Die Schöne aus den Bergen

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Seit John Maitland als Crewmitglied der Rettungsflieger die Fremde halb erfroren in den Bergen gefunden hat, steht seine Welt Kopf. Er will sie – am liebsten für immer. Doch es gibt ein Problem: Sie hat ihr Gedächtnis verloren und niemand weiß, ob ihr Herz nicht bereits einem anderen gehört ...


  • Erscheinungstag 09.01.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536264
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Dieses Mal würde er bis zum Äußersten gehen. Er würde sie umbringen.

Sie fühlte, wie sie vor Entsetzen erstarrte. Sollte alles, was sie in den vergangenen zwei Jahren durchgemacht hatte, nun in diesem kurzen schrecklichen Moment sein Ende finden?

Sie rannte durch die Dunkelheit, der eisige Wind ließ sie taumeln. Steine und die gefrorene Erde schnitten in ihre bloßen Füße, aber sie spürte den Schmerz nicht mehr. Das Schneetreiben wurde immer heftiger, Tausende Flocken wirbelten vor ihren Augen und ließen sie die Straße kaum mehr erkennen. Dennoch rannte sie immer weiter. Ihr keuchender Atem bildete kleine weiße Wolken. Sie packte die Pistole fester. Und rannte.

Plötzlich tauchten die Scheinwerfer eines Autos hinter ihr auf, Motorengeräusch übertönte den heulenden Wind. Was brachte es, um Hilfe zu schreien? Hier oben würde sie ohnehin niemand hören. Keiner konnte sie retten. Sie war auf sich gestellt. Wenn sie das hier überleben wollte, musste sie sich selbst helfen.

Noch eine Biegung, dann kamen die Scheinwerfer näher und erfassten sie. Mit zitternden Knien und rasendem Herzen blieb sie am Straßenrand stehen. Was sollte sie nur tun? Die kalte Luft brannte in ihrer Lunge. Hinter ihr stand sein Wagen, die Autotür wurde geöffnet. Vor ihr lag ein tiefer Abhang. Sie war in der Falle. Mit dem Mut der Verzweiflung drehte sie sich langsam zu ihrem Verfolger um.

Sie hatte geglaubt, auf diese letzte Konfrontation vorbereitet zu sein. Doch jetzt drohte allein sein Anblick sie zu lähmen.

Nur mit Mühe hob sie die Waffe und richtete sie mit zitternder Hand auf ihn. „Komm nicht näher.“

„Leg die Pistole weg, Engelchen.“

„Bleib, wo du bist!“

„Tja, jetzt hast du Angst, nicht wahr?“, erwiderte er und kam auf sie zu. „Es ist deine Schuld, dass es so weit gekommen ist. Du hast mir keine andere Wahl gelassen.“

Sie starrte auf die dunkle Gestalt, die sich vor den Scheinwerfern abzeichnete. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass niemand je die Wahrheit erfahren würde, wenn sie heute Nacht starb.

„Halt!“ Ihr Finger krümmte sich um den Abzug. „Ich werde schießen!“

„Das bringst du nicht fertig.“ Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen, ging er weiter.

Sie drückte ab. Der Rückstoß ließ ihre Hand nach oben zucken, und ihr Aufschrei erschien ihr lauter als der Knall.

Doch er ging weiter auf sie zu. Sie hatte ihn verfehlt. Hatte er geahnt, dass sie ihn nicht treffen würde? Er kannte sie zu gut um zu wissen, dass sie nicht fähig war, einen Menschen zu töten.

Sie dagegen wusste nur zu gut, dass er dazu in der Lage war.

Es gab nur einen Ausweg. Ihre Knie drohten nachzugeben, als sie sich umdrehte. Sie presste eine Hand auf den Bauch, flüsterte ein Stoßgebet und ging auf den Abhang zu.

Sein Schrei drang an ihr Ohr, aber sie verstand nicht, was er rief, und taumelte weiter. Schon nach wenigen Schritten lockerte sich unter ihr ein Felsbrocken, und sie verlor den Boden unter den Füßen. Als sie nach vorn kippte, streckte sie Halt suchend die Arme aus, fühlte jedoch nichts als kalte Luft und eisigen glatten Granit. Sekunden später traf der Aufprall sie wie eine gigantische Faust. Der Schmerz war gewaltig, als scharfkantiges Gestein und die Spitzen abgeknickter Äste sich förmlich in ihren Körper zu bohren schienen.

Sie hatte gewusst, dass diese unglückselige Geschichte keinen guten Ausgang nehmen, dass sie sterben würde. Dennoch wehrte sich in ihr etwas, ihr Leben auf diese tragische Weise zu verlieren. Sie hatte noch so viel zu tun, sich so viele Träume erfüllen wollen …

Erinnerungsfetzen zuckten wie Lichtblitze vor ihren Augen auf – Orte, an denen sie gewesen war, Menschen, die sie liebte. Aber der Abhang war zu steil, sie fand keinen Halt und rutschte hilflos in die Tiefe. Schließlich nahm sie nur noch Dunkelheit wahr. Und den bitteren Geschmack des Verrats. Der Schmerz ließ langsam nach und verschwand schließlich ganz, als die Nacht sie vollends umfing.

Endlich war sie frei.

1. KAPITEL

„Sichtkontakt. Weiblich. Nordost, zwei Uhr. Sie bewegt sich.“

John Maitland, der Bordsanitäter des Rettungshubschraubers, zog den Kinnriemen seines Helms fest, trat an die offene Tür des Helikopters und sah nach unten. Tatsächlich, ungefähr zwanzig Meter unter ihnen kauerte eine Frau an einem Felsvorsprung des Bergs.

„Was zum Teufel tut sie hier oben?“, murmelte er.

„Sie wartet darauf, dass du dich in den Gurt schnallst und sie holst!“, kam die Stimme des Piloten aus dem Cockpit.

„Bring mich näher heran, Flyboy“, übertönte John die beiden Triebwerke der Bell 412 und den heulenden Wind. „Wenn’s geht, noch in dieser Woche.“

„Nicht bei dem Wind. Vierzig Knoten. Böen bis fünfundfünfzig. Ich kann nicht weiter runter.“ Tony „Flyboy“ Colorosa warf John einen herausfordernden Blick zu. „Erzähl mir nicht, dass du aus mickrigen zwanzig Metern Höhe keine Bergung schaffst.“

„Halt du einfach diese Sardinenbüchse stabil und überlass die harte Arbeit mir“, erwiderte John.

„Person steht. Keine sichtbaren Verletzungen.“ Buzz Malone, der Leiter des Rettungsteams, ließ den Feldstecher sinken und sah John an. „Wir machen es ohne Trage. Schnall die Frau an deinen Gurt, ich ziehe sie mit dir zusammen nach oben.“

„Was ist mit der Wirbelsäule?“, wandte John ein.

„Wenn wir die Lady nicht in fünf Minuten oben haben, brechen wir ab. Der Wind ist mörderisch. Sie wird an Unterkühlung sterben. Such’s dir aus.“

So riskant es war, eine Patientin mit eventueller Rückenverletzung ohne Stabilisierung zu bergen, es war die einzige Chance, ihr das Leben zu retten. „Okay, lass mich runter. Ich hole sie“, sagte John und hakte sich in den Gurt ein.

„Pass auf die Bäume auf“, warnte Buzz. „Du hast einen Versuch, dann hole ich dich wieder herauf.“

John salutierte lächelnd und stieß sich ab. Der kalte Wind traf ihn wie ein Peitschenhieb. Das Knattern der Rotorblätter war ohrenbetäubend. Doch John ließ sich nicht aus der Konzentration bringen. In den sechs Jahren, die er jetzt schon an Bord des Medicopters arbeitete, war ihm noch nie eine Bergung missglückt. Er vertraute dem Piloten. Selbst bei diesem Wind gab es niemanden, der besser mit der Bell 412 umgehen konnte als Flyboy.

Er hing nun ungefähr sechs Meter unter dem Heli. Der Wind spielte mit ihm, als wäre er ein Jo-Jo. John hielt das Gleichgewicht, indem er die am Boden kauernde Gestalt fixierte. Er fragte sich, was der Frau passiert war. Selbst aus dieser Höhe war zu erkennen, dass sie weder Wanderkleidung trug noch sonst eine Ausrüstung bei sich hatte. Was um alles in der Welt hatte eine Frau mit Jeans und Pulli mitten im Januar auf zweitausendfünfhundert Meter Höhe verloren?

Vor einer Stunde hatte ein Skiläufer sie am Abhang entdeckt. Vor zwanzig Minuten war der Rettungshubschrauber von der Polizei von Lake County angefordert worden. Vier Minuten später war das Team in der Luft gewesen.

John hielt nach einem Auto Ausschau. Nirgendwo war eins zu sehen. Auch kein Schneemobil. Offenbar also kein Unfall. Auch ein Zelt oder andere Menschen waren nicht in Sicht. Seltsam.

Eine Windböe erfasste den Helikopter, und John kam an seinem Drahtseil einem Felsvorsprung gefährlich nah. „Könntest du die Maschine ruhig halten, Flyboy?“, rief er in das Helmmikrofon. „Natürlich nur, wenn es nicht zu viel Mühe ist.“

„Wollte mich nur überzeugen, dass du noch wach bist“, drang die Stimme des Piloten an sein Ohr.

John lächelte. Er war jetzt nur noch wenige Meter vom Boden entfernt. Der vereiste Hang war mit scharfkantigen Felsbrocken übersät. Ein paar Meter entfernt zitterten drei dünne Pinien im Wind der Rotorblätter.

Schließlich war er auf dem Boden angelangt. Mit dem Rettungsgurt in der Hand eilte John zu der Frau. Ihre dunklen Augen waren schon ganz glasig – ein typisches Zeichen von Unterkühlung. Und John konnte Angst in ihrem Blick lesen, reine nackte Angst. Sie bewegte ihre vollen blassen Lippen, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.

John brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Selbst in diesem erbärmlichen Zustand war die Frau wunderschön. Welliges rotes Haar umrahmte ein anmutiges Gesicht mit hohen Wangenknochen.

„Hallo“, rief er schließlich ihr zu und setzte sein bestes „Alles-wird-gut-Lächeln“ auf. „Mein Name ist John. Ich bin Sanitäter. Mein Team und ich holen Sie jetzt hier heraus und bringen Sie in ein Krankenhaus. Haben Sie mich verstanden?“

Ihr Blick war benommen, das Gesicht so weiß wie der Schnee, den der Medicopter um sie herum aufwirbelte. Aber sie war am Leben, und dafür konnten sie beide verdammt dankbar sein. Denn eins hatte John bei seiner Arbeit gelernt – er war ein schlechter Verlierer, wenn der Tod ihm zuvorkam.

Er erreichte die Frau gerade noch rechzeitig, um sie festzuhalten, bevor sie auf dem gefrorenen Boden zusammensank. Selbst durch die dicken Handschuhe hindurch fühlte er, wie sehr sie zitterte. „Ganz ruhig“, sagte er. „Ich bin bei Ihnen. Sie sind in Sicherheit.“

„Bitte … nein.“ Zu seiner Verblüffung riss sie sich los. „Lass mich …“

„Ruhig …“

Entgeistert starrte er auf die Waffe, die urplötzlich in ihrer Hand auftauchte und die sie direkt auf sein Gesicht richtete. Fluchend wich John zurück. „Was zum Teufel soll das?“

„Ich bringe dich um“, stammelte sie. „Das schwöre ich. Dafür wirst du bezahlen.“

Er hob beide Hände über den Kopf. „Sehen Sie? Ich tue Ihnen nichts. Jetzt legen Sie die Waffe weg, bevor jemand verletzt wird.“

John wusste, dass Unterkühlung zu geistiger Verwirrung führen konnte. Ein Kollege von der Küstenwache hatte ihm von einer Bergung auf hoher See erzählt, bei der ein Schiffbrüchiger sich so heftig gegen seine Rettung gewehrt hatte, dass sie ihn nicht in den Korb bekamen. Er war ertrunken.

„Ganz ruhig“, sprach er beschwörend auf die Frau ein. „Sie sind verletzt und verwirrt. Legen Sie die Waffe hin und lassen Sie mich Ihnen helfen.“

Sie schwankte. „Bleib weg. Bleib einfach nur …“

Blitzschnell machte er einen Satz auf sie zu. Sie schrie auf und schlug nach ihm. Mühelos wich er aus und griff nach der Waffe. Doch bevor er sie zu fassen bekam, entglitt sie ihren Fingern, fiel zu Boden und rutschte den Abhang hinunter.

Blinzelnd sah die Frau ihn an, als würde sie ihn erst jetzt richtig wahrnehmen. „Ich dachte … Ich dachte … Richard …“

Sie schwankte und John hielt sie an den Schultern fest. Ihr feuchtes zimtfarbenes Haar streifte seinen Arm und ein Duft, der ihn an Akelei im Frühjahr erinnerte, stieg ihm in die Nase. Er betrachtete ihr Gesicht nun erstmals aus der Nähe. Ihre Haut war so makellos weiß, dass der Bluterguss an der linken Schläfe und die Schnittwunde am Kinn um so dramatischer wirkten. Doch selbst der hässliche Kratzer an der Nase schmälerte ihre Schönheit nicht im Geringsten.

Fasziniert starrte er sie an. Sie besaß die unglaublichsten braunen Augen, die er je gesehen hatte. „Wie heißen Sie?“, rief er.

„Ich …“ Sie runzelte die Stirn und blinzelte noch heftiger als zuvor. „Ich … bin …“

Sie war blass und verstört – beides Anzeichen für eine Unterkühlung. Klitschnasse Jeans und ein Pullover waren schließlich auch kein Schutz gegen die eisigen Temperaturen. John schaute auf ihre Füße und fluchte. Die Frau trug nicht einmal Schuhe.

„Ist jemand bei Ihnen?“

Sie zuckte zusammen, und ihr Blick wurde wieder panisch. „Ich … weiß es nicht.“

„Konzentrieren Sie sich, denken Sie nach.“ Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und zwang sie, ihm in die Augen zu schauen. „Sind Sie allein? Ich muss wissen, ob sonst noch jemand hier ist. Gibt es noch weitere Verletzte?“

„Ich … bin nicht sicher.“ Sie sah über die Schulter. „Ich glaube … ich bin allein.“

Er stützte sie mit einem Arm, während er ihr den Rettungsgurt umlegte. „Was ist passiert?“

„Er hat mich … verfolgt.“ Ihre Augen wurden groß. „Oh nein. Bitte, nein. Richard, bitte, nicht …“

„Beruhigen Sie sich“, sagte John leise.

„Ich lasse mich nicht von dir …“

„Hören Sie auf damit!“ Er schüttelte sie leicht. Sie durfte unter keinen Umständen die Fassung verlieren oder panisch werden. Das konnte sehr gefährlich sein – John musste sicher sein, dass sie ruhig bleiben würde, während der Heli sie von diesem Abhang hochzog.

Als ihre Blicke sich wieder trafen, ließ das nackte Entsetzen in ihren Augen ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Irgendetwas oder irgendjemand hatte diese Frau in Todesangst versetzt. „Hören Sie, ich bin John. Ich tue Ihnen nichts. Niemand wird Ihnen etwas tun. Sie sind in Sicherheit. Haben Sie mich verstanden?“

Ihre Lider flackerten und die Knie gaben nach. John hielt sie fest, bevor sie zusammensacken konnte.

„Großartig“, murmelte er, während er ihren Gurt festzog, ihn an seinem befestigte und ihren kraftlosen Körper an seinen drückte. „Jetzt geht es aufwärts. Entspannen Sie sich und genießen Sie den Flug.“

Sie bewegte sich. „Ich kann … meine Hände nicht fühlen“, sagte sie. „Sie sind taub. Ich kann mich nicht festhalten.“

„Das brauchen Sie auch nicht. Ich halte Sie.“

„Bitte … lassen Sie mich nicht los“, flehte sie.

Er legte ihre Hände an seine Brust und umfasste sie mit beiden Armen. „Keine Angst. Ich lasse Sie nicht los. Versprochen.“

Er wollte ihr beruhigend zulächeln, wie er es schon bei hundert anderen Leuten während hundert anderen Bergungen getan hatte, doch ihr Blick hinderte ihn daran. Was er in den dunkel schimmernden Augen wahrnahm, ließ ihn für einen atemberaubenden Moment den wirbelnden Schnee und heulenden Wind vergessen. Es gab nur noch sie beide, den Druck ihres anmutigen Körpers an seinem, den Duft ihres Haars – und die Angst, die sie ausstrahlte.

„Komm schon, Maitland, was machst du da unten? Ein Picknick?“ Buzz Malones Stimme holte John jäh in die Realität zurück. „Sieh zu, dass du nach oben kommst!“

John zwang sich, den Blick vom Gesicht der Frau abzuwenden, und gab seinem Kollegen ein Handzeichen, dass er bereit war. Sekunden später straffte sich das Drahtseil, und sein Schützling schrie leise auf, als sie beide von den Füßen gerissen wurden.

„Der Mann da oben hat das Zartgefühl eines Gorillas“, knurrte John, um sie zu beruhigen. Er wusste, dass niemand besser mit der Seilwinde umgehen konnte als Buzz, der es bei diesem Wetter verständlicherweise eilig hatte.

John versuchte, an Infusionen, Erfrierungen, den Funkspruch ans Krankenhaus von Lake County und mögliche innere Verletzungen der Frau zu denken – aber ihre Arme um seine Taille, mit denen sie sich wie eine Ertrinkende an ihn klammerte, fühlten sich zu gut an, als dass er sich auf das Medizinische hätte konzentrieren können. Durch den dick gefütterten Overall hindurch spürte er ihre erregenden Rundungen, ihr duftendes Haar wehte ihm ins Gesicht.

Himmel, was war nur mit ihm los? Er war Sanitäter, und diese Frau war in seiner Obhut. Und vor zwei Minuten hatte sie ihn mit einer Pistole bedroht!

Die Erinnerung daran half ihm, sich wieder auf seine Aufgabe und den Einstieg in den heftig schwankenden Medicopter zu konzentrieren. Als eine besonders kräftige Böe sie gegen die Kufe des Hubschraubers schleuderte, drehte John sich im letzten Moment, um die Frau mit seinem eigenen Körper vor dem Aufprall zu bewahren.

„Das wurde aber auch Zeit.“ Das war Buzz Malone, der ihn und die Frau mit viel Muskelkraft in die Kabine zog. „Und, was hast du uns mitgebracht?“

„Unterkühlung. Wahrscheinlich sogar Erfrierungen.“ John betrachtete die Frau in seinen Armen und spürte einen leisen Anflug von Verlangen. Großartig.

Ihre Blicke trafen sich, und ein mattes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Tief in seiner Brust fühlte John einen leichten Stich. Das war neu, ungewohnt – und verdammt irritierend. Er wollte etwas Flapsiges sagen, um seinen Kollegen zu beweisen, dass er sich von rotem Haar und wunderhübschen Augen nicht beeindrucken ließ. Aber zum ersten Mal in seinem Leben ließ ihn seine Schlagfertigkeit im Stich. Stattdessen starrte er die Frau nur an und hoffte inständig, dass der Rest der Besatzung es nicht bemerkte.

„Willst du den ganzen Tag da herumstehen, oder kann ich die Lady jetzt losmachen?“

John zuckte zusammen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die Frau sich nicht mehr an ihn klammerte, sondern er es war, der sie noch immer festhielt. Hastig hakte er ihren Gurt aus und übergab sie den ungeduldig wartenden Männern.

„Was ist los, John? Hat dich dort draußen der Blitz getroffen, oder was?“, fragte Buzz in seiner diplomatischen Art.

„Muss der Felsvorsprung gewesen sein, gegen den Flyboy mich geknallt hat“, murmelte John und trat zurück.

Er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass etwas mit ihm passiert war. Diese Frau raubte ihm weit mehr als nur den Atem.

Sie sah ihn auch dann noch an, als Buzz und Pete Scully bis drei zählten und sie auf die Trage legten. Bewaffnet oder nicht, sie hatte die unglaublichsten Augen, in die er je geblickt hatte. Ihre Farbe war die von edlem Cognac, und sie verrieten Intelligenz, Erleichterung – und Dankbarkeit.

Tat es ihm einfach nur gut, von einer attraktiven Frau bewundert zu werden? Nein, es war mehr als das, daran ließ sein Körper keinen Zweifel. John war kein Casanova. Er wusste genau, wie riskant es war, sich den Kopf verdrehen zu lassen.

„Buzz.“

Buzz bereitete gerade die Infusionsnadel vor. „Was ist?“, fragte er, ohne sich umzudrehen.

„Sie hatte eine Waffe.“

Erst jetzt fuhr der Teamchef herum. „Was?“

„Ich sagte, sie hatte eine …“

„Ich habe dich verstanden.“ Ungläubig starrte Buzz die Frau an. „Wo ist sie?“

„Sie hat sie fallen lassen.“

„Hat sie dich damit bedroht?“

John zögerte. Buzz war Polizist gewesen. Er vertraute seinem Urteil. „Sie hatte Angst und war verwirrt.“

„Also hat sie, ja?“

„Sie hat mich für jemand anderen gehalten“, erklärte John und verstand nicht, warum er sich gerade wie ein Verräter vorkam. Er war der Frau nichts schuldig. Konnte er überhaupt ausschließen, dass sie eine Kriminelle war?

„Wen hat sie denn erwartet? Jack the Ripper?“

„Sie war panisch.“

„Panisch genug, um auf einen Mann zu schießen, der ihr das Leben retten will?“

John sah zu ihr hinunter. „Ich glaube nicht, dass sie geschossen hätte.“

Buzz fluchte. „Mach den Schlauch fertig, Scully“, knurrte er seinen Assistenten an. „Sie braucht dringend Flüssigkeit.“ Mit der Schere aus dem Notfallkoffer schnitt er ihren Pullover auf und erstarrte, als er die Blutergüsse an den Oberarmen und am Hals entdeckte. „Was zum …“

John sah sofort, dass die blauen Flecken von den Fingern einer Männerhand stammten. Empörung stieg in ihm auf. Übelkeit breitete sich in seiner Magengrube aus, als ihm das Bild einer anderen Frau durch den Kopf schoss. Einer Frau mit Angst in den Augen und bläulich verfärbten Stellen am Körper. Die Erinnerung war so lebendig, dass ihm für einen kurzen Moment der Atem stockte.

„Sieht aus, als hätte sie sich verteidigt“, stellte Scully fest.

Die Frau versuchte, sich aufzusetzen. „Bitte … nicht …“, wisperte sie, als sie ihren Blick auf die Schere richtete.

Buzz hatte früher als Polizist und dann als Sanitäter schon zu viele Verletzungen dieser Art gesehen, um dadurch aus der Fassung zu geraten. „Beruhigen Sie sich, Honey“, sagte er sanft. „Wir müssen etwas gegen Ihre Unterkühlung tun. Ihre Sachen sind völlig durchnässt. Halten Sie jetzt still, ja?“

Fröstelnd sank sie auf die Trage zurück und schloss die Augen. Aber John sah ihr an, wie verkrampft sie war. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und presste die Zähne so fest zusammen, dass die Wangen zuckten. Sie zitterte am ganzen Körper.

Seit John mit siebzehn Jahren der elenden Mietskaserne in Philadelphia den Rücken gekehrt und nie wieder zurückgeblickt hatte, befolgte er eine eiserne Regel: Halte Abstand! Zu den Menschen um dich herum. Zu deinen Patienten. Und vor allem zu Frauen. Ein einziges Mal in den letzten dreizehn Jahren hatte er diese Regel gebrochen – und einen entsetzlichen Preis dafür bezahlt. Er hatte sich geschworen, dass dies nie wieder passieren würde. Aber warum schlug sein Herz dann wie eine Trommel, als er beobachtete, wie der Frau Tränen über die Wangen rannen?

Er nahm eine Decke heraus und legte sie über sie. „Warum weinen Sie?“

„Ich dachte … ich … muss sterben.“

„Ich habe wohl vergessen, es Ihnen zu sagen, aber das hätte ich nicht zugelassen“, sagte er.

„Sie haben mir das Leben gerettet“, flüsterte sie.

Sie sprach so undeutlich, dass er sie nur mit Mühe verstand.

Buzz verzog das Gesicht. „Ihr Atem ist flach. Sie fröstelt nicht mehr. Körpertemperatur steigt. Keine geweiteten Pupillen. Aber ich will nichts riskieren. Pete, Sauerstoff!“

John berührte ihre Wange mit dem Handrücken. „Nicht ohnmächtig werden, Rotschopf! Na los, machen Sie die Augen auf.“

Er wusste, dass seine Kollegen die Situation unter Kontrolle hatten, aber es fiel ihm schwer, die Frau mit ihnen allein zu lassen. Schließlich gab er sich einen Ruck, richtete sich von der Trage auf, um zum Funkgerät zu gehen. Ihre Stimme hielt ihn zurück.

„Danke“, wisperte sie.

John fühlte, wie ihm warm wurde, und öffnete den obersten Knopf seiner Montur. „Halten Sie sich einfach an Ihren Teil unserer Abmachung.“

„Was ist … mein Teil?“

„Sie bleiben wach, bis wir Sie im Krankenhaus haben. Schaffen Sie das?“

„Willst du den ganzen Tag da hocken bleiben und ihr schöne Augen machen, oder gibst du jetzt endlich unsere Ankunft durch?“

John warf seinem Einsatzleiter einen wütenden Blick zu, aber zum zweiten Mal auf diesem Flug fiel ihm keine passende Antwort ein. Ihm war klar, dass Buzz ihn damit aufziehen würde. John Maitland, der Unberührbare, wurde zu einem sanftmütigen Lamm, nur weil eine Patientin ein hübsches Gesicht, rotes Haar und eine gute Figur besaß.

Er unterdrückte einen Fluch, trat ans Funkgerät, riss das Mikrofon aus der Halterung und rief das Krankenhaus von Lake County. „Hier ist RSMAR Eagle Zwei-Neun. Wir haben eine Patientin an Bord. Name unbekannt. Etwa neunundzwanzig Jahre alt. Möglicherweise Kopfverletzung. Unterkühlung. Atem flach. Erfrierungen. Mehrere oberflächliche Verletzungen. Wir brauchen ein CT. Geschätzte Ankunft in zwölf Minuten.“

Während sie die Landeerlaubnis bekamen, riskierte John einen Blick auf die rothaarige Schönheit, die er gerettet hatte. Er war nicht sicher, warum sein Bedürfnis, sie zu beschützen, so groß war. Sie würde wieder gesund werden, und sobald ihre Temperatur sich normalisiert hatte, würde sich auch ihre Verwirrung legen. Und was war mit ihm?

Spätestens, wenn sie das Krankenhaus erreichten, würde er wieder der Alte sein. Ein Profi, der Verletzte barg – kein Mann, der sich von einem Augenpaar aus der Fassung bringen ließ. Er sah auf die Uhr. Noch elf Minuten.

Ja, in elf Minuten würde dieser Unsinn vorbei sein.

2. KAPITEL

Eine herrliche Wärme hüllte sie ein, und sie fühlte sich vollends entspannt. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden, und auch die Hände und Füße taten ihr nicht mehr so weh. Sie fühlte sich, als ob sie träumte – und das Beste an diesem Traum war der Mann in dem orangefarbenen Overall. Der Mann mit dem kurzen schwarzen Haar, den strahlend blauen Augen und dem verwegenen Lächeln. Der Mann, der vom Himmel geschwebt war, um sie zu retten.

Wovor?

Sofort war die Angst wieder da und das Gefühl der Wärme verschwunden. An seine Stelle trat etwas Finsteres und Bedrohliches. Panik erfasste sie wie der Schatten eines riesigen Raubvogels. Sie fühlte sich hilflos, verfolgt, ausgeliefert. Warum? Ihr Verstand fand keine Erklärung dafür.

„Wachen Sie auf, Honey. Sie haben Besuch.“

Sie machte die Augen auf. Das Licht war so grell, dass sie die Hand hob, um sich davor zu schützen. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Finger bandagiert waren. Stöhnend ließ sie die Hand wieder sinken und starrte blinzelnd auf die beiden verschwommenen Gestalten, die im Zimmer standen.

„Wo bin ich?“ Ihr Hals war so rau, dass sie nicht mehr als ein Krächzen von sich geben konnte.

„Im Krankenhaus von Lake County“, erwiderte die fröhliche Frauenstimme. „Sie sind gestern Morgen eingeliefert worden. Wie fühlen Sie sich?“

Es dauerte eine Weile, bis der Nebel sich lichtete und eine weißhaarige Frau mit freundlichen Augen und schokoladenbrauner Haut zum Vorschein kam. Sie lächelte. „Ich bin Cora, Ihre Krankenschwester, und möchte jetzt Ihren Puls messen.“

Eine Krankenschwester, dachte sie. Ein Blick auf den Monitor neben dem Bett bestätigte, dass sie sich tatsächlich in einer Klinik befand.

Warum bin ich hier?

Bevor sie die Frage aussprechen konnte, nahm Schwester Cora ihre Hand und tastete nach dem Puls. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah mit zusammengekniffenen Augen zu dem Mann hinüber, der an der Tür stand. Moment, war das nicht der Mann aus ihrem Traum? Auf seinem Gesicht lag das Lächeln, das ihr so vertraut schien.

„Hi, Rotschopf. Wie geht es Ihnen?“

Rotschopf? Sie brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass er sie damit meinte. Sie räusperte sich. „Ich glaube, mein Kopf ist noch nicht ganz wieder in Ordnung.“

„Das tut mir leid. Sie sehen gut aus.“

„Wenn ich so aussehe, wie ich mich fühle, sind Sie ein Lügner.“

Trotz der Schmerzen und des Schleiers vor den Augen entging ihr nicht, wie attraktiv der Mann war. Statt des Overalls trug er ausgeblichene Jeans, die schmale Hüften und muskulöse Schenkel zur Geltung brachten. Unter dem offenen Flanellhemd spannte sich ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Sanitäter“ um seine breite Brust. Die hoch geschnürten Trekkingstiefel vervollständigten ihren Eindruck, dass dieser Mann wohl kaum in einem Büro arbeitete. Aber es waren die Augen, die sie am meisten beeindruckten. Noch nie hatte sie blauere Augen gesehen. Eisblau, wie ein Morgenhimmel im Winter. Das schwarze Haar war militärisch geschnitten, er selbst hingegen wirkte alles andere als soldatisch korrekt. Nicht mit den Bartstoppeln und dem fast frechen Grinsen, das seinen markanten Mund umspielte. Selbst in ihrem benommenen Zustand registrierte sie, dass er ein Mann war, von dem Frauen träumten.

Na ja, genau das hatte sie getan, bevor sie aufwachte.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er.

„Kopfschmerzen.“ Sie schluckte mühsam. „Die Güterzugversion.“

Die Schwester ließ ihre Hand los und tätschelte sie mütterlich. „Das ist bei einer Gehirnerschütterung normal. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen etwas dagegen.“

Eine Gehirnerschütterung? Das erklärte die Kopfschmerzen und die Übelkeit. Wie um alles in der Welt war das passiert? Sie hob die Hände und schaute auf die Verbände. Warum waren die Finger bandagiert? Und wer war der attraktive Naturbursche, der sie so erwartungsvoll ansah, als würde sie ihm sämtliche Fragen beantworten können.

„Wie heißen Sie, Honey?“, fragte die Schwester.

Die Frage verwirrte sie für einen Moment. Natürlich kannte sie ihren Namen. Dass er ihr nicht sofort einfiel, musste an der Gehirnerschütterung liegen. Ihr Name. Sicher. Gleich würde sie ihn wissen. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und sich zu entspannen.

„Mein Name?“ Als ihr klar wurde, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie hieß, klopfte ihr Herz schneller. Was war nur passiert? Sie geriet in Panik und setzte sich ruckartig auf. Doch der Stich hinter der linken Schläfe war so gewaltig, dass sie sich zurückfallen ließ.

„Ruhig, Honey. Das ist nur die Gehirnerschütterung“, beruhigte die Schwester. „Regen Sie sich nicht auf. Dr. Morgan macht gerade Visite. Sie müsste gleich hier sein.“

Das war nicht das, was sie hören wollte. „Ich weiß meinen Namen nicht“, flüsterte sie schockiert. „Mein Gott, ich habe meinen eigenen Namen vergessen!“ Sie schaute von der Schwester zu dem Mann und wieder zurück. „Wie kann das sein?“

Die beiden wechselten einen besorgten mitfühlenden Blick, der sie nicht gerade beruhigte. Mühsam setzte sie sich auf. „Wie bin ich hierher gekommen? Was ist passiert?“

„Ich hole Dr. Morgan“, sagte Schwester Cora und ging hinaus.

Sie sah ihr nach und wehrte sich gegen die immer größer werdende Panik.

Autor