Das Glück am Ende der Welt

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Ob Happiness Key ihr eine neue Heimat wird? Die Nachbarinnen scheinen schon mal nett zu sein, denkt die Kellnerin Dana Turner, nachdem sie in eins der Strandhäuser gezogen ist. Sie hofft, hier ihrer kleinen Tochter Lizzie endlich ein Zuhause bieten zu können. Und Dana wird nicht enttäuscht. Denn nicht nur Nachbarin Tracy und ihre Freundinnen empfangen sie warm … sondern auch Pete Knight. Der charmante Draufgänger steht ihr zur Seite, wo er nur kann. Mit ihm könnte sie endlich ihr Glück gefunden haben. Dumm nur, dass Dana noch ein schwarzes Geheimnis mit sich herumträgt …


  • Erscheinungstag 20.05.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762964
  • Seitenanzahl 590
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Emilie Richards

Das Glück am Ende der Welt

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Barbara Minden

PROLOG

Sie fragte sich, wie es dazu hatte kommen können. Zu dieser bitteren Entscheidung an diesem wilden, gottverlassenen Ort. Zu diesem Ende.

Es war eine dumme Frage. Tief in ihrem Innern wusste Dana Turner genau, was sie hierher geführt hatte. Und ihn.

Die Wahrheit war immer gleichzeitig einfach und kompliziert. Alle Entscheidungen, die sie je in ihrem Leben hatte treffen müssen, hatten sie nach Florida zurückgeführt. An jenen Ort, an dem sie einst lachend miteinander herumgetollt waren. Es gab gute und schlechte Entscheidungen. Und es gab welche, über die selbst Gott noch immer nachdenken musste. Zu wissen, was man zu tun hatte, war nie so leicht, wie selbstgerechte Menschen es sich vorstellten. Ab und zu kratzte sich vermutlich selbst Gott verwundert am Kopf.

Dana selbst machte sich ständig Gedanken. In letzter Zeit stellte sie sich die verschlungenen Pfade ihres Lebens häufig wie komplizierte Wege auf einer Landkarte vor. Zunächst war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass jeder Schritt einen anderen Weg ausschloss – auch wenn sich stattdessen vielleicht eine neue Richtung ergab. Sie hatte geglaubt, dass sie ihrem Weg mutig und entschieden folgte, auch wenn manche Passagen schwierig waren. Zweifel daran waren ihr erst mit den Jahren gekommen. Plötzlich ergaben die einfachsten Entscheidungen keinen Sinn mehr. Richtig und falsch hielten sich nicht mehr die Waage. Alles, was sie trotz großer Zweifel getan hatte, hatte sie ans Ufer des Gewässers geführt, an dem sie nun stand.

„Du hast dir nie so viele Sorgen gemacht wie ich“ , sagte sie leise. „Für dich war das Leben nie einfach oder kompliziert, oder? Das Leben war bloß so, wie es nun mal war. Du wusstest, was du wolltest, und du hast deine Ziele immer verfolgt. Es war dir egal, wer oder was dir im Weg stand. Es war dir egal, wen du damit verletzt hast. Ich bezweifle, dass du je nachgedacht hast.“

Sie wusste, dass man am Ende eines Lebens eigentlich andere Worte erwartete. Anschuldigungen führten zu nichts mehr. Genauso wenig wie Bitten. Für beides war es zu spät. Die Straße endete hier, und es war auch keine Brücke in Sicht. Nur das Wasser der weiten Bucht, das golden und orange glitzerte.

Dana beobachtete schweigend, wie sich der Himmel allmählich verdunkelte. Ringsherum ertönten die ersten Geräusche der Nacht. Am Ufer versteckten sich Alligatoren. Daran erinnerte sie sich noch. Und daran, dass es Giftschlangen gab. Und gefährliche Insekten. Dana war vorsichtig. Doch mehr als alles andere fürchtete sie ihre guten Erinnerungen und die Trauer, die sie erfüllen würde, sobald sie es zuließ.

„Es hätte alles anders kommen können.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „War dir das bewusst? Hast du je darüber nachgedacht?“ Sie ballte die Hände zu Fäusten, und die Stimme versagte ihr. „Hast du mir deshalb diesen Brief geschrieben?“

Sie bekam keine Antwort. Und sie hatte natürlich auch nicht damit gerechnet. Dana war kein besonders religiöser Mensch. Trotzdem versuchte sie, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie sich nach ihrem Tod wiedertreffen würden. Würde er zu ihr kommen, um sie auf diesen Abend anzusprechen? Würde er sie um Verzeihung bitten? Würde er ihr sagen, dass er sie trotz allem, was er ihr angetan hatte, geliebt hatte?

Nur wenige Meter vom Ufer entfernt flog ein Vogel vorbei und rief schrill nach seiner Partnerin. Vielleicht bewies er sich auch einfach nur, dass er wieder einmal einen Tag überlebt hatte. Dana fühlte sich mit ihm verbunden.

Schließlich nahm sie den Rucksack ab. Sie öffnete den Reißverschluss und holte einen Plastikbehälter heraus. Ohne einen Blick auf die Dose machte sie den Deckel auf, trat einen Schritt vor und verteilte die Asche auf dem schmalen Sandstrand. Noch nicht ganz zufrieden, beugte sie sich weiter vor, um den Rest direkt ins Wasser zu streuen, wo er sich langsam ausbreitete.

„Ruhe in Frieden …“ Sie brachte es nicht über sich, seinen Namen laut auszusprechen. Obwohl ihr niemand zuhörte, schaffte sie es nicht einmal jetzt, ihre Verbindung zu dem Mann einzugestehen, dessen Überreste sich allmählich in der Little Palmetto Bay auflösten.

Sie hielt ein Gebet für angebracht. Schon um ihrer selbst willen wollte sie eines sagen, aber ihr fiel nichts Passendes ein. Der Mann, der nun nur noch eine Erinnerung war, hatte etwas Besseres verdient als nur das leise Plätschern der Wellen und das Summen der Moskitos.

Dana gab ihr Bestes und betete, so gut es ging. Es wäre schön gewesen, wenn Lizzie hätte dabei sein können, um ein paar Worte zu sagen. Aber Lizzie hätte nicht verstanden, um was es ging. Sie hätte höchstens Fragen gestellt. Fragen, die ihre Mutter ihr nicht hätte beantworten können. Und das kleine Mädchen hätte den Abend womöglich in Gegenwart anderer erwähnt, die noch mehr Fragen gestellt hätten.

Sie führten ein Leben voller Geheimnisse. Es wäre zu viel für Lizzie gewesen, wenn sie dieses Geheimnis auch noch hätte für sich behalten müssen.

„Ich wünschte, du hättest Lizzie kennengelernt. Ich wünschte, ich hätte sie dir vorstellen können“ , sagte Dana leise. „Ich glaube, sie hätte dein Herz berührt.“

Die Farbe des Himmels änderte sich rasch. Im Schwarz und Purpur der Abenddämmerung blinkten die Lichter der gegenüberliegenden Stadt. Dana wandte sich ab. Ihr fiel auf, dass der Trampelpfad, dem sie durch das Gestrüpp gefolgt war, allmählich in der Dunkelheit verschwand. Noch einmal dachte sie an bessere Zeiten und spürte, dass diese Erinnerungen möglicherweise ein letztes Geschenk an sie waren. Ihr wurde etwas leichter ums Herz. Die Luft, mit der sie ihre Lungen füllte, erschien ihr auf einmal leicht und süß. Es war die Luft, die sie vor Jahren einmal gemeinsam eingeatmet hatten.

„Ich liebe dich“ , flüsterte sie. „Egal, was du getan hast. Ich hoffe, du weißt, dass sich das nie geändert hat.“

Schließlich wurde ihr klar, dass sie den Weg zurück nicht mehr finden würde, wenn sie nicht sofort aufbrach. Und so ließ sie ihn in der Bucht zurück, die er so geliebt hatte, und in dem kleinen Hafen, von dem aus sie einst geglaubt hatten, die Welt erobern zu können.

1. KAPITEL

Tracy Deloche war schon so lange nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen, dass sie sich letzte Nacht eine Liste mit Dingen aufgeschrieben hatte, die sie beachten musste, um peinliche Fehler zu vermeiden.

„Rasiere alles, was möglich ist.“ Nun stand sie neben ihrem Schminktisch und betrachtete sich prüfend. Vor einer Stunde hatte sie ein langes, duftendes Bad genommen und anschließend dafür gesorgt, dass an ihrem Körper keine störenden Härchen oder Stoppel zu finden waren.

„Diaphragma einsetzen.“ Punkt zwei auf der Liste. Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Einen Großteil ihres Lebens als Erwachsene hatte sie die Pille genommen. Aber bei ihrer letzten Untersuchung hatte der Arzt ihr ziemlich viele Fragen gestellt und ihr schließlich eine mindestens einjährige Pillenpause verordnet. Eine Frau, die jünger gewesen war als Tracy mit ihren fünfunddreißig Jahren, hatte ihr das Diaphragma angepasst und ihr erklärt, wie man es benutzte.

Traurigerweise hatte Tracy es noch nie gebraucht. Bis jetzt. Sie war vorbereitet. Hoffentlich schadete es ihrer Spontaneität nicht, dass sie schon so weit im Voraus über Sex nachdachte. Marsh wusste ganz bestimmt, was sie mit dieser Verabredung im Schilde führte. Er war derjenige, der angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass Bay, sein neunjähriger Sohn, bei einem Freund übernachtete. Er war derjenige, der angeboten hatte, zu ihr zu kommen, sobald er ihn dort abgesetzt hatte.

Sehr wahrscheinlich ging es ihm nicht um ihren Caesar Salad mit Hühnchen – obwohl sie vor einer Woche ein wirklich scharfes Dressing dafür gelernt hatte. Sie bezweifelte sogar, dass sie zum Salatessen kommen würden.

„Laken wechseln. Jepp. Neue Unterwäsche kaufen.“ Dafür war es jetzt zu spät, doch sie besaß einen passenden Push-up-BH mit Zebramuster nebst Stringtanga. Sehr sexy, auch wenn beides nach der häufigen Wäsche strammer saß als gewöhnlich.

„Macht nichts. Dadurch sieht es nur noch heißer aus.“ Schon während ihr die Worte über die Lippen kamen, fand sie, dass diese Ausrede nach Wanda, ihrer fünfzigjährigen Nachbarin, klang. Dass sie sich wie Wanda anhörte, war ein ernüchternder Gedanke.

Tracy zerknüllte die Liste und warf sie in den Papierkorb. Sie hatte ihr Haus geputzt, Wein für sich und ein Sixpack Dos-Equis-Bier für Marsh gekauft. Sie hatte die verführerischste Musik aus ihrer Sammlung herausgesucht und auf ihren iPod geladen. Sie hatte gerade genug Lampen eingeschaltet, um die Dämmerung zu erhellen. Ein Brie backte im Ofen, und Hummus und Chips standen, zum Schutz vor den berüchtigten Florida-Fliegen und der Feuchtigkeit, mit Folie abgedeckt auf dem Küchentisch. Ihr knappstes Sommerkleid schmiegte sich an ihre Hüften und Schenkel und ließ einen nicht unerheblichen Teil ihres Rückens frei, obwohl die Abende im April noch recht kühl sein konnten.

Sie mühte sich gerade mit einem Riemchen ihrer Sandalette ab, als das Telefon klingelte. Nicht das Handy, dessen Nummer Marsh sowie die meisten ihrer Freunde benutzten, sondern das Festnetztelefon in der Küche. Tracy überlegte, Sandalette Sandalette sein zu lassen, entschied sich dann aber dafür, erst einmal den Anrufbeantworter anspringen zu lassen. Sie hörte eine Frau weinen. „Die gute alte Mom.“ Tracy widmete sich wieder der Sandalette und versuchte, den Anruf zu ignorieren. Ihre Mutter rief selten an, und ein Anruf, der sich nicht um die Vergangenheit und im Besonderen um Tracys gescheiterte Ehe mit einem gewissen CJ Craimer drehte, war ungefähr so selten wie eine Einladung von Brad Pitt.

„Mom, Mom“ , murmelte Tracy kopfschüttelnd, während sich die Stimme ihrer Mutter in immer höhere Höhen schraubte. Sie bemühte sich, die mütterliche Ansprache mit einer eigenen Version zu übertönen. „Wie geht es dir, Tracy? Wie ist das Leben in Florida? Gefällt dir dein Job noch? Der Ort, an dem du lebst, klingt zauberhaft, wenn auch sehr einfach. Aber ich vermute, du hast gute Freunde und einen Sinn in deinem Leben gefunden.“

Sie hielt inne. Ihre Fantasie ging mit ihr durch. So eine Unterhaltung hatte mit ihrer Mutter noch nie stattgefunden.

In der Küche schwoll der Tonfall ihrer Mutter noch weiter an. „Du weißt, dass du an allem schuld bist“ , kreischte Denise Deloche. „Wenn du CJ nicht geheiratet hättest, dann würde uns weder angehen, was er getan hat, noch wer er ist!“

Sie musste auf diesen Höhepunkt hingearbeitet haben, denn an dieser Stelle endete die Aufnahme abrupt. Tracy hörte das Freizeichen, und der Anrufbeantworter verstummte.

Nachdem sie die Stille einen Moment lang genossen hatte, fuhr Tracy fort: „Wie geht es dir, Mama? Findest du nicht, dass ein kleines Haus viel praktischer ist als ein Haus in Bel Air? Hast du schon mal überlegt, einen Literaturzirkel ins Leben zu rufen oder dir ein Fahrrad anzuschaffen? Vielleicht sparst du, um mich besuchen zu kommen?“

Tracy hätte ihrer Mutter diese Frage bedenkenlos stellen können, denn Denise Deloche hatte ebenso wenig vor, ihre Tochter in Florida zu besuchen, wie in ihrer Straße eine Suppenküche zu eröffnen.

Seit CJs Wandlung vom „Herzog der Bauunternehmer“ zum „König der Zuchthäusler“ – wobei er die beträchtlichen Rücklagen ihrer Eltern mitgenommen hatte – entlud sich ihr geballter Zorn auf Tracy.

Ihr Vater, der sich selbst als „Kieferchirurg der Stars“ bezeichnete, beklagte sich, dass er ihretwegen bis ins hohe Alter würde Zähne richten müssen. Seine zweite Frau verbat sich jeglichen Kontakt mit Tracy. Von den dreien war Tracys Mutter noch am freundlichsten. Immerhin sprach sie wenigstens noch mit ihrer Tochter, wenn auch hauptsächlich, um sie zu beschimpfen. Dass Tracy keine Ahnung von CJs Geschäften gehabt und selbst fast alle Ersparnisse inklusive Ehemann verloren hatte, spielte überhaupt keine Rolle.

Sie erhob sich und strich das Kleid glatt. Heute Abend würde ihr niemand die Laune verderben. Im letzten Jahr hatte sie sich ausgiebig mit ihrer eigenen Dummheit und ihrer Rolle als CJs unfreiwilliger Komplizin auseinandergesetzt. Sie war noch sehr jung gewesen, als sie CJ Craimer geheiratet hatte. Sie hatte sich von den Diamanten, mit denen er sie gelockt hatte, blenden lassen. Damals hatte sie den Charakter eines Mannes noch nach dem Schnitt seines Anzugs und der Anzahl seiner Mitgliedschaften in kostspieligen Countryclubs beurteilt. Davon abgesehen war ihr Ex sehr charismatisch und überzeugend. Wenn er nicht auf Immobiliengeschäfte spezialisiert gewesen wäre, hätte er auch sehr erfolgreich als Fernsehprediger arbeiten können. CJ hätte sogar mit dem Verkauf von Bananenplantagen in der Antarktis ein Riesengeschäft gemacht – und vermutlich hatte er auch das schon mal erfolgreich ausprobiert. Manchmal, wenn Tracy auf ihre Ehe zurückblickte und über CJs Fähigkeiten und seinen ungeheuren Charme nachdachte, erstaunte es sie eigentlich nur, dass man ihn tatsächlich gefasst hatte.

Gefasst, verhaftet, verurteilt, ins Gefängnis gesperrt.

„Großartig!“ Dank ihrer lieben Mutter dachte sie nun an ihren Ex, anstatt sich Gedanken über Marsh Egan zu machen. Den Mann, in den sie sich vielleicht verlieben könnte. Den Mann, mit dem sie möglicherweise in wenigen Minuten im Bett landen würde.

„Gieriger Blutsauger!“ , brummte sie und wartete, ob diese Beschimpfung das Bild von CJ verblassen ließ. „Verbrecher!“

Sie zuckte mit den Achseln und marschierte ins Wohnzimmer zurück, um die Sofakissen aufzuschütteln und eine weitere Lampe anzumachen. Dabei führte sie Selbstgespräche. „Ich denke jetzt an Marsh. Ade, alte Geschichten. Hallo, neues Leben.“

Als sie mit den Kissen fertig war, ging sie in die Küche, öffnete den Wein und überprüfte den gebackenen Camembert, der noch etwas Zeit brauchte. Der Wein war kein billiger Supermarktwein, aber er war meilenweit von der Sorte entfernt, die CJ häufig bei seinem Lieblingsweingut im Napa Valley bestellt hatte.

CJ!

Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, als ob sie ihn so aus ihrem Kopf verjagen könnte. „Auf Nimmerwiedersehen, CJ. Ich hoffe, dir schmecken die Bohnen mit Würstchen in Victorville. Vielleicht bekommst du sogar einen Nachschlag, wenn du heute brav Wäsche zusammengefaltet hast.“

Weshalb störte es sie, dass sie einen Wein aus dem Angebot gekauft hatte? Hatte sie denn in dem Jahr, seit sich ihr Leben in Bel Air in Luft aufgelöst hatte, nichts dazugelernt? Außerdem würden Wein und Salat erst später am Abend eine Rolle spielen, wie sie hoffte.

Sehr viel später.

Ein Wagen hielt vor dem Haus. Tracy beugte sich am Fenster vor, um herauszufinden, ob es sich um Marshs Pick-up handelte. Draußen war es inzwischen dunkel. Trotzdem erkannte sie, dass er sie in der Einfahrt zum Häuschen zugeparkt hatte. Hätte sie vor ihm davonlaufen wollen, wäre es dafür nun zu spät gewesen.

Sie eilte zum Schlafzimmerspiegel, um einen letzten prüfenden Blick auf ihre Frisur zu werfen. Das offene Haar fiel ihr wellig über die Schulter. Tracy strich sich eine Locke hinters Ohr und begutachtete die Wirkung. Als sie sich von der Seite betrachtete, bemerkte sie, dass der Stoff um die Perlmuttknöpfe, die vom Ausschnitt zur Taille führten, ein wenig spannte. Sie hätte das Kleid besser nicht gewaschen – egal, was auf dem Etikett gestanden hatte. Und vor allem hätte sie nicht versuchen sollen, ein paar Dollar zu sparen.

Es klopfte an der Tür. Tracy strich sich erneut das Kleid glatt und hoffte, es würde den Abend überstehen. Dann durchquerte sie das Wohnzimmer und riss die Wohnungstür auf.

Marsh ließ den Blick über ihren Körper wandern, bevor er zum Schluss ihr Gesicht betrachtete. „Wenn ich dir sagen würde, dass du in diesem Kleid umwerfend aussiehst, würdest du es doch nicht die ganze Nacht anlassen, nur um mich zu beeindrucken, oder?“

Sie schenkte ihm ein Lächeln, das sie schon mit sechzehn vorm Spiegel geübt und mit dem sie CJ Jahre später um den Finger gewickelt hatte.

CJ!

Sie schüttelte den Kopf und hoffte, damit auch den Anruf ihrer Mutter abzuschütteln. „Was verleitet dich zu der Annahme, ich könnte es eventuell ausziehen?“

Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Beiläufig. Ohne Zunge, aber dennoch zärtlich und süß. „Na ja, die Hoffnung stirbt zuletzt. Nachdem jetzt alle Papiere unterschrieben sind, steht außer diesem Kleid und meiner Jeans, die ich in zehn Sekunden ablegen könnte, eigentlich nichts mehr zwischen uns. Und mein Sohn ist versorgt. Er spielt den ganzen Abend Videospiele.“

Tracy packte den Kragen seines Polohemds und zog Marsh ganz dicht an sich heran, um ihn noch einmal und diesmal weniger beiläufig zu küssen. Er roch leicht nach Limone und unwiderstehlich männlich. Sie hätte ihn am liebsten nicht mehr losgelassen.

„Ach ja, die Papiere“ , sagte sie nach dem Kuss. „Ziemlich wirksamer Lustkiller, stimmt’s?“

Er nahm sie in den Arm und platzierte eine Reihe zart gehauchter Küsse auf ihrem Ohrläppchen. „Glaubst du? Meine Lust ist seit dem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe, am oberen Anschlag.“

Bei den erwähnten Papieren handelte es sich um eine Vereinbarung zwischen Wild Florida, der Umweltorganisation, für die Marsh als Geschäftsführer arbeitete, und Tracy. Sie hatte sich einverstanden erklärt, das Land, das sie auf Palmetto Grove Key besaß, zu einer Naturschutzzone zu machen. Monatelang hatten sie und Marsh um die Bedingungen gerungen, bis das Resultat sie endlich beide glücklich gemacht hatte.

Während der Verhandlungen hatten sie die körperliche Seite ihrer Beziehung ausgesetzt. Nun bestand die Möglichkeit, dass sie auch in dieser Hinsicht ihr Glück finden würden.

Widerstrebend löste sie sich von Marsh. Er hielt eine Flasche in der Hand. Tracy studierte das Etikett. „Wow, das ist ein wirklich guter Zinfandel. Schade, dass ich gerade eine andere Flasche geöffnet habe.“

„Dann heb sie für ein anderes Mal auf!“

„Wir sollten den Abend nicht vor der Wohnungstür verbringen. Es gibt gemütlichere Orte.“ Sie machte Platz, um ihn hineinzulassen, und fand, dass er zum Anbeißen aussah. Er war der lässigste Mann, den sie kannte, und dennoch hatte er sich für sie Mühe gegeben. Er trug eine frisch gewaschene ausgeblichene Jeans und ein scheinbar neues dunkelgrünes Poloshirt. Sein rotblondes Haar hatte er, wie immer, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine sonnengebräunte Haut unterstrich den Goldton seiner Augen, und er schenkte ihr ein Lächeln, das alles Mögliche in ihr auslöste.

Sie erwiderte sein Lächeln und wurde trotz allem zusehends unsicher und nervös. Sie, Tracy Deloche, die sich seit dem Tag, an dem sie sich ihren ersten BH gekauft hatte, in der Kunst geübt hatte, Männer an der Nase herumzuführen. Mit sechzehn, als Zahnspange und abstehende Ohren endlich der Vergangenheit angehörten, hatte Tracy in dieser Disziplin als Beste abgeschlossen. Seitdem war sie sich immer vollkommen sicher gewesen, dass sie für jeden heterosexuellen Mann in diesem Universum der Hauptgewinn war.

Und nun machte Marsh Egan, dieser selbstsichere Ökofreak und unbequeme Umweltschützer aus Florida, sie total nervös.

Tracy versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie sich gefühlt hatte, als sie es darauf angelegt hatte, CJ ins Bett zu bekommen.

CJ!

Marsh stellte den Wein auf dem Tresen zwischen Küche und Wohnzimmer ab. „Weißt du, dass du eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hast?“ Er streckte die Hand aus, und bevor Tracy ihn davon abhalten konnte, drückte er auf die Abspieltaste.

Tracy machte einen großen Satz, aber es war zu spät. Die schrille weinerliche Stimme ihrer Mutter erfüllte erneut das kleine Sommerhaus.

„Großartig, es geht doch nichts darüber, die Dämonen der Hölle zu entfesseln.“ Tracy hörte viermal den Namen ihres Exmannes, bevor es ihr gelang, das Telefon zu erreichen. Sie schlug zwischen einem weiteren C und J auf die Löschtaste. Wieso bin ich eigentlich nicht schon vor Marshs Ankunft auf diese Idee gekommen? fragte sie sich voller Bedauern.

„Ich nehme an, das war deine Mutter.“

„Sprechen wir lieber von etwas anderem.“

„Sie klang verärgert.“

„Sie ist verärgert. Sie steckt förmlich in ihrem Ärger fest.“

„Wegen deines Exmannes, wenn ich es richtig verstehe?“

„CJ ist die Ursache. Aber lass uns von was anderem …“

„Sitzt er nicht im Knast? Was hat er denn gemacht?“

„CJ muss überhaupt nichts machen. Wenn sie ihn gehängt hätten …“

„In Kalifornien wird man nicht gehängt.“ Marsh klang wie der Anwalt, der er war. „In New Hampshire oder Washington vielleicht. Ich kann es herausfinden und dich informieren.“

„CJ hatte da vermutlich auch ein paar Geschäfte laufen. Aber ihn aufzuhängen würde niemandem helfen. Das Leben meiner Mutter hat sich verändert – und aus ihrer Sicht nicht zum Besseren. Selbst wenn er unter der Erde läge, würde sie immer noch in einer Zweizimmerwohnung im Westen von L.A. wohnen. Und sie kann nicht zu CJ gehen und sich an ihm austoben. Dafür hat sie meine Telefonnummer.“

„Sie ist nicht die Einzige, die wütend ist …“ Er berührte ihre Wange und hob ihr Kinn. „Bekommst du diese Anrufe öfter?“

„Ich habe gelernt, sie zu ignorieren.“

„Vielleicht nicht so gut, wie du denkst.“

„Es gibt Chips und Hummus.“ Sie löste sich von ihm. „Und wunderbares kühles Bier.“

Er verstand den Wink. Das Verlangen war verblasst. Sie brauchten Zeit, um von der Unterhaltung über Tracys Ex wieder an den Punkt zu kommen, an dem sie angefangen hatten.

Er schenkte sich ein Bier ein – ihr fiel auf, dass diese Nacht etwas Besonderes für ihn sein musste, weil er es nicht aus der Flasche trank –, und sie brachte die Hummuscreme und sah nach dem Camembert im Ofen. Dann verteilte sie Erdbeeren auf zwei kleine Teller und gab ihm einen davon, bevor sie sich selbst Wein einschenkte.

„Ist es zu heiß, um draußen zu sitzen?“ , fragte sie, als er den Tisch deckte.

„Es ist ganz okay draußen, aber hier drinnen war es gerade noch ein bisschen heißer.“

„Ich bin dafür, ein bisschen auf dem Sofa zu kuscheln, und dann mal sehen, was passiert.“

Als sie am Küchentresen vorbeikam, drehte sie die Musik auf. Vanessa Williams sang „Save the Best for Last“.

Tracy setzte sich neben Marsh auf die Couch, und er legte den Arm um ihre Schultern. Tracy trank einen Schluck Wein und dann gleich noch einen.

„Also gut“ , sagte er. „Hilft der Wein? Trink dein Glas aus. Ich schenk dir nach.“

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und blickte ihn an. „Ich habe alles versucht, damit der Anruf meiner Mutter mich kaltlässt. Aber das ist ziemlich schwierig, wenn man sich die Nachricht gleich zweimal anhören muss.“

„Ich wollte nur sicher sein, dass dich keiner dieser stattlichen Kerle angerufen hat, die du auf dem Shuffleboard-Feld des Freizeitzentrums aufgegabelt hast.“

Sie boxte ihm lachend gegen den Arm. „Bist du etwa eifersüchtig?“

Er beugte sich vor, um seine Nase an ihrer zu reiben. „Wie … wahnsinnig.“

Vielleicht lag es am Wein, vielleicht auch an Vanessas schmachtendem Gesang. Vermutlich aber einfach nur an Marsh. Plötzlich war das Verlangen wieder da und strömte wie flüssiger Honig durch ihre Adern. „Wusstest du, dass eine Frau nach dem Gefühl der Liebe am liebsten die Eifersucht eines Mannes wecken will?“

„Und was ist mit Lust?“

„Die liegt gleichauf.“

„Mich hat die Lust schon fest im Griff.“

„Oh, davon kann ich ein Lied singen.“

Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Du bist mir irgendwie ans Herz gewachsen, Tracy Deloche.“

„Wie eine nette Bekannte?“

„Zuerst vielleicht ja, aber jetzt hat sich etwas geändert.“ Er rückte näher an sie heran. „Und es ist viel besser.“

Gerade als ihr Kuss leidenschaftlicher wurde, ertönte die Zeitschaltuhr des Ofens.

„Achte einfach nicht drauf“ , flüsterte er.

Sie machte sich von ihm los. „Dann fließt der Camembert aus der Ofentür auf den Boden, ich muss mir Wandas Hund ausleihen, damit er alles aufleckt, und dann kommt Wanda bestimmt mit.“

„Beeil dich!“

Das hatte sie vor, und sie spielte mit dem Gedanken, sich auf dem Rückweg schon einmal das Kleid aufzuknöpfen. Dann würde sie sich einfach vor ihn hinstellen und die Hand nach ihm ausstrecken. Erhob er sich, würde sie das Kleid aufreizend an sich hinabgleiten lassen. Wie sie dann ins Schlafzimmer kämen – wenn es dazu käme – würde sie ihm überlassen.

In der Küche stellte sie den Herd ab und öffnete die Ofentür. Der Camembert sah perfekt aus.

Doch das war ihr egal.

Als sie die Küche wieder verließ – die Hand schon am obersten Knopf – fiel ihr auf, dass jemand vor ihrem Haus die Straße entlangging. Tagsüber sah sie häufig Fischer, die mit ihren Pick-ups zum Strand fuhren, aber Fußgänger waren eher selten. Und jetzt, am Abend, kamen höchstens ihre Nachbarinnen aus den vier anderen Sommerhäusern ihres „Bauprojekts“ vorbei. Happiness Key, wie dieses Wohngebiet genannt wurde, bot in der Dunkelheit nicht besonders viele Attraktionen.

Dieser Mann gehörte nicht zu ihren Nachbarn.

„Was gibt es da zu sehen?“ Marsh blickte aus dem Wohnzimmerfenster hinter dem Sofa.

Tracys Herz begann zu rasen. Sie war nicht in der Lage, Marsh zu antworten. Ihre Zunge fühlte sich an, als ob sie ihr am Gaumen klebte. Langsam durchquerte sie das Wohnzimmer und sah ebenfalls durchs Fenster. Das war nicht möglich. Sie musste sich getäuscht haben. Das konnte nicht der Mann sein, den sie glaubte, gerade gesehen zu haben. Tracy drückte sich die Nase platt und starrte in die pinkfarbene Dämmerung hinaus.

„Falls da draußen etwas war, ist es jetzt weg“ , sagte Marsh.

Die Person war in den Schatten verschwunden. Tracy lauschte auf Motorengeräusche irgendwo außerhalb ihres Sichtfelds. Doch unglücklicherweise donnerte „November Rain“ von Guns N’ Roses plötzlich los.

Sicher hatte sie sich geirrt. Vielleicht litt sie unter Wahnvorstellungen. Es war ganz bestimmt nicht CJ, den sie da draußen hatte entlanggehen sehen, als ob ihm die Gegend gehören würde. Was tatsächlich einmal der Fall gewesen war. Vor langer Zeit.

„Tracy?“

Sie zuckte zusammen. „Oh, entschuldige, bitte. Vermutlich habe ich mich getäuscht. Ich sehe auch nichts mehr.“

Marsh betrachtete sie verwundert. „Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du siehst aus, als hättest du dich zu Tode erschreckt.“

„Oh nein. Das stimmt nicht. Es ist nur einfach so, dass …“ Ja, genau. Stand sie wirklich kurz davor, ihrem hoffentlich zukünftigen Liebhaber erklären zu wollen, dass sie gerade ihren Exmann auf der Straße vor dem Haus gesehen hatte, obwohl sie beide genau wussten, dass CJ noch lange in einem sehr sicheren Gefängnis in einem anderen Bundesstaat sitzen würde?

Sie fragte sich, wie viele Sekunden es dauern würde, bis Marsh sich für immer von ihr verabschieden würde.

„Na ja, man kann nie vorsichtig genug sein“ , redete sie sich schließlich lahm heraus. „Ken sagt uns immer, dass wir die Augen offen halten sollen. Wie du weißt, sind wir hier draußen weit ab vom Schuss.“ Sie hob die Hände und war nicht zum ersten Mal glücklich darüber, dass Wanda mit einem Polizisten verheiratet war. Doch sie konnte sich nicht daran erinnern, Ken schon einmal aus Ausrede benutzt zu haben.

„Soll diese Musik eigentlich romantisch sein?“

„Funktioniert nicht so richtig, oder?“ Tracy nutzte die Gelegenheit, um sich vom Fenster zu entfernen. Sie wählte eine neue Musiksammlung auf ihrem iPod, etwas Country, gesungen von einem süßen jungen Mann mit Cowboyhut, an dessen Namen sie sich nicht erinnerte, weil sie so aufgewühlt war. Dass Marsh diese Musik lieber mochte als die andere, wusste sie aber. „Ich hole den Camembert aus dem Ofen.“

„Ja, richtig. Ich dachte auch gerade, dass wir endlich diese ausgefallene Käsespezialität essen sollten. Die Nacht ist noch jung.“

Sie nahm den Käse aus dem Ofen und legte ihn auf die Teller, die sie vorbereitet hatte. „Hat dir noch niemand gesagt, dass Geduld die Hauptvoraussetzung für ein erfolgreiches Vorspiel ist?“ , rief sie aus der Küche.

Überrascht bemerkte sie, dass Marsh hinter sie getreten war. Unvermittelt legte er ihr die Hände auf die Schultern.

„Glaubst du nicht, dass ich schon jetzt ein Großmeister der Geduld bin? Wenn du noch Zeit brauchst, bin ich genau der richtige Mann.“

„Na ja, weißt du, ich bin nicht mehr daran gewöhnt“ , sprudelte es aus ihr heraus. „Als ich mit C…“ Entsetzt hielt sie inne.

Seine Finger begannen mit einer langsamen Massage. „Dieser Name taucht heute Abend ziemlich oft auf.“

„Na ja, du hast den Anrufbeantworter abgehört.“

Er drehte sie um und sah ihr ins Gesicht. „Ist es das? Hat dich der Anruf deiner Mutter so durcheinandergebracht? Weil sie die alten Geschichten wieder aufwärmt?“

„Ich habe keine Ahnung, was sie getan hat. Ich habe nicht richtig zugehört. Ich habe an dich gedacht.“

„Vergangenheitsform. Ich habe es gemerkt.“

„Nein! Gegenwart! Wirklich. Aber ich bin heute Abend etwas nervös. Keine Ahnung, weshalb“ , schwindelte sie.

„Vielleicht findest du unsere Verabredung doch nicht mehr so gut.“

„Das stimmt nicht! Ehrenwort. Wir sollten uns einfach entspannen und ein bisschen miteinander reden. Ich werde mich schon beruhigen.“

In diesem Moment schlug draußen vor dem Haus eine Autotür zu. Tracy fuhr zusammen. Sie war überzeugt, dass ihre Beine ihr den Dienst versagt hätten, wenn Marsh sie nicht festgehalten hätte.

„Weißt du, ich glaube, mit Camembert und einer Flasche Wein ist es in diesem Fall nicht mehr getan.“ Er lächelte. „Vielleicht sollte man noch einmal über alles nachdenken. Also, du allein solltest darüber nachdenken, ob du nun mit mir ins Bett willst oder nicht. Ob überhaupt und wenn ja, wo. Vielleicht habe ich dich zu sehr unter Druck gesetzt.“

„Nein, nein. Marsh, daran liegt es wirklich nicht. Ich glaube, der Anruf meiner Mutter hatte einfach eine komische Wirkung auf mich. Es tut mir leid, aber ich komme schon wieder klar …“

„Das glaube ich auch“ , pflichtete er ihr bei. „Und das geht schneller, wenn ich nicht hier bin. Wir versuchen es einfach bei anderer Gelegenheit noch einmal. An einem anderen Abend, wenn dir dein Exmann nicht im Kopf herumspukt, sondern hinter Gittern sitzt, wo er hingehört. Und dann gehörst du mir allein.“

Tracy stand kurz davor, ihn sich zu schnappen und ins Schlafzimmer zu schleifen. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Es gab einen zögerlichen Moment zwischen ihnen, in dem Marsh zu hoffen schien, dass sie doch eine Möglichkeit fand, ihn davon zu überzeugen, dass er sich irrte. Doch genau in dem Augenblick hörte sie einen Automotor.

Sie riss die Augen auf und sog scharf die Luft ein. Mehr brauchte Marsh nicht zu sehen.

„Ruf mich an“ , sagte er. „Bays Freund wird ihn wieder bei sich übernachten lassen. Und dann kommst du nächstes Mal zu mir. Dort stört uns nichts und niemand.“

Ihr fehlten die Worte. Sie war völlig durcheinander und brachte nur noch ein Nicken zustande.

„Hat dir denn nie jemand beigebracht, Nein zu sagen?“ , fragte er. „Denn das ist eigentlich alles, was du machen musst, wenn du mit mir zusammen bist. Sag es, und ich höre dir zu.“

„Ich wollte gar nicht Nein sagen, sondern Ja. Ich habe dich eingeladen.“

„Stimmt.“ Er beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen. „Schließ lieber ab, falls da draußen tatsächlich jemand herumgeistert. Aber ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Da regt sich nicht mal ein Palmwedel.“

Marsh machte sich so schnell aus dem Staub, dass schon im nächsten Augenblick außer einer guten Flasche Wein auf dem Küchentresen und dem Ende eines Countrysongs nichts mehr an seine Anwesenheit erinnerte.

Tracy schaltete ihren iPod ab. Als sie Marshs Pick-up wegfahren hörte, ging sie zur Tür.

CJ Craimer hatte mal einen sehr großen Platz in ihrem Herzen eingenommen, doch den hatte sie ihm schon vor mehr als einem Jahr gekündigt. Und wenn sie, um ihm den endgültigen Räumungsbefehl zustellen zu können, jedes einzelne Sandkorn der Insel umdrehen musste – dann tat sie es eben. Und danach wollte sie nie wieder an CJ Craimer denken.

2. KAPITEL

„Du hast deinem Mann noch kein Kind geschenkt.“

Janya Kapur ließ sich in den Sessel neben dem Telefon sinken. Dann starrte sie kurz fasziniert den Hörer an, bevor sie ihn sich wieder ans Ohr drückte.

„Aai“, sagte sie leise zu ihrer Mutter. „Schön, deine Stimme zu hören.“

„Du hast sie schon oft gehört und weißt, wie sie klingt.“

Janya unterdrückte ein Seufzen. Ihre Mutter rief aus Indien an, wo Janya gelebt hatte, bis sie vor einem Jahr in ein kleines Haus auf Happiness Key in Florida gezogen war.

Nach dem darauf folgenden Streit hatten sie und ihre Mutter – Janya zählte es an ihren Fingern ab – sieben Monate lang nicht miteinander gesprochen. Janya hatte es ihrer Mutter überlassen, anzurufen, sobald sie sich bereit fühlte, aber sie hatte genau genommen nicht damit gerechnet, dass dieser Tag jemals kommen würde. Inika Desai war von den beringten Zehen bis zu ihrem mit einer dupatta aus Seide bedeckten Scheitel starrsinnig. In ihren Augen hatte ihre Tochter durch die gescheiterte Verlobung Schande über sie gebracht, auch wenn Janya keine Schuld traf. Die hastig arrangierte Hochzeit zwischen Janya und Rishi Kapur, einem brillanten indisch-amerikanischen Software-Designer, hatte die Demütigung ihrer Mutter nicht geschmälert.

„Es ist trotzdem schön, deine Stimme zu hören“ , sagte Janya. „Obwohl das Thema mich überrascht. Rishi und ich sind erst seit etwas mehr als einem Jahr verheiratet.“

„Genug Zeit, um ein Baby zu bekommen. Dein Vater und ich sind nicht mehr jung. Wir wollen unsere Enkel noch sehen, bevor wir tot sind.“

„Und Yash kann euch da nicht helfen?“ Yash war Janyas jüngerer Bruder, der sämtlichen Versuchen seiner Eltern, ihn mit einer Frau ihrer Wahl zu verkuppeln, bisher tapfer widerstanden hatte.

„Dein Bruder ist, falls das überhaupt möglich ist, noch sturer und komplizierter als du. Ich weiß, dass ihr miteinander telefoniert. Streite es nicht ab. Und ich vermute, dass er dir erzählt hat, dass er bald zu dir nach Amerika ziehen wird, um Geschichte zu studieren. Ich weiß, dass du ihm diese Idee in den Kopf gesetzt hast.“

Janya hatte mit Mühe gelernt, es mit ihrer Mutter aufzunehmen, und es war eine Lektion, die sie auch jetzt beherzigte. „Nein. Ich habe es ihm nicht in den Kopf gesetzt, aber ich werde ihm helfen. Er hat ein Recht darauf, glücklich zu werden. Das haben wir alle … dich eingeschlossen, Aai. Als Buchhalter wäre er das nicht, auch wenn er dir und Baba noch so sehr gefallen will.“

„Unserer Generation hat es genügt, unsere Eltern glücklich zu machen.“

„Ich glaube, ihr habt uns vielleicht anders erzogen. Wir sähen euch auch gern glücklich, wissen aber, dass wir diesem Wunsch manchmal nicht entsprechen können.“

Ihre Mutter schwieg. Einen Moment lang fragte Janya sich, ob die Leitung unterbrochen worden war – was nicht so ungewöhnlich gewesen wäre – oder ob ihre Mutter vielleicht aufgelegt hatte. Während sie abwartete, blickte sie aus dem Fenster und sah eine schmale Silhouette, die am Ende der Straße im Dämmerlicht verschwand.

Schließlich fand ihre Mutter die Sprache wieder.

„Ich schicke dir etwas.“

Janya wusste aus Erfahrung, dass ihre Mutter schlechte Nachrichten lieber schriftlich übermittelte, damit sie sich nicht mit den Reaktionen darauf auseinandersetzen musste. Die Toleranz ihrer Mutter für die Gefühle anderer war begrenzt. „Wenn es ein Brief ist, hoffe ich, dass es gute Nachrichten sind.“

„Es ist kein Brief. Es ist ein Geschenk.“

„Dann freue ich mich schon darauf.“

Ihre Mutter schwieg erneut. Janya wartete.

„Geht es dir gut?“ , fragte ihre Mutter zu guter Letzt. „Und deinem Mann, geht es ihm gut?“

„Es geht uns gut.“

Bevor Janya nach ihrer Familie in Indien fragen konnte, ergänzte ihre Mutter: „Und glücklich? Du hast vom Glück deines Bruders gesprochen. Was ist mit dir?“

Janya war sich für einen Augenblick nicht sicher, ob sie sich nicht verhört hatte. Es war nicht nur eine Frage, die ihre Mutter ihr bisher noch nie gestellt, sondern niemals auch nur in Betracht gezogen hatte.

Janya suchte nach den richtigen Worten. „Ich bin glücklich. Rishi ist ein guter Ehemann. Freundlich, lustig und aufmerksam. Ich male wieder, Bilder auf Hauswände und auch in Wohnungen. Die Leute mögen meine Arbeit, und Rishi ist stolz auf mich.“

„Ich habe den Zeitungsartikel über dich gelesen. Dein Bruder hat dafür gesorgt, dass ich ihn nicht übersehe.“

Janya wartete darauf, getadelt zu werden. Die lokale Presse hatte einen schmeichelhaften Artikel über ein Wandgemälde gebracht, das sie an die Außenfassade der Zentralbibliothek von Palmetto Grove gemalt hatte. Es zuzulassen, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie statt auf ihren Mann richtete, gehörte zu den Dingen, die ihre Mutter nie verstehen würde.

„Wenn Rishi stolz ist, ist es gut“ , sagte ihre Mutter. „Wenn er stolz auf dich ist, dann hast du tatsächlich Glück, mit ihm verheiratet zu sein.“

„Ich glaube, ich bin glücklich“ , bestätigte Janya.

„Du wirst daran denken, wenn du mein Geschenk erhältst.“

„Natürlich werde ich …“

Die Leitung war unterbrochen. Ihre Mutter war, so weit es ihr möglich war, auf sie zugegangen, um die Distanz, die sie voneinander trennte, zu überbrücken. Jetzt war sie an ihre Grenzen gelangt.

Janya legte das Telefon zurück und lächelte. Sie fragte sich, was Rishi an diesem Abend sagen würde, wenn sie ihm von diesem Telefonat erzählte. Denn es würde ihn interessieren. Er interessierte sich immer für alles. Er war ihr Verteidiger, ihr Bewunderer und der zukünftige Vater ihrer Kinder.

Wenn sie nur endlich schwanger werden würde.

Ihr Lächeln erstarb. Sie dachte an die Dinge, die sie ihrer Mutter nicht gesagt hatte, und ihre Freude über das Gespräch mit ihrer Mutter schwand.

Wanda Gray hatte Blasen an den Hühneraugen, die vermutlich ihrerseits von vorherigen Blasen stammten. Sie saß im Wohnzimmer ihres kleinen Hauses und wackelte in einer Schüssel voll warmem Wasser mit den Zehen – einfach nur, um sicherzugehen, dass sie sich noch bewegen ließen.

Man sollte solche Blasen nie zu nachlässig behandeln. Wie leicht hatte man eine Blutvergiftung oder so etwas. Es gab Menschen, die ihre Füße wegen mangelnder Hygiene oder Schmerzen, die sie nicht beachtet hatten, tatsächlich verloren. Zu dieser Sorte wollte Wanda nicht gehören. Sie stand inzwischen schon länger, als sie denken konnte, auf diesen Füßen und verteilte Maisbrot und Krabben auf Tellern. Alle Tische, die sie mit ihren sechsundfünfzig Jahren je gedeckt hatte, hintereinander aufgereiht hätten vermutlich einmal bis zum Mond und wieder zurück gereicht.

„Du siehst zufrieden aus.“ Ihr Mann Ken war auf dem Weg in die Küche. „Brauchst du was aus der Küche?“

„Du willst das letzte Stück meiner Erdbeer-Pie essen, stimmt’s?“

„Das hatte ich vor.“

„Wir könnten es uns teilen.“

Ken ging wortlos in die Küche. Ein paar Minuten später kam er mit zwei Tellern in der Hand zurück und reichte ihr einen, auf dem exakt die Hälfte des letzten Stückchens Erdbeer-Pie lag. Sie wusste nicht, was besser aussah: ihr schlanker durchtrainierter Mann mit dem grau melierten Haar oder die Pie, auf der eine Haube aus frisch geschlagener Sahne thronte.

„Du hättest lieber Chirurg werden sollen, anstatt zur Polizei zu gehen. Ich wette, wenn wir die Teller wiegen würden, wären beide gleich schwer.“

„Wir haben zwei Kinder. Ich weiß, wie man Sachen genau zur Hälfte aufteilt.“

„Es ist nett, bedient zu werden. Ich bin es leid, immer diejenige zu sein, die anderen Leuten Kuchen serviert – nicht, dass irgendetwas im Dancing Shrimp so gut wie diese Pie wäre.“

Ken saß ihr gegenüber. Das helle Kissen mit dem Blümchenmuster schaute unter seinem immer noch knackigen Hintern hervor. Wanda wusste, dass sie Ken vermutlich auch dann noch lieben würde, wenn alles an ihm zu hängen begann – aber sie fand es überhaupt nicht schade, dass der Verfall noch nicht eingesetzt hatte.

„Deine armen Füße hatten es nie leicht“ , sagte er.

„Das liegt an diesen spitzen Schuhen. Ich habe keine Ahnung, weshalb die neuen Besitzer alles daransetzen, es uns noch schwerer zu machen. Enge Kleider und enge Schuhe, nur damit wir Pommes frites und Krabben auf die Holztische knallen können. Was glauben die denn, wer ins Dancing Shrimp kommt? Heute musste ich an fast jeden Tisch noch einen Kinderhochstuhl bringen. Meinst du, kleine Kinder kümmert es, wie meine Schuhe aussehen?“

„Und sonst so?“

„Ach, die Chefs verstehen überhaupt nichts. Sie versuchen, die Speisen auf der Karte ausgefallener zu benennen, als sie eigentlich sind. Alles heißt jetzt entweder à la broche oder étouffée oder en croûte. Die Leute fragen mich, was das heißen soll, und ich muss mir ständig etwas einfallen lassen. Und wenn sie dann mal etwas Neues bestellen, entpuppt es sich als stinknormales Shish-Kebab oder als Fischspieß oder als ein albernes Sandwich.“

„Du weißt, dass du nicht mehr arbeiten gehen musst. Wir haben mit dem Hausverkauf in Miami genug Geld verdient, und hier bezahlen wir nicht viel Miete. Du könntest kündigen. Bleib zu Hause und gönne deinen Füßen Ruhe.“

Wanda war gerührt. Sie und Ken hatten in ihrem Leben schon genug Probleme gehabt. Eine Zeit lang hatte es sogar so ausgesehen, als würden sie es nicht gemeinsam überstehen, aber dann hatten sie sich doch irgendwie zusammengerauft. Und Ken, der sich so sehr in sich selbst zurückgezogen hatte, dass sie schon befürchtet hatte, er würde niemals mehr hinausfinden, war allmählich wieder zu dem Mann geworden, den sie einmal geheiratet hatte.

„Ich weiß das zu schätzen“ , sagte sie. „Wirklich, Kenny. Aber willst du die Wahrheit hören? Ich weiß nicht, was ich mit so viel freier Zeit anfangen sollte. Die Arbeit bringt Ordnung in meinen Tag. Und selbst, wenn wir das Geld nicht so dringend brauchen, ist es trotzdem schön, ein bisschen was dazuzuverdienen. Außerdem arbeitest du selbst so hart.“

„Apropos Arbeit …“ Er nahm einen Bissen von seiner Pie. Frische Erdbeer-Pie gehörte zu ihren absoluten Spezialitäten – sie backte sie mit gerösteten Pekannüssen und Streuseln –, und sie freute sich über seinen genüsslichen Gesichtsausdruck. „Mann, ist die gut.“ Er hob den Kopf und grinste. „Dich muss man schon allein deiner Pies wegen lieben, Wanda.“

„Klar, es gibt aber auch noch eine Menge anderer Gründe, oder?“

„Bitte mal einen Mann darum, alle Sterne am Himmel auf einmal zu zählen.“

Sie lächelte. „Ich werde dir schon nicht den Teller wegnehmen, wenn du die falsche Antwort gibst. Du kannst also ruhig damit aufhören.“

„Ich habe heute erfahren, dass man mich zu einer Fortbildung für den Heimatschutz für einige Monate nach Georgia schicken will. Ich werde zwischendurch immer mal nach Hause kommen. Glaubst du, du hältst es allein hier draußen aus?“

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie es nicht gekonnt. Da hätte sie sich ängstlich und einsam gefühlt und wäre vermutlich in Schwierigkeiten geraten. Aber das war lange vorbei. Die Frauen, die in den Nachbarhäusern lebten, waren zwar ganz anders als sie, doch sie hatten irgendwie gelernt, miteinander auszukommen.

„Es wird schon gehen“ , erklärte sie ihm. „Und falls es mir zu einsam wird, besuche ich Junior und unsere Enkel.“

„Ich komme zwischen den Seminaren nach Hause. Ich werde nicht zu viele Tage hintereinander weg sein. Aber diese Schulung ist sinnvoll, und es sieht so aus, als wollten sie mich danach befördern. Deshalb musste ich zustimmen.“

„Du möchtest befördert werden? Es gefällt dir immer noch, nicht auf die Straße zu müssen?“

„Ich habe gern ein Wörtchen mitzureden. Und, machen wir uns nichts vor, ich bin nicht mehr der Jüngste. Ich kann nicht mehr lange durch dunkle Gassen rennen und Türen eintreten. Ich mag zwar keinen Papierkram, aber ich kümmere mich gern darum, dass alles gut zusammenläuft.“

„Was auch immer du machst, Palmetto Grove kann froh sein, dich zu haben.“

„Ich glaube, das wissen sie auch.“ Er aß den Rest der Pie, stand auf, nahm ihren Teller und küsste sie auf ihre frisch getönten Kupferlocken. „Ich muss noch einmal kurz in die Stadt. Ein paar Sachen erledigen. Aber ich bin rechtzeitig wieder da, um einen Film mit dir anzusehen. Ich könnte eine DVD mitbringen.“

„Ich will diesen Chihuahua-Film sehen. Du weißt schon, diese sprechenden Chihuahuas. Chase übrigens auch.“

Chase, der Windhund, den sie gerettet hatten, kam angelaufen, als er seinen Namen hörte. Er ließ sich zu Wandas Füßen nieder und trank Wasser aus der Schüssel. Sie verscheuchte ihn halbherzig. Mit ihren Kindern war sie sehr viel strenger umgegangen.

„Ich schaue mal, was ich finde“ , versprach Ken.

Sie wusste, dass er lieber einen Film wie „Lethal Weapon“ mit nach Hause gebracht hätte, und hoffte, dass er einen annehmbaren Kompromiss fand.

Nachdem er gegangen war, trocknete und bandagierte sie ihre Füße und schlüpfte in Flipflops. Sie und Dr. Scholl würden morgen weitermachen. Sie würde vielleicht einfach in Sandalen zur Arbeit gehen und den Rest dem Schicksal überlassen. Doch jetzt wollte sie woandershin.

Nach draußen.

Draußen hatte sie im Licht von Kens Autoscheinwerfern ihre Vermieterin Tracy Deloche ums Haus schleichen sehen. Sie hatte keine Ahnung, was Tracy da machte. Die Häuser auf Happiness Key lagen ziemlich weit auseinander, nachdem die Gebäude dazwischen irgendwann einmal von Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Es gab keinen vernünftigen Grund für Tracy, dort draußen herumzuwandern.

Wandas Gespür für Klatsch und Tratsch war sehr ausgeprägt.

Sie entschied, dass die leisen, weichen Sohle ihrer Flipflops sich perfekt eigneten, um nach draußen zu gehen. Falls Tracy nicht schon wieder verschwunden war, bevor sie bei ihr ankam.

„Nur einen Augenblick, Tracy“ , murmelte sie. „Bleib da und lauf nicht weg.“ Wanda hoffte, dass da draußen ein echtes Abenteuer auf sie wartete.

Okay, sie bildete sich komische Sachen ein. Nachdem Marsh sich verabschiedet hatte, war Tracy zweimal die Straße auf und ab marschiert. Doch es war kein Wagen vorbeigekommen. Und auch wenn sie es vielleicht einfach nur nicht rechtzeitig nach draußen geschafft hatte, gab es keine Anzeichen dafür, dass irgendwer kürzlich auf der Straße vor ihrem Haus geparkt hatte – weder Reifenspuren noch abgebrochene Äste.

Der Boden bestand aus Sand, und es hatte in den letzten Tagen nicht geregnet. Außerdem war sie zugegebenermaßen auch nicht gerade die geborene Detektivin. Die Straße entlangzupatrouillieren, um nach CJ Ausschau zu halten, der in Kalifornien vermutlich gerade dabei war, sich mit einer Plastikgabel einen Fluchtweg aus Victorville zu graben, konnte nur einer Verrückten einfallen.

Also, was sollte das?

„Hey!“

Tracy machte einen Satz nach vorn, schlug erschrocken die Hand aufs Herz und stieß ein von ihr nur selten benutztes Schimpfwort aus.

„Das habe ich jetzt nicht gehört. Ich freue mich aber auch sehr, dich zu sehen“ , sagte Wanda.

„Tut mir leid! Du hast mich zu Tode erschreckt.“

„Wir sind wohl ein wenig nervös, hm? Was suchst du eigentlich im Dunkeln auf der Straße? Hast du etwas verloren? Oder macht dir etwas Angst? Ken ist zwar schon weg, aber ich kann ihn anrufen, damit er zurückkommt.“ Wanda zückte ihr Handy.

Tracy versuchte, sich vorzustellen, wie sie Ken Gray, einem der logischsten Menschen, die ihr je begegnet waren, ihre speziellen Visionen erklären sollte. „Nein. Nein! Ich habe nur gedacht, ich hätte jemanden herumstreunen sehen. Das ist alles.“

„Ich verstehe. Und deshalb stöckelst du unbewaffnet und auf mörderisch hohen Absätzen draußen herum, um dich auf eigene Faust ein bisschen umzusehen?“

„Okay, ich sehe ja ein, dass das nicht besonders vernünftig klingt.“

„Soll ich dir beim Suchen helfen?“

„Nein. Wer auch immer es war, er ist jetzt weg.“

In dem Moment drang eine weitere Stimme aus der Dunkelheit. Janya gesellte sich zu ihnen. „Falls das eine Party sein soll, hat man vergessen, mich einzuladen.“

Manchmal vergaß Tracy, dass es auf Happiness Key keine Privatsphäre gab. Sie verdrehte die Augen, als Wanda zu erklären begann.

„Tracy verliert nur den Verstand, das ist alles. Sie sucht nach jemandem, der vielleicht nicht mal hier gewesen ist. Und das macht sie ganz allein – für den Fall, dass da doch jemand ist, der sie überfallen und in den Kofferraum seines Wagens sperren will.“

„Da war tatsächlich jemand“ , sagte Janya. „Ich habe ihn auch gesehen.“

Tracy fühlte sich erleichtert. „Ja?“

„Ja, es ist schon eine Weile her.“ Janya hielt inne. „Ich habe telefoniert. Mit meiner Mutter.“

„Mit deiner Mutter?“ , fragten die beiden anderen wie aus einem Munde. Diese Neuigkeit ließ das Interesse an dem geheimnisvollen Fremden für einen kurzen Augenblick in den Hintergrund rücken.

„Sie hat mich angerufen, um mir zu sagen, dass sie mir ein Geschenk schickt. Und dann hat sie mich gefragt, ob ich glücklich sei.“

Tracy benötigte eine Klarstellung. „Etwa so wie: ‚Na? Bist du Totalversagerin jetzt glücklich?‚ Oder eher: ‚Janya, Liebes, bist du glücklich? Denn ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du glücklich bist!’’’?“

„Ich glaube, es lag irgendwo dazwischen. Aber insgesamt war unsere Unterhaltung eher angenehmer Natur.“

„Na, dann haben wir ja etwas zu feiern“ , entgegnete Wanda.

„Meine Mutter hat heute Abend auch angerufen“ , sagte Tracy. „Sie hat wegen CJ getobt. Ich konnte Teile ihres Tobsuchtsanfalls sogar noch im anderen Zimmer hören.“

„Das tut mir leid.“ Janya legte die Hand auf Tracys Arm. „Steckt sie immer noch so sehr in der Vergangenheit fest?“

„Ja. Und wie ich Mutter kenne, hat sie auch nicht vor, sich jemals davon zu lösen. Ich glaube es jedenfalls nicht. Aber es freut mich, dass deine Mutter wieder friedlich ist.“

„Friedlich klingt übertrieben, aber es ist möglicherweise ein Anfang.“

„Also, was war denn jetzt hier draußen los?“ , fragte Wanda. „Wen hast du gesehen, Janya?“

„Keine Ahnung. Es war irgendjemand. Dünn. Groß. Jemand, der schnell ging. Ich kann nicht mal genau sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Ich habe nur kurz hingesehen.“

„Passt das zu deiner Beschreibung?“ , wollte Wanda von Tracy wissen.

Tracy überlegte. Sie dachte sofort an CJ. Warum, wusste sie nicht, denn ihre Erinnerung an den Fremden verblasste seltsamerweise schon wieder. Doch CJ war groß und vermutlich dünner als während ihrer Ehe. Die Gefängniswärter von Victorville servierten ihm wahrscheinlich weder Ossobuco noch gebratene Wachteln zum Essen.

„Keine Ahnung.“ Sie fragte sich, ob sie ihren Freundinnen erzählen sollte, wen sie gesehen zu haben glaubte, verwarf die Idee allerdings schnell wieder. „Ich glaube, es war ein Mann“ , fügte sie hinzu. „Vielleicht aber auch nicht. Es war schon fast dunkel, und ich habe ihn nur kurz aus den Augenwinkeln gesehen.“

„Die Person, die ich gesehen habe, trug einen Rucksack, glaube ich“ , sagte Janya. „Ich habe einen kleinen Buckel bemerkt.“

„Das ist mir nicht aufgefallen.“

Wanda rückte die Träger von Tracys Kleid zurecht. „Meine liebe Tracy, du bist ganz schön aufgedonnert. Hast du gehofft, der mysteriöse Fremde würde dich um eine Verabredung bitten?“

„Ich hatte bereits eine Verabredung, aber meine Verabredung ist gegangen.“

„Marsh?“ , fragte Janya.

Wanda zupfte noch energischer an den Trägern von Tracys Kleid. „Er ist gegangen, obwohl du dieses Kleid getragen hast? Diesen Hauch von nichts? Knapper geht es ja kaum. Er hätte nur seine Hand ausstrecken und das Kleidchen herunterziehen müssen, dann hättest du splitternackt vor ihm gestanden.“

Tracy schob Wandas Hände beiseite. „Der ganze Abend ging komplett in die Hose. Ich weiß nicht genau, was schiefgelaufen ist. Er ließ meinen Anrufbeantworter laufen, und ich hörte meine Mutter wegen CJ schimpfen. Danach kam das Thema immer wieder auf CJ, und ich war abgelenkt, und Marsh …“ Tracy brach ab und seufzte. „… ist nach Hause gefahren.“

„Wie schade.“

„Das finde ich auch. Sprechen wir lieber von etwas anderem, ja?“

Wanda war offensichtlich in einer wenig gnädigen Stimmung. „Dann verliere ich eben kein Wort mehr darüber. Obwohl man sich schon fragen sollte, ob du verhext worden bist.“

„Verhext?“

„Ich meine, was den Sex mit Marsh betrifft. Ihr beide turtelt schon seit einer Ewigkeit miteinander herum. Ihr macht euch schöne Augen und tanzt die ganze Zeit umeinander herum. Einen Schritt vor und einen zurück. Hast du schon einmal das Paarungsritual der Reiher beobachtet? So ungefähr sieht es auch bei euch aus.“

„Also, bitte!“

Wanda hob abwehrend die Hände. „Nachdem ihr jetzt endlich zum Kern der Sache vorgedrungen seid, ist so viel Zeit vergangen, dass ihr beide wahrscheinlich einfach vergessen habt, wie es richtig geht.“

„Wanda!“ Janya packte ihre ältere Nachbarin am Arm. „Warum sagst du Tracy nicht lieber, was du mir heute erzählt hast. Von der Kellnerin, die bei euch arbeitet.“

Janya, die erst Anfang zwanzig war, hatte die Fähigkeit, besänftigende Worte in eine Unterhaltung zu streuen. Überhaupt gab es nur wenig, was diese Inderin nicht hatte: wundervolles schwarzes Haar, perfekte Gesichtszüge, einen festen, wohlgeformten Körper und Intelligenz. Tracy mochte sie zu sehr, um eifersüchtig auf sie zu sein, obwohl sich dieses Gefühl schon ab und zu bemerkbar machte. Im Gegensatz zu ihr musste Tracy etwas tun, um schön zu sein. Janya war von Natur aus hübsch.

Wanda reagierte prompt auf Janyas Einwand, was nicht immer der Fall war. „Du willst mich also daran erinnern, dass ich euch noch von den Veränderungen im Dancing Shrimp erzählen wollte?“

Tracy wollte mehr hören. Für die Frauen auf Happiness Key war es eine Schande, dass die Familie, die das bekannteste Strandlokal des Ortes vor vierzig Jahren eröffnet hatte, es an ein junges Paar aus Manhattan verkauft hatte. Diese beiden wollten dem Dancing Shrimp nun ihren eigenen Stempel aufdrücken. Die T-Shirts mit den tanzenden Krabben, der automatische Nachschlag an Maisbrot und ein Großteil der ausgeflippten Florida-Deko – all das war verschwunden. Genauso wie die meisten Mitarbeiter. Und Wanda hatte man nun gebeten, Extraschichten für sie zu übernehmen.

„Ich vermisse den alten Laden“ , sagte Tracy.

„Das tun wir doch alle, oder? Viele Stammgäste bleiben inzwischen ganz weg. Trotzdem haben die neuen Besitzer eine Kellnerin eingestellt. Sie heißt Dana Turner und ist neu in der Stadt. Sie und ihre kleine Tochter wohnen in diesem heruntergekommenen Motel in der Nähe des Industriegebietes. Kennt ihr das Driftwood? Sie sucht nach einer Mietwohnung und hat mich gefragt, ob ich hier draußen irgendwas wüsste. Sie mag das Meer, kann sich aber nichts Schickes leisten. Ich dachte, dass du ihr vielleicht Herbs Häuschen zeigen könntest.“

„Herbs Häuschen.“ Es war das fünfte Haus in CJs Bauprojekt, das er später Happiness Key genannt hatte.

CJ!

Tracy hakte nach. „Und sie wäre bereit, so weit draußen zu leben? Mit einem Kind?“

„Sie wirkte interessiert. Ich habe ihr gesagt, dass es nichts Besonderes ist.“

Im ursprünglichen Bauplan von Happiness Key war eigentlich ein Yachthafen vorgesehen gewesen und natürlich der Abriss der bestehenden baufälligen Miethäuschen, um Platz für luxuriöse Eigentumswohnungen zu schaffen. Nach ihrer Scheidung und CJs Verhaftung war Tracy nach Florida gezogen, um diese Häuser zu verwalten – sie waren das Einzige, was sie von dieser Heirat zurückbehalten hatte – und um andere Bauträger für das Grundstück zu finden. Der Mieter Herb Krause war bald nach ihrer Ankunft gestorben. Seitdem hatte Tracy das Häuschen zweimal vermietet, wenn auch nur kurzzeitig. Inzwischen stand es wieder leer.

„Ich könnte das Geld gebrauchen“ , gab sie zu. „Aber beim letzten Mal musste ich beinahe alles, was ich mit der Miete verdient hatte, wieder reinstecken, um die Schäden reparieren zu lassen, die mir die Mieter hinterlassen hatten. Ich muss jemanden finden, der auf das Häuschen achtgibt.“

„Ich habe keine Ahnung, wie lange sie bleiben will. Sie hat mir allerdings erzählt, dass sie sich gern irgendwo niederlassen würde. Sie findet das gesunde Klima ideal für ihre Tochter Lizzie. Süßes Mädchen. Manchmal macht die Kleine ihre Hausaufgaben draußen oder im Personalraum des Dancing Shrimp, während ihre Mutter arbeitet; die Besitzer finden das nicht so toll. Sie ist ungefähr in Olivias Alter.“

Die elfjährige Olivia lebte zusammen mit ihrer Großmutter Alice im vierten Haus auf Happiness Key. Die Frauen kümmerten sich jede auf ihre eigene Weise um sie. Manchmal dachte Tracy, dass Happiness Key das sprichwörtliche Dorf war, das man benötigte, um ein Kind aufzuziehen.

„Es wäre schön für Olivia, wenn sie hier eine Freundin hätte“ , sagte Janya. „Wir tun unser Bestes, aber ein Mädchen braucht jemanden, dem es vertrauen kann und der es versteht.“

Tracy fragte sich immer noch, wer die Straße hinuntergegangen war und warum. War es ein Mann gewesen? Eine Frau? Ein Geist? Als sie bemerkte, dass die anderen schwiegen, sagte sie das, was ihr zuerst durch den Kopf schoss. „Ich würde sie gern kennenlernen.“

„Ich bin mit der Einladung zum Abendessen am Sonntag an der Reihe“ , erklärte Janya. „Wanda, meinst du, deine Kollegin hätte Lust, mit ihrer Tochter herzukommen, um sich das Haus anzusehen? Ich koche für sie mit.“

Tracy konzentrierte sich wieder auf die Unterhaltung. Normalerweise trafen die Nachbarinnen sich am Donnerstag, doch diese Woche hatten sie es verschoben. „Gute Idee. Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht?“

„Ich freue mich, wenn ich mich nützlich machen kann. Vielleicht wird sie eine neue Freundin.“

Wanda blickte über die Schulter zu ihrem Haus zurück, wo Chase laut bellte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Wenn du magst, backe ich eine Pie. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, wenn ich sie schon mitbringe.“

„Jeder Tag mit einer von Wandas wundervollen Pies ist ein großartiger Tag“ , sagte Janya.

Tracy dachte an Marshs Wein, doch der war für eine andere, schönere Nacht mit ihm reserviert. „Also abgemacht. Ich bringe einen Brie für uns mit.“

Sie verabschiedeten sich. Wanda eilte nach Hause, um ihren Hund zu beruhigen. Sie war eine grobknochige, pummelige Frau und nicht mehr die Jüngste. Tracy konnte nicht sagen, welche Haarfarbe Wanda ursprünglich besessen hatte, aber das Kupferrot stand ihr gut. Genau wie der blaue Lidschatten – die Kosmetiksünde, die Wanda so sehr liebte. Wanda war eben Wanda. Ein Original.

Janya hielt Tracy zurück. „Falls du heute Nacht wegen des Fremden lieber nicht allein bleiben willst, kannst du gern bei uns übernachten.“

„Ich mache mir keine Sorgen wegen eines Einbruchs oder so.“ Tracy zögerte. „Ich dachte nur … ich meine, ich dachte, er sähe aus wie …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist albern.“

„Wie jemand, den du kennst?“

„Jemand, den ich mal kannte. Aber es spielt keine Rolle. Er kann es nicht gewesen sein. Du bist dir ja nicht mal sicher, ob es überhaupt ein Mann war.“

„Möglicherweise haben wir zwei verschiedene Leute gesehen.“

„Und weshalb sollte sich irgendjemand hier draußen aufhalten? Vielleicht fährt man mal runter zur Landspitze, aber wieso sollte hier jemand herumspazieren? Um diese Zeit?“

„Wegen einer Reifenpanne vielleicht? Jemand hat etwas am Straßenrand gesehen und angehalten? Es gibt viele Gründe.“

Tracy wusste, dass Janya recht hatte. Und wenn sie nicht geglaubt hätte, dass der Fremde ihrem Exmann ähnlich sah, hätte sie sich keine Gedanken darüber gemacht. Jedenfalls nicht, solange Marsh mit offenen Armen auf sie wartete.

„Schlaf gut“ , sagte Tracy. „Falls irgendetwas ist, rufe ich dich an.“

Sie kehrte langsam nach Hause zurück und warf einen Blick hinter jeden Baum und jeden Strauch. Doch wen auch immer sie gesehen hatte war verschwunden.

Als sie die Haustür aufschloss, fragte sie sich, ob Wanda vielleicht den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Tracy hatte sich sehr gründlich und ausgiebig auf Marshs Besuch vorbereitet. Sie hatte gekocht, aufgeräumt und geputzt, und sie hatte ganz entgegen ihrer Art sehr auf die Details geachtet.

Tracy war natürlich keine Jungfrau mehr. Vor CJ hatte es schon andere Männer in ihrem Leben gegeben. Sie war eine typische Frau ihrer Generation, wenn auch eine wählerische. Sie hatte Wert auf Diskretion gelegt, doch sie hatte ihren Kopf und manchmal auch ihren Körper dazu benutzt, um sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen – einen Mann, der für sie sorgen und ihr alles bieten konnte, was sie wollte.

Inzwischen war sie eine völlig andere Frau. Sie wollte mit Marsh schlafen, weil ihr danach war. Und möglicherweise lag da die Ursache für ihre Ängstlichkeit. Sie wollte Marsh, weil er Marsh war. Vielleicht war das der Unterschied.

Im Haus befreite sie sich von ihren Sandaletten. Das Telefon klingelte. Zuerst ignorierte sie es, hielt aber beim Schuheausziehen inne, weil sie hören wollte, welche Nachricht der Anrufer hinterließ. Sie hoffte, dass es Marsh war, der etwas Tröstliches über den Abend sagen würde.

Doch nach Tracys Ansage auf dem Anrufbeantworter ertönte eine weibliche Stimme.

„Tracy? Hier ist Sherrie. Ich kann mir vorstellen, dass du außer dir bist, aber ich musste dich einfach anrufen. CJ ist hier in allen Nachrichten. Ich bin nicht sicher, ob irgendwelche Journalisten sich die Mühe machen werden, dich aufzusuchen, um dich nach deiner Meinung zu fragen, aber falls doch …“

Tracy schleuderte eine Sandalette durchs Zimmer und humpelte in Rekordtempo zum Telefon. Sherrie, ihre ehemalige Mitbewohnerin, gehörte zu den wenigen Menschen, die nach der Scheidung zu ihr gehalten hatten. Aber solche Nachrichten hatten sie noch nie austauschen müssen.

Tracy schnappte sich den Hörer.

„Sherrie?“

„Du bist doch zu Hause. Na ja, es wundert mich nicht, dass du nicht ans Telefon gehst.“

„Was soll ,das mit CJ‘ heißen?“

„Bedeutet das, du weißt es noch nicht? Hat dich denn niemand angerufen, um es dir zu sagen?“

„Wovon sprichst du?“

„CJ ist aus dem Gefängnis entlassen worden. Es kam erst heute Nachmittag in den Nachrichten. In Kalifornien ist das eine große Sache …“

„Nein. Das ist unmöglich. Er hat lebenslänglich bekommen. Mehrfach lebenslänglich!“

„Das scheint nicht zu stimmen. Seine Anwälte haben ihn freibekommen – zumindest bis zu einer neuen Hauptverhandlung. Ich habe nicht alles verstanden, aber es geht um ein staatsanwaltliches Amtsvergehen. Falsche Akten und falsche Zeugen. Wie es aussieht, wollte die Staatsanwaltschaft ihn so dringend verurteilt sehen, dass sie Fehler in der Beweisführung gemacht hat. So stellen es zumindest die Zeitungen dar. Alle sagen, dass sie CJ wieder vor Gericht bringen werden. Aber in der Zwischenzeit ist er draußen. Seit gestern. Ich habe keine Ahnung, wie sie das so lange geheim halten konnten.“

Jetzt verstand Tracy den Grund, weshalb ihre Mutter angerufen hatte. Wenn sie ihr doch bloß richtig zugehört hätte. Wenn sie bloß nicht davon ausgegangen wäre, dass der Anruf nur wieder eine grundlose Tirade war.

CJ!

„Hör mir zu, Sherrie. Weißt du, wo er jetzt ist?“

„Keine Ahnung. Er gibt keine Interviews. Ich vermute, er hat sich mit seinen Anwälten zurückgezogen, um zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollen. Hatten sie nicht gesagt, er wäre unschuldig und hätte nur den falschen Leuten vertraut? Vermutlich bereiten sie gerade seine Verteidigung für die nächste Verhandlung vor. Er hat sich doch nicht bei dir gemeldet, oder?“

Tracy starrte aus dem Fenster.

„Tracy?“

„Falls er das tun sollte, was, glaubst du, könnte er von mir wollen?“

„Hat er sich denn gemeldet?“

„Nein. Jedenfalls glaube ich es nicht.“

„Du klingst nicht gut. Brauchst du mich? Ich könnte nächste Woche runterfliegen. Deine Hand halten oder CJ verjagen, falls er bei dir auftaucht.“

Die Straße vor Tracys Haus war so leer wie ihr Bett.

Sie hatte ihren Exmann nicht gesehen. Selbst wenn CJ aus dem Gefängnis entlassen worden war, musste er in Kalifornien sein. Er durfte den Bundesstaat wahrscheinlich nicht verlassen.

„Ich sage dir Bescheid, falls ich dich brauche“ , erklärte sie Sherrie, „aber CJ müsste eigentlich wissen, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Er ist ein alter Hase, was Exfrauen anbelangt. Ich war nur eine von vielen Idiotinnen, die ihn gut aussehen ließen. Falls er Gesellschaft haben will, wird er jemanden finden, der jünger und dünner ist als ich.“

Sie war sich nicht sicher, woher die Bemerkung mit dem „dünner“ kam. Sie war wirklich total durcheinander.

„Falls du dich irrst, halte dich von ihm fern, okay? Ich meine, ein Formfehler heißt nicht, dass CJ unschuldig ist.“

Sie sprachen noch ein paar Minuten weiter, ehe Tracy sich verabschiedete und auflegte.

Sie konnte sich nicht helfen und schaltete das Licht aus, bevor sie mit nur einer Sandalette am Fuß zum Fenster humpelte.

Eine halbe Stunde lang stand sie reglos dort und starrte in die Dunkelheit hinaus, wo sich außer ein paar Ästen in der lauen Abendbrise nichts bewegte.

3. KAPITEL

Rishi schlief selten lange, aber an diesem Morgen war Janya schon beinahe eine Stunde lang auf, bevor sie endlich die Dusche hörte. Sie hatte den Verdacht, dass die Überstunden ihres Mannes sich schließlich doch bemerkbar machten. Als er in die Küche kam, standen schon ein Omelett, Kaffee und frische Früchte auf dem Tisch bereit.

„Ich wollte gar nicht so lange schlafen.“ Rishi setzte sich und stützte den Kopf in die Hände, als ob er noch nicht in der Lage wäre, ihn aufrecht zu halten.

Sie dachte, dass viele Männer es anders gesagt hätten. „Du hättest mich nicht so lange schlafen lassen sollen“ , hätten sie gesagt, und von ihr als Frau wäre erwartet worden, dass sie das so einfach akzeptierte. Rishi gehörte nicht zu diesen Männern. Er übernahm die Verantwortung für das, was er tat. Nach dem Tod seiner Eltern war er bei einer unfreundlichen Tante und einem Onkel aufgewachsen. Da hatte sich niemand für ihn verantwortlich gefühlt. Alles, was aus Rishi geworden war, hatte er seiner eigenen harten Arbeit zu verdanken.

Sie goss Milch in seinen Kaffee und brachte ihm die Tasse. „Ich bin froh, dass du geschlafen hast. Du bist müde. Kein Wunder, dass du an deinem freien Tag mal ein bisschen länger liegen bleibst.“

„Du bist so gut zu mir.“

Es war leicht, gut zu ihm zu sein, aber das sagte sie ihm nicht. Ihre Ehe gehörte nicht zu dieser Sorte.

„Ich habe dir dein Lieblingsessen gemacht.“ Sie servierte ihm das Omelett, das sie so gemacht hatte, wie es in Mumbai, wo sie aufgewachsen war, üblich war. Die Eier hatte sie mit klein geschnittenen Zwiebeln, Tomaten, Chilis und Kräutern verrührt und von zwei Seiten in der Pfanne angebraten. Auf dem Teller lagen aufgefächerte Obstscheiben, die an ein fröhliches Lachen erinnerten.

„Ach Janya, ich habe keine Ahnung, womit ich dich verdient habe.“

„Du bist genau zur rechten Zeit in Indien aufgetaucht.“ Sie lächelte, um ihm zu beweisen, dass es, obwohl es der Wahrheit entsprach, inzwischen als Witz gemeint war. Sie war sich sicher, dass Rishi wusste, dass er mehr für sie war als nur der Mann, der sie aus einer peinlichen Lage in ihrem Heimatland gerettet hatte.

„Vishnu muss meine Schritte gelenkt haben.“

„Ich bin froh, dass er nichts Besseres zu tun hatte, als dich zu mir zu führen.“ Janya holte sich einen eigenen Teller und setzte sich Rishi gegenüber.

„Es tut mir ganz besonders leid, dass ich verschlafen habe“ , sagte er. „Ich hatte gehofft, heute Morgen etwas mehr Zeit für dich zu haben, aber jetzt muss ich mich fertig machen und zur Arbeit fahren.“

„Schon wieder?“ Janya wirkte überrascht. Doch ihre Überraschung wurde schnell vom Gefühl der Sorge verdrängt. Rishi war ein drahtiger, athletischer, gesunder Mann. Aber in letzter Zeit wirkte er manchmal abwesend, was sie seiner Erschöpfung zuschrieb. Er arbeitete jeden Abend länger, und dieser Samstag war nicht der erste Samstag, den er im Büro verbrachte. Eigentlich war es inzwischen schon normal für ihn geworden, am Wochenende zu arbeiten. Sie vermisste ihren Mann und die Vertrautheit, die sich so langsam zwischen ihnen entwickelte. Und sie vermisste das Geben und Nehmen einer Ehe, die nicht nur aus Nutzen und Tradition bestand.

Als sie verstummte, legte er den Kopf schräg. „Und jetzt bist du sauer auf mich.“

„Wie könnte ich sauer sein? Meine Mutter hat mich gestern Abend angerufen.“ Janya schob ihre Sorgen beiseite und begann, Rishi zu erzählen, was passiert war.

Er schluckte das letzte Obststückchen hinunter, bevor er reagierte. „Und du hast keine Ahnung, was sie dir schicken will?“

„Vielleicht ein Fotoalbum mit den Fotos aller Enkel ihrer Freundinnen. Um mich in Verlegenheit zu bringen.“

Rishi schien sich unbehaglich zu fühlen. „Hast du ihr erzählt, dass wir Kinder haben wollen?“

„Nein, dazu war weder Zeit noch Gelegenheit. Wir müssen meine Mutter auch nicht über jeden unserer Schritte informieren.“

„Stimmt. Das müssen wir nicht.“

Janya hob die Achseln. „Außerdem gab es nichts, was ich dazu hätte sagen können. Jedenfalls keine guten Neuigkeiten.“

Er sah so aus, als wäre ihm das Thema unangenehm; so wie vielen Männern, wenn die Sprache auf persönliche Dinge kam. Er blickte an ihr vorbei auf die Uhr an der Küchenwand und erhob sich. „Was hast du heute vor?“

Sie wollte ihm sagen, dass sie eigentlich etwas zusammen mit ihm hatte unternehmen wollen und nun noch einmal neu darüber nachdenken müsse. Doch stattdessen schüttelte sie den Kopf.

„Bist du zum Mittagessen wieder zu Hause?“

„Ich werde es versuchen.“ Er nahm seinen Teller und brachte ihn in die Küche.

Janya wünschte, sie hätte ihren Ehemann daran erinnern können, dass es für die Familienplanung nicht hilfreich war, wenn er sie so oft und so lange allein ließ. Aber das wäre, wie so vieles, zu direkt und zu emotional gewesen. Mochten sie auch weit von ihrem Geburtsland entfernt wohnen, so waren sie doch immer noch von ihrer Kultur, die sie respektierten, geprägt. Sie sagte sich selbst, dass sie Rishi in dieser schwierigen arbeitsreichen Zeit unterstützen würde. Dann würde alles andere sich wie von selbst ergeben.

Bei der Samstagmittagsschicht im Dancing Shrimp war es wie immer sehr voll, und es gab viel Trinkgeld. Trotzdem mochte Dana diese Schicht am wenigsten von allen. Die Woche über, wenn Lizzie in der Schule war, musste sich Dana keine Gedanken darüber machen, wer sich um ihr Kind kümmerte. Das Trinkgeld war zwar längst nicht so gut, aber Lizzie durfte nach der Schule wenigstens ins Restaurant kommen. Normalerweise war Dana dann auch bald fertig und konnte mit ihr zum Driftwood Inn fahren, dem heruntergekommenen Motel, das seit Neuestem ihr Zuhause war.

Unglücklicherweise gab es keinen Ort, an dem Dana ihre Tochter Lizzie samstags unterbringen konnte. Sie war das einzige Kind, das in dem zweistöckigen Motel wohnte, und deshalb gab es niemanden, der hätte auf sie aufpassen können. Dana nannte das Driftwood Inn insgeheim das „Herumtreiber Inn“: Die – größtenteils männlichen – Bewohner ließen sich einfach nur treiben, während sie einen Ort zu finden versuchten, an dem sie sesshaft werden konnten und wollten. Bevor sie und Lizzie eingezogen waren, hatte sie darauf bestanden, dass der Manager ein Sicherheitsschloss an der Tür anbrachte. Dennoch hätte sie ihre Tochter niemals allein in diesem Zimmer zurückgelassen. Sie nahm ihre Tochter sogar mit, wenn sie nur die Miete bezahlen ging.

„Also, ist alles okay?“ , fragte Dana Lizzie, nachdem sie den ganzen Nachmittag lang das Spezialmenü serviert hatte – einen Krabbensalat mit mexikanischen Jicama-Bohnen, roher Süßkartoffel und kalten Reisnudeln. Wenn sie zehn Dollar für jedes Mal bekommen hätte, das sie erklären musste, was Jicama-Bohnen waren und weshalb die Süßkartoffel nicht gekocht war, hätten sie und Lizzie es sich leisten können, aus dem Motel auszuziehen. Und wenn sie einhundert Dollar für jeden Salatteller bekommen hätte, der halb voll wieder zurückgegangen war, hätten sie überhaupt nicht mehr in Palmetto Grove wohnen müssen.

Sie hätten die Flügel spreizen und weit, weit wegfliegen können.

„Ich habe keine Lust mehr, hier herumzusitzen.“ Lizzie jammerte eigentlich nicht oft, doch diesmal konnte Dana ihr keinen Vorwurf machen. Denn ihre Tochter verbrachte diesen großartigen Nachmittag auf einem alten Stuhl neben dem Lieferanteneingang. Sie hatte Lizzie bereits alle möglichen Aufgaben aufgetragen, um sie zu beschäftigen, aber es war nicht überraschend, dass selbst die unkomplizierte Lizzie irgendwann lieber nach Hause gehen wollte. Der winzige Hof, in dem die Angestellten ihre Pausen verbrachten – und „Hof“ war noch die netteste Umschreibung dafür – war zwar geschützt und sauber, doch es roch ziemlich intensiv nach Fisch, und manchmal kam die Küchencrew, um zu rauchen und auf die neuen Eigentümer zu schimpfen. Das war nicht unbedingt ein geeigneter Ort für Lizzie.

„Ich weiß, dass dir langweilig ist.“ Dana zerzauste die hellen, honigblonden Locken ihrer Tochter. In Danas dunkelblondem Haar gab es dieselben honigblonden Strähnen. Aber während sie eine Kurzhaarfrisur trug, reichten Lizzie die Locken bis zur Schulter.

„Es ist Zeit, nach Hause zu gehen“ , sagte Lizzie. „Schon nach vier.“

Dana hatte die schlechte Nachricht für sich behalten, um zu verhindern, dass Lizzie den ganzen Nachmittag wütend auf sie war, doch jetzt musste sie es ihr sagen. „Ich sage es nicht gern, Süße, aber in ein paar Minuten haben wir eine Mitarbeiterversammlung. Ich muss dahin. Du darfst allerdings mitkommen und neben mir sitzen. Man hat es mir erlaubt.“

„Ich will irgendwohin, wo es lustig ist. Du hast es versprochen! An den Strand oder zu McDonalds oder sogar in die blöde Bibliothek.“

„Es tut mir wirklich leid, und wir gehen da auch hin, sobald es vorbei ist. Du darfst entscheiden. McDonalds und Strand, wenn du willst. Wir können bleiben, bis die Sonne untergeht.“

„Ich darf ja doch nur einen Salat bestellen.“

„Ach komm. Du kannst einen Hamburger nehmen.“ Dana bemerkte, dass es damit nicht getan war. „Und Pommes frites. Ausnahmsweise.“

„Und einen Shake.“

„Netter Versuch. Pommes oder Shake. Das kannst du dir aussuchen.“

„Wie lange wird diese Versammlung dauern?“

„Ich weiß es nicht.“ Dana sprach leiser. „Vermutlich wollen sie uns sagen, was sie noch alles ändern wollen. Vielleicht muss ich in Zukunft einen Bikini tragen und das Essen barfuß servieren. Wie würde das wohl aussehen?“

Obwohl sie wütend war, musste Lizzie kichern. „Doof!“

Dana zerzauste noch einmal Lizzies Haare. „Gut, komm und zeig dich bitte von deiner besten Seite, ja? Es ist nett von ihnen, dass du mitkommen darfst, wenn ich arbeite – egal, wie blöd du es findest, hier herumsitzen zu müssen. Das will ich mir nicht verscherzen.“

„Ich schon. Dann könnte ich im Einkaufszentrum bummeln gehen.“

„Dazu bist du leider noch zu jung. Aber du wirst noch schnell genug groß. Es dauert nicht mehr lange.“

„Zu lange.“ Lizzie versuchte, zu schmollen, ließ sich aber trotzdem von Dana umarmen.

Dana führte sie durch die Küche ins Restaurant. Die Kellner hatten die Tische für die Abendschicht gedeckt. Danas Füße taten weh, und sie war dankbar, dass sie sich bei der Versammlung hinsetzen konnte.

Rena und Gaylord Stutz, das Paar, dem das Dancing Shrimp gehörte, sahen sich Danas Meinung nach bemerkenswert ähnlich. Beide waren Ende dreißig. Sie hatten dunkle Haare, die sie zurückgekämmt trugen, und so schmale Hüften, dass man sie von hinten unmöglich auseinanderhalten konnte.

Die Mitarbeiter, die keine Mittagsschicht gehabt hatten, trudelten so langsam durch die Vordertür ein. Dana bemerkte, dass Wanda humpelte. In diesem Job war man mit Sportschuhen besser dran als mit spitz zulaufenden Pumps. Dana winkte Wanda zu und deutete auf den freien Platz neben sich. Wanda kam und holte eine Tüte mit Schokoladenkeksen für Lizzie aus der Tasche.

„Frag deine Mom, wann du sie essen darfst.“

Selbst gebackene Kekse waren so ein Luxus für Dana, dass sie einen Augenblick lang nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. In den letzten Jahren hatte sie keinen vernünftigen Backofen gehabt, um selbst zu backen. Und sie erinnerte sich auch nicht daran, je genug Geld für Butter oder Walnüsse gehabt zu haben.

„Lecker“ , sagte Lizzie. „Danke, Mrs Gray.“

„Weißt du was? Du bist jetzt im Süden, Lizzie. Auch wenn manche Leute nicht glauben, dass Florida wirklich zum Süden zählt. Egal. Jedenfalls kannst du Miss Wanda zu mir sagen, wenn deine Mom nichts dagegen hat.“

„Miss Wanda.“ Lizzie kicherte.

„Das kleine Mädchen in unserer Straße nennt mich Wanda, aber sie kennt mich schon länger. Vielleicht lernst du mich auch bald besser kennen.“

„Wie heißt das Mädchen?“

„Olivia. Olivia Symington.“

„Ich kenne sie! Sie ist in meiner Klasse. Wir sind miteinander befreundet!“

„Na, wenn das nichts ist.“

Dana bedankte sich mit einem Lächeln. „Sie mag diese Kekse sehr gern. Die Kekse aus dem Supermarkt sind nichts dagegen.“

„Ich backe, wenn es mir schlecht geht, und ich backe, wenn es mir gut geht. Schön, dass es jemanden gibt, dem ich meine Kekse schenken kann. Auch wenn ich eigentlich überwiegend Pies backe.“

Ihre Kollegen trafen allmählich ein, und die beiden Stutzes standen inzwischen vorn und berieten sich. Dana wünschte, sie würden endlich beginnen. Aber die beiden Besitzer gehörten zu der Sorte Menschen, die sich umso wichtiger zu fühlen schienen, je mehr sie anderen das Gefühl der Bedeutungslosigkeit vermittelten. Dana fürchtete, dass sich die Versammlung endlos in die Länge ziehen würde. Sie wollte gar nicht daran denken, wie Lizzie das fand. Doch Lizzie nahm die Sache selbst in die Hand und verschwand auf der Toilette.

Wanda wandte sich Dana zu und flüsterte: „Ich habe mit meiner Vermieterin gesprochen. In unserer kleinen Siedlung steht ein Haus leer. Eigentlich ist es eher ein Ferienhaus. Betonwände, kleine Räume. Nichts Schickes, so viel ist sicher, aber es ist schön gelegen, und Tracy – die Vermieterin – hat einiges daran machen lassen. Es ist dicht und solide gebaut. Es gibt zwar nur ein Schlafzimmer, doch die Vormieter haben einen Raum als Arbeitszimmer benutzt. Es war mal die Waschküche. Vielleicht ist es groß genug für Lizzies Bett. Auf jeden Fall ist das Häuschen größer als die Zimmer im Driftwood Inn. Und das Tollste daran ist, dass es nicht weit vom Wasser entfernt ist und dass es Olivia gibt. Lizzie hätte schon eine Freundin.“

Dana fragte sich, ob ihre Gebete endlich erhört worden waren. Als sie Wanda nach einem Haus auf Palmetto Grove Key gefragt hatte, hatte sie nicht geglaubt, damit Erfolg zu haben. Schon gar nicht dort. Nicht in der Straße, in der Wanda wohnte. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Dann holte die Wirklichkeit sie ein.

„Ich … wir haben nicht so viel Geld. Und wir reisen auch nur mit leichtem Gepäck, also, was Möbel und so etwas betrifft. Ich bin … ich bin mir nicht sicher, ob wir uns das leisten können.“

„In dem Haus stehen noch Möbel. Nichts Besonderes, aber ganz brauchbar. Und ich kann dir sagen, dass die Miete möglicherweise niedriger ist als die des Motels. Was bezahlst du da? Drei-, vierhundert Dollar pro Woche? Tracy will weniger haben. Da bin ich mir sicher. Und der vorherige langjährige Mieter Herb, ein alter Mann, hat ein paar Hausmeistertätigkeiten übernommen und den Arbeitslohn mit seiner Miete verrechnet. Vielleicht ginge das bei dir auch?“

„Ich könnte Malerarbeiten übernehmen, Reparaturen würden meine Fähigkeiten allerdings übersteigen, fürchte ich.“ Dana sah Wanda an. „Ich liebe Gartenarbeit. Im Umgraben bin ich ein Ass. Ich könnte die Gärten ein bisschen betreuen.“

„Ich bezweifle, dass es Tracy interessiert, ob es blühende Gärten gibt oder ob alles nur Kies und Sandboden ist, aber ich könnte sie fragen.“

„Hat sie wirklich gesagt, dass wir uns das Haus ansehen können?“

„Es kommt noch besser. Eine meiner Nachbarinnen, Janya Kapur, hat die ganze Bande morgen zum Abendessen zu sich bestellt und dich und Lizzie mit eingeladen.“

In diesem Moment kehrte Lizzie zurück.

„Jemand hat uns zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen?“

„Eine meiner Nachbarinnen“ , erklärte Wanda ihr. „Und deine Freundin Olivia ist auch da.“

„Oh toll! Gehen wir hin, Mommy?“

„Aber diese Janya kennt uns doch gar nicht“ , wandte Dana ein. „Ich glaube, das wäre zu aufdringlich.“

„Nein, überhaupt nicht. Hör mal, wir sind alle befreundet. Auch wenn ich noch immer nicht genau weiß, wie das alles gekommen ist.“ Sie schüttelte kurz nachdenklich den Kopf. „Tja, und jetzt wollen sie dich eben auch kennenlernen. Tracy, Janya und Alice, Olivias Großmutter. Wir sind so etwas wie eine eingeschworene Gemeinschaft, und die letzten Mieter passten einfach nicht zu uns. Wenn es hart auf hart käme, würde Tracy zwar keine Rücksicht darauf nehmen – schließlich muss sie auch sehen, wo sie bleibt, und die Mieteinnahmen sind ihr nicht ganz unwichtig. Aber es geht ihr genauso wie uns. Jemand, der zu uns passt, wäre uns lieber. Und du passt bestimmt prima zu uns.“

Dana verstand, was Wanda zwischen den Zeilen damit ausdrücken wollte. Wenn sie diesen Test bestand, würde man ihr erlauben, dieses Haus zu mieten. Doch gleichzeitig würde man von ihr erwarten, sich der Gruppe anzuschließen.

Bisher hatte Dana immer peinlich genau darauf geachtet, nirgendwo dazuzugehören. Trotzdem konnte sie dieses Angebot schlecht ausschlagen. Es war ein Geschenk des Himmels. Und Lizzie? Wenn es dort bereits eine Freundin für sie gab? Ihre geliebte Tochter, die schon so vieles hatte über sich ergehen lassen müssen, vieles, das über ihr Erinnerungsvermögen hinausging.

„Ihr könnt euch das Haus ansehen und überlegen, ob es euch gut genug gefällt, um es zu mieten. Unabhängig davon könnt ihr anschließend mit uns zu Abend essen. Ich backe eine Pie.“

Dana sah sich zwischen Wunsch und Vernunft hin und her gerissen. Solchen Situationen ging sie für gewöhnlich aus dem Weg, aber wie hätte sie nun noch Nein sagen können? Obwohl sie nicht an Omen glaubte, beschlich sie der Verdacht, dass jeder Grashalm in Palmetto Grove in Richtung Key wies.

Nach Palmetto Grove Key, wo sich die Asche, die sie bei Anbruch der Nacht in die Bucht gestreut hatte, inzwischen weit verteilt hatte. Nach Palmetto Grove Key, wo sie einmal sehr glücklich gewesen war …

Gaylord klatschte in die Hände und bat um Aufmerksamkeit. Es überraschte Dana, dass sogar die gesamte Küchenmannschaft vollständig erschienen war. Alle Mitarbeiter sämtlicher Schichten waren da.

„Rena wird ein paar Unterlagen verteilen“ , sagte Gaylord, ohne sich groß mit einem Vorwort aufzuhalten. „Währenddessen werde ich alles Wichtige erklären, damit ich Sie nicht unnötig lange aufhalten muss.“

Dana beobachtete Rena dabei, wie sie an der ersten Reihe vorbeischlenderte und Papiere verteilte. Deshalb bekam sie Gaylords nächsten Satz nicht mit.

„Was?“ , fragte Wanda. „Sie wollen das Dancing Shrimp schließen?“

Dana legte die Hand auf Wandas Arm. „Haben sie das gerade gesagt?“

„Verdammt direkt sogar.“

Gaylord setzte einen gelangweilten Gesichtsausdruck auf. Dana vermutete, dass er den schon in seiner Kindheit geübt hatte. „Lassen Sie mich ausreden! Rena und ich haben kein Interesse an einer typischen Florida-Fischbude.“ Er sprach das Wort „Bude“ so verächtlich aus, als handelte es sich dabei um etwas Unappetitliches. „Deshalb haben wir uns entschlossen, zu renovieren. Danach wollen wir als Tapas- und Weinbar wiedereröffnen. In Palmetto Grove gibt es so etwas noch nicht. Wir haben das Gefühl, dass es ein Erfolg und eine Herausforderung wird.“

„Das Dancing Shrimp war sehr erfolgreich, bis Sie diese ganzen Änderungen eingeführt haben“ , warf Wanda ein.

„Hör ihm zu“ , flüsterte Dana.

„Unser Bauunternehmer geht davon aus, dass die Renovierung ungefähr zwei Monate dauern wird. Weil das Geschäft im Sommer ohnehin nicht so gut läuft, renovieren wir im Juli und August. Dann könnten wir im September die Neueröffnung feiern. Wir nennen den neuen Laden Gaylord’s. Und wir stellen einen Küchenchef aus einem der feineren Restaurants in New York ein, damit er uns bei der Umsetzung einer neuen Speisekarte hilft.“

„Ich hätte große Lust, jemandem den Hals umzudrehen“ , knurrte Wanda halblaut, sodass nur Dana sie hören konnte.

„Das Restaurant wird total verändert“ , fuhr Gaylord fort. „Anspruchsvoll. Stilvoll. Wir werden uns um einen neuen Look bemühen, ein anderes Ambiente schaffen und natürlich einen anderen Geschmack bedienen. Deshalb haben wir nach reiflicher Überlegung eine Liste der Mitarbeiter erstellt, mit denen wir in diesem neuen Ambiente gern weiterarbeiten wollen. Selbstverständlich haben die anderen in keiner Weise versagt. Wir brauchen einfach nur Personal, das optisch und von der Haltung her in das neue Gaylord’s passt. Die anderen Mitarbeiter würden sich nach der Veränderung bei uns sicher nicht mehr wohlfühlen.“

„Geben Sie mal her.“ Wanda riss Rena, die endlich bis zu ihrer Reihe vorgedrungen war, einen der Zettel aus der Hand. Die Leute in der Reihe davor begannen zu murren. Andere kicherten.

„Ist das hier die Liste derjenigen, die Sie hinauswerfen, oder derjenigen, die Sie behalten?“ , wollte Wanda wissen.

Dana fand ihren Namen auf der Liste, doch Wandas Name fehlte.

„Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht, dass wir jemanden hinauswerfen wollen. Wir halten es einfach nur für fair, ehrlich mit unseren Anforderungen umzugehen. Auf der Liste stehen die Leute, die wir hoffentlich behalten können.“

„Die Personen auf dieser Liste sind alle absolut faltenfrei.“ Wanda funkelte ihn aufgebracht an.

„Wie schon gesagt: Mir schwebt ein bestimmter Look vor. Das ist aber nicht persönlich gemeint.“

„Nicht persönlich?“ Wanda war nicht mehr zu halten. „Ich arbeite hier, seit ich in Palmetto Grove wohne – und ich habe immer gute Arbeit abgeliefert. Einige Kunden wollen sogar ausdrücklich von mir bedient werden. Und manche von ihnen geben höhere Trinkgelder, damit man sie an einem meiner Tische platziert. Und nur weil ich über fünfzig bin …“

„Ja, Sie waren immer eine vorbildliche Mitarbeiterin, und das werden wir Ihrem nächsten Arbeitgeber auch genauso bestätigen.“

„Es kommt mir so vor, als wären Sie auf eine Klage wegen Diskriminierung aus.“

„Unser Anwalt meint, Sie könnten es zwar versuchen, aber er glaubt nicht, dass Sie damit Erfolg haben. Abgesehen davon handeln Sie sich damit nur einen langwierigen Prozess ein, der sehr teuer werden kann. Außerdem könnte das, trotz bester Absichten unsererseits, Ihre restliche Zeit bei uns negativ beeinflussen. Schließlich haben wir Sie rechtzeitig über die kommenden Veränderungen informiert.“

„Ich bleibe keine Sekunde länger hier – und Monate erst recht nicht!“ Wanda schickte sich an, das Lokal zu verlassen.

Gaylord schien bewusst zu werden, dass er die Veranstaltung nun beenden konnte. „Wir sprechen gern noch mal individuell mit jedem, der Hilfe bei der Zukunftsplanung braucht“ , sagte er. „Mehr haben wir im Augenblick nicht dazu zu sagen. Gehen Sie nach Hause und überlegen Sie noch mal in Ruhe, was unsere Pläne für Sie bedeuten, und dann teilen Sie uns Ihre Entscheidung mit. Bis aus dem Dancing Shrimp das Gaylord’s wird, geht der Betrieb weiter wie bisher.“

Dana griff nach Lizzies Hand und zog ihre Tochter mit sich, um Wanda zu folgen.

An der Tür holten sie sie ein.

„Kündigst du etwa?“ , fragte Dana. „Bevor du kündigen musst?“

Wanda hielt ihnen die Tür auf, und sie traten gemeinsam in den abendlichen Dunst hinaus.

Der sonnige Himmel hatte sich verdunkelt, und Dana wusste sofort, dass sich ihre Pläne für einen Strandbesuch erübrigt hatten.

„Ich bin die beste Kellnerin, die sie je hatten.“ Wanda sah Dana an. „Mit Ausnahme meiner hier anwesenden Kollegin, natürlich.“

„Nein. Du bist die beste, und die spinnen. Eine Tapasbar? Warum sind die beiden nicht in Manhattan geblieben? Ach verdammt. Selbst in Manhattan sind Tapasbars inzwischen nichts Neues mehr.“

„Es ist schon lustig. Gestern Abend hat Ken mir gesagt, dass ich kündigen solle. Und jetzt habe ich es tatsächlich getan.“

Dana legte Wanda die Hand auf den Arm. „Ich würde gern schon aus Protest kündigen, doch ich brauche diesen Job. Aber ich suche auch nach etwas anderem. Ich kann es mir nicht erlauben, im Juli und August nicht zu arbeiten. Schon gar nicht, wenn ich draußen bei euch am Strand lebe.

Wanda lächelte ein wenig. „Na, wenigsten ist heute etwas Gutes herausgekommen. Ihr kommt doch zum Abendessen? Auch wenn ich ganz offiziell auf der schwarzen Liste stehe?“

„Natürlich komme ich … kommen wir.“ Dana schlang den Arm um Lizzies Schultern.

„Dann kommt einfach vorbei. Macht euch keine Gedanken. Kommt so gegen sechs. Tracy kann euch dann später das Haus zeigen. Welchen Kuchen magst du am liebsten?“ , wollte Wanda von Lizzie wissen.

„Schokoladenkuchen!“

„Französischer Schokoladenkuchen also. Oder ein deutscher Schoko-Walnuss-Kuchen. Vielleicht auch beide. Ich habe so das Gefühl, dass ich ganz schön viel backen muss, um über die Geschichte hinwegzukommen.“ Wanda hob die Hand zum Gruß und ging zum Parkplatz.

„Ich mag Miss Wanda“ , sagte Lizzie. „Und wir werden am Stand wohnen? Echt? Bei Olivia?“

Dana spürte, wie die Falle zuschnappte. Die Frage war nur, wer die Falle aufgestellt hatte. Sie fürchtete beinahe, dass sie selbst dafür verantwortlich war.

4. KAPITEL

Als es Sonntagabend wurde, war Tracy davon überzeugt, dass sie sich CJ nur eingebildet hatte.

Am frühen Samstagmorgen hatte sie nach stundenlangen Internetrecherchen schließlich sämtliche Meldungen über seine Entlassung gelesen. Im Beisein eines seiner Anwälte hatte er behauptet, froh zu sein, dass man ihn aus dem Gefängnis entlassen habe, und erklärt, dass er ab jetzt jede freie Minute an seiner endgültigen Entlastung arbeiten wolle.

„Viel Glück damit“ , hatte Tracy ihm gewünscht, bevor sie endlich ins Bett gefallen war.

Sie war sich bewusst, dass sie nicht nur positive Eigenschaften besaß. Doch als sie dazu gezwungen worden war, ihr Leben neu zu überdenken, hatte sie es ohne zu zögern getan. Tracy machte sich nichts vor. CJ hatte – anders als andere Wirtschaftskriminelle, die immer noch auf Kosten ihrer Kunden nach Papeete oder Santorini jetteten – Pech gehabt. Trotzdem war Tracy sich ziemlich sicher, dass er seine Haftstrafe wirklich verdient hatte. Sie erinnerte sich an den ständigen Strom geheimnisvoller Gäste mit dicken Goldketten und Pistolentaschen, an die verdächtigen Anrufe, an unerklärliche Geldbündel in Eiscremebehältern, an zwielichtige „Assistenten“ , die sich ungefähr genauso harmonisch in den Countryclub eingefügt hatten wie Orang-Utans in Ralph-Lauren-Polohemden.

Auch wenn CJ also auf einen Freispruch hoffte – Tracy wollte nicht darauf wetten. Falls es tatsächlich auf einen Freispruch hinauslaufen sollte, dann nur wegen seiner ungeheuren Fähigkeit, sich aus jeder Situation elegant herauszumanövrieren.

Autor

Emilie Richards
Bevor Emilie Richards mit dem Schreiben begann, studierte sie Psychologie. In ihren preisgekrönten, spannenden Romanen zeigt sie sich als fundierte Kennerin der menschlichen Seele. Nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in Australien wohnt die erfolgreiche Autorin heute mit ihrem Mann, einem Pfarrer, in North Virginia.
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