Das Geheimnis der Perle

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Liana ist verzweifelt: Ihr zehnjähriger Sohn ist verschwunden! Und er hat die geheimnisvolle Perle mitgenommen, die jedem Unglück bringt - ein epischer Roman von Emilie Richards.

Matthew ist verschwunden! Liana ist außer sich vor Angst: Wie jedes Jahr sollte ihr zehnjähriger Sohn den Sommer bei seinem Vater in New York verbringen. Aber diesmal ist er nicht angekommen. Und nicht nur der Junge ist wie vom australischen Erdboden verschluckt. Sondern auch die Perle aus Lianas Safe: eine schimmernde Schönheit, die vor über einem Jahrhundert vom Grund des Indischen Ozeans geborgen wurde. Unermesslich wertvoll, hat sie allen, die sie je besaßen, Unglück und Leid gebracht … Verzweifelt machen sich Liana und ihr Exmann auf die Suche nach Matthew. Und kommen dabei nicht nur einem Familiengeheimnis immer näher, sondern einer Wahrheit, die sie sich nie eingestehen wollten.


  • Erscheinungstag 01.08.2011
  • ISBN / Artikelnummer 9783862780785
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

San Francisco – Gegenwart

Hey, Lady! Hüten Sie sich vor Haien!“

In einem anderen Zusammenhang wäre Liana Robeson diese Warnung vielleicht nicht so bedrohlich erschienen. Hätte eine Mutter ihrem halbwüchsigen Sohn vor dem Surfen einen Vortrag gehalten zum Beispiel. Oder ein scheidender Firmenchef die Zügel an seinen jungen Nachfolger übergeben. Dann wäre das auch sicher ein guter Ratschlag gewesen. Aber hier, auf einem Gehsteig mitten in San Francisco, kurz vor ihrer schlimmsten Panikattacke seit Monaten, versetzten Liana diese Worte in Alarmbereitschaft.

Sie war umgeben von Haien, und sie spürte, wie die Bestien sie umkreisten.

„Vergessen Sie das nicht, ja?“

Liana tätschelte die Handpuppe, mit der der Obdachlose vor ihrem Gesicht herumwedelte. „Nein … ich werde es nicht vergessen.“

Die Puppe, ein grinsender Delfin, kippte zur Seite, während der dunkelhäutige, ausgemergelte Mann ein Stückchen näher kam. „Alles klar mit Ihnen?“, rief er über das Läuten einer Straßenbahn hinweg. „Sie sehen blass aus!“

„Ich …“ Doch mehr Worte kamen Liana nicht über die Lippen. Es ging ihr gar nicht gut. Sie war eine achtunddreißigjährige Geschäftsfrau, die es kaum schaffte, allein über den Gehsteig zu gehen. Sie hatte Angst vor weiten, offenen Flächen. Sie fürchtete sich vor dem Unbekannten. Und ihr graute vor den Mächten in ihrem Leben, die sie nicht sehen oder kontrollieren konnte. Sie war eine Mutter, die ihren Sohn erst vor ein paar Stunden mit einer Boeing 737 in die große Ungewissheit entlassen hatte: Um Viertel nach acht hatte sie zugesehen, wie ihr einziges Kind in ein Flugzeug gestiegen war, das ihn zu seinem Vater bringen würde. Und jetzt bezahlte sie den Preis dafür.

Der Mann musterte sie besorgt. Er wartete, bis die Straßenbahn verschwunden war, ehe er sagte: „Wollte Ihnen keine Angst machen. Mein Flipper hier tut Ihnen nichts.“

Liana schloss die Augen. Für einen Moment befand sie sich in ihrer eigenen kleinen Welt. Kälte kroch über ihre erhitzte Haut. Sie würde sich in Eis verwandeln, wenn Liana sich nicht befreite. Ja, sie kannte diese kleine Welt, und sie wusste, was sie erwartete: eiskalte Haut, hämmernder Puls und das Gefühl von Abermillionen Nadelstichen an Armen und Beinen.

„Haben Sie heute schon was gegessen, Schätzchen?“

Liana öffnete die Augen. Der Mann war immer noch da. Sie trug thailändische Seide und irisches Leinen; sein T-Shirt war billig und alt. Unter seinem Arm klemmte ein Stapel Zeitschriften, die von Obdachlosen herausgegeben wurden. Liana wies ihren Chauffeur immer an, eine zu kaufen, aber gelesen hatte sie sie noch nie.

„Danke, es geht mir gut.“ Um Kontrolle bemüht, deutete sie auf die Zeitungen. „Ich nehme eine.“

„Das ist nett. Sag Danke, Flipper!“ Flipper und er sahen den Stapel nach der schönsten Zeitung durch.

Erst jetzt fragte Liana sich, ob sie überhaupt Geld dabeihatte. Sie war Vizepräsidentin eines der größten Projektentwicklungsunternehmen der Bay Area. Nachdem sie ihren Sohn Matthew zum Flughafen gebracht hatte, hatte sie Pacific International an diesem Morgen schon bei zwei Meetings repräsentiert und mit einigen internationalen Immobilienmagnaten Meeresfrüchtesalat bei Tarantino’s gegessen.

Dann hatte sie den Fehler gemacht, die Limousine stehen zu lassen. Sie wollte die letzten drei Blocks bis zum Robeson Building zu Fuß zu gehen. Sie hatte sich dazu gezwungen, weil ihre Welt immer enger wurde. Sie musste dagegen ankämpfen.

Sonst würde sie eines Tages aufwachen und ihr Schlafzimmer nicht mehr verlassen können.

Sie öffnete ihre Geldbörse, fand jedoch nur eine zerknitterte Dollarnote. Das war eigentlich mehr als genug, aber sie hatte nicht oft die Gelegenheit, anderen Menschen mit Liebenswürdigkeit zu begegnen.

„Nehmen Sie das.“ Sie steckte ihm das Geld zu, während ein Fahrrad an ihnen vorbeisauste. Es überraschte sie nicht, dass ihre Hand zitterte. „Und das hier.“ Sie berührte die Brosche, die an ihrem Blazer steckte. Sie stammte noch aus der Zeit, als sie jung und dumm gewesen war. Aus der Zeit, in der sie geglaubt hatte, ihrem Herzen folgen zu müssen. Kleine Perlen, in Gold eingefasst. Der einzige Mann, den sie je geliebt hatte, hatte diese Perlen gezüchtet, und sie selbst hatte die Brosche angefertigt.

Sie hielt dem Mann das Schmuckstück hin.

Seine Augen wurden groß. „Das kann ich nicht annehmen …“

„Natürlich können Sie!“ Sie griff nach seiner Hand und schloss seine schmutzigen Finger um die Brosche. „Bringen Sie sie zu einem guten Juwelier.“

Fasziniert starrte er das Schmuckstück an, während sie sich abwandte. Sein Gesichtsausdruck verfolgte sie immer noch, als sie das Bürogebäude betrat und über den schwarzweißen Marmorboden zum Aufzug ging. Im Lift schloss sie die Augen.

Es überraschte sie nicht, dass sie gerade an diesem Tag von Panik erfüllt war. Schließlich war es Juni. Der Monat, in dem ihr geliebter Sohn seinem Vater Cullen Llewellyn gehörte. Wahrscheinlich war Matthew bereits auf dem LaGuardia Airport in New York gelandet und herzlich von Cullen empfangen worden.

Seit Wochen sprach Matthew von nichts anderem, als wieder bei seinem Vater zu sein. Sie würden eine Campingtour zu den White Mountains machen, dann weiter zur Küste nach Maine, wo Cullen ein Boot und eine einfache Fischerhütte gemietet hatte. Cullen, der im australischen Outback mit Kängurumilch und Wasserbüffelfleisch aufgezogen worden war. Cullen, halb Mad Max, halb Crocodile Dundee. Er wollte aus ihrem gemeinsamen Sohn einen richtigen Mann machen.

Mit seinen vierzehn Jahren war Matthew dafür zwar eigentlich im richtigen Alter, aber er war immer noch so empfindsam wie ein Kind. Er war ein breitschultriger Junge mit einem großen Herzen – und Lianas Ein und Alles. Obwohl nichts darauf hindeutete, dass er seinem Vater den Vorzug geben würde, hatte sie jedes Jahr im Juni Angst, er würde nie wieder zurückkehren.

Wie sollte es auch anders sein, wenn Cullen Llewellyn im Spiel war? Vor einem Jahrhundert hätte einer seiner Vorfahren beinahe die Robesons zerstört. Und vor zehn Jahren hätte Cullen beinahe sie zerstört.

Liana sank gegen die Holztäfelung und bedeckte ihre Augen. Sie sagte sich, dass sie in diesem Gebäude, in ihrem zweiten Zuhause, sicher sei. Und dass Matthew selbstverständlich wiederkommen würde.

Alles war in Ordnung.

Die vertraute Umgebung wirkte beruhigend auf sie. Auch wenn ihre Gedanken sich noch überschlugen, konnte sie allmählich vernünftiger denken. Und als sie im obersten Stock aus dem Aufzug trat, hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Mit gestrafften Schultern und erhobenem Kopf ging sie durch den Flur.

„Liana?“

Frank Fong, der Marketingdirektor, kam ihr entgegen. „Dein Ex hat angerufen. Zwei Mal.“

Liana behielt ihren Schritt bei. Sie nickte ihrem Stiefbruder Graham Wesley zu, Generaldirektor von Pacific International, der sich gerade im Flur vor seinem Büro mit einem Angestellten unterhielt. Er nickte ihr ebenfalls zu, doch ihre ernste Miene hielt ihn davon ab, zu ihr zu gehen. Ihre Sekretärin Carol, eine junge Frau, die schnell gekränkt war, sah sie erst gar nicht an, als sie an ihrem Schreibtisch vorbeiging.

Liana wartete, bis sie die Tür in ihrem Büro hinter sich geschlossen hatte, ehe sie Frank ansah. „Er klang sauer“, sagte Frank. „Carol hat ihn zu mir durchgestellt.“

„Das sind doch nur die üblichen Spielchen, Frank“, winkte Liana ab. „Cullen ruft an und sagt mir, dass Matthew gut angekommen ist, um mich dann mit Vorwürfen zu überhäufen. Zum Beispiel, dass ich die falschen Sachen eingepackt oder den Rückflug nicht richtig organisiert habe …“

„Es klang aber nach mehr als nur einer Kleinigkeit.“

„Cullen ist nicht in der Lage, seine Gefühle im Zaum zu halten“, entgegnete Liana scharf. „Deshalb war er während unserer Ehe einfach unglaublich im Bett. Den Rest des Tages war er allerdings ein kompletter Reinfall. Ich hätte mich nicht so schnell von ihm scheiden lassen, Schätzchen! Verglichen mit den meisten anderen Männern ist er ihnen zumindest im ersten Punkt einen wesentlichen Schritt voraus.“

Liana lehnte sich gegen die Schreibtischkante. Nur zögernd erwiderte sie Franks Lächeln. Frank und sie waren entfernt verwandt, ohne dass eine Ähnlichkeit erkennbar gewesen wäre.

Frank, hundertfünfzig Pfund Muskeln, war schnell mit einem Lächeln zur Hand, das genauso ansprechend wirkte wie die Straßen von Chinatown, wo er aufgewachsen war. Liana hingegen war zierlich gebaut und etwa eins fünfzig groß. Doch ihre schräg stehenden dunklen Augen und die leicht getönte Haut deuteten darauf hin, dass auch sie asiatische Wurzeln hatte.

Hastig warf sie einen Blick auf ihre Cartier-Uhr. „Hat Cullen gesagt, ob Matthew rechtzeitig angekommen ist? Ich habe nämlich gehört, dass es über den Rockies einen Sturm gegeben haben soll. Außerdem musste er in Denver umsteigen.“

„Nein, davon hat er nichts gesagt. Er wollte nur mit dir sprechen.“

Liana ließ sich ihre Verärgerung nicht anmerken. „Nun, da hat er Pech gehabt. Graham und ich müssen in zehn Minuten zu einem Interview.“

Frank wandte sich ab. „Ich habe ihm gesagt, dass du einen Termin hast und vielleicht nicht erreichbar bist.“

Erneut sah Liana ihn an. „Und was hat er gesagt?“

„Zur Hölle mit diesem verdammten Termin!“, erwiderte Frank mit australischem Akzent. An der Tür drehte er sich noch um. „Hältst du es für eine gute Idee, deinen Ex so abblitzen zu lassen? Vielleicht hat er ja etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“

Liana dachte an all die Diskussionen mit Cullen – während ihrer Ehe und in den zehn Jahren, seit sie geschieden waren. Ein ganzes Jahrhundert stand zur Debatte, in denen die Robesons und Llewellyns sich gegenseitig umgebracht und betrogen hatten. Lianas und Cullens Liebe stand von Anfang an unter einem unglücklichen Stern. Trotzdem hatte es eine Zeit gegeben, als sie beide glaubten, die dunklen Schatten der Vergangenheit bezwingen zu können.

Aber sie hatten sich geirrt.

Frank wurde allmählich ungeduldig. „Was ist denn jetzt, Liana?“

„Sollte ich noch da sein, wenn Cullen das nächste Mal anruft, sag Carol, dass sie ihn zu mir durchstellen kann. Ansonsten soll er mich heute Abend zu Hause anrufen. Carol soll sich inzwischen mit Matthew in Verbindung setzen. Vielleicht findet sie ja heraus, ob er gut gelandet ist.“

Kaum war Frank verschwunden, sackten ihre Schultern herab. Sie konnte nicht einmal tief durchatmen, schon klopfte es, und Graham erschien in der Tür.

Liana winkte ihn herein. Sie und ihr Stiefbruder waren keine Freunde, dafür hatte ihr Vater gesorgt. Aber sie akzeptierten einander, weil sie beide unter Thomas gelitten und ihn doch überlebt hatten. Der blonde Graham, der mit seinen vierzig Jahren immer noch gegen seinen Babyspeck ankämpfte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Liana. Und doch gab es eine Gemeinsamkeit: die Verbindung zu dem verachtenswerten Mann, der sie beide aufgezogen hatte.

Graham schloss die Tür und lehnte sich dagegen. „Jonas hat vor einer Weile angerufen.“

Jonas Grant war Reporter beim San Francisco Chronicle und für den Wirtschaftsteil zuständig. Liana zuckte die Schultern. „Ich habe ihm Unterlagen über all unsere derzeitig laufenden Projekte geschickt. Zumindest die, von denen er wissen darf. Braucht er noch mehr?“

„Er will, dass du die Perle mitbringst.“

Einen Moment starrte Liana ihn sprachlos an. Es gab nur eine Perle, die Graham meinen konnte: die Köstliche Perle, die Pearl of Great Price, benannt nach einer Heiligen Schrift. Die Perle, die über Jahrzehnte zwischen ihren und Cullens Vorfahren hin und her gegangen war, seit man sie im Indischen Ozean gefunden hatte. Die Perle, die das Logo ihrer Firma zierte.

„Soll das ein Scherz sein?“, sagte sie schließlich.

„Nein. Er meinte, die Perle wäre ein guter Aufmacher für seinen Artikel. Sie wollen ein Foto davon machen.“

Liana verfiel in Schweigen und dachte über Grants Anfrage nach. Erneut stieg Panik in ihr auf. Sie ging zum Fenster und warf einen Blick auf die Stadt und die Bucht davor.

„Ich nehme sie nur ungern in die Hand, Graham.“ Die Perle hatte eine turbulente Geschichte hinter sich. Sie war einzigartig in ihrer makellosen Schönheit, und doch hatte sie niemandem Glück gebracht. Und gerade heute, wo Matthew zur Ostküste aufgebrochen war, wollte Liana die Perle nicht anfassen. Sie drehte sich wieder um. „Ich kann sie ja nicht einfach zu meinem Lippenstift in die Handtasche stecken.“

Graham nickte verständnisvoll. „Wenn du sie wirklich nicht anfassen willst, kann ich das für dich tun. Es ist doch nur eine Perle.“

Die Tür fiel hinter Graham ins Schloss. Liana wartete einen Moment, ehe sie das Büro durchquerte und sie absperrte. Dann lehnte sie sich dagegen und starrte auf den Druck von Georgia O’Keeffe, der an der Wand neben ihrem Schreibtisch hing. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr war es still in diesem Raum, nur der Verkehrslärm drang gedämpft von unten herauf. Doch Liana war hier trotz der verschlossenen Tür nie richtig allein. Das Büro hatte ihrem Vater gehört. Und obwohl Lianas Innenarchitekt sein Bestes gegeben hatte, hing immer noch Thomas Robesons Geist über allem. Schlimmer noch: Hinter der Wand lag der greifbare Beweis dafür, dass manche Dinge unvergänglich waren.

Verbittert wiederholte sie Grahams Worte. „Es ist doch nur eine Perle.“

Ohne zu überlegen, ging sie zur Wand, hängte das Bild ab und stellte es vorsichtig auf den Boden. Dann wandte sie sich wieder der holzvertäfelten Wand zu und schraubte die vier kleinen Schrauben aus einem Panel. Schließlich starrte sie auf den Safe dahinter.

Graham und Frank wussten natürlich, dass sich die Perle hier befand. Die Vertäfelung konnte sie nicht hinters Licht führen. Allerdings war der Safe so sicher wie kein anderer. Dafür hatte ihr Vater gesorgt.

„Du warst ein Mistkerl, Thomas Robeson!“

An manchen Tagen vergaß sie beinahe, dass die Perle sich in diesem Raum befand. Dachte sie doch daran, redete sie sich ein, dass die Perle, sicher verschlossen hinter Stahl und Holz, ihr keinen Schaden zufügen konnte.

Und dann gab es wieder Tage, an denen sie sich von der Perle beobachtet glaubte. Verhöhnt.

Missmutig verzog sie das Gesicht, wischte ihre schweißfeuchte Hand am Rock ab und gab die lange Nummernkombination ein. Nur drei Menschen auf der ganzen Welt kannten diese Zahlen. Ihr verstorbener Vater, sie selbst und der Mann, der den Safe kalibriert hatte.

Sie trat zurück, ehe sie die letzte Zahl eingab.

In diesem Augenblick erklang Carols hohe Stimme durch die Gegensprechanlage. „Miss Robeson, Mr Llewellyn ist am Apparat.“

Liana zuckte zusammen, und ihr Herz schlug plötzlich schneller. Sie war hin und her gerissen zwischen der Perle und dem Mann, der ihr immer noch wehtun konnte.

„Miss Robeson, sind Sie da?“

Sie hörte, dass Carol leise hüstelte. Liana gab die letzte Zahl ein und öffnete den Safe, ehe sie zum Schreibtisch ging. Sie räusperte sich. „Hat er Ihnen gesagt, wie es Matthew geht?“

„Nein, tut mir leid. Aber er klingt aufgebracht.“

Liana sackte gegen die Schreibtischkante. Offenbar blieb ihr nichts anderes übrig, als das Gespräch entgegenzunehmen.

Sie nahm den Hörer, ehe sie wütend die Verbindung herstellte. „Cullen, spar dir deine Worte. Sag mir einfach nur, ob Matthew gut angekommen ist.“

Am anderen Ende war es still, bis auf eine Lautsprecherdurchsage vom Flughafen LaGuardia in New York. Dann knackte es in der Leitung. „Verdammt, Cullen, hör auf mit den Spielchen.“

Sein breiter, australischer Akzent dröhnte durch die Leitung. „Was soll das heißen, ob er gut angekommen ist? Soll das ein Witz sein?“

Leise wurde an die Tür geklopft, und Grahams Stimme erklang dahinter. „Liana, wir müssen gehen!“

Liana bedeckte ihr freies Ohr mit der Hand. „Das war eine einfache Frage! Hör zu, wenn Matthew bei dir ist, gib ihn mir. Ich hab es eilig. Wir beide können ein anderes Mal reden.“

„Er ist nicht angekommen, verdammt! Und das weißt du genau! Weil du ihn nicht in dieses Flugzeug gesetzt hast.“

Für einen Moment blieb ihr Herz stehen. „Was soll das heißen?“

„Matthew war nicht im Flugzeug! Er ist nie in dieses verfluchte Ding eingestiegen. Wo ist mein Sohn? Entweder sagst du mir sofort, was los ist, oder ich nehme den nächsten Flug nach San Francisco und schüttle es aus dir raus!“

„Liana, wir kommen zu spät!“, rief Graham jetzt lauter.

Fest presste Liana die Hand gegen das freie Ohr. „Du warst in der falschen Ankunftshalle, Cullen. Verdammt, er wartet irgendwo am Flughafen auf dich!“

„Ich weiß, wo er ankommen musste. Aber er war nicht da. Ich habe in der letzten Stunde auch alle Flüge aus Denver und San Francisco gecheckt. Er war in keinem von ihnen.“

„Ich habe ihn doch selbst zum Flughafen gebracht. Und ich habe gesehen, wie er eingestiegen und abgeflogen ist.“

Wieder war es still am anderen Ende. Schließlich sagte Cullen: „Dann ist unser Sohn irgendwo zwischen San Francisco und New York verloren gegangen, Liana.“

Der Hörer glitt ihr aus den Fingern. Sie hörte Cullens Stimme, hörte, wie Graham hinter der Tür nach ihr rief.

Langsam drehte sie sich um und starrte auf den geöffneten Safe. Als wäre die makellose Perle, die für ein Jahrhundert das Leben ihrer beider Familien schicksalhaft bestimmt hatte, von ihrem samtenen Podest gerollt und hätte ihren Sohn entführt.

Und dann wurde ihr bewusst, wie dumm diese Vorstellung war. Denn der Safe war leer.

Nicht nur das Kind, das ihr mehr bedeutete als alles andere auf der Welt, war verschwunden. Sondern auch die Perle.

2. KAPITEL

Broome, Australien – 1900

Australien nährte sich von den Seelen der Männer, zermahlte sie zu feinem rotem Staub, der über den endlosen trockenen Weiten niederging. Ein Land voller Versprechungen, die sich nie erfüllten; ein Land von quälender Hitze, die jede andere Hölle, der die Männer vielleicht eben noch entronnen waren, in den Schatten stellte. Und trotzdem spielte nichts von alledem eine Rolle. Australien war jetzt Archer Llewellyns neue Heimat. Bei der Schlacht in Cuba 1898 hatte er einen Offizier der Kavallerie getötet.

Er konnte nie wieder nach Hause zurück.

„Der gehört mir, Tom.“ Archer duckte sich, als ein Mann über den wackligen Tisch flog. Dann bearbeitete er ihn mit seinen Fäusten, bis sein Gegner zu Boden ging. Als der Kerl, der einen unangenehmen Gestank nach verdorbenen Austern verströmte, sich wieder aufrappeln wollte, kippte Archer den Tisch um und schickte den Riesen ein weiteres Mal zu Boden.

„Danke.“ Tom Robeson warf seinem Freund ein Grinsen zu, das jedoch verrutschte, als ihn die Faust eines Fremden traf.

„Verdammt, Tom, nimm deinen Kopf runter!“ Archer nahm Toms Angreifer in den Schwitzkasten und versetzte ihm mit der Stirn einen Schlag gegen den Kopf. Für einen Moment sah er nur Sterne; sie sahen allerdings anders aus als die, die seit zwei Jahren jede Nacht über ihm am Himmel leuchteten. Der Mann in seinem Arm hörte auf, sich zu wehren, und sackte zu Boden.

Archer trat ein Stück zurück und rief: „Will sich vielleicht noch jemand anders aus dieser gottverlassenen Stadt mit mir anlegen?“

Das halbe Dutzend Männer, das zugesehen hatte, wandte sich ab, als wäre nichts geschehen.

„Alles okay?“ Archer drehte Toms Wange ins Licht.

Grinsend schüttelte Tom die Hand seines Freundes ab. „Und was ist mit den beiden hier?“

Archers Blick flog zu den beiden Schlägern. Der Kleinere half dem Riesen gerade auf die Füße. Als sie dann zur Tür schwankten, sah keiner der beiden die zwei Amerikaner an. Archer verzog das Gesicht. „Sieht so aus, als könnten sie den nächsten Kampf gar nicht abwarten.“

Tom rieb sein Kinn. „Du hast mir den Hals gerettet. Wieder einmal.“

Archer tastete sein Kinn und seine Brust nach Blessuren ab. „Du wirst es nie lernen, wie? Du kannst dich zwar in einem Boxring behaupten, aber in einem Ort wie Broome hält sich keiner an die Regeln. Das wird dich noch den Kopf kosten.“

„Aber offensichtlich nicht, solange du in meiner Nähe bist.“ Tom streckte die Hand aus. Eine feingliedrige Hand, in der trotzdem Kraft steckte. Eine Hand, die sich nicht vor Schmutz drückte und die immer ausgestreckt wurde, wenn es galt, einem Freund zu helfen.

Grinsend schubste Archer den Freund von sich. „Lass uns weitermachen.“

Tom hatte immer schnell ein Lächeln auf den Lippen, selbst wenn sie geschwollen waren. „Mit was denn? Schlagen, trinken oder überlegen, wie wir ein Vermögen machen?“

Vom Ersten hatte Archer bereits genug, und der Rest von seinem Gin war auf dem Boden gelandet. Also blieb nur noch die Zukunft, die immer düsterer aussah.

„Ich hol dir noch einen Drink. Weil du meinen Hals gerettet hast.“

Archer zog sich einen Stuhl an den Tisch und sah zu, wie Tom sich zur Bar durchkämpfte. Sie gehörte zu der Pension hier, in der sie vorübergehend lebten und die kaum ihren Namen verdiente. Sie bestand aus ein paar Räumen hinter der Bar, mit schmutzigem Bettzeug und Blick auf die Gemeinschaftstoilette.

Es gab auch anständige Hotels in Broome; dort residierten die Perlenmeister in sauberen weißen Anzügen. Sie erzählten von Perlen, die so wertvoll waren, dass die europäischen Händler alles dafür geben würden. Doch die Pension war alles, was Tom und Archer sich leisten konnten, und selbst das vermutlich nicht mehr lange.

Er sah zu, wie Tom aufrecht zur Bar schritt. Auch wenn er nicht größer war als die anderen, verlieh ihm seine stolze Haltung etwas Majestätisches. Er war dunkelhaarig und hatte helle Haut. Archer hingegen war gedrungen. Von seiner irischen Mutter hatte er das rotbraune Haar und die Sommersprossen geerbt, von seinem Vater die stechend blauen Augen.

In diesem Moment erdröhnte neben Archer eine Stimme. „Wer ist denn dieser Fremde hier?“

Archer drehte sich zu dem Mann um. „Und wer will das wissen?“

„John Garth. Skipper John Garth.“ Der Mann, älter und sauberer als die anderen Gesellen, streckte seine Hand aus. Er war groß, hatte ein rötliches Gesicht und einen gezwirbelten Schnurrbart. Er trug die weiße Uniform der Perlenmeister, aber sein kragenloses Hemd stand oben offen. „Aber Sie können mich John nennen.“

Archer entspannte sich ein wenig. „Archer Llewellyn. Aus Amerika.“

John machte es sich bequem. „Wir haben nicht viele Amerikaner in Broome. Falls Sie hier Urlaub machen, sind Sie mit Sicherheit im falschen Hotel.“

„Und was treibt Sie dann her?“

„Die beiden Männer, die Sie eben verprügelt haben. Mein Muschelöffner und mein Hochbootsmann. Ich habe gesehen, wie die beiden hier herausgetorkelt sind, und bin gekommen, die Sache zu klären.“

„Und woher wollen Sie wissen, dass ich derjenige war?“

„Wenn ich mich hier so umsehe, kann es niemand anders gewesen sein.“

„Ihr Muschelsammler hat meinen Freund beleidigt.“

„Springen Sie einem Kerl immer bei?“

Gelassen zuckte Archer die Schultern. „Wenn notwendig, ja.“

„Loyalität ist eine feine Sache. Sonst hätten wir keine Ordnung hier in der Stadt oder auf See. Wir suchen uns immer loyale Männer für unsere Crew.“

„Und jetzt wollen Sie die Sache zu Ende bringen, weil Sie sich Ihren Männern gegenüber auch immer loyal verhalten?“

John hob eine Braue. „Ich zeige Ihnen mal, was ich unter Loyalität verstehe.“ Er griff in seine Hemdtasche und zog ein Säckchen heraus. „Sehen Sie sich das mal an.“

Stirnrunzelnd öffnete Archer das von einer Kordel zusammengehaltene Säckchen. Drei kleine, makellose Perlen lagen darin. Als er aufschaute, merkte er, dass der Skipper ihn aufmerksam ansah. „Für diese Perlen würde mancher Mann alles geben“, meinte Archer gedehnt.

John knotete das Säckchen wieder zusammen und steckte es zurück in seine Tasche. „Ich würde sagen, Sie sind aus Georgia. Oder aus Carolina.“

„Texas.“

„Und Ihr Freund?“

„Kalifornien.“

„Und warum sind Sie hier?“

Archer dachte immer noch an die Perlen. An der Küste von Broome konnte man das schönste Perlmutt der ganzen Welt finden. Es gab Männer, die allein mit Perlmutt ein Vermögen gemacht hatten.

Das Nebenprodukt der Austern, die das Perlmutt lieferten, waren Perlen wie diese eben, vermutlich die schönsten, die man im Meer finden konnte. Seit Archer und Tom vor drei Tagen in diese Stadt gekommen waren, hatte er noch nicht eine in der Hand gehalten.

Tom kam mit zwei schlecht gespülten Gläsern Bier zurück, stellte sie auf den Tisch und hielt dem Skipper die Hand hin, ehe er sich setzte. „Sind Sie auch scharf auf einen Kampf?“, meinte er grinsend. „Aber vielleicht könnten wir vorher unser Bier trinken.“

John gab dem Wirt ein Zeichen, der wenig später ein drittes Bier brachte. Er hielt es hoch. „Auf euch.“

Eine Weile tranken die Männer schweigend. Das Bier schmeckte schal.

Schließlich stellte der Skipper sein Glas auf dem Tisch ab. „Ich habe Mr Llewellyn eben gefragt, warum Sie hier sind.“

Tom fiel die Antwort nicht schwer. Er und Archer hatten sich schon vor langer Zeit auf diese Geschichte geeinigt. „Wir haben mit Roosevelt in Cuba gekämpft. Danach haben wir beschlossen, uns ein bisschen in der Welt umzusehen und unser Glück zu machen. Aber bis jetzt haben wir es noch nicht gefunden.“

John zuckte die Schultern. „Manche finden es in Broome.“

Archer schob sein Glas von sich. „Ich habe allerdings auch einige arme Kerle gesehen, die kein Glück hatten. Die halb tot draußen sitzen und darauf warten, dass die Sonne und die Sandfliegen ihnen den Rest geben.“

„Die Perlentaucher“, meinte John mit Bedauern. „Manche sterben dabei oder sind verkrüppelt für ihr ganzes Leben. Andere wiederum finden genug Perlmutt und Perlen, um zu Hause wie Könige leben zu können. Ich für mein Teil denke, dass es das Risiko wert ist.“

Archer dachte an all die Risiken, die Tom und er auf sich genommen hatten. Seit er geflohen war, um dem sicheren Tod durch die Justiz zu entkommen, hatten er und Tom einiges getan, um Geld zu machen.

Aber die Ausbeute war bisher mager gewesen. Und auch wenn Archer Llewellyn glaubte, dass er zu etwas Höherem geboren sei, sah sein Leben bis jetzt ganz anders aus.

„Broome ist kein Ort für weiße Männer.“ Archer kratzte mit dem Fingernagel über den Dreck an seinem Glas. „Tom und ich, wir sind beide erfahrene Seemänner. Aber man findet keine Arbeit, und wer hat schon genug Geld, sich ein eigenes Boot zu kaufen? In der Stadt wimmelt es von Schlitzaugen und Niggern, die für einen Hungerlohn Arbeiten verrichten, die ein Weißer nur für das Dreifache machen würde.“

„Soll ich daraus schließen, dass Sie die Gesellschaft von Asiaten und Aborigines nicht dulden würden?“, fragte der Skipper.

Archer grinste. „Ich würde sogar den Teufel persönlich dulden, um an Geld zu kommen.“ Er senkte seine Stimme. „Wegen dieser Perlen …“

„Ach ja, die Perlen.“ John zwirbelte seinen Schnauzbart. „Sie stammen von meinem Logger, der Odyssee. Aber ich habe sie heute zum ersten Mal gesehen. Cambridge Pete, der Bastard, den Sie verprügelt haben, hat sie in einer Muschel gefunden und an einen Mann verkauft, der sie mir wiederum heute Morgen angeboten hat.“

„Dann fehlen in Ihrer Crew jetzt ein oder zwei Männer.“

Der Skipper nickte und beugte sich vor. „Ich brauche einen neuen Muschelöffner. Leider kann ich nur einen Weißen für diesen Job nehmen. Den Farbigen kann ich das nicht anvertrauen.“

Tom verzog das Gesicht. „Eine weiße Haut ist aber auch keine Garantie, was? Falls mich nicht alles täuscht, ist Cambridge Pete unter all seinem Schmutz sicher weiß genug.“

„Mein Freund hier ist mit chinesischen Bediensteten aufgewachsen“, erklärte Archer dem Skipper. „Er hat was übrig für Gelbe mit Zopf.“

„Versteht mich nicht falsch“, meinte John. „Ich respektiere jeden Mann, der gut arbeitet, aber das ist nun mal ein Job für einen Weißen. Meine Muschelöffner melden mir unmittelbar jeden Fund und sind am Gewinn beteiligt. Also müssen wir uns hundertprozentig verstehen.“ Er hielt kurz inne. „Und, wie ist es mit uns? Verstehen wir uns hundertprozentig?“

Archer lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Es waren zwei Männer. Der Bootsmann und …“

„Genau. Auf meinem Schiff sind zwei Jobs frei.“ Er grinste. „Ihr seid beide erfahrene Seemänner, und den Rest kann euch meine Crew beibringen. Also, seid ihr dabei?“

John Garth besaß zwei Segelschiffe, die unabhängig voneinander arbeiteten; das Größere unterstand direkt seinem Kommando. Bald würde er genug Geld haben, um sich noch einen Schoner leisten zu können. Doch selbst mit dem kleinsten Boot konnte man ein Vermögen machen, wenn einer der Taucher die richtige Perle fand.

„Pinctada maxima.“ Tom ließ die Worte über seine Zunge rollen. Pinctada maxima war der Name einer Perlmuschel, die man an der australischen Westküste fand; sie produzierte die schönsten Perlen der Welt. Diese Muschel konnte den beiden Amerikanern einen sauberen Schlafplatz und anständiges Essen einbringen. „Hättest du je gedacht, dass du mit dem Öffnen von Perlmuscheln mal dein Leben bestreiten könntest?“

Archer bedachte ihn mit einem Grinsen. Wenn er ein bisschen Geld in der Tasche hatte, war er immer freundlicher gestimmt. „Nein. Und ich hätte nie für möglich gehalten, dass es so einen gottlosen Ort wie diesen hier gibt. Sieh dir das mal an!“

Im Chinatown von Broome wimmelte es von Menschen. Ein Geschäft reihte sich an das andere. Die wackligen Balkone ächzten unter der Wäsche, die dort hing, und die Luft war erfüllt von dem Geruch nach Räucherstäbchen und dem Rauch der Kochstellen.

Tom sah die staubige Gasse hinunter. „Was genau soll ich mir denn ansehen?“

„Diese Bastarde! Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass Männer Kleider tragen.“

Eine Gruppe dunkelhäutiger Männer in bunten Sarongs hatte sich in einer der vielen Gassen zusammengefunden. Ihre konzentrierten Mienen ließen vermuten, dass sie spielten oder sich irgendeinem religiösen Ritual hingaben.

Wehmut erfasste Tom. Er kannte die Gerüche aus seiner Jugend, die er in San Francisco verbracht hatte. Dort war er mit dem Koch seiner Familie ab und zu nach Chinatown gegangen. Ah Wu war mit ihm an den Läden vorbeigeschlendert, wo der junge Tom sich begeistert die bunten Papierlampions und die Karren mit Gemüse und Obst ansah, denen ein verlockender Duft entströmte. Bei dem vertrauten Anblick glaubte er jetzt beinahe, Ah Wus Hand auf seiner Schulter zu spüren. Tom liebte die bunte Lebendigkeit von Chinatown, war aber an die enge Weltsicht seines Freundes gewöhnt. Er wusste allerdings auch, dass Archer grundsätzlich fair und loyal war – auch wenn er hin und wieder zur Intoleranz neigte. Archer war in vieler Hinsicht ein widersprüchlicher Mensch. Einmal impulsiv, dann wieder kühl kalkulierend und auf der Gewinnerseite. Auch wenn er vor allem seine eigenen Interessen vertrat, setzte er für einen Freund sein Leben aufs Spiel.

Das wusste Tom aus eigener Erfahrung.

Jetzt legte er die Hand auf Archers Schulter und führte ihn durch die enge Gasse. „Du kriegst sicher auch noch die guten Seiten von Broome zu sehen.“

„Meinst du einen Job, bei dem ich Perlen suchen muss, die ich nicht mal selbst behalten darf?“ Archer spuckte auf den Boden.

„Wir werden lernen, wie man das macht. Und in der nächsten Saison haben wir dann vielleicht unser eigenes Schiff! Ich habe noch ein bisschen Erspartes in Kalifornien.“

„Nicht genug für ein Schiff.“

„Aber es würde uns den Start erleichtern. Bis dahin müssen wir unsere Augen offen halten und auf den großen Wurf warten. Das hat Garth auch gesagt. Vergiss nicht: Das ist erst der Anfang!“

Archer hatte Großes vor, aber Tom wusste auch, dass er nicht dazu neigte, Trübsal zu blasen. Er schüttelte Toms Hand ab. „Im Moment ist mir eher nach was zu beißen.“

John Garth hatte beiden einen Vorschuss auf den Lohn gegeben, den sie am Ende der Saison erhalten würden. Ihre paar Habseligkeiten hatten sie bereits ins Roebuck Bay Hotel gebracht, ein angenehmeres Quartier als die Bruchbude, in der der Skipper sie aufgespürt hatte. Jetzt mussten sie nur noch eine Wäscherei finden, wo man ihre Sachen bis zum nächsten Morgen waschen und bügeln würde. Danach könnten sie zurück ins Hotel gehen und sich ein billiges, aber nahrhaftes Essen gönnen. John hatte sie schon vorgewarnt, dass sie auf der Odyssee nur mit Reis und Fisch rechnen konnten.

„Dahinten ist die Wäscherei, von der John gesprochen hat.“ Tom deutete auf das Schild am Ende der Gasse. „Sing Chung’s.“

„Glaubst du etwa, dass diese elenden Schweinehunde die ganze Nacht arbeiten? Die brauchen doch auch ihren Schlaf, so wie wir beide, oder nicht?“, meinte Archer.

„So wie jeder andere Mensch auch. Und genauso tun sie alles, um zu überleben.“

„Ich würde mich bei dieser Hitze aber nicht an einen dampfenden Kessel stellen.“

„Doch, das würdest du, wenn du damit deine Frau und deine Kinder ernähren kannst.“

Archer grinste triumphierend. „Ich suche mir eine Frau, die mich ernährt.“

„Und davon findest du sicher ein Dutzend in Broome.“

„Ich werde nur so lange in diesem Dreckskaff bleiben, bis ich eine Perle gefunden habe, die mir ein Vermögen einbringt. Danach gehe ich nach Victoria, kaufe mir ein Anwesen und züchte Rinder. Und wenn ich eines Tages abtrete, werde ich meinen Söhnen ein Königreich hinterlassen.“

Tom wusste, worauf die Träume seines Freundes gründeten. Als einziges Kind von Immigranten waren er und seine Eltern mit ihrem eigenen Traum nach Texas gekommen. Sein Vater hatte dort zu Unrecht jahrelang im Gefängnis gesessen und war dort gestorben. Seiner kranken, mittellosen Mutter war nichts anderes übrig geblieben, als ihren Sohn ins Waisenhaus zu stecken. Den Rest seiner Kindheit hatte Archer als unbezahlter Arbeiter auf der Ranch des örtlichen Bürgermeisters verbracht.

Tom schlug ihm auf die Schulter. „Lass uns erst die Wäsche abgeben, dann kannst du dich stärken, um dein Königreich aufzubauen.“

Archer lachte immer noch, als sie die Wäscherei betraten.

Der Raum war dunkel und eng und die Hitze beinahe unerträglich. Das einzige Licht fiel durch die Tür hinter ihnen. Nachdem Toms Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, machte er eine schlanke Gestalt hinter einem niedrigen Tisch aus. Eine junge Frau, mit einem zarten, herzförmigen Gesicht, deren Blick sittsam auf den Tisch vor ihr gerichtet war.

Archer, der schnell ins Hotel zurückwollte, trat vor und warf sein Bündel Wäsche auf den Tisch. „Das brauchen wir morgen ganz früh zurück. Können Sie das schaffen?“

Tom trat neben ihn. Das Mädchen hatte noch keine Antwort gegeben. „Vielleicht spricht sie kein Englisch“, sagte er leise.

„Ich spreche sehr gut Englisch.“ Die junge Frau sah immer noch nicht hoch. Sie sprach mit Akzent, doch ihre Worte waren klar zu verstehen.

Ungeduldig klopfte Archer mit dem Fuß auf den Boden. „Ich will keine unnötige Lauferei. Wenn Sie die Sachen waschen wollen, müssen sie auch rechtzeitig fertig sein.“

Jetzt mischte Tom sich ein. „Geh doch schon zurück zum Hotel und bestell für uns beide was zu essen. Ich kümmere mich um die Wäsche und komme dann in ein paar Minuten nach.“

„Es gibt genügend Wäschereien in Chinatown“, brummte Archer grimmig, als er zur Tür ging.

Tom wartete, bis sein Freund verschwunden war, ehe er sagte: „Er hat es eilig, weil er dringend was zu essen braucht. Aber er hat es nicht böse gemeint.“

„Und Sie haben es nicht eilig?“

Tom hatte es ganz und gar nicht eilig. Er war in Australien bisher nur wenigen schönen Frauen begegnet. Sicher lebten einige auf dem Kontinent, allerdings nicht dort, wo er sich aufgehalten hatte. Und in Broome trieben sich hauptsächlich Männer herum.

Die junge Chinesin mit dem langen schwarzen Haar, der elfenbeinfarbenen Haut und den langen seidigen Wimpern war eine echte Schönheit. Selbst mit Schweißperlen auf der Stirn und fleckigen Kleidern stach sie jede Frau aus, die Tom bisher in seinem Leben gesehen hatte.

Tom legte sein Bündel neben das von Archer auf den Tisch. „Wir würden Sie nicht bitten, unsere Wäsche schnell zu machen, wenn wir nicht schon morgen in See stechen würden.“

Er lächelte und hoffte, dass sie die Lider heben würde. Das tat sie, und ihr Blick war überraschend offen. „Ich mache die Wäsche noch heute Abend.“

„Sehr freundlich von Ihnen.“ Trotz der Hitze wäre er am liebsten geblieben und hätte sie angesehen.

Auch sie schien es nicht eilig zu haben. Vielleicht war sie froh, den Waschbottichen im hinteren Teil entkommen zu können. „Sie sind nicht von hier, oder?“

Er freute sich über ihre Frage. „Nein, aus Kalifornien. Und Sie?“

„Ich bin vor zehn Jahren aus China hergekommen.“

„Ich vermisse meine Heimat. Geht es Ihnen auch so?“

„Bald gehe ich zurück nach China, um einen Mann aus meinem Dorf zu heiraten.“

Er spürte, dass er enttäuscht war. „Er kann sich glücklich schätzen.“ Als Röte in ihre Wangen schoss, wusste er, dass er zu weit gegangen war. „Tut mir leid.“

„Vielleicht sagt man so etwas ja in Kalifornien.“ Sie begann, Archers Bündel aufzuschnüren.

Da Tom ohnehin schon verbotenes Gelände betreten hatte, wagte er sich noch ein Stück weiter vor. „Nein, in Kalifornien würde ich sagen: Wollen Sie wirklich den weiten Weg nach China auf sich nehmen, wenn Sie doch hierbleiben und mich heiraten könnten?“

Die Röte in ihren Wangen vertiefte sich, doch sie lächelte scheu. „Mein Vater erlaubt mir nicht, mit Männern zu sprechen. Jetzt verstehe ich, warum.“

„Und wo ist Ihr Vater heute?“

„Er ist krank und schläft.“

„Tut mir leid. Ich hoffe, es geht ihm bald besser.“

Sie sah auf die Kleider, die ausgebreitet vor ihr lagen, und sagte ihm, was es kosten würde.

„Das geht sicher in Ordnung“, meinte Tom.

„Für Ihre gilt das Gleiche.“

Er lächelte. „Soll ich jetzt schon bezahlen?“

Wieder sah sie ihn an. Sie hatte geschwungene Brauen und wunderschöne dunkle Augen. Aber es war ihr intelligenter Blick, der ihn gefangen nahm. „Sie können mir das Geld geben, wenn Sie morgen wiederkommen.“

„Sind Sie dann hier? Oder Ihr Vater?“

Sie schüttelte den Kopf, als wüsste sie es nicht.

Auch wenn es verachtenswert war, so zu denken, hoffte er doch darauf, dass ihr Vater am nächsten Morgen immer noch krank war. „Sind Sie noch da, wenn die Saison vorbei ist? Oder sind Sie dann schon in China?“

„Wenn mein Vater noch krank ist, bleibe ich hier und kümmere mich um ihn.“

„Dann werden Sie es sicher bedauern, dass Sie die Hochzeit verschieben müssen.“

Wie zu erwarten, gab sie keine Antwort.

„Mir rutscht immer wieder etwas heraus, was ich nicht sagen sollte“, meinte Tom. „Entschuldigung.“

„Der Mann, den ich heiraten soll, ist alt. Er hat bereits zwei Frauen.“

Dass diese junge Frau, fast noch ein Mädchen, einen alten Mann heiraten sollte, machte Tom wütend. Und das umso mehr, weil dieser Mann bereits zwei Frauen hatte, die sie wie ihre Sklavin behandeln würden. Aber diese Frau hatte etwas Besseres verdient.

„Sie müssen jetzt gehen! Kommen Sie morgen wieder.“ Ehe er etwas sagen konnte, hatte sie die Sachen zusammengesammelt und war nach hinten verschwunden.

Doch Tom blieb noch so lange stehen, bis die Hitze ihn schließlich auf die Straße trieb.

3. KAPITEL

Archer bestellte für Tom und sich Abendessen, dann suchte er sich einen Tisch in der Ecke, wo er mit dem Rücken zur Wand sitzen konnte. Das Roebuck war zwar ein einfaches Hotel, aber sehr viel besser als die Pension, in der sie vorher gewohnt hatten.

Hier wohnte seinesgleichen, auch wenn es nicht viele davon gab. Ein paar Männer in lässigen Kakihosen und verstaubten Baumwollhemden tranken mit ihren Kumpels. Niemand schenkte ihm Beachtung, aber er war sicher, dass man hier schon von ihm gehört hatte. In einer Stadt wie Broome blieb man nicht lange unbemerkt.

Während er wartete, schlenderte ein Mann in makellos weißem Anzug herein. Er war um die vierzig und wurde von einer Frau mit scharf geschnittenen Gesichtszügen begleitet. Ihr schwarzes Kleid war so steif, dass es nicht einmal raschelte, wenn sie sich bewegte. Sie wurden sofort an einen Tisch geführt, und zwei Hotelangestellte schwänzelten um sie herum.

Archer sah den Wirt an, der ihm Besteck hinlegte und ein Glas Whiskey hinstellte. „Wer ist das?“

„Der oberste Perlenmeister Sebastian Somerset und seine bessere Hälfte. Seine Hemden werden in Singapur genäht, seine Zigaretten in Ägypten gerollt, und sein Champagner wird in Frankreich abgefüllt.“ Nachlässig wischte der feiste Wirt mit einem Lappen über den Tisch und senkte die Stimme. „Aber ich für mein Teil würde mit so einer wie ihr nicht leben wollen, nicht für alle Perlen dieser Welt.“

Archer vermutete, dass die Frau in ihrer Gesinnung noch steifer war als ihr Kleid. Somerset, ein dunkelhaariger Mann, der sich gerade hielt wie ein Besenstiel, wirkte unnachgiebig. Er hatte ebenmäßige Gesichtszüge, doch seine Stirn war ständig gerunzelt. „Dann hat Somerset also Erfolg?“

„Captain Somerset hat eine Flotte von sechzehn Schiffen und mindestens zwei Mutterschiffe, dazu noch ein großes Camp am Pikuwa Creek. Die fischen normalerweise Perlen groß wie Emu-Eier heraus.“

Archer lachte. „Und genug Perlmutt, um die Straße ins Glück damit zu pflastern?“

Der Wirt wedelte mit dem Lappen über den Tisch. „Kein Witz, der Mann ist reich. Der reichste in der ganzen Stadt. Zwischen hier und Perth gibt es keinen Junggesellen, der nicht davon träumt, seine Tochter zu heiraten.“

„Sieht die Tochter der Mutter ähnlich?“

„Viola? Hübsch ist sie ja, aber eine Zunge wie eine tödliche Viper. Jeder Mann in der Stadt hat schon ihr Gift zu spüren bekommen.“

„Hört sich so an, als ob sie gezähmt werden müsste.“

„Das schafft nur ein Kerl mit Geld.“ Der Wirt ging im gleichen Moment zurück zur Bar, als Tom durch die Tür trat.

„Die Wäsche ist morgen früh fertig“, sagte Tom und zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor.

„Gut so. Ich will nämlich früh einen Spaziergang machen, bevor wir die Segel setzen.“

„Spaziergang?“ Tom sah verwirrt aus.

„So ist es. Anscheinend gibt es ein Viertel in Broome, das wir noch nicht gesehen haben.“

„Und wo genau?“

Archer verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. „Das Viertel, in dem meine zukünftige Frau lebt.“

Viola Somerset verachtete Broome. Und Australien im Allgemeinen. Als sie ein junges Mädchen gewesen war, hatte ihre Mutter versprochen, sie nach England zu schicken, wo sie ihre Ausbildung beenden könnte. Doch ihr Vater hatte es nicht erlaubt. Er hielt Viola für zu eigensinnig, um sie ihren eigenen Weg gehen zu lassen.

Vergeblich hatte Viola ihn angefleht. Mit vierzehn hatte sie dann eine Woche lang jedes Essen verweigert. Ein Jahr später hatte sie die Hoffnung auf England aufgegeben und ihren Vater angebettelt, die Schule in Perth beenden zu dürfen. Sie hatte behauptet, dass ihr noch der letzte Schliff fehle, um eines Tages einen Mann heiraten zu können, der Sebastians Nachfolge antreten würde.

Ihr Vater hatte erwidert, dass keine Schule der Welt aus einer hinterlistigen Göre eine Lady machen könne.

Sebastian Somerset war genauso starrköpfig wie seine Tochter. Obwohl Viola ihn verachtete, bewunderte sie ihn doch für seine Hartnäckigkeit. Sie hatte ihm geholfen, ein reicher Mann zu werden.

Als Somerset ihr dann mit sechzehn endlich erlaubte, eine Cousine im Süden Australiens zu besuchen, hatte Viola sich wie eine brave Tochter bei ihm bedankt. Im Stillen hatte sie sich jedoch geschworen, in Adelaide von Bord zu gehen, das Perlenhalsband, ein Geschenk ihrer Tante, zu verkaufen und ein anderes Schiff zu nehmen, das sie weit weg bringen würde.

Natürlich war es anders gekommen. Ihre Cousine Martha hatte sie am Hafen von Adelaide in Empfang genommen, und Viola hatte sofort gespürt, wie viel Ähnlichkeit sie hatten. Die nächsten Monate hatten sie sich gemeinsam auf Tanzveranstaltungen vergnügt, und Martha hatte ihr beigebracht, wie sie ihre goldenen Locken vorteilhaft frisieren und ihr nackten Schultern im Abendkleid am besten zur Geltung bringen konnte. Den Männern den Kopf zu verdrehen, das musste Viola jedoch nicht erst lernen.

Als sie sich schließlich gezwungen sah, nach Broome zurückzukehren, tat sie es in dem Wissen, dass sie sich durch einen koketten Augenaufschlag und ihre wunderschönen Locken ihren Traum von einer besseren Zukunft sichern konnte. Mochte Sebastian auch seine Pläne mit ihr haben – sie wollte sich einen Mann suchen, der sie von Broome fortbringen würde.

Jetzt, Monate später, zweifelte sie allmählich daran, dass sie diesen Mann tatsächlich finden würde. Als sie nun sah, wie ihre Eltern aus der Kutsche stiegen und zum Bungalow gingen, beschloss sie, nicht zu schmollen. Ihr Vater war ohnehin nie gut auf sie zu sprechen, und es hatte keinen Sinn, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.

„Hattest du einen schönen Nachmittag?“, fragte sie ihre Mutter mit angespanntem Lächeln.

Jane Somerset rümpfte die Nase. „Das kann man nicht behaupten.“

„Wie schade.“ Viola bot ihrer Mutter den Arm, um ihr die Stufen hinaufzuhelfen. Wie immer trug Jane ihr altmodisches Korsett so eng geschnürt, dass sie sich kaum bewegen konnte.

Sebastian nahm den Hut ab. „Viola, ich kann es nicht gutheißen, dass dein Kleid in dieser Weise ausgeschnitten ist.“

„Ach nein?“, fragte sie süßlich. „Würdest du vorziehen, dass es noch weiter ausgeschnitten ist?“

„Ich würde es vorziehen, wenn du so mit mir redest, wie es sich für eine Tochter ihrem Vater gegenüber ziemt.“

„Und ich würde es vorziehen, wenn du mich nicht für jede Kleinigkeit kritisierst.“ Viola warf ihre Locken zurück. „Es ist doch niemand da, der mich sehen kann. So wie immer.“

„Und was ist mit dem jungen Freddy Colson? Er ist doch wohl oft genug hier.“

Doch Freddy Colson war nicht das, was Viola sich als Mann vorstellte, im Gegensatz zu ihrem Vater. Für ihn war sein Assistent der ideale Schwiegersohn, da er alles daransetzte, Somersets Profit noch zu steigern. Viola nahm an, dass er nur von Pfunden und Schillingen träumte.

Aber sie war sicher, dass Freddy weder von ihr noch von irgendeiner anderen Frau träumte.

„Ich werde Freddy nicht heiraten, ganz egal, wie sehr er sich um Somerset and Company bemüht“, sagte Viola. „Wenn ich tatsächlich einen Mann von hier heiraten würde, dann nur einen, der die Stadt verlassen will.“

„Wenn du das machst, werde ich dich enterben.“

„Dann kann ich mich ja nur glücklich schätzen.“ Damit wandte sie sich ab. Sie war wütend auf ihre Mutter, die geschwiegen hatte, noch wütender auf sich selbst, weil sie sich hatte provozieren lassen. Aber die größte Wut galt ihrem Vater, der entschlossen war, ihr Leben zu zerstören.

Archers Bett war zwar hart und schmal, aber besser als all das, worauf er in den letzten Wochen geschlafen hatte. Die Bettwäsche war sauber, und der dünne Baumwollvorhang am Fenster hielt die Moskitos ab und ließ trotzdem die angenehm kühle Nachtluft herein. Zunächst hatte er tief und fest geschlafen, aber als der Morgen dämmerte, hatte ihn irgendetwas geweckt. Angespannt und wachsam lag er nun da.

Zunächst konnte er nichts Ungewöhnliches hören, das ihn hätte aus dem Schlaf reißen können.

„Nein, nicht, Linc. Ich will nicht mit dir kämpfen. Sei doch kein Idiot …“ Die gemurmelten Worte kamen aus Toms Mund, der sich ruhelos in dem Bett neben Archer herumwarf. „Linc … nein …“

Jetzt wusste Archer, was ihn geweckt hatte. Im ersten Jahr nach dem Krieg waren Toms Albträume oft so schlimm gewesen, dass er ihn zu dessen eigener Sicherheit geweckt hatte.

Archer hatte damals Tom das Leben gerettet und ihm dann gesagt, dass er das Land verlassen würde.

„Dann komme ich mit“, erklärte Tom. „Meine Familie wird uns nicht helfen, aber ich habe Geld gespart. Wenn wir uns zusammentun, können wir uns irgendwo ein neues Leben aufbauen. Und selbst wenn ich nicht die ganze Zeit bei dir bleibe, könnte ich dir zumindest für den Anfang helfen.“

Archer, der wusste, dass zu einem neuen Leben vor allem Bares gehörte, stimmte nur zu gerne zu.

Nachdenklich starrte Archer in die Dunkelheit. Schon seit Jahren versuchten sie nun erfolglos ihr Glück. Und Archer war es müde, sich durch die Welt zu prügeln und sich allein auf seinen Verstand und Toms Erspartes zu verlassen. Genau wie sein Vater wollte auch er eine Dynastie aufbauen. Er wollte Land, Söhne und eine Viehherde, die so groß war, dass sie mit dem Auge nicht mehr erfasst werden konnte.

Hier in Australien gab es genügend Land zum erschwinglichen Preis. Er musste nur einen Pflock kaufen und Land pachten. Den Rest würde er mit Schweiß und Köpfchen schaffen.

Er brauchte eine Braut aus reicher Familie. Und er brauchte eine Perle, damit eine Frau wie Viola Somerset ihm überhaupt einen Blick gönnte.

Archer setzte sich auf und tastete nach seinen Kleidern. Schnell zog er sich an und schlüpfte aus dem Zimmer, ohne Tom zu wecken. Gestern Abend hatte er den Wirt gefragt, wo die reichsten Bürger der Stadt lebten. Der hatte ihm die Straße genannt, die aus der Stadt herausführte.

Als er nun die Straße entlangging, merkte er, dass Broome aus mehr als nur Chinatown bestand. Er ging an Bungalows vorbei, und als der Weg langsam anstieg, wurden die Häuser immer größer und luxuriöser. Archer wusste, dass sich hier die Perlenmeister niedergelassen hatten.

Er hatte genügend Zeit auf Schiffen verbracht, um zu wissen, dass er eigentlich kein Seemann war. Trotzdem wusste er den malerischen Charme dieser Küstenstadt zu schätzen.

Wenig später traf er auf einen Jungen. „Kannst du mir sagen, welches Haus Sebastian Somerset gehört?“

Verwirrt drehte der Junge die Handflächen nach oben, blieb aber stehen. Erst als Archer eine Münze herauszog, deutete der Junge auf das übernächste Haus. Dann hob er die Münze auf, die Archer in den Staub hatte fallen lassen.

Als Archer dann vor Somersets Haus stand, wurde ihm klar, dass er es auch gefunden hätte, ohne nachzufragen. Obwohl es sich nicht mit den Häusern der Reichen in Texas messen konnte, wirkte es im Vergleich zu den Nachbarhäusern wie ein Schloss.

Archer fragte sich, welches Leben die Tochter des Hauses wohl führte. Ob sie die Stadt liebte und sich weigern würde wegzugehen, ganz egal, wie groß die Verlockung auch sein mochte?

Als ob er sie durch seine Gedanken heraufbeschworen hätte, schwebte plötzlich eine Frau in Nachthemd anmutig über die Veranda, blieb stehen und sah hinunter auf den Garten.

Archer hielt die Luft an. Er wusste nicht, ob sie ihn auch sehen konnte. Einen Moment fürchtete er, sie wäre Sebastian Somersets Frau, doch dann sah er, dass sie jung war und schlank. Ein dicker, goldblonder Zopf hing über ihre Schulter, und unter dem weißen Nachthemd erkannte er ihre zarten Rundungen. Ihr Gesicht konnte er nicht klar erkennen, nur dass ihre Züge ebenmäßig und wohlgeformt waren. Sie lehnte sich gegen die Verandabrüstung und verschränkte die Arme.

Mit der Sonne, die sich wenig später hinter dem Horizont erhob, wurde es heller, und Vögel flogen kreischend auf.

Bei dem Geräusch drehte die Frau sich um und beugte sich über die Brüstung. Archer trat aus dem Schatten des Baumes und hielt grüßend eine Hand hoch. Sie ging zur Treppe und sah direkt zu ihm hinunter.

„Kenne ich Sie?“

„Noch nicht.“ Er bemühte sich um ein lässiges Grinsen.

„Ach ja? Und warum sollte sich das ändern?“

„Weil ich der Mann bin, der Sie heiraten wird.“

Seine Unverschämtheit schien sie nicht im Geringsten zu verwirren. „Ach, meinen Sie? Und warum?“

Archer spürte, dass Viola Somerset eine Frau war, die die Wahrheit hören wollte, um sich ihren nächsten Schritt überlegen zu können. Sie war keine scheue Unschuld. Sie würde alles tun, um sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Wenn er doch nur wüsste, was genau sie sich wünschte!

„Du wirst mich heiraten, weil wir aus dem gleichen Holz sind“, erwiderte er schließlich. „Ich will dich, weil du mir Vergnügen im Bett bereiten, Söhne schenken und obendrein einen reichen Schwiegervater präsentieren wirst. Und du willst mich, weil ich dir im Gegenzug das gebe, was du dir am meisten wünschst.“

„Und das wäre?“ Sie stieß sich nicht einmal daran, dass er sie für den Moment so vertraut angesprochen hatte.

„Tut mir leid, Prinzessin. So weit bin ich noch nicht.“

„Wie wollen Sie dann wissen, dass Sie mir meinen Wunsch erfüllen können?“

„Weil ich alles dafür geben würde, damit er in Erfüllung geht.“

Ihr Lachen klang hell wie eine Glocke. „Ich will weg aus Broome und nie wieder zurückkommen. Können Sie das bewerkstelligen?“

„Sobald ich in der Lage bin. Ich will das Gleiche.“

„Ich will aber einen begüterten Mann mit Eigentum. Haben Sie Grundbesitz?“

„Ich habe von nichts besonders viel, aber das wird sich ändern, und zwar bald.“

„Ach, wirklich?“ Ihr Ton wurde schärfer. „Kommen Sie wieder, falls das je der Fall sein sollte.“ Sie hob ihr Kinn und wandte sich zur Tür.

„Prinzessin?“

Sie sah ihn mit eiskaltem Blick über die Schulter an.

„Mein Name ist Archer Llewellyn. Sie können schon mal Brautwäsche besticken, während ich auf See bin.“

„Und ich heiße Viola Somerset. Sie können von mir träumen, bis zu dem Tag, an dem Sie am Grunde des Meeres begraben liegen.“

Er lachte immer noch, als sie die Tür hinter sich schloss.

4. KAPITEL

Hast du je so viele Schlägertypen und Mörder auf einem Fleck gesehen?“ Breitbeinig stand Archer auf der Odyssee und sah zu der Crew hinüber. Die Männer kamen aus aller Herren Länder.

Tom legte den Kopf schräg. Er sah das Ganze als Abenteuer. „Diese Kerle können uns zu einem Vermögen verhelfen oder uns zerstören“, sagte er leise, damit ihn keiner von ihnen hören konnte. „Am besten, wir versuchen, mit ihnen auszukommen, findest du nicht?“

Archer tat so, als hätte er nichts mitbekommen. „Gestern hat Bernard Ahmed an einem Arm über Deck baumeln lassen, nur weil sie sich gestritten hatten. Du wirst schon sehen! Er macht uns kalt, während wir schlafen, falls er den Rest der Mannschaft hinter sich bringen kann.“

In diesem Moment trat Juan Fernandez zu ihnen, der auf dem Schiff als Taucher arbeitete. „Was starrst du denn da an?“, fragte er Tom.

Tom mochte den Mann. Er war tiefreligiös und hatte in seiner Kabine einen Marienaltar aufgebaut. „Die Ewigkeit.“

„Zu viele Männer haben hier schon die Ewigkeit gesehen.“

„Wie ist es denn da unten?“

Juans Blick bekam etwas Verträumtes. „Gar nicht einsam. Viele Fische und andere Gesellschaft. Das Schiff ist mein Zuhause.“ Dann ging er weiter.

Tom hatte nur selten an sein Zuhause gedacht, seit Archer und er Amerika verlassen hatten. Er schrieb seinen Eltern regelmäßig, hatte aber in all den Jahren nur einen Brief von ihnen bekommen. Sein Vater hatte von ihm verlangt, sofort zurückzukommen, sonst würde er ihn enterben.

Tom war nie so verrückt nach Geld gewesen wie sein Vater. Er brauchte wenig zum Leben und sah keinen Grund, warum sich das je ändern sollte. Er war glücklich, so wie es war. Das große Anwesen, das seine Eltern ihr Zuhause nannten, war für ihn eher ein Gefängnis. Und die schicken jungen Erbinnen, die seine Aufmerksamkeit hatten erregen wollten, fand er nur dumm oder nichtssagend.

Er dachte an die Frau, die so ganz anders war. Die sich vielleicht jetzt schon auf ihre Reise nach China vorbereitete, wo sie heiraten sollte.

Laut sagte er ihren Namen. „Lian.“

Tom wunderte sich immer noch, wie stark er auf die junge Chinesin angesprochen hatte. Dabei hatte er sie erst zweimal gesehen. Als er die Wäsche abgeholt hatte, hatte ihr Vater Sing Chung ein wachsames Auge auf sie gehabt. Er saß zitternd hinten auf einem Stuhl und musterte ihn hohlwangig.

Diesmal war sie ihm noch schöner erschienen. „Mussten Sie lange aufbleiben, um unsere Wäsche zu machen?“, fragte er zur Begrüßung.

Sie sah ihn nicht an. „Es hat mir keine Umstände gemacht.“

Er senkte die Stimme, damit ihr Vater ihn nicht hören konnte. „Ich denke doch. Danke.“

Sie nickte, den Blick gesenkt.

„Ihr Vater scheint sehr krank zu sein.“

„Er wollte heute nicht im Bett bleiben.“

Der Alte stieß eine Flut rauer Worte aus, und die junge Frau errötete. „Sie müssen mir das Geld geben.“

Tom ließ sich Zeit, um die passenden Münzen aus seiner Tasche zu kramen. „Ich verschwinde heute, und Sie werden vielleicht schon weg sein, wenn ich zurückkomme. Sagen Sie mir wenigstens Ihren Namen, damit ich weiß, wie ich Sie in Gedanken nennen soll?“

Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. „Warum wollen Sie denn an mich denken?“

Ihm wollte keine Antwort einfallen. Deshalb sagte er stattdessen: „Ich heiße Tom. Tom Robeson.“

Sie zögerte.

Er tat, als suchte er immer noch nach dem Geld, obwohl er die Münzen bereits in der Hand hielt.

Schnell sah sie ihn an, ehe sie wieder den Blick senkte. „Lian.“ „Lian.“

„Auf Englisch heißt das Willow, die Weide.“

„Willow.“ Er lächelte. „Das passt sehr gut zu Ihnen.“

Erneut gab der alte Mann ihr mit rauer Stimme Anweisungen. Sie stieß einen leisen Seufzer aus. „Sie müssen jetzt gehen.“

Er hielt ihr die Münzen hin, ohne zu wissen, was er noch sagen sollte. Für ein Mädchen wie Lian blieb in Broome wahrscheinlich nur Knechtschaft oder Prostitution. Vielleicht war es besser, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrte, wo sie zumindest in ihrer Gemeinde respektiert wurde.

„Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Reise“, sagte er, als sie das Geld nahm.

„Möge Ihre Zukunft von Glück bestimmt sein“, entgegnete sie.

Traurig sah sie ihn an und hielt seinem Blick stand, bis der alte Mann etwas aus dem Hintergrund rief.

Tom nahm seine Wäsche und ging davon, ohne sich nur ein Mal umzudrehen.

Archer hatte noch nie einen Job so sehr verachtet wie den auf der Odyssee. Vor ein paar Tagen waren sie mit ihrer eigenen Flotte Seemöwen im Schlepptau von Broome gestartet und hatten inzwischen die Gewässer erreicht, wo die Crew zuvor schon erfolgreich gewesen war.

Zunächst war die Ausbeute gering. Die Muscheln wurden über Nacht auf Deck ausgebreitet. Dann mussten Archer und Tom am nächsten Tag den Pflanzenbewuchs wegkratzen und mit einem scharfen Messer die Muscheln öffnen, ohne das Innere zu beschädigen. Am ersten Tag war es für Archer noch ein Abenteuer gewesen, die Austern zu öffnen und dann in der schleimigen Masse mit den Fingerspitzen nach einem versteckten Schatz zu suchen. Er könnte auf eine Perle stoßen, die nicht einmal so viel wert war wie die Zeit, die er brauchte, um sie herauszuholen. Oder eine große, perfekte Perle, die ihresgleichen suchte.

Nun, drei Wochen später hatten sie noch keine einzige Perle gefunden. Die Begeisterung war schnell verflogen. Jetzt war es für Archer nichts weiter als ein dreckiger, stinkender Job. Und wenn er nichts zu tun hatte, langweilte er sich zu Tode. Immer stärker spürte er, dass seine Träume dabei waren, sich in Luft aufzulösen.

Tom hingegen gefiel die Arbeit auf dem Boot. Und die Crew respektierte und mochte ihn. Auch jetzt hatten die Männer sich um ihn versammelt: Dank Juans Großzügigkeit durfte Tom seinen ersten Tauchgang machen.

Kurz sah Tom hoch und grinste. „Hey, Archer. Komm rüber und hilf mir.“

Archer wusste, dass Tom seine Hilfe nicht brauchte. Trotzdem schlenderte er zu ihm, weil es sonst nichts zu tun gab für ihn. „Willst du das wirklich machen?“

„Es ist so bestimmt“, meinte Bernard.

Alle anderen aus der Crew waren Fatalisten, nur Archer nicht. Er war der festen Überzeugung, dass ein Mann sein Schicksal selbst bestimmte. Doch er spürte, dass die Männer daran glaubten, Tom müsse sein Glück unter Wasser versuchen.

„Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, es zu versuchen“, sagte Tom, dessen Oberkörper von Juan mit Flanell umwickelt wurde. Obwohl es an Deck brütend heiß war, würde es im Meer empfindlich kalt sein.

Archer würde lieber nackt durchs Feuer gehen, als eine Taucherausrüstung zu tragen, aber er behielt es für sich. Er wollte vor den anderen keine Schwäche eingestehen. „Aber treib dich nicht zu lange da unten herum“, sagte er grimmig.

„Es ist nicht gut, wenn er zu lange unten bleibt“, bekräftigte Juan. „Wir holen ihn bald wieder hoch, ob er will oder nicht.“

Juan gab Tom noch einmal Anweisungen, die er sich aufmerksam anhörte. Nachdem Bernard ein letztes Mal geprüft hatte, ob die Rettungsleine richtig am Taucheranzug angebracht war, nickte er.

Tom zögerte einen Moment, ehe er sich von der Leiter rückwärts in Wasser fallen ließ.

„Jetzt wird sich rausstellen, ob er alles gut behalten hat“, sagte Juan zu Archer.

Tom fuchtelte einen Moment mit den Armen herum, dann schien er sich zu entspannen. Schließlich tauchte er hinab ins Meer, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht.

„Dein Freund ist ein echter Seemann“, meinte Juan. „Er gehört hier zu uns.“

Archer war der scharfe Unterton nicht entgangen. „Wahrscheinlich würdest du von mir nicht dasselbe sagen, was?“

Juan hob eine Braue. „Du suchst nach Perlen. Er sucht nach etwas Besserem.“ Damit ging er weiter zu Bernard, während Archer auf die Luftblasen starrte, die Tom auf der Oberfläche des Meeres hinterlassen hatte.

Der Abend an Bord der Odyssee war Tom die liebste Zeit. Nachdem die letzten Sonnenstrahlen verblasst waren und das Schiff träge auf den Wellen schaukelte, saßen die Männer auf ihren Plätzen an Deck und aßen Wong Fais Fischcurry mit Reis.

Tom lauschte gerne ihren Gesprächen. Besonders gerne unterhielt er sich jedoch mit Juan, einem gebildeten Mann, der Gedichte mochte und gut Gitarre spielte.

Am Abend nach seinem ersten Tauchgang setzte Juan sich neben Tom und bot ihm sein Stück Rindfleisch aus der Konservendose an, eine seltene Köstlichkeit auf See.

Lächelnd schüttelte Tom den Kopf. „Das kann ich nicht annehmen! Du brauchst das Fleisch selbst; du arbeitest hart.“

„Aber heute hast du auch hart gearbeitet. Nimm es ruhig.“

Tom bedankte sich. „Die Welt unten ist wirklich einzigartig, Juan.“

„Wie geht es deinen Ohren?“

Tom schluckte, um es zu prüfen. Der Druck war schrecklich gewesen, und erstaunt hatte er festgestellt, dass Blut aus Ohren und Nase austrat, als er wieder an die Oberfläche kam. Doch die Blutung hatte schnell aufgehört, weil er nicht zu tief und zu lange getaucht war.

Trotzdem hatte er Muschelschalen mit Perlmutt gefunden.

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