herausfinden. Ich werde mich telefonisch erkundigen. – Vielleicht sollten wir uns morgen früh treffen.“ Seine Worte klangen gemessen und vorsichtig, ausgesprochen mit der gefühllosen Routine eines Bürokraten, der gelernt hatte, nichts preiszugeben. „Könnten Sie bitte in mein Büro kommen?“

„Wie … wie komme ich dorthin?“

„Haben Sie einen Wagen?“

„Nein. Ich habe kein Auto.“

„Ich werde Ihnen einen Wagen schicken.“

„Das ist ein Irrtum, nicht wahr? Ich meine … Sie machen doch auch Fehler, oder?“ Sarah wollte nur ein bisschen Hoffnung von ihm haben, einen dünnen Faden, an den sie sich klammern konnte. Wenigstens das hätte er ihr geben können. Zumindest ein bisschen Verständnis hätte er zeigen können.

Aber der Mann sagte nur: „Wir sehen uns dann morgen früh, Mrs Fontaine. So gegen elf Uhr.“

„Warten Sie, bitte! Es tut mir leid, ich kann gar nicht klar denken. Ihr Name … wie war er doch gleich?“

„Nicholas O’Hara.“

„Und wo ist Ihr Büro?“

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen“, sagte er. „Der Fahrer wird Sie herbringen. Gute Nacht.“

„Mr O’Hara?“

Sarah hörte das Summen in der Leitung. Der Mann hatte bereits aufgelegt. Sie rief sofort das Savoy-Hotel in London an. Ein einziger Anruf, und die Sache wäre geklärt. Bitte, dachte sie, bis die Verbindung zustande kam, ich möchte deine Stimme hören …

„Savoy-Hotel“, sagte eine Frauenstimme auf der anderen Seite des Erdballs.

Sarahs Hand zitterte so stark, dass sie kaum den Hörer halten konnte. „Hallo. Verbinden Sie mich bitte mit Mr Geoffrey Fontaines Zimmer“, stieß sie hervor.

„Ich bedaure, gnädige Frau“, erklärte die Stimme, „aber Mr Fontaine ist vor zwei Tagen abgereist.“

„Abgereist?“, rief Sarah. „Wohin denn?“

„Er hat nichts hinterlassen. Falls Sie jedoch eine Nachricht übermittelt haben möchten, werden wir sie selbstverständlich an seine Heimatanschrift …“

Später wusste Sarah nicht, ob sie sich überhaupt verabschiedet hatte. Sie starrte das Telefon an, als wäre es etwas ganz Fremdes, etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Langsam glitt ihr Blick hinüber auf Geoffreys Kopfkissen. Das französische Bett schien sich endlos ausdehnen zu wollen.

Plötzlich war sie allein in einem viel zu großen Bett, allein in einer Wohnung, in der es viel zu still war. Ein Schauer durchrieselte sie, als der stumme Schmerz aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. Sie hatte den verzweifelten Wunsch zu weinen, aber die Tränen wollten nicht kommen.

Sarah warf sich mit dem Gesicht in die Kissen aufs Bett zurück. Die Bezüge waren eiskalt.

Vielleicht kam Geoffrey nie wieder nach Hause. Sie waren erst zwei Monate verheiratet …

Nick O’Hara trank bereits die dritte Tasse Kaffee und lockerte seine Krawatte. Nach zwei Wochen Urlaub, in denen er nichts anderes als eine Badehose getragen hatte, kam er sich mit der Krawatte wie in der Schlinge des Henkers vor. Er war erst seit drei Tagen zurück in Washington und schon wieder gereizt. Im Allgemeinen war ein Urlaub dazu da, neue Kräfte zu tanken, und deshalb war er ja auf die Bahamas geflogen. Er brauchte Zeit, um allein zu sein, sich ein paar wichtige Fragen zu stellen und die Antworten darauf zu finden.

Doch der einzige Schluss, zu dem er gekommen war, bestand darin, dass er sich unglücklich fühlte.

Nach achtjähriger Tätigkeit im Auswärtigen Amt hatte Nick O’Hara die Nase von seinem Job nur allzu voll. Aber das lag nicht ausschließlich an ihm. Mehr und mehr hatte er die Geduld für die politischen Spielereien des Staates verloren … Er war nicht in der Stimmung zu spielen. Er war trotzdem dabeigeblieben, weil er an seinen Job und dessen innere Werte glaubte. Von den Friedensmärschen seiner Jugendzeit war er im besten Alter von achtunddreißig Jahren an die Verhandlungstische für den Weltfrieden gelangt.

Aber Ideale, so hatte er feststellen müssen, führten nirgendwohin. Zum Teufel, die Diplomatie fußte nicht auf Idealen. Wie alles andere auch, lief sie auf den Schienen des Protokolls und parteiorientierter Politik. Während Nick sein protokollgerechtes Verhalten perfektioniert hatte, waren seine politischen Ansichten nicht konformgerecht. Es lag nicht an seinem Unvermögen, es lag an seinem Unwillen.

Nick wusste, in dieser Hinsicht war er ein schlechter Diplomat. Unglücklicherweise schienen die verantwortlichen Stellen darin mit ihm übereinzustimmen. Deshalb war er auf diesen unwichtigen Konsulatsposten in Washington versetzt worden und musste kürzlich verwitweten Frauen die schlechten Nachrichten übermitteln. Sicher, er hätte den Posten ablehnen können und wieder auf seinen bequemen Platz an der American University zurückkehren und dort lehren können. Darüber hatte er nachdenken müssen. Ja, diese zwei Wochen Alleinsein auf den Bahamas hatte er gebraucht.

Was er nicht gebraucht hatte, war, zurückzukommen und in diese Sache zu geraten.

Seufzend schlug er die Akte mit dem Namen Fontaine, Geoffrey H., auf. Eine Kleinigkeit hatte ihm den ganzen Morgen über zu denken gegeben. Seit ein Uhr nachts hatte er vor dem Computer gesessen und jede Einzelheit abgefragt, die er aus der Fülle der Regierungsunterlagen bekommen konnte. Eine halbe Stunde lang hatte er auch mit seinem Kollegen Wes Corrigan im Berliner Konsulat telefoniert. Enttäuscht hatte er sich dann einige weniger übliche Quellen zunutze gemacht. Was als Routinekondolenzanruf bei einer Witwe angefangen hatte, stellte sich als etwas viel Komplizierteres heraus – als Puzzle, in dem Nick nicht über alle Teilchen verfügte.

Wenn es darum ging, so viele Informationen wie möglich zu erhalten, konnte Nick unersättlich sein. Doch als er jetzt die Akte Fontaine zur Hand nahm, hatte er das Gefühl, nichts als Luft in den Händen zu halten – nichts von Bedeutung, außer einem Namen. Und einem Todesfall.

Er sah auf, als die Tür geöffnet wurde. Sein Kollege Tim Greenstein kam herein.

„Volltreffer! Ich habe es!“, sagte Tim. Er legte einen Ordner auf den Schreibtisch und sah Nick mit seinem breiten, etwas dümmlichen Grinsen an, für das er berühmt war. Die meiste Zeit über sah er mit diesem Grinsen auf seinen Computerbildschirm. Tim war eine Art Rettungsengel, der Mann, den jeder rief, wenn die Daten nicht dort waren, wo sie hingehörten. Dicke Brillengläser, die er als Folge eines schon in der Kindheit aufgetretenen grauen Stars tragen musste, verzerrten seinen Blick. Ein buschiger schwarzer Bart verdeckte fast völlig sein Gesicht und ließ nur die bleiche Stirn und die Nase frei.

„Ich sagte doch, ich bekomme es“, erklärte Tim triumphierend und ließ sich in den Nick gegenüberstehenden Ledersessel fallen. „Ich bat meinen Kumpel beim FBI, ein bisschen herumzuschnüffeln. Da er mir mit nichts dienen konnte, habe ich selbst herumgesucht. Es war wirklich nicht einfach, kann ich dir sagen, das aus den Geheimdaten herauszubekommen. Da sitzt so ein neuer Idiot, der seine Sache unbedingt richtig machen will.“

Nick runzelte die Stirn. „Du musstest dir das aus der Sicherheitsabteilung besorgen?“

„Tja. Da ist noch mehr, aber ich kam nicht durch. Ich bekam heraus, dass beim Staatssicherheitsdienst über deinen Mann eine Akte existiert.“

Nick klappte den Ordner auf und blickte erstaunt hinein. Was er sah, warf noch mehr Fragen auf. Fragen, auf die es keine Antworten zu geben schien. „Was zum Teufel soll das eigentlich bedeuten?“, murmelte er verwirrt.

„Das ist der Grund, weshalb du nichts über Geoffrey H. Fontaine finden konntest“, sagte Tim. „Bis vor einem Jahr hat der Kerl nicht einmal existiert.“

Nick sah auf. „Kannst du an noch mehr herankommen, Tim?“

„Hey, Nick, ich glaube, wir begeben uns da auf fremdes Terrain. Das könnte den Typen von der Firma ganz und gar nicht passen.“

„Dann sollen sie mich doch rankriegen.“ Nick ließ sich nicht im Mindesten durch den CIA einschüchtern. Nicht, seit er all die inkompetenten Typen der Firma getroffen hatte. „Egal“, meinte er schulterzuckend, „ich erledige nur meine Arbeit. Ich habe eine trauernde Witwe, wie du weißt.“

„Aber die Fontaine-Sache reicht ziemlich weit.“

„Du wagst dich ja auch sehr weit vor, Tim.“

Tim grinste. „Was ist mit dir los, Nick? Willst du auf einmal Detektiv spielen?“

„Nein. Ich bin nur neugierig.“ Er sah stirnrunzelnd auf den Schreibtisch, wo ein Berg von Arbeit auf ihn wartete. Es war der übliche, bürokratische Kleinkram, seine Hauptbeschäftigung, aber er musste erledigt werden. Am besten war es, der trauernden Witwe freundlich auf die Schulter zu klopfen, ein paar nette Worte zu murmeln und sie dann hinauszubegleiten. Danach konnte er die ganze Angelegenheit vergessen. Geoffrey Fontaine, oder wie er sonst heißen mochte, war eben tot.

Doch Tim hatte Nicks Neugierde geweckt. Er sah seinen Freund an. „Sag mal, was hältst du davon, mir ein paar Informationen über die Frau dieses Burschen zu besorgen? Sarah Fontaine. Vielleicht führt uns das auf irgendeine Spur.“

„Warum besorgst du dir sie nicht selbst?“

„Du bist der Einzige, der Zugang zu den ganz heißen Informationen hat.“

„Tja, aber du hast die Frau selbst“, Tim nickte zur Tür hin. „Ich habe mitbekommen, wie deine Sekretärin ihren Namen aufgeschrieben hat. Sarah Fontaine sitzt bereits in deinem Vorzimmer.“

Die Sekretärin war eine grauhaarige Frau mittleren Alters mit dunkelblauen Augen und einem schmallippigen Mund. Sie sah von ihrem Schreibtisch nur gerade so lange hoch, um Sarahs Namen aufzuschreiben und sie zu der nahe stehenden Couch zu weisen.

Neben der Couch lagen säuberlich auf einem Haufen die üblichen Zeitschriften, die in einem Vorzimmer anzutreffen waren, und außerdem einige Ausgaben der „Foreign Affairs“ und der „World Press Review“, auf denen noch die Adressetiketten klebten: Dr. Nicholas O’Hara.

Während sich die Sekretärin wieder ihrer Schreibarbeit widmete, sank Sarah in die Kissen der Couch und starrte blicklos auf ihre Hände, die sie in ihrem grauen Lieblingswollrock im Schoß gefaltet hatte. Da sie ihre Grippe noch nicht ganz überwunden hatte, trug sie einen dicken Pullover und fühlte sich trotzdem fröstelnd und miserabel.

Nach dem Telefonanruf in der vergangenen Nacht hatte der Schmerz sie übermannt. Jetzt fühlte sie sich nur noch benommen. Plötzlich sah das Leben für Sarah beängstigend aus.

Die Sprechanlage der Sekretärin summte, und eine Stimme sagte: „Angie? Bitten Sie Mrs Fontaine herein.“

„Ja, Mr O’Hara.“ Angie nickte Sarah zu. „Sie können jetzt hereingehen“, sagte sie.

Sarah setzte ihre Brille auf, erhob sich und ging in das angewiesene Büro. Sie trat ein und blieb sofort auf dem dicken Teppich stehen. Ruhig sah sie den Mann hinter dem Schreibtisch an.

Er stand vor dem Fenster. Die Sonne schien durch die dürren Bäume und blendete Sarah. Zuerst erkannte sie nur die Silhouette des Mannes. Er war groß und schlank, und seine Schultern hingen leicht nach unten – er wirkte müde. Er wandte sich vom Fenster ab und kam um den Schreibtisch herum, um sie zu begrüßen. Sein blaues Hemd war zerknittert, und eine nichtssagende Krawatte hing locker um seinen Hals, als hätte er daran gezerrt.

„Mrs Fontaine“, begann er, „ich bin Nick O’Hara.“ Sie erkannte augenblicklich die Stimme des nächtlichen Anrufers wieder, dieselbe Stimme, die zehn Stunden vorher ihre Welt erschüttert hatte.

Er reichte ihr die Hand mit einer Geste, die Sarah zu automatisch fand, eine bloße Formalität, die er zweifellos allen Witwen entgegenbrachte. Sie bemerkte jedoch, dass er einen festen Händedruck hatte.

Während er wieder auf das Fenster zuging, fiel das Licht voll auf sein Gesicht. Sie erkannte lange, schmale Gesichtszüge, ein gleichmäßiges Kinn und einen nüchternen Mund. Sarah schätzte ihn auf Ende dreißig, vielleicht älter. Sein dunkelbraunes Haar zeigte an den Schläfen graue Stellen. Unter den hellgrauen Augen lagen tiefe Ringe.

Er wies auf einen Stuhl. Während sie Platz nahm, fiel ihr auf, dass noch eine dritte Person im Zimmer war, ein Mann mit einer Brille und einem buschigen schwarzen Bart, der still auf einem Stuhl in der Ecke saß. Sie hatte ihn schon gesehen, als er vorher durch das Vorzimmer gekommen war.

Nick setzte sich auf die Schreibtischkante und blickte Sarah an. „Die Sache mit Ihrem Gatten tut mir sehr leid, Mrs Fontaine“, erklärte er sanft. „Es ist ein schrecklicher Schock, ich weiß. Die meisten Menschen wollen uns nicht glauben, wenn sie einen solchen Anruf erhalten. Ich hatte das Gefühl, ich sollte von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen sprechen. Ich habe ein paar Fragen. Und ich bin sicher, Sie auch.“ Er nickte mit dem Kopf in die Richtung des Mannes mit dem Bart. „Haben Sie etwas dagegen, wenn Mr Greenstein hierbleibt?“

Sarah zuckte die Schultern und fragte sich einen kurzen Moment lang, warum Mr Greenstein überhaupt anwesend war.

„Wir sind beide Staatsbeamte“, fuhr Nick fort. „Ich bin beim Außenministerium mit konsularischen Angelegenheiten beschäftigt, und Mr Greenstein arbeitet bei unserer technischen Hilfsabteilung.“

„Ich verstehe.“ Fröstelnd zog Sarah den Pullover enger um sich. Der Schüttelfrost fing wieder an, und ihr Hals tat weh. Warum war es in Regierungsbüros bloß immer so kalt?

„Geht es Ihnen nicht gut, Mrs Fontaine?“, fragte Nick besorgt.

Sie sah ihn elend an. „In Ihrem Büro ist es kühl.“

„Darf ich Ihnen einen Kaffee kommen lassen?“

„Nein, vielen Dank. Bitte, ich möchte nur etwas über meinen Mann erfahren. Ich kann es immer noch nicht glauben, Mr O’Hara. Ich bin der Meinung, hier stimmt etwas nicht. Es muss ein Irrtum vorliegen.“

Er nickte voller Sympathie. „Das ist die übliche Reaktion, anzunehmen, alles sei nur ein Irrtum.“

„Wirklich?“

„Ablehnung. Jeder macht das durch. Genau das empfinden auch Sie jetzt.“

„Aber Sie fordern doch nicht jede Witwe auf, in Ihr Büro zu kommen, oder? In Geoffreys Fall muss es um etwas anderes gehen.“

„Ja“, räumte er ein. „Das stimmt.“

Nick drehte sich um und nahm einen Aktenordner vom Schreibtisch auf. Nach kurzem Blättern holte er ein Blatt voller Notizen heraus. Die Handschrift war ein unleserliches Gekritzel. Es muss seine eigene sein, dachte Sarah. Niemand außer dem Schreiber selbst wäre in der Lage, das zu entziffern.

„Nachdem ich Sie angerufen habe, Mrs Fontaine, habe ich mich mit unserem Berliner Konsulat in Verbindung gesetzt. Was Sie gestern Nacht gesagt haben, hat mich nicht in Ruhe gelassen. So wenig, dass ich die Fakten nochmals überprüfen wollte.“

Die Pause, die O’Hara einlegte, ließ Sarah erwartungsvoll zu ihm aufsehen. Sie blickte in zwei ruhige Augen, die sie müde und besorgt beobachteten. „Ich habe mit Wes Corrigan, unserem Konsul in Berlin, gesprochen und notiert, was er mir erzählt hat.“

Er warf einen Blick auf seine Vermerke. „Gestern Abend gegen acht Uhr mitteleuropäischer Zeit meldete sich ein Mann namens Geoffrey Fontaine im Hotel Regina an. Er bezahlte mit einem Reisescheck. Die Unterschriften waren identisch. Er benutzte seinen Reisepass, um sich auszuweisen. Ungefähr vier Stunden später, gegen Mitternacht, traf die vom Hotel herbeigerufene Feuerwehr ein. Das Zimmer Ihres Mannes stand in Flammen. Bis man den Brand unter Kontrolle gebracht hatte, war der Raum völlig zerstört. Die offizielle Erklärung ist, Ihr Gatte sei eingeschlafen, während er im Bett rauchte. Ich fürchte, er ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.“

„Wie kann man dann so sicher sein, dass es sich um ihn handelt?“ Die Frage kam wie aus der Pistole geschossen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie mit wachsender Verzweiflung zugehört. Aber Nick O’Hara hatte gerade viel zu viele andere Möglichkeiten angeschnitten. „Jemand hätte seinen Pass gestohlen haben können“, machte sie ihn aufmerksam.

„Mrs Fontaine, lassen Sie mich doch bitte zu Ende sprechen.“

„Aber Sie haben soeben gesagt, der Leichnam konnte nicht identifiziert werden.“

„Wir sollten versuchen, logisch vorzugehen.“

„Ich bin logisch!“

„Sie sind gefühlsbetont. Sehen Sie, es ist ganz normal, dass sich die Witwen an solche Strohhalme klammern, aber …“

„Ich bin noch gar nicht davon überzeugt, dass ich eine Witwe bin.“

Er hob abwehrend die Hände. „Gut, gut, sehen wir uns also die Beweise an. Die echten Beweise. Erstens: Man hat seinen Aktenkoffer in dem Zimmer gefunden. Er war aus Aluminium und feuerbeständig.“

„Geoffrey hat niemals so etwas besessen.“

„Der Inhalt hat den Brand überstanden. Der Pass Ihres Mannes war darin.“

„Aber …“

„Dann liegt der amtliche Befund vor. Ein Berliner Pathologe hat den Körper – nun ja, was davon übrig war – kurz untersucht. Obwohl man nicht auf Zahnunterlagen zurückgreifen konnte, war aber die Größe der Leiche mit der Ihres Gatten identisch.“

„Das bedeutet gar nichts.“

„Schließlich …“

„Mr O’Hara …“

„Schließlich“, sagte Nick mit plötzlichem Nachdruck, „haben wir ein letztes, an der Leiche selbst gefundenes Beweisstück. Ich bedauere, Mrs Fontaine, aber ich glaube, das wird Sie überzeugen.“

Am liebsten hätte Sarah sich sofort die Ohren zugehalten und ihn angeschrien, er solle schweigen. Bis jetzt hatten die Beweise sie nicht überzeugt. Aber sie konnte nicht mehr länger zuhören. Sie konnte es nicht ertragen, dass ihr jede Hoffnung schwand.

„Es war der Ehering. Die Inschrift war noch lesbar. Sarah. 14. 2.“ Er sah von seinen Notizen auf. „Das ist doch Ihr Hochzeitsdatum, nicht wahr?“

Alles verschwamm ihr vor den Augen, als die Tränen kamen. Stumm nickte sie mit dem Kopf. Die Brille rutschte ihr von der Nase und fiel in ihren Schoß. Blind suchte sie in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und merkte plötzlich, dass Nick O’Hara von irgendwoher eine ganze Schachtel Papiertücher geholt hatte.

„Nehmen Sie“, sagte er leise.

Er beobachtete sie, als sie sich die Tränen abwischte und irgendwie versuchte, sich auf eine dezente Weise zu schnäuzen. Unter seinem aufmerksamen Blick kam sie sich albern und linkisch vor. Selbst ihre Finger gehorchten ihr nicht richtig. Die Brille rutschte ihr jetzt vom Schoß und fiel auf den Boden. Ihre Tasche wollte nicht zuschnappen. Sie musste hier heraus. Sarah suchte hastig ihre Sachen zusammen und stand auf.

„Bitte, Mrs Fontaine, nehmen Sie wieder Platz. Ich bin noch nicht ganz fertig“, sagte Nick.

Wie ein gehorsames Kind kehrte Sarah zu ihrem Stuhl zurück und starrte zu Boden. „Falls es sich um die Begräbnisformalitäten handeln sollte …“

„Nein, darum können Sie sich später kümmern, wenn die Leiche zurückgeflogen worden ist. Da ist etwas anderes, was ich Sie fragen muss. Es handelt sich um die Reise Ihres Mannes. Warum war er in Europa?“

„Geschäftlich.“

„Welcher Art?“

„Er war … Vertreter der Bank von England.“

„Also viel auf Reisen?“

„Ja, das stimmt. Ungefähr einmal im Monat war er in London.“

„Nur in London?“

„Ja.“

„Erzählen Sie mir, warum er in Deutschland war, Mrs Fontaine.“

„Ich weiß es nicht.“

„Sie müssen doch eine Ahnung haben.“

„Ich weiß es wirklich nicht.“

„War es seine Gewohnheit, Ihnen nicht zu sagen, wohin er fuhr?“

„Nein.“

„Warum hielt er sich dann in Deutschland auf? Es muss einen Grund dafür gegeben haben. Andere Geschäfte vielleicht? Andere …“

Sie hob rasch den Kopf. „Andere Frauen? Das wollten Sie doch fragen, nicht wahr?“

Nick antwortete nicht.

„Nicht wahr?“

„Es ist eine nicht unbegründete Vermutung.“

„Nicht bei Geoffrey!“

„Bei jedem.“ Er sah ihr fest in die Augen.

Sarah hielt seinem Blick stand.

„Sie waren insgesamt zwei Monate verheiratet“, stellte er fest. „Wie gut kannten Sie Ihren Gatten?“

„Kannte? Ich liebte ihn, Mr O’Hara.“

„Ich spreche nicht von Liebe, was immer das auch sein mag. Ich frage Sie, wie gut Sie Ihren Mann kannten, wer er war und was er machte. Wie lange ist es her, seit Sie sich kennenlernten?“

„Das war … ich glaube, vor sechs Monaten. Ich habe ihn in einem Café in der Nähe meines Arbeitsplatzes getroffen.“

„Und wo arbeiten Sie?“

„Beim NIH. Ich bin Mikrobiologie-Forscherin.“

Nicks Augen hatten plötzlich einen wachsamen Blick. „Welche Art von Forschungen?“

„Bakterielle Genome … Wir spalten Gene … Warum stellen Sie alle diese Fragen?“

„Unterliegen diese Forschungen der Geheimhaltung?“

„Ich verstehe immer noch nicht, warum …“

„Sind diese Forschungen geheim, Mrs Fontaine?“

Der scharfe Ton seiner Frage schockierte sie, und sie sah ihn sprachlos an. Dann antwortete sie leise: „Ja. Einige schon.“

Er nickte und zog ein anderes Blatt aus den Unterlagen. Ruhig fuhr er fort: „Ich bat Mr Corrigan in Berlin, den Pass Ihres Mannes zu überprüfen. Wo man auch hinfliegt, bekommt man bei jedem neuen Grenzübertritt einen Einreisestempel. Der Pass Ihres Gatten wies verschiedene Stempel auf. London, Schiphol/Amsterdam und schließlich Berlin. Alle waren von letzter Woche. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum er diese Städte aufgesucht hat?“

Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

„Wann hat er Sie zum letzten Male angerufen?“

„Vor einer Woche, aus London.“

„Können Sie sicher sein, dass er in London war?“

„Nein. Es war natürlich ein Anruf ohne Vermittlung durch ein Fernamt.“

„Hatte Ihr Mann eine Lebensversicherung abgeschlossen?“

„Nein. Das heißt, ich weiß es nicht. Er hat mir gegenüber nie etwas davon erwähnt.“

„Zieht jemand Nutzen aus seinem Tod? In finanzieller Hinsicht, meine ich?“

„Ich glaube nicht.“

Nick hörte ihr mit gerunzelter Stirn zu, rutschte etwas auf der Schreibtischplatte zurück, kreuzte die Arme vor der Brust und starrte einen Augenblick lang zur Seite. Sarah konnte förmlich sehen, wie er in Gedanken die Fakten überschlug und die Einzelheiten sortierte. Sie war ebenso durcheinander wie er. Das ergab alles keinen Sinn. Geoffrey war ihr Mann gewesen, doch nun fing sie an, sich zu fragen, ob Nick O’Hara nicht recht hatte, dass sie Geoffrey nie richtig gekannt hatte. Alles, was Geoffrey und sie geteilt hatten, waren Bett und Tisch, aber nie ihre Herzen.

Nein, das stimmte auch nicht, es war Verrat an der Erinnerung an ihn. Sie glaubte an Geoffrey. Warum sollte sie diesem Fremden Glauben schenken? Warum erzählte dieser Mann ihr das alles? Stand hinter all dem eine ganz andere Absicht? Plötzlich missfiel ihr Nick O’Hara, ja sehr sogar. Er bombardierte sie mit all diesen Fragen aus einem ihr unbekannten Grund.

„Wenn Sie fertig sind …“, sagte Sarah verärgert und wollte erneut aufstehen.

Nick sah sie verwundert an, als hätte er ihre Gegenwart vergessen. „Nein. Noch nicht.“

„Es geht mir nicht besonders gut, und ich würde gern nach Hause fahren.“

„Haben Sie ein Bild Ihres Mannes?“, wollte Nick unvermittelt wissen.

Verwirrt durch diese Frage, öffnete Sarah ihre Handtasche und zog eine Fotografie aus ihrer Brieftasche. Geoffrey war darauf sehr gut getroffen; das Bild war während ihrer dreitägigen Hochzeitsreise am Strand von Florida aufgenommen worden. Mit leuchtenden blauen Augen schaute er direkt in die Kamera. Sein Haar war blond wie Gold, das schräg fallende Licht warf Schatten über sein ungewöhnlich gut aussehendes Gesicht. Er lächelte. Von Anfang an hatte sie sich zu diesem Gesicht hingezogen gefühlt – nicht nur des guten Aussehens wegen, sondern durch die Stärke und Intelligenz, die aus seinen Augen sprach.

Nick O’Hara nahm das Bild und betrachtete es schweigend. Sarah beobachtete ihn und dachte: Er ist so ganz anders als Geoffrey. Sein Haar ist nicht goldblond, sondern dunkelbraun, er lächelt auch nicht, sondern wirkt eher trocken, sachlich. Eine Aura der Besorgnis schien Nick O’Hara zu umgeben, ja des Unglücklichseins. Sie fragte sich, was er wohl beim Betrachten des Bildes denken mochte. Er zeigte keine Regung, und außer den Anzeichen von Müdigkeit konnte Sarah seinem Gesicht wenig entnehmen. Er hatte hellgraue undurchdringliche Augen.

Nick reichte das Foto kurz Mr Greenstein hinüber und gab es ihr dann schweigend zurück.

Sarah steckte es ein, machte ihre Tasche wieder zu und blickte ihn an. „Warum stellen Sie mir denn all diese Fragen?“

„Weil ich muss. Es tut mir auch leid für Sie, aber das ist wirklich notwendig.“

„Für wen?“, fragte sie ärgerlich. „Für Sie?“

„Und für Sie auch. Vielleicht sogar für Geoffrey.“

„Das ergibt keinen Sinn.“

„Es wird aber, wenn Sie den Berliner Polizeibericht kennen.“

„Gibt es noch etwas anderes?“

„Ja. Es betrifft die Todesumstände Ihres Gatten.“

„Aber Sie sagten doch, es sei ein Unfall gewesen.“

„Ich sagte, es sah wie ein Unfall aus.“ Während Nick sprach, beobachtete er sie aufmerksam, als fürchte er, eine ihrer Gemütsbewegungen zu übersehen, vielleicht ein Flackern in ihren Augen. „Als ich vor wenigen Stunden mit Mr Corrigan sprach, war eine neue Entwicklung eingetreten. Während einer Routineuntersuchung des Brandes wurden die Reste des Zimmers überprüft. Als man die Überbleibsel der Matratzen kontrollierte, stieß man auf eine Kugel.“

Sarah starrte Nick ungläubig an. „Eine Kugel?“, fragte sie. „Wollen Sie damit behaupten …“

Er nickte. „Man hat den Verdacht auf Mord.“

2. KAPITEL

Sarah wollte etwas sagen, aber die Stimme gehorchte ihr nicht. Sie saß wie eine Statue auf ihrem Stuhl, unfähig, sich zu bewegen, außerstande, etwas anderes zu tun, als ihr Gegenüber fassungslos anzusehen.

„Ich dachte, Sie sollten es wissen“, sagte Nick. „Ich hätte es Ihnen in jedem Fall berichten müssen, weil wir jetzt Ihre Hilfe benötigen. Die Berliner Polizei erbittet Auskünfte über die Tätigkeit Ihres Mannes, seine Feinde … warum man ihn umgebracht haben könnte.“

Sarah schüttelte benommen den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern … Ich meine, ich weiß einfach nicht … Oh, mein Gott!“, flüsterte sie.

Die sachte Berührung seiner Hand auf ihrer Schulter ließ Sarah zusammenzucken. Sie sah hoch und bemerkte Besorgnis in seinen Augen. Er befürchtet, ich könnte in Ohnmacht fallen, dachte sie. Er hat Angst, mir könnte schlecht werden und ich würde uns beide damit in Verlegenheit bringen.

Plötzlich verärgert schüttelte sie seine Hand ab. Sie brauchte von niemandem einstudiertes Mitleid. Sie musste jetzt allein sein – fort von diesen Bürokraten und deren unpersönlichen Aktenordnern. Unsicher stand sie auf. Nein, sie würde nicht in Ohnmacht fallen, nicht vor diesem Mann.

Nick ergriff ihren Arm und zwang sie sanft auf den Stuhl zurück. „Bitte, Mrs Fontaine. Noch eine Minute, mehr wird nicht nötig sein.“

„Lassen Sie mich gehen.“

„Mrs Fontaine …“

„Lassen Sie mich gehen!“, verlangte sie entschieden.

Ihr scharfer Ton schien ihn zu schockieren. Er ließ sie los, trat aber nicht zurück. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte Sie nicht bedrängen. Ich befürchtete nur, dass … nun …“

„Ja?“ Sie sah in seine hellgrauen Augen. Etwas, das sie darin erblickte – Festigkeit, Kraft –, erweckte in ihr wider Willen den Wunsch, ihm vertrauen zu können. „Ich werde nicht in Ohnmacht fallen, wenn Sie das befürchtet hatten“, sagte sie. „Bitte, ich möchte jetzt nach Hause.“

„Ja, natürlich. Aber ich habe noch einige Fragen.“

„Und ich keine Antworten darauf. Begreifen Sie das nicht?“

Nick schwieg einen Moment. „Dann werde ich mich später mit Ihnen in Verbindung setzen“, sagte er. „Wir müssen uns über die Begräbnisformalitäten unterhalten.“

„Oh, ja. Das Begräbnis.“ Sarah stand auf und unterdrückte eine neue Flut von Tränen.

„Ich werde Sie mit unserem Wagen nach Hause bringen lassen, Mrs Fontaine.“ Er kam langsam auf sie zu, als fürchte er, sie zu erschrecken. „Es tut mir Ihres Gatten wegen leid. Wirklich leid. Bitte, rufen Sie mich an, falls Sie irgendwelche Fragen haben sollten.“

Sarah wusste, dass keines seiner Worte aus dem Herzen gesprochen war, dass keines echtes Mitleid enthielt. Nicholas O’Hara war Diplomat und sagte, was man ihm beigebracht hatte. Um welche Katastrophe es auch gehen mochte, das US-Außenministerium fand stets die passenden Worte. Wahrscheinlich hatte er dieselben Sätze schon zu Hunderten von Witwen gesagt.

Jetzt wartete er auf ihre Antwort. Sie tat, was von jeder Witwe erwartet wurde: Sie riss sich zusammen. Sarah nahm seine ausgestreckte Hand und dankte ihm. Dann drehte sie sich um und verließ das Büro.

„Glaubst du, sie weiß es?“

Nick starrte auf die Tür, die gerade hinter Sarah Fontaine ins Schloss gefallen war. Er drehte sich zu Tim Greenstein um. „Was soll sie wissen?“

„Dass ihr Mann ein Spion war?“

„Aber das wissen doch selbst wir nicht genau.“

„Mein lieber Nick, diese ganze Geschichte stinkt nach Spionage. Bis vor einem Jahr war Geoffrey Fontaine ein total unbeschriebenes Blatt. Dann taucht sein Name plötzlich auf einer Standesamtsliste auf, er hat eine brandneue Sozialversicherungsnummer, einen Pass und was sonst noch. Das FBI scheint nicht das Geringste zu wissen, aber der Geheimdienst führt seine Akte als Verschlusssache! Bin ich blöd oder was?“

„Vielleicht bin ich der Dumme“, brummte Nick. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und ließ sich in den Sessel fallen. Dann warf er einen finsteren Blick auf das Fontaine-Dossier. Natürlich hatte Tim recht. Die Sache stank zum Himmel. Spionage? Internationales Verbrechen? Ein ehemaliger Zeuge, der sich vor Verfolgern verbarg?

Wer zum Teufel war dieser Geoffrey Fontaine?

Nick rutschte tiefer in den Sessel und legte den Kopf gegen die Rückenlehne. Er war schrecklich müde. Aber Geoffrey Fontaine ging ihm nicht aus dem Kopf. Und Sarah Fontaine ebenso wenig.

Er war überrascht gewesen, als sie in sein Büro gekommen war. Er hatte eine aufgetakelte Dame erwartet. Ihr Mann war viel herumgekommen. An seiner Seite hätte man mit einer schicken und eleganten Frau gerechnet. Stattdessen war diese magere, eigenwillige Gestalt hereingekommen, die beinahe – aber nur beinahe – hübsch zu nennen war. Ihr Gesicht hatte zu viele Kanten: hohe, scharfe Wangenknochen, eine schmale Nase, die breite Stirn. Ihr langes, fülliges Haar war kupferrot und sah selbst streng zurückgekämmt schön aus. Ihre Hornbrille hatte ihn irgendwie belustigt. Dahinter lagen zwei bernsteinfarbene Augen – das Schönste an ihrem ganzen Gesicht. So ganz ohne Make-up und mit der bleichen, zarten Haut wirkte sie viel jünger als die schätzungsweise dreißig Jahre, die sie bestimmt war.

Nein, sie war wirklich nicht hübsch. Doch das ganze Gespräch über hatte Nick sie ansehen müssen und sich Gedanken über ihre Ehe gemacht. Und über sie. Sarah Fontaine.

Tim stand auf. „Hey, diese ganze Traurigkeit macht mich hungrig. Lass uns in die Kantine gehen.“

„Nicht dahin. Lass uns ausgehen.“ Nick zog sich seine Jacke an, und zusammen verließen sie das Büro, gingen an Angie vorbei und auf die Treppe zu.

Als sie draußen über die Straße gingen, blies ihnen der frische Frühlingswind ins Gesicht. An den Kirschbäumen standen die Knospen kurz vor dem Aufbrechen. In einer Woche würde die ganze Stadt in einem rosafarbenen und weißen Blütenmeer ertrinken.

„Wohin gehen wir, Nick?“, fragte Tim.

„Was hältst du von Mary Jo?“

„Dieser Bioladen? Warum, machst du eine Diät oder so etwas?“

„Nein, aber dort ist es ruhig. Ich möchte im Moment keinen Lärm um mich haben.“

Nach zwei Häuserblocks hatten sie das Restaurant erreicht und nahmen an einem Tisch Platz. Fünfzehn Minuten später brachte die Kellnerin ihnen die mit hausgemachtem Dressing angerichteten Salate.

Tim piekste mit der Gabel hinein und seufzte. „Dieses Kaninchenfutter! Da ziehe ich ja selbst einen fettigen Hamburger noch vor!“ Er stopfte sich etwas Salat in den Mund und sah Nick über den Tisch hinweg an. „Also, was fällt dir auf die Nerven? Geht dir der neue Posten bereits gegen den Strich?“

„Das war eine gewaschene Ohrfeige und nichts anderes“, erklärte Nick bitter. Er trank seine Tasse Kaffee aus und bat die Kellnerin, ihm noch einen Kaffee zu bringen. „Vom zweitwichtigsten Londoner Posten verbannt man mich zum Papieresortieren hier in Washington.“

„Warum bist du dann nicht zurückgetreten?“

„Genau das überlege ich. Wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt dieses Ekel Ambrose vor der Nase habe!“

„Ist er noch verreist?“

„Noch eine Woche. So lange kann ich den Job immerhin auf meine Art machen, ohne den ganzen bürokratischen Unsinn.“

Vom ersten Tag an waren Nick und Ambrose nicht miteinander ausgekommen. Charles Ambrose liebte die bürokratische Umständlichkeit, während Nick stets darauf bestand, gleich zur Sache zu kommen, wie unangenehm sie auch sein mochte. Eine Konfrontation war also unvermeidlich.

„Dein Problem ist, Nick, dass du zwar studiert hast, aber nicht so überkandidelt daherredest wie all die anderen. Du hast die alle durcheinandergebracht. Man schätzt hier keine Leute, die Klartext reden. Außerdem bist du auch noch überzeugter Liberaler.“

„So? Du doch auch.“

„Aber ich gelte ohnehin als notorischer Trottel, dem man vieles nachsieht. Und sollte man das nicht tun, dann blockiere ich ihnen einfach ihre Computer.“

Nick lachte und freute sich plötzlich über die Gesellschaft seines alten Kumpels Tim. Die vier Jahre, die sie während des Studiums Zimmergenossen gewesen waren, hatten eine starke Bindung hinterlassen. Selbst nach acht Jahren Auslandsaufenthalt fand Nick nach seiner Rückkehr Tim Greenstein noch genauso jovial und liebenswert wie früher.

Er nahm seine Gabel und aß seinen Salat zu Ende.

„Wie willst du dich also im Fall Fontaine verhalten, Nick?“, fragte Tim während der Nachspeise.

„Ich werde meine Arbeit tun und mich mit der Sache befassen.“

„Wirst du es Ambrose sagen? Er wird darüber informiert werden wollen. Ebenso wie die Typen von der Firma, falls sie es nicht ohnehin schon wissen.“

„Das können die selbst herausfinden. Es ist mein Fall.“

„Auf mich wirkt es wie Spionage, Nick. Das ist nicht gerade eine konsularische Angelegenheit.“

Der Gedanke jedoch, Sarah Fontaine an irgendeinen CIA-Untersuchungsbeamten weiterzureichen, gefiel Nick gar nicht. Sie wirkte so zerbrechlich, so verletzbar. „Es ist mein Fall“, wiederholte er.

Tim grinste. „Ach, die Witwe Fontaine. Könnte es sein, dass sie dein Typ ist? Obwohl ich nicht ganz sehe, was du an ihr finden könntest. Und was ich noch weniger begreife, ist, wie sie sich diesen Mann geangelt hat. Das war doch wirklich ein blonder Adonis! Bestimmt nicht der Typ, der hinter Frauen mit Hornbrillen her war. Meine Schlussfolgerung ist, er hat sie aus anderen als den üblichen Gründen geheiratet.“

„Den üblichen? Meinst du Liebe?“

„Nicht doch – Sex.“

„Worauf zum Teufel willst du hinaus?“

„Hm. So empfindlich? Du magst sie, nicht wahr?“

„Kein Kommentar.“

„Mir scheint, dein Liebesleben liegt seit deiner Scheidung reichlich brach.“

Nicks Kaffeetasse klirrte, als er sie hinstellte. „Was sollen eigentlich all diese Fragen?“

„Ich versuche nur herauszufinden, was mit dir los ist, Nick. Hast du nicht davon gehört? Es ist jetzt in: Männer schütten sich gegenseitig ihr Herz aus.“ Tim sah seinen Freund mitfühlend an. „Ich muss dir leider sagen, Nick, dass du etwas dagegen machen solltest. Du kannst nicht einfach herumsitzen und den Rest deines Lebens als Einsiedler verbringen.“

„Weshalb nicht?“

Tim lachte. „Weil wir beide, verdammt noch mal, zu gut wissen, dass auch du bestimmte Bedürfnisse hast!“

Tim hatte recht. Seit seiner Trennung von Lauren vor vier Jahren war Nick jeder engeren Beziehung mit einer Frau aus dem Wege gegangen, in sexueller wie sonstiger Hinsicht, und das merkte man ihm an. Er war reizbar geworden.

„Hast du wieder etwas von Lauren gehört?“, fragte Tim.

Nick sah mit einem finsteren Blick auf. „Ja. Vergangenen Monat. Sie erklärte mir, sie würde mich vermissen. Ich glaube, in Wirklichkeit vermisst sie nur das Diplomatenleben.“

„Aha, sie hat dich also angerufen. Das klingt doch vielversprechend. Mir scheint, es bahnt sich eine Aussöhnung an.“

„Ach, tatsächlich? Auf mich hat es eher gewirkt, als würde sich ihre letzte Liebschaft nicht wie geplant entwickeln.“

„So oder so, es ist offensichtlich, dass ihr die Scheidung leidtut. Hast du dich wieder bei ihr gemeldet?“

Nick schob die Reste seiner Mousse au Chocolat beiseite. „Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich habe mich nicht danach gefühlt.“

Tim lehnte sich zurück und lachte. „Du hast dich nicht danach gefühlt!“ Er seufzte vor sich hin. „Vier Jahre stöhnt und jammert er über seine Scheidung, und jetzt sagt er mir das ins Gesicht!“

„Hör mal, immer wenn sich etwas nicht nach Laurens Wünschen entwickelt, beschließt sie, den lieben, alten Nick, ihren stets gehorsamen Trottel, anzurufen. Das wird mir zu viel. Ich habe ihr erklärt, ich stehe nicht mehr zur Verfügung. Weder ihr noch sonst jemandem.“

Tim schüttelte den Kopf. „Du hast den Frauen abgeschworen. Das ist ein ganz schlechtes Zeichen.“

„Daran ist noch niemand gestorben“, brummte Nick, warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und stand auf. Im Augenblick interessierten ihn Frauen ohnehin nicht. Er hatte viel zu viel anderes im Kopf, und ganz sicher konnte er keine neue, unglückliche Liebesaffäre gebrauchen.

Aber auf dem Rückweg unter den Kirschbäumen musste er wieder an Sarah Fontaine denken. Nicht an Sarah, die trauernde Witwe, sondern an Sarah, die Frau. Der Name passte zu ihr. Sarah mit den Bernsteinaugen.

Schnell verdrängte Nick diese Gedanken. Von allen Frauen in Washington sollte sie die letzte sein, an die er dachte. Bei seiner Art von Tätigkeit war Objektivität der Schlüssel zum Erfolg. Ob er nun ein Visum ausstellte oder sich vor einem Magistrat über einen irgendwo in der Welt eingesperrten Amerikaner herumstritt, stets war es ein Fehler, sich dabei persönlich zu engagieren. Nein, für ihn war Sarah Fontaine nichts anderes als ein in Unterlagen verzeichneter Name.

Und das würde auch so bleiben müssen.

* * *

Amsterdam

Der alte Mann liebte Rosen. Er liebte den samtenen Duft der Blütenblätter, die er oft zupfte und zwischen seinen Fingern zerrieb. Sie waren so kühl, so wohlriechend, nicht wie diese faden Tulpen, die sein Gärtner an den Rändern des Ententeiches gesetzt hatte. Tulpen bestanden nur aus Farben, sie hatten keinen Charakter. Sie schossen in die Höhe, blühten und verwelkten gleich wieder. Aber die Rosen! Sie widerstanden selbst dem Winter, nackt und dornig, wie zornige alte Frauen, die sich vor der Kälte duckten.

Er blieb zwischen den Rosensträuchern stehen, atmete tief ein und genoss den Geruch der feuchten Erde. In wenigen Wochen würden die Knospen aufbrechen. Wie seine Frau diesen Garten geliebt hätte! Er stellte sie sich vor, an genau dieser Stelle, wie sie die Rosen anlächelte. Sie hätte ihren alten Strohhut aufgehabt, ihre Schürze mit den vier Taschen getragen, und in der Hand hätte sie ihr Plastikkörbchen gehalten. „Meine Uniform, Frans“, hatte sie damals gesagt. „Ich bin wie ein alter Soldat, der den Kampf gegen die Schnecken und Käfer aufnimmt.“ Er erinnerte sich, wie die Rosenschere gegen ihr Körbchen zu klappern pflegte, wenn sie die Treppen ihres alten Hauses herunterging – des Hauses, das er verlassen hatte. Nienke, meine süße Nienke, dachte er. Wie sehr ich dich vermisse!

„Heute ist ein kalter Tag“, sagte eine Stimme auf Holländisch. Der Alte drehte sich um und sah dem jungen blonden Mann entgegen, der durch die Sträucher auf ihn zukam. „Kronen“, sagte er, „endlich bist du da.“

„Es tut mir leid, meneer. Ich bin einen Tag zu spät, aber es ging nicht anders.“ Kronen nahm seine Sonnenbrille ab und blinzelte gen Himmel. Wie immer vermied er auch diesmal, dem alten Mann direkt ins Gesicht zu sehen, es machte ihn stets aufs Neue verlegen. Schon seit fünf Jahren sah dem Alten niemand mehr voll in die Augen. Fünf Jahre, in denen es unmöglich gewesen war, jemandes Blick aufzufangen, ohne darin das unvermeidliche Erschrecken zu entdecken. Selbst Kronen, der für ihn fast wie ein Sohn geworden war, sah absichtlich irgendwo anders hin. Aber junge Menschen aus Kronens Generation machten ohnehin viel zu viel Aufhebens um Äußerlichkeiten.

„Ich nehme an, in Basra ist alles gut gegangen“, sagte der alte Mann.

„Ja. Geringfügige Verzögerungen, sonst nichts. Und dann gab es Probleme mit der letzten Lieferung … die Computerchips im Zielmechanismus … Eine der Raketen klinkte nicht ein.“

„Wie dumm.“

„Ja. Ich habe darüber bereits mit dem Hersteller gesprochen.“

Sie schlenderten den Weg von den Rosensträuchern zum Ententeich hinunter. Die kalte Luft ließ die Kehle des Alten rau werden. Er wickelte sich den Schal enger um den Hals und hüstelte. „Ich habe einen neuen Auftrag für dich“, sagte er. „Eine Frau.“

Kronen blieb plötzlich interessiert stehen. Im Sonnenlicht wirkten seine Haare fast weiß. „Wo ist sie?“

„Sie heißt Sarah Fontaine. Geoffrey Fontaines Frau. Ich möchte, dass du herausfindest, welche Verbindungen sie hat.“

Kronen runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht. Man sagte mir, Fontaine sei tot.“

„Beschatte sie trotzdem. Mein amerikanischer Informant ließ mich wissen, sie habe ein kleines Apartment in Georgetown. Sie ist Mikrobiologin und zweiunddreißig Jahre alt. Außer durch ihre Heirat hat sie keine offensichtlichen Verbindungen mit dem Geheimdienst. Aber da kann man nie sicher sein.“

„Kann ich mit diesem Informanten Kontakt aufnehmen?“

„Nein. Seine Stellung ist zu – prekär.“

Kronen nickte und ließ umgehend das Thema fallen. Er hatte lange genug für den alten Mann gearbeitet, um zu wissen, wie solche Dinge gehandhabt wurden. Jeder hatte sein eigenes Gebiet, sein eigenes kleines Reich, in dem er tätig war. Man durfte nie versuchen, seine Grenzen zu überschreiten. Selbst Kronen, sosehr man ihm auch vertraute, sah nur einen kleinen Teil des Ganzen. Lediglich der Alte überblickte alles.

Sie gingen gemächlich am Ufer des Teiches entlang, dessen Wasser eine trübe graue Farbe angenommen hatte. Wo war auf einmal die Sonne? Ohne Kronen anzusehen, sagte der Alte: „Ich möchte alles über diese Frau wissen. Reise sofort ab.“

„Natürlich.“

„Sei vorsichtig in Washington. Wie ich höre, ist die Verbrechensrate dort scheußlich gestiegen.“

Kronen lachte, als er sich zum Gehen wandte. „Tot ziens, meneer.“

Der alte Mann nickte. „Bis bald.“

Das Laboratorium, in dem Sarah arbeitete, war makellos. Alle Mikroskope waren blitzblank, die Arbeitsflächen und Abflussbecken wurden wiederholt desinfiziert, und die Brutkammern wurden zweimal täglich gereinigt. Nirgendwo gab es ein Fenster, sodass man überall bei Kunstlicht arbeitete. Ob draußen Mittag oder Mitternacht war, hier drinnen wusste man das nie. Außer dem Summen des Kühlschrankes herrschte Totenstille im Labor.

Im Korridor näherten sich die klappernden Schritte einer Frau. Die Tür wurde aufgestoßen.

„Sarah? Was machst du denn hier?“

Sarah drehte sich zu ihrer Freundin Abby Hicks um, die mit ihrer Körpergröße fast ganz den Türrahmen ausfüllte.

„Ich hole nur ein bisschen Arbeit auf“, erklärte Sarah. „Seit ich fort war, hat sich so viel aufgetürmt …“

„Um Himmels willen, Sarah! Das Labor kommt auch ohne dich für ein paar Wochen aus. Es ist schon acht Uhr. Ich kümmere mich um die Kulturen. Geh nach Hause.“

Sarah schloss den Kasten mit den Objektträgern. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich nach Hause möchte“, murmelte sie. „Da ist es mir zu still. Ich glaube, ich bin lieber hier.“

„Na hör mal, das Labor ist nicht gerade ein Tollhaus. Hier herrscht so viel Leben wie auf einem Friedhof …“ Sofort biss sich Abby errötend auf die Unterlippe. Selbst im Alter von fünfundfünfzig Jahren konnte Abby noch rot werden wie ein Schulmädchen. „Entschuldige den Ausdruck“, murmelte sie verlegen.

Sarah lächelte. „Das macht nichts, Abby.“

Einen Moment lang sagte keine der beiden Frauen etwas. Sarah stand auf und öffnete den Inkubator, um den Objektträger, an dem sie gerade gearbeitet hatte, hineinzutun.

„Wie geht es dir denn?“, fragte Abby dann leise.

Sarah schloss den Inkubator, nachdem sie das Glasscheibchen hineingetan hatte. Seufzend drehte sie sich um und sah ihre Freundin an. „Ich komme zurecht, danke, Abby.“

„Wir alle haben dich vermisst. Aber ich glaube, jeder fürchtete sich ein wenig davor, dich anzurufen. Keiner von uns weiß so recht, wie er dir seine Anteilnahme ausdrücken soll. Aber es ...

Autor

Tess Gerritsen
<p>Tess Gerritsen studierte Medizin und arbeitete mehrere Jahre als Ärztin, bis sie für sich das Schreiben von Romantic- und Medical-Thrillern entdeckte. Die Kombination von fesselnden Stories und fundierten medizinischen Kenntnissen brachte ihr den internationalen Durchbruch. Die Bestseller-Autorin lebt mit ihrem Mann in Maine.</p>
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